Trucker überholen rechts, Konferenz führt zurück, Antisemitismus ist in voller Fahrt

Transpi an der Antifaschistischen Demo letzten Samstag in Bern.
Transpi an der Antifaschistischen Demo letzten Samstag in Bern.
Themen

Was ist neu?

Krieg in der Ukraine

antira.org solidarisiert sich mit den Menschen, die aktuell im Krieg in der Ukraine sterben, gefährdet sind und flüchten müssen. Zusammen mit den Menschen in der Ukraine und in Russland gilt es Putin zu entmachten und den Krieg zu stoppen: Von unten, direkt widerständig und kritisch-solidarisch statt von oben, staatlich-militärisch oder nationalistisch-imperialistisch.

Das russische Regime hat unter der Führung von Wladimir Putin die Ukraine angegriffen. Seit Jahrzehnten verfolgt Putin militärisch und ideologisch die nationalistische Agenda: „Make Russia great again“. Den Angriff auf die Ukraine präsentiert Putin entsprechend als Befreiung. Denn in seinem nationalistischen Gerede eines Grossrusslands zählt er die Ukraine – unabhängig der Meinung der Menschen vor Ort – einfach dazu. Invasion in der Ukraine ist in Putins Welt ein gerechtfertigter Verteidungsschlag gegen den “Feind von Aussen” – für Putin die USA und deren europäischen Verbündeten, denen Putin die real stattfindende Osterweiterung der NATO vorwirft. Die ukrainische Bevölkerung wird nicht nur angegriffen, sondern auch zum Spielball im imperialistisch-nationalistischen Konflikt gemacht: zwischen der schwächeren Macht Russland und dem noch mächtigsten Block der Welt – den USA und deren europäischen Verbündeten.
Noch 1990 haben die USA dem letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow versprochen, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten, wenn die damalige UDSSR einen NATO-Beitritt des frisch wiedervereinigten Deutschland akzeptiere. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die NATO als Konstrukt des Kalten Krieges weder aufgelöst, noch wurde auf die  NATO-Osterweiterung verzichtet. Diese wurde besonders unter den US-Regierungen von Bill Clinton und George W. Bush vorangetrieben. Zudem gab es seitens der westlichen Mächte keine namhaften Bemühungen, das postsowjetische Russland in eine neue globale Sicherheitsarchitektur zu integrieren. Gerade die UNO, die trotz aller Fehler eine Alternative zur NATO darstellt und in der auch Russland Einfluss hat, wurde besonders von den USA jahrzehntelang geschwächt.
Die westlichen Staaten – mit Ausnahme von Trump – setzen weiterhin auf die NATO und setzten ihre russlandskeptische Politik in neuem Gewand fort, was dem Putin-Nationalismus in die Hände spielt. Jüngst z.B. weigerte sich Biden diplomatisch ernsthaft auf Putins Kritik der NATO-Osterweiterung einzugehen, was die Spannungen ähnlich erhöhte wie seine Truppenverschiebungen in die Nähe der russischen Grenze.
Trotz der wichtigen Kritik am Westen: Aktuell greift das russische Regime an und darauf gilt es zu reagieren. Was nun? Sollen sich Antirassist*innen darauf konzentrieren, in Petitionen die Aufnahme von „10’000 Kriegsflüchtlingen“ zu fordern (unterzeichnen.ch)? Oder zusammen mit Cédric Wermuth und Mattea Meyer härtere Sanktionen gegen Russland fordern bzw. deren Petition (sanktionen-jetzt.ch) unterzeichnen? Wie sollen wir uns verhalten, wenn an Demos die ukrainische Flagge geschwungen wird und sich die Sozialen Medien gelb-blau einfärben? Sollen wir uns an der Solibar auf dem Vorplatz der Reithalle betrinken, um mit dem Erlös die ukrainische Armee finanzell zu unterstützen? Sollen wir allenfalls sogar eine NATO-Intervention fordern?
Herrschaftskritisch, anarchistisch und antirassistisch engagierte Menschen müssen sich in Krisen- und Kriegszeiten nicht neu erfinden und sich plötzlich mit putinkritischen Staaten oder Herrschenden wie Biden, Stoltenberg, Selenskyj oder Cassis, Maurer, Amherd identifizieren oder staatliche Druckmittel wie wirtschaftliche oder politische Sanktionen bis hin zum militärischen Widerstand oder Angriff idealisieren. Wir sind keine Staaten und auch keine Staatspräsident*innen, sondern von ihnen unterdrückt. Wir sind Menschen und können es bleiben, wenn wir versuchen, uns von Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Nationalismus, Imperialismus nicht spalten und steuern zu lassen, um solidarisch-kritisch-widerständig von unten Partei zu ergreifen – für alle Betroffenen, die aktuell sterben, leiden und flüchten und für jene, die Widerstand leisten gegen Putin und sein Regime – in der Ukraine, aber auch in Russland. Unsere direkten Aktionen und emanzipativen Bewegungen können sich zum Einen an diesen Menschen orientieren. Zum Anderen soll unsere Kritik kein Schönwetterprogramm sein. Auch, beziehungsweise besonders in Krisen- und Kriegszeiten soll sie helfen, auf Rassismus, Nationalismus, Imperialismus und Militarismus zu reagieren und in der Bewegung solidarisch anzusprechen und zu kritisieren.

Balkanstaaten reihen sich in die Festung Europa ein: 355 Millionen für Grenzabwehr und Abschiebeflüge direkt aus Bosnien und Co.

In Wien fand eine «Rückführungskonferenz» statt, an der die stärkere Zusammenarbeit mit den Balkanstaaten zur Abschottung der europäischen Grenzen aufgegleist wurde. Die Realitäten der Minister*innen und der People on the Move sind dabei Welten voneinander entfernt.

Konferenzsaal der «Rückführungskonferenz» in Wien.
Konferenzsaal der «Rückführungskonferenz» in Wien.

Was kann schon dabei herauskommen, wenn die österreichische Anti-Migrations-Regierung zu einer «Rückführungskonferenz» einlädt? Minister aus 23 Schengen- und Westbalkanstaaten, Vertreter*innen von Frontex und anderen EU-Behörden sowie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben an der Konferenz in Wien teilgenommen.

Der Grundkonsens: Die europäischen Aussengrenzen müssen weiter gestärkt werden, hingegen soll es volle Reisefreiheit im Inneren Europas geben. Dafür müsse «illegale Migration» verhindert werden. Konkret: Die Westbalkanstaaten, über die viele People on the Move (PoM) versuchen, Europa zu erreichen, sollen unterstützt werden, diese Menschen von der Ein- und Weiterreise abzuhalten. Dazu einigte man sich auf:

  • „Flexible Rückführungspartnerschaften“: Die in Wien ansässige Joint Coordination Platform (JCP) soll die Zusammenarbeit zwischen EU-, Schengen und Balkanstaaten koordinieren, um die Zahl der Abschiebungen direkt aus den Balkanstaaten zu erhöhen. Diese Schnittstelle könnte die Einsatzgrenze von Frontex umgehen, die keine Aufträge von Drittstaaten annehmen darf. Transitländer für die Migration nach Europa wie Bosnien sollen mit Know-How, operativer Zusammenarbeit und der Beteiligung an Charterflügen für Abschiebungen in der «Migrationsabwehr» unterstützt werden.
  • «355 Millionen Euro im Kampf gegen illegale Migration»: Für den EU-Aussengrenzschutz in den Balkanstaaten wurde eine Erhöhung der Mittel um 60% angekündigt. Wenn es um die Bekämpfung von Migrant*innen geht, sind die Balkanstaaten plötzlich beliebte Partner.
  • «Bekämpfung der Schlepperkriminalität»: Die europäischen Staaten haben bereits alle Möglichkeiten abgeschafft, ein Asylgesuch im Herkunftsland zu stellen (Botschaftsasyl) oder auf legalem Weg in europäische Länder einzureisen, um dort ein Asylgesuch zu stellen. Das nächste Ziel ist, der «Schlepperkriminalität» die «Geschäftsgrundlage» zu entziehen – also ein System zu bekämpfen, für das die europäische Migrationspolitik selbst die Grundlage gelegt hat.   

Zum rassistischen Narrativ, das von Politiker*innen und Medien ausführlich ausgekostet wird, gehört die Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Migrant*innen (von der Unterscheidung zwischen Menschen innerhalb und ausserhalb Europas mal gar nicht erst angefangen). Eine sinnlose Floskel, da sich diese Einteilung nach juristischer Logik erst nach der Prüfung des Asylgesuchs überhaupt ergeben könnte. An der Stellung genau dieses Gesuchs werden People on the Move aber mit allen Mitteln gehindert. Dazu gehören gewaltsame Pushbacks durch Frontex- und nationale Grenzbeamt*innen und das Sterbenlassen im Mittelmeer. Von den Asylgesuchen, die trotz aller Hürden 2021 in der EU, der Schweiz, Norwegen und Grossbritannien gestellt wurden, wurden lediglich 35% angenommen.

In den Berichten zur Rückführungskonferenz ist ebenfalls von «betroffenen Menschen, die durch die organisierte Schlepperkriminalität entwurzelt und auf eine gefährliche und meist aussichtslose Reise in Richtung unserer Außengrenzen gebracht werden« zu lesen. Menschen, die nach Europa aufbrechen, werden wohl kaum von den Berichten über die tausenden Toten auf diesem Weg noch von den beinahe unzahlbaren Preisen von Schlepper*innen auf diese Idee gebracht. Für die Gefährlichkeit und Aussichtslosigkeit der Wege nach Europa tragen die europäischen Regierungen die Verantwortung. Klingt aber natürlich besser, das anders zu verkaufen.

Zur Gefährlichkeit der Migrationsroute über das Mittelmeer trägt auch die Unterstützung und Finanzierung der sogenannten libyschen Küstenwache bei. Der Milizen-Schlägertrupp, der Menschen im Auftrag der EU in seine Folterlager zurückschleppt, hat gerade wieder Material erhalten: Eine verlegbare Radaranlage, die Menschen bei der Überfahrt nach Europa aufspüren soll, sowie drei neue Patrouillenboote, um sie abzufangen.

https://digit.site36.net/2022/02/25/new-western-balkans-hub-for-europol-and-frontex/#more-4301
https://kurier.at/chronik/oesterreich/rueckfuehrungskonferenz-355-millionen-euro-zusaetzlich-fuer-eu-grenzschutz/401914099
https://www.politico.eu/article/europe-asylum-applications-up-by-a-third-in-2021-report/?utm_source=RSS_Feed&utm_medium=RSS&utm_campaign=RSS_Syndication
https://netzpolitik.org/2022/leitstelle-und-schiffe-eu-kommission-ruestet-ueberwachung-in-libyen-weiter-auf-und-sorgt-sich-um-ihren-ruf/

Was ist aufgefallen?

Tödliche Angriffe auf jüdische Institutionen sind in jüngster Zeit erschreckend häufig geworden: In Pittsburgh und Poway (USA) oder Halle (Deutschland) ereigneten sich seit Oktober 2018 drei tödliche Attentate. Was diese Anschläge verbindet sind auch verschwörungstheoretische Ideologien, die den Attentätern als Rechtfertigung zugrunde liegen. Antisemitische Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Das hält auch der neue Antisemitismus-Bericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) für die Schweiz fest. Die Zahlen des Berichts sprechen eine deutliche Sprache.

Online ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle um zwei Drittel angestiegen. Deutlich mehr als die Hälfte dieser Vorfälle steht im Zusammenhang mit der Instrumentalisierung der Corona-Pandemie. Es sind ganz unterschiedliche Gerüchte und Verschwörungstheorien, die über Jüdinnen und Juden verbreitet werden, erklärt Jonathan Kreutner, der SIG-Generalsekretär. «Oft wird zum Beispiel den jüdischen Menschen vorgeworfen, sie hätten dieses Virus in die Welt gesetzt, um ‹die Welt zu beherrschen› ». Er sieht für den steigenden Antisemitismus zwei Gründe: Zum einen sei es eine lange und traurige Tradition, in Krisenzeiten Jüdinnen und Juden für das Unglück verantwortlich zu machen. Und zum anderen könne man beobachten, «dass explizit rechtsextremistische und antisemitische Personen die Pandemie nutzen, um ihre Hassideologie an ein breiteres Publikum zu bringen. Und das geht in Zeiten von Telegram, Facebook, Instagram ziemlich einfach.»

Gemeldet wurden laut Bericht in der deutschen-, der italienisch- und der rätoromanischsprachigen Schweiz insgesamt 53 antisemitische Vorfälle, unterteilt in 26 Aussagen, 16 Beschimpfungen, 3 Auftritte und 1 Sachbeschädigung. Im Vorjahr wurden insgesamt 47 Vorfälle erfasst, womit ein Anstieg festzuhalten ist. Auch in der digitalen Welt nimmt der Antisemitismus weiterhin zu: Im Bericht festgehalten sind 806 Fälle (Vorjahr: 485). Davon werden 51 Prozent als Verschwörungstheorien, 37 Prozent als «allgemeiner» Antisemitismus, acht Prozent als israelbezogener Antisemitismus und vier Prozent als Schoahleugnung oder -banalisierung bezeichnet. Ausserdem gab es zwei tätliche physische Angriffe auf jüdische Personen in der Romandie.
Es ist bemerkenswert, dass bei den Online-Plattformen, auf denen antisemitische Inhalte verbreitet wurden, Telegram mit Abstand die meisten Vorfälle hervorgebracht hat. Diese machten 61 Prozent der Onlinevorfälle im Jahr 2021 aus.

Der vorliegende Bericht zeigt also aktuelle Tendenzen auf, die gerade aufgrund der besonderen Lage während Corona ins Auge stechen. Die grosse Präsenz antisemitischer Verschwörungstheorien sei schon vor der Pandemie «besorgniserregend» gewesen, heisst es. Doch seit Ausbruch von Corona sei die Zahl der Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien förmlich explodiert – auch jene mit antisemitischem Hintergrund. «Hinzu kommt die zunehmende Verbreitung der Nutzung von Vergleichen rund um Corona-Massnahmen mit der Schoah und dem nationalsozialistischen Regime», ist im Antisemitismusbericht zu lesen.

Antisemitismus gibt es schon lange, doch viele sagen, dass er spezifisch unter der Herrschaft des Kapitals und in existenziellen Krisenzeiten Hochkonjunktur erlebt. Denn anhand vermeintlicher Argumente, die sich auf antisemitische Klischees berufen, versuchen die Verschwörungstheoretiker*innen sich die Ursachen für persönliche oder gesellschaftliche Ängste und Leiden zu erklären. Dabei unterschätzen Antisemit*innen die unpersönliche Herrschaft der Kapitallogik und sie überschätzen die Macht einzelner Personen oder Gruppen masslos. Jene Anhänger*innen von antisemitischen Verschwörungstheorien, die von der Ungleichverteilung betroffen sind, aber nichts mit kritischem Antikapitalismus anfangen wollen oder können, erschaffen sich ein unkritisches Feindbild, das unter anderem auf antisemitischen Vorstellungen beruht. So können sie gegen einen Feind aus Fleisch und Blut wettern und nicht gegen ein abstraktes System.

Die Corona-Pandemie geht vielleicht bald zu Ende. Aber die in die Welt gesetzten Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und feindseligen Weltbilder werden wohl nicht so schnell verschwinden. Darum ist es wichtig, aufmerksam zu bleiben und antisemitische Tendenzen zu erkennen, zu benennen und im Keim zu ersticken. Dies kann unterschiedliche Formen annehmen. Die SIG wünscht sich dafür mehr staatliche Unterstützung. Denn anders als bspw. in Deutschland wird das Monitoring von Anitsemitismus in der Schweiz nicht vom Bund finanziert, sondern die jüdischen Dachverbände sind bisher selbst dafür verantwortlich, Antisemitismus in der Schweiz zu erfassen und darzulegen. Wenn dem Bund das Engagement gegen den wieder erstarkenden Antisemitismus ein Anliegen ist, täte er gut daran, die Forderungen von SIG ernst zu nehmen und die Verantwortung dafür zu tragen, dass es in der Schweiz in naher Zukunft einen von ihm finanzierten Antisemitismusbericht gibt, der auf fundierten Daten beruht – und der für die gesamte Schweiz gültig ist. Doch nur den Staat für die Bekämpfung von Antisemitismus verantwortlich zu machen, wäre zu bequem, gerade wenn mensch bedenkt, wie durchtränkt staatliche Institutionen und Strukturen von verschiedensten Unterdrückungsmechanismen sind. Es ist also an uns allen, uns gegen die weitere Ausbreitung von anitsemitischen Gedanken, Vorstellungen und Taten zu positionieren.

https://www.tachles.ch/artikel/news/nicht-mehr-als-ein-stimmungsbarometer
https://swissjews.ch/de/news/antisemitismusbericht2021
https://swissjews.ch/de/downloads/berichte/antisemitismusbericht2021
http://cicad.ch/sites/default/files/news/pdf/Rapport%20CICAD%20Antis%C3%A9mitisme%20en%20Suisse%20romande%202021.pdf

 
Kanada: Zum Einfluss der Alt-Right auf die «Trucker-Proteste»

Die Proteste von LKW-Fahrer*innen wurden medial lange als reiner Widerstand gegen Pandemie-Auflagen behandelt. Doch der Einfluss von White Supremacists und Neonazis zeigt die Gefährlichkeit der Bewegung auf. Und wirft gleichzeitig Licht auf die bestehenden gesellschaftlichen Konfrontationen im Land.

Ottawa in Kanada am 2. Februar: LKWs blockieren eine Straße.
Ottawa in Kanada am 2. Februar: LKWs blockieren eine Strasse.

Nach wochenlangen Strassenblockaden und Platzbesetzungen in und um die kanadische Hauptstadt Ottawa hatte Premierminister Justin Trudeau am 14. Februar erstmals in der Geschichte Kanadas die Notstandsregelung («Emergencies Act») aktiviert. In der internationalen Berichterstattung hatte sich da längst der Begriff «Trucker-Proteste» etabliert. Das Bild von LKW-Fahrer*innen, welche (friedlich) gegen die Impfauflagen auf beiden Seiten der US-kanadischen Grenze demonstrierten, war aber von Beginn an nur die eine Seite der Geschichte.

Die Proteste wurden durch Personen der Alt-Right-Bewegung angeführt. Flaggen der US-Konföderationsstaaten, des „Dritten Reichs“, Hakenkreuze und gelbe Sterne waren in den LKW-Konvois genauso vertreten wie Todesdrohungen gegen den Premierminister. Rassistische und faschistische Ansichten waren omnipräsent, quasi als Spiegelbild der Anhängerschaft von Donald Trump. In Ottawa kam es schliesslich zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung. Der Journalist Dominic Johnson analysiert in einem Essay für die taz die zunehmende Spaltung in der kanadischen Gesellschaft, welche sich nun, wie zuvor bereits in den USA, immer mehr im öffentlichen Raum und in teils gewalttätigen Auseinandersetzungen manifestiert.

Seit 2006 und der Machtübernahme durch die CPC (Conservative Party of Canada) hat das Land einen klaren Rechtsruck erlebt. Das Sozialsystem wurde ausgehöhlt, die Einwanderungspolitik verschärft, Bildung privatisiert und Machtbefugnisse weg von der staatlichen Ebene hin zu den Bundesstaaten verschoben. Die Folgen waren (wie in vielen anderen Ländern mit diesem Hintergrund) gesellschaftliche Spaltungen, städtisch gegen ländlich, entlang der Linien von Bildung, Wohlstand und Ethnie. Die Proteste in Zeiten einer Pandemie müssen auch vor diesem Hintergrund gelesen werden.

Die Befürchtung, dass sich die Regierung nach der Auflösung der Blockaden wiederum an ihre erhöhten Machtbefugnisse klammert, hat sich zumindest momentan nicht bestätigt. Am 24. Februar hat Trudeau die Notstandsreglung wieder zurück genommen.

https://taz.de/Truckerproteste-in-Kanada/!5833858/
https://www.zeit.de/news/2022-02/24/trucker-proteste-kanada-hebt-notstandsregelung-auf?utm_referrer=https%3A%2F%2Fduckduckgo.com%2F

Kopf der Woche

Frankreichs Präsidentschaftswahlen – Valérie Pécresse

Nachdem wir die rechts-äussersten Kandidat*innen Marine Le Pen und Eric Zemmour vorgestellt haben, kommen wir nun zu Valérie Pécresse. Diese 54-jährige Profipolitikerin und ehemalige Ministerin von Nicolas Sarkozy ist die Kandidatin der «Les Republicains», der rechts-liberal-konservativen Partei; 2022 führt sie ihre Kampagne unter dem Slogan «Nouvelle France».

Valérie Pécresse, Kandidatin der «Les Republicains», der rechts-liberal-konservativen Partei.
Kandidatin der «Les Republicains», der rechts-liberal-konservativen Partei.

Valérie Pécresse spricht in ihrem Wahlkampf hauptsächlich reiche Unternehmer*innen an: So will sie z.B. das Ende der 35-Stunden-Arbeitswoche, die Sozialabgaben auf Seite der Arbeitgeber*innen senken (und als Kompensation die Löhne um 10% erhöhen), das Rentenalter von 62 auf 65 Jahre erhöhen, Beamt*innenstellen und Anrechte auf Arbeitslosengeld kürzen. Sie ist, im Gegensatz zu Marine Le Pen und Eric Zemmour, sehr EU-freundlich.

Im rechts-bürgerlichen Spektrum hat sich die Politikerin einerseits durch diese ultraliberale Haltung, aber auch durch ihre ultrakonservativen Gesellschaftswerte ausgezeichnet: So war sie 2012 und 2013 aktiv bei den grossen Demonstrationen gegen die Ehe für alle dabei, und pflegt einen richtigen «anti-Wokismus»: Für sie würde er «den Krieg der Geschlechter» schüren, was «das Gegenteil der Republik» sei.

Ganz in diesem Sinne ist die Politikerin auch zutiefst rassistisch. Sie will Migrationsquoten einführen und Menschen, die seit weniger als fünf Jahren in Frankreich sind, das Anrecht auf Sozialleistungen streichen. Aufenthaltsbewilligungen will sie daran koppeln, ob eine Person «genügend Ressourcen» hat und die «Laizität und Werte der Republik» respektiert. In ihrem Wahlmeeting hat auch sie die Verschwörungstheorie des Grand Remplacement erwähnt (siehe die antira-Wochenschau vom 14.02.2022).

In ihrer Kampagne hat Valérie Pécresse erklärt, dass sie «den Kärcher aus dem Keller holen will, […] denn es ist Zeit, Ordnung auf die Strasse zu bringen.» Dass man die französischen Banlieues mit einem «Kärcher» säubern sollte, hatte 2005 Nicolas Sarkozy schon gesagt. Dass Valérie Pécresse sich heute auf diesen Ausdruck bezieht, ist ein klares Zeichen dafür, dass sie als Präsidentin die gleiche harte Sicherheitspolitik wie dieser ehemalige französische Präsident durchsetzen will.

Was schreiben andere?

Kein Krieg in der Ukraine!

Saule Yerkebayeva vom Migrant Solidarity Network sprach an der Friedensdemo gegen den Krieg und für die direkte Solidarität.

“Die Nachrichten aus der Ukraine sind schockierend – Menschen werden gezwungen, sich in der U-Bahn oder im Keller zu verstecken, Häuser oder Autos von Zivilisten und Zivilistinnen werden vom Militär beschossen. Es passiert nicht hier in Mitteleuropa, aber es ist auch nicht so weit entfernt. Wir lesen diese Nachrichten, diskutieren auf Facebook oder Twitter darüber, während Tausende von Menschen vor Krieg und Not fliehen müssen.

Wer braucht einen Krieg? Ist Krieg notwendig für eine Mutter, die sich um ihre Söhne und Töchter kümmert? Brauchen die Schulkinder einen Krieg? Braucht ein grauhaariger Greis oder junge Menschen mit Träumen einen Krieg?

Nein, sie brauchen keinen Krieg! Sie wollen ihr Leben, aber ihnen wurde keine Wahl gelassen. Jetzt müssen Mütter um ihre Söhne und Töchter trauern, Schulkinder gehen nicht zur Schule, der Älteste greift zu den Waffen, um die Zukunft seiner Enkelkinder vor den Eindringlingen zu schützen, und die Träume junger Menschen sind zerstört.

Wer braucht also einen Krieg? Diejenige, die damit noch reicher werden können, diejenige, die ihre Macht weiter stärken und sozusagen ihre „Einflusszone“ erweitern. Dieser Krieg geschah aus der Laune mächtiger Männer, oligarchischer Gruppen.

Die Ukraine verfügt über Erdgasvorkommen, die zweitgrössten in Europa nach Norwegen.Tausende Menschen müssen vor dem Krieg fliehen. Aber wie dieser Krieg von einigen Personen hier wahrgenommen wird, macht mich traurig und wütend zugleich: In welcher verrückten Welt leben wir, in der es oft mehr Gewicht hat, nur über das sogenannte „Wohlbefinden“ zu reden, als über das Leben der Menschen? Wo sind die humanitären Traditionen? Warum wird so viel diskutiert und wenig gehandelt?

Wir selbst sind Flüchtlinge, die alles verloren haben, die Verfolgung durch die Behörden oder den Krieg ertragen mussten. Unsere gemeinsame Aufgabe besteht darin, dringend eine sichere Route für ukrainische Flüchtlinge zu schaffen. Das bedeutet auch, Grenzen zu öffnen und nicht noch mehr Geld und Waffen in sie zu stecken. Das bedeutet auch, jetzt zu handeln und nicht erst morgen. Das bedeutet auch, den geflüchteten Menschen hier und jetzt ein würdiges Leben und Rechte zu geben. Lassen Sie uns Flüchtlingen aus der Ukraine helfen!

Nein zur Militäraggression des Putin-Regimes gegen die Ukraine! Nein zum Krieg! Хай живе вільна Україна!“

Wie das UNHCR in Tunesien Geflüchtete auf die Strasse wirft

Seit sieben Nächten und acht Tagen protestieren Geflüchtete und Asylsuchende vor den Büros des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) im Süden Tunesiens, in Zarzis und Medenine.

lüchtlinge protestieren vor dem UNHCR-Büro in Zarzis, Tunesien - Quelle: Geflüchtete in Tunesien
Flüchtlinge protestieren vor dem UNHCR-Büro in Zarzis, Tunesien – Quelle: Geflüchtete in Tunesien

Pressemitteilung von Borderline Europe

“Immer mehr Menschen, die aus den Aufnahmezentren ausgewiesen werden, klagen an, dass die UN-Agentur, die ihnen Schutz bieten sollte, sie im Stich ließe.

Heute wagen es fast 200 Männer, Frauen und Kinder, sich zu zeigen und die Achtung ihrer Rechte einzufordern. Angesichts immer längerer und ungewisserer Asylverfahren, immer geringerer Aussichten auf eine permanente Niederlassungserlaubnis, fehlender rechtlicher Unterstützung, wiederholter Gewalt durch die Behörden und fehlender Beschäftigungsaussichten, verschlimmert die Ausweisung aus den Lagerunterkünften die äußerst prekäre Lage, in der sie sich befinden, nur noch.

Die meisten Protestierenden sind eritreischer, somalischer, sudanesischer oder äthiopischer Nationalität und durchliefen libysche Lager, bevor sie in Tunesien Zuflucht suchten. Doch mit der Entscheidung des UNHCR und seiner Partner*innen, die Hilfe für Menschen im Exil drastisch zu kürzen, sind diese allein auf sich gestellt in einer instabilen sozioökonomischen Situation und einem schwierigen politischen Umfeld, das durch zunehmenden Rassismus gekennzeichnet ist. Viele von ihnen haben keine andere Wahl, als nach Libyen zurückzukehren, ein gefährliches Land, aus dem sie verzweifelt versuchten hatten, zu entkommen.

Angesichts dieser eklatanten Rechtsverletzung fordern wir das UNHCR auf, seinen Auftrag zu erfüllen: Geflüchtete zu schützen, nicht Grenzen! Seit mehreren Jahrzehnten ist diese UN-Organisation an den schlimmsten Sicherheitspolitiken beteiligt, die Menschen unter unwürdigen Bedingungen immer weiter von den europäischen Grenzen entfernt stranden lassen.

Wir bringen unsere Solidarität mit allen Menschen im Exil zum Ausdruck, die für die Wahrung ihrer Rechte und ihrer Würde protestieren.

Schutz und Bewegungsfreiheit für alle!”

https://www.borderline-europe.de/sites/default/files/background/Press%20release%20refugees%20ITA%20FR%20ENG%20ESP%20GER-final._0.pdf

Wo gabs Widerstand?

Antifaschistische Demo in Bern

Am Samstag, 26.2., zogen gut tausend Menschen durch Bern um gegen Nationalismus zu protestieren und sich mit den besonders Betroffenen der Corona-Pandemie zu soldarisieren. Zuvor hatten in der Hauptstadt bereits 20 000 Menschen an der Demonstration für Frieden in der Ukraine teilgenommen.

Die Demo zog vom Waisenhausplatz durch die Innenstadt Berns.
Die Demo zog vom Waisenhausplatz durch die Innenstadt Berns.

Die Antifa-Demo fand auch als Reaktion auf die Corona-Massnahmen-Demonstration vom 22. Januar statt, an der Neonazis an vorderster Front liefen. Folgend ein Auszug aus dem Flyer, der an der Demo verteilt wurde:

«Lange haben wir davor gewarnt und darauf hingewiesen – und nun ist es passiert. Neonazis zogen offiziell am 22. Januar an vorderster Front einer massnahmenkritischen Demonstration durch die Stadt. Dass in dieser Demonstration mit Nazi-Symboliken förmlich um sich geworfen wurde, und mit entsprechenden Fake-News und Verschwörungserzählungen zur Demonstration aufgerufen wurde, scheint dem Bundesrat kein Dorn im Auge zu sein. Dass sich aber Gruppierungen wie z.B. die Junge Tat mit diesen Ideologien gezielt verunsicherte Menschen suchen, um diese bei sich einzugliedern und zu radikalisieren, sollte nicht einfach als Teil der Meinungsfreiheit abgetan werden. Die sich nicht auf Fakten basierenden Verschwörungserzählungen verstärken den Hass und die Angst in dieser verwirrenden Zeit der Pandemie und verschärfen die Symptome der allgemeinen Gesamtituation in der wir uns befinden. Wenn die Regierung es offenbar nicht schafft, ein klares Zeichen gegen menschenverachtende Ideologien, Geschichtsrevisionismus und Holocaustverharmlosung zu setzen, liegt die Verantwortung nun bei uns, genau das zu tun.»

Das ganze Communique zur Demo, den Flyertext und weitere Bilder findet ihr hier: https://barrikade.info/article/5035

Was steht an?

Ein Gespräch mit Frauen in der Seenotrettung
08.03.22 I 19:00 Uhr I online
Am diesjährigen Weltfrauentag möchten wir euch die Möglichkeit geben zwei tolle Frauen kennenzulernen, die an Bord der Ocean Viking waren: Stefanie, Leiterin des medizinischen Teams, und Emmanuelle Chaze, die unsere Rettungseinsätze im April 2021 als unabhängige Journalistin begleitet hat. Sie werden von ihren Erfahrungen erzählen, über die starken Frauen sprechen, die übers Mittelmeer geflohen sind und die sie an Bord der Ocean Viking getroffen haben und eure Fragen antworten.

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Zwei Jahre nach Hanau: Über Aufklärung hinaus kämpfen!
Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch “Auklärung” rassistischer “Einzelfälle”, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.
https://lowerclassmag.com/2022/02/18/zwei-jahre-nach-hanau-uber-aufklarung-rassismus-polizeiproblem-hinaus-kampfen/
 
Nach Foltergeständnis: 24 Jahre Haft für die Baskin Iratxe Sorzabal
Anfang Februar stand die Baskin Iratxe Sorzabal in Madrid vor Gericht. Nun wurde sie aufgrund eines unter Folter erzwungenen Geständnis zu 24 Jahren Haft verurteilt. Der Fall wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf die Folterpraxis des spanischen Staates.
https://www.ajourmag.ch/iratxe-sorzabal/
 
Nazi-Mode aus Merishausen
Der Fashion-Guru der europäischen Rechtsextremen hat sich in die Anonymität eines Schaffhauser Dorfes zurückgezogen. Doch dann taucht sein Auto in ­einem Dok-Film ­auf. Und sein Treuhänder kommt ins Plaudern. Eine Spurensuche.
https://www.shaz.ch/2022/02/24/nazi-mode-aus-merishausen/
 

Wer Schutz sucht, findet Grenzen
In Serbien harren weiterhin zahlreiche Geflüchtete aus, die versuchen, über die Grenzen zu Kroatien und Ungarn in die Europäische Union zu gelangen. Die Grenzanlagen werden derweil immer besser abgesichert, unter anderem mit Drohnen- und Sensorsystemen.
https://jungle.world/artikel/2022/07/wer-schutz-sucht-findet-grenzen

Johann August Sutter: Ein Pionier wird vom Sockel gestossen
Vom Westernheld zum rassistischen Kolonialisten: Die Sicht auf den Schweizer Pionier Johann August Sutter veränderte sich in den letzten Jahrzehnten.
https://www.swissinfo.ch/ger/johann-august-sutter–ein-pionier-wird-vom-sockel-gestossen/47327390