Medienspiegel 22. Februar 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Asylunterkunft in Muri: Tannental wird zur Kollektiv¬unter¬kunft umfunktioniert
Die individuellen Unterbringungen von Asylsuchenden in der Muriger Liegenschaft werden aufgebrochen: 60 Erwachsene und Familien sollen Platz finden.
https://www.bernerzeitung.ch/tannental-wird-zur-kollektivunterkunft-umfunktioniert-727483585436
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/weko-buesst-belagswerk-aus-rubigen?id=12148119 (ab 03:26)
-> https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=f6b94765-e6c4-40e9-9925-77423be8ad78


+++SCHWEIZ
ABGEWIESENE ASYLSUCHENDE – «DAS NOTHILFESYSTEM MACHT KRANK»: MEDIZINER WENDEN SICH IN OFFENEM BRIEF AN DIE POLITIK
Die Bedingungen im Nothilfesystem seien fast überall gesundheitsschädigend, kritisieren mehrere hundert Fachpersonen aus Medizin und Psychologie und fordern eine Umgestaltung.
https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/abgewiesene-asylsuchende-das-nothilfesystem-macht-krank-mediziner-wenden-sich-in-offenem-brief-an-die-politik-ld.2254414


+++MITTELMEER
EuGH-Gutachten – Italien darf Seenotretter von Sea-Watch kontrollieren
Migranten-Rettungsschiffe dürfen laut dem Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof zur Kontrolle festgehalten werden.
https://www.srf.ch/news/international/eugh-gutachten-italien-darf-seenotretter-von-sea-watch-kontrollieren


Italienische Küstenwache rettete 573 Flüchtlinge aus zwei Fischerbooten
Ein Flüchtling konnte nur noch tot geborgen werden. 59 Minderjährige waren an Bord der überladenen Boote
https://www.derstandard.at/story/2000133560285/italienische-kuestenwache-rettete-573-fluechtlinge-aus-zwei-fischerbooten?ref=rss
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-02/italienische-kuestenwache-fluechtlinge-mittelmeer-rettung?utm_referrer=https%3A%2F%2Ft.co%2F


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
«Nazifrei»-Demo in Basel, G20-Gipfel in Hamburg: Demonstrant erhält letzte Chance
Mehrfach vorbestraft, immer wieder an gewalttätigen Demos dabei: Das Basler Strafgericht gibt einem 34-jährigen Demonstranten aus Zürich als letzte Chance eine bedingte Freiheitsstrafe mit maximaler Probezeit.
https://www.bzbasel.ch/basel/demonstrant-erhalt-letzte-chance-ld.2254824


+++SPORTREPRESSION
bzbasel.ch 22.02.2022

«Das Abseitsstehen stört uns»: Landrat stimmt nochmals über Hooligan-Konkordat ab

Also doch: Das revidierte Hooligan-Konkordat kommt erneut ins Kantonsparlament. Die Mitte-GLP-Fraktion reicht einen Vorstoss ein, die den Beitritt Basellands fordert. Die Massnahme sei notwendig, heisst es im Motionstext, weil sich die Gewaltbereitschaft wieder verstärkt habe.

Benjamin Wieland

Der Baselbieter Landrat wird das revidierte Hooligan-Konkordat nochmals behandeln. Die Mitte-GLP-Fraktion reicht einen Vorstoss ein, der den Beitritt zum Hooligan-Konkordat II fordert. Die Kantonsparlamente in Baselland wie Basel-Stadt haben die verschärfte Form des Hooligan-Konkordats nicht ratifiziert – als einzige zwei Kantone.

«Leider hat sich in letzter Zeit die Gewaltbereitschaft der Fussballfans wieder verstärkt», heisst es im Motionstext, «sodass vor allem das Baselbiet davon betroffen war.» Deshalb ist laut der Mitte-GLP-Fraktion der Beitritt des Kantons Baselland zum interkantonalen Vertragswerk überfällig.

Es sei stossend, sagt Mit-Urheber Yves Krebs (GLP, Oberwil) auf Anfrage, dass Baselland und Basel-Stadt ein «Extrazüglein» fahren würden: «Das Abseitsstehen stört uns. Vor allem auch, dass man sich selber in die Tasche lügt mit der Behauptung, es gebe in der Region überhaupt keine Probleme mit Fangewalt.»

Das erweiterte Konkordat sei sicher kein Allerheilmittel, ergänzt der Oberwiler. Im Vordergrund stehe ein einheitliches Vorgehen gegen Gewalt aller 26 Kantone.

Das Hooligan-Konkordat ist im Landkanton wieder ein Thema geworden, nachdem im vergangenen Oktober die Konferenz der kantonalen Polizei- und Justizdirektorinnen und -direktoren (KKJPD) die ID-Pflicht für Spiele der Super League beschlossen hatte. Im vergangenen Sommer und Herbst war es vermehrt zu gewalttätigen Vorkommnissen mit Fussballfans gekommen.

In Basel-Stadt zeigte sich Justizdirektorin Stephanie Eymann (LDP) aufgeschlossen gegenüber dem Vorhaben, bei Heimspielen des FC Basel personalisierte Tickets einzuführen. Das sei wohl auch ohne Beitritt zum revidierten Konkordat möglich, liess Eymann im November in der bz verlauten: als neuer Bestandteil der Bewilligung.

Zustimmung wäre heute grösser als 2014

Mark Burkhard, Kommandant der Baselbieter Polizei, sprach kürzlich in der Justiz- und Sicherheitskommission des Landrats vor, um für die Ausweispflicht und andere Möglichkeiten, die das erweiterte Konkordat böte, zu werben. Sicherheitsdirektorin Kathrin Schweizer (SP) stärkte Burkhard im Interview mit der bz den Rücken. Zwar habe der Landrat das Hooligan-Konkordat II 2014 abgelehnt, zu den Nein-Stimmenden habe auch sie selber damals noch als Landrätin gehört, sagte Schweizer. Aber: «Man kann sich acht Jahre später berechtigterweise fragen: Wo stehen wir heute? Ist der damalige Entscheid noch richtig?»

So wie Schweizer denken offensichtlich auch immer mehr Landratsmitglieder. Bei der Abstimmung 2014 scheiterte die Hooligan-Konkordats-Vorlage schon bei der Eintretensdebatte, mit 10 Ja gegenüber 72 Nein. Als einzige stand die damalige CVP-EVP-Fraktion hinter dem Geschäft.

Doch heute würde das Konkordat sicherlich mehr Stimmen erhalten. Eine Umfrage der bz unter den Fraktionspräsidien zeigte, dass die SVP und die GLP die Seite gewechselt haben. Gespalten präsentiert sich die FDP, die noch 2014 einige der erbittertsten Gegner vereinte. Den jetzigen Vorstoss hat die Mitte-GLP-Fraktion einstimmig beschlossen.

Polizei verspricht sich mehr «Hits»

«Konkordate sind Verträge unter den Kantonen, die Bereiche regeln, die unter kantonaler Hoheit stehen. So kann ein Konkordat etwa kantonale Gesetze und Verordnungen vereinheitlichen, ohne dass es ein nationales Gesetz notwendig ist. Das Hooligan-Konkordat II umfasst Verschärfungen oder Massnahmen bei Meldeauflagen, Bewilligungsvorgaben und Polizeigewahrsam, möglich sind aber auch Rayonverbote, die in allen Konkordatskantonen wirksam würden. Zu den Kannbestimmungen gehören die ID-Pflicht und das Kombiticket für Stadioneintritt und Fanzug für Auswärtsfans. »

Gerade die ID-Pflicht wäre für die Arbeit der Polizei eine entscheidende Erleichterung, sagte Mark Burkhard zur bz. So würde den Abgleich mit der Hooligan-Datenbank Hoogan erleichtern und damit «sicherstellen, dass keine erkannten Gewalttäter mehr Zugang zu den Stadien erhielten».

Béatrix von Sury d’Aspremont (Die Mitte, Reinach), Vizepräsidentin der Justiz- und Sicherheitskommission, sagt, das revidierte Hooligan-Konkordat sei ein heisses Eisen: «Aus unserer Sicht ist es aber an der Zeit, die Debatte jetzt wieder zu lancieren und auch darüber zu sprechen, wie eine Umsetzung der Massnahmen konkret aussehen könnte.»

Die jüngsten Signale aus dem Stadtkanton würden darauf hinweisen, ergänzt von Sury, dass auch in Basel-Stadt gerade bei der ID-Pflicht das letzte Wort längst nicht gesprochen sei. «Wir haben uns aber noch nicht mit Kolleginnen oder Kollegen aus dem Grossen Rat abgesprochen.»

Die Gegnerinnen und Gegner an den Verschärfungen argumentieren, dass sich die Gewalt mit den Verschärfungen noch stärker auf Schauplätze ausserhalb der Stadien verlagere. Und dass die Verschärfungen in den 24 Kantonen, die dem erweiterten Konkordat bereits beigetreten seien, Ausschreitungen und Vandalismus nicht hätten wirkungsvoll verhindern können. Hingegen sei der «Basler Weg» als erfolgreich zu bezeichnen, die Bemühungen bei Prävention und Fanarbeit folgerichtig zu stärken.
(https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/vorstoss-also-doch-landrat-stimmt-nochmals-ueber-hooligan-konkordat-ab-ld.2254034)
-> https://telebasel.ch/2022/02/22/soll-das-baselbiet-dem-hooligan-konkordat-beitreten/?utm_source=lead&utm_medium=grid&utm_campaign=pos%200&channel=3563


+++JUSTIZ
Vernehmlassung: «Separate Vorlage zur Justizverfassung»
Der Grosse Rat hat in der Herbstsession 2021 eine Verfassungsvorlage zur «Justizverfassung und Massnahmen aus der Justizreform II» in erster Lesung beraten. Diese wird nun aufgeteilt. Hintergrund ist ein zwischenzeitlich erfolgtes Kurzgutachten, welches zum Schluss kommt, dass eine Bestimmung der Vorlage mit Blick auf die Einheit der Materie möglicherweise problematisch sein könnte. Zur dieser und einer weiteren Bestimmung erfolgt nun in einem verkürzten Verfahren eine Vernehmlassung. Die zweite Lesung der Vorlagen findet in der Sommersession 2022 statt.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=eee8bf70-a699-4c34-ad16-fde72a65830b


+++KNAST
Brians Anwälte zweifeln an unabhängiger Untersuchung
Der 26-jährige Straftäter Brian und seine Anwälte haben Strafanzeige gegen die Verantwortlichen des Zürcher Justizvollzugs eingereicht. Grund sind Brians jahrelange Einzelhaft – ohne Kontakt zu Mithäftlingen. Doch seine Anwälte zweifeln, dass die Zürcher Staatsanwalt unabängig ermitteln kann.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/brians-anwaelte-zweifeln-an-unabhaengiger-untersuchung?id=12147999


+++POLICE BE
Polizei und Armee üben gemeinsam für den Krisenfall
Um die Unterstützung ziviler Behörden im Krisenfall zu trainieren, findet in der Stadt Bern und Umgebung vom 15. bis 19. August 2022 eine praktische Verbundsübung der Polizei mit der Armee statt. Die Übung «Fides» war ursprünglich im vergangenen Sommer vorgesehen, wurde infolge der Corona-Situation aber um ein Jahr verschoben. Basierend auf den Erkenntnissen der Sicherheitsverbundsübung 2019 werden Einheiten der Territorialdivision 1 im Auftrag und zur Entlastung der Polizei den Schutz von kritischen Infrastrukturen planen und teilweise auch praktisch umsetzen.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=01d37b43-291e-4ba2-ac64-eba1fddf94b0
-> https://www.derbund.ch/polizei-und-armee-ueben-in-bern-den-krisenfall-282586774429
-> https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/kanton-bern/gemeinsam-ueben-fuer-den-krisenfall


+++RASSISMUS
Familie wird mit rassistischen Zetteln im Briefkasten belästigt
Eine unbekannte Person hat einer Bieler Familie mit türkischem Nachnamen rassistische Zettel in den Briefkasten gelegt. Diese hat nun Anzeige erstattet.
https://www.20min.ch/story/familie-wird-mit-rassistischen-zetteln-im-briefkasten-belaestigt-685968460708



bielertagblatt.ch 22.02.2022

Spahr und Fiechter landen vor dem Bundesgericht

In zweieinhalb Wochen befindet das Bundesgericht über den Rassismus-Fall der Co-Präsidenten der Jungen SVP Kanton Bern, Adrian Spahr und Nils Fiechter. Die Öffentlichkeit darf mithören.

Am 10. März befasst sich das Bundesgericht in Lausanne mit dem Rassismus-Fall der beiden Co-Präsidenten der Jungen SVP Kanton Bern, Nils Fiechter und Adrian Spahr. Es geht um eine Zeichnung, die im Vorfeld der Grossratswahlen im Frühling 2018 auf Facebook veröffentlicht wurde. Darauf waren ausländische Fahrende in Zusammenhang mit Schmutz, Fäkalien, Lärm und Diebstahl gebracht worden. Fiechter und Spahr sind für die Zeichnung verantwortlich. Sie wollten sich damit gegen den geplanten Transitplatz für ausländische Fahrende in Wileroltigen einsetzen. Sowohl das Regionalgericht als auch das Obergericht haben entschieden, dass die Zeichnung den Straftatbestand der Rassendiskriminierung erfülle.

Ein Erfolg für Spahr und Fiechter

Fiechter und Spahr bezeichneten das Urteil damals als «Skandal» und machten bereits kurz nach der Urteilsverkündung des Obergerichts Ende 2019 publik, dass sie das Verfahren ans Bundesgericht weiterziehen werden. Gestern informierte die Junge SVP Kanton Bern die Medien über die öffentliche Beratung des Falls vor Bundesgericht.

Die beiden Jungpolitiker sehen dies als Erfolg. Dass der Fall öffentlich beraten werde, zeige auf, dass er «eine fundiertere Analyse» verdiene als dies bei den Vorinstanzen der Fall gewesen sei. Weiter wollen die beiden bis zur Urteilsverkündung des Bundesgerichts keine Stellung mehr nehmen, schreiben sie in der Mitteilung. haf
(https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/seeland/spahr-und-fiechter-landen-vor-dem-bundesgericht)

—-

Jutta Ditfurth »Kolonialismus + Rassismus. Warum M*Wort + N*Wort rassistisch sind«
Rassismus ist seit hunderten von Jahren tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt, nicht erst seit den rassistischen Pogromen von Rostock-Lichtenhagen 1992 und Solingen 1993 oder Hanau 2020. Am 27.1.2022 hielt Jutta Ditfurth, Stadtverordnete von ÖkoLinX-ELF im Römer im Frankfurter Stadtparlament eine Rede über die Geschichte des Rassismus und setzte sich mit »deutschem Weltgeist«, Kolonialismus und der Konstruktion von »Rassen« auseinander. Sie zeigte, was rassistische Denker:innen wie Kant, Hegel, Hannah Arendt und Rudolf Steiner mit der Entstehung und dem Andauern des Rassismus bis heute zu tun haben.
https://www.youtube.com/watch?v=rIOmlSqVrks



derbund.ch 22.02.2022

Umstrittene Kolonialismus-Doku: «Nur für einen kranken Menschen ist Töten ein einfacher Akt»

Kolonialismus, Völkermord und Rassismus: In der aufwühlenden Doku-Reihe «Rottet die Bestien aus!» auf Arte verdichtet Raoul Peck 700 Jahre europäischer Verbrechen.

Jörg Häntzschel

In seiner Doku «Rottet die Bestien aus!» erzählt Raoul Peck die lange Geschichte der von Europäern begangenen Gewalt, vom Sklavenhandel und der Ausbeutung und Ausrottung der Indigenen in Amerika über den Kolonialismus in Afrika bis hin zum Holocaust.

Sie erzählen die Geschichte von 700 Jahren weissen Verbrechen an Nichtweissen. Warum war dieser Film notwendig?

Raoul Peck: Ich mache Filme als Instrumente für mein Engagement. Nach «I Am Not Your Negro» habe ich überall auf der Welt mit Zuschauern gesprochen. In Schweden wurde über den neuen Rechtsextremismus diskutiert, in Australien über die Aborigines, in Brasilien über den Rassismus gegen Schwarze. Ich habe aber auch Leugnung gespürt, etwa in Frankreich und Italien, als wäre das alles nur ein amerikanisches Problem. Da wusste ich, ich muss tiefer gehen und die Wurzeln der ganzen Geschichte auf den Tisch legen.

Der Preis dafür ist: Sie müssen jedes einzelne Ereignis so reduzieren, dass es unter den Nenner passt.

Ich reduziere nichts. Ich benenne und erkläre, was passiert ist. Und, glauben Sie mir, wenn ich von Deutschland und der Shoah spreche, dann spüre ich das wie in meinem Körper. Ich habe 15 Jahre lang in Deutschland gelebt. Und an keinem Tag habe ich vergessen, was in diesem Land passiert ist.

Sie reduzieren die Ereignisse um ihre Einzigartigkeit.

Das ist nicht wichtig. Wichtig ist: Wie verbinde ich sie? Wie konstruiere ich eine Erzählung, nachdem ich Geschichte dekonstruiert habe. Dieser Film ist keine Doktorarbeit. Sondern der Versuch, Geschichte auf eine andere Weise zu erzählen.

Sie blenden von einem Nazi-Massaker in Polen über zum Bürgerkrieg in Ruanda, der Link sind die Leichenberge.

Sie verstehen nicht, von welchem Standpunkt aus ich spreche. Meine Geschichte, meine Weltsicht wurde verschwiegen. Und Sie ermahnen mich, sorgsamer mit Ihrer Geschichte umzugehen? Ich meine nicht Sie persönlich, aber ich höre das von vielen westlichen Kommentatoren: ‹Hier lassen Sie etwas aus! Und das hätten Sie differenzierter darstellen müssen!› Sie weigern sich, die Rolle derjenigen abzugeben, die bestimmen, was Geschichte ist. Mein ganzes Leben lang wurde ich gefüttert mit deutscher, französischer, amerikanischer Geschichte. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Jetzt macht ihr bitte eure!

Sprechen wir über Ihr nichtlineares Erzählen.

Wir wachsen auf mit amerikanischen Filmen. Sie werden zur «Unterhaltung» gemacht, aber sie transportieren auch ein Sieger-Weltbild. Nicht zuletzt die drei Akte, aus denen sie bestehen: Der erste Akt führt in das Problem ein, im zweiten wird gekämpft, der dritte bringt die Lösung.

In Ihrem Film erscheint Fortschritt unmöglich.

Fortschritt für wen? Was ich sage ist: Die Welt, wie Sie sie sehen, ist eine eurozentrische Konstruktion. Wie James Baldwin sagt: «Mein Leben lang musste ich Sie ansehen, aber nie mussten Sie mich ansehen. Ich weiss mehr über Sie als Sie über mich.» Es ist wie bei Master und Sklave: Der Sklave ist im Schlafzimmer des Masters. Er sieht ihn, wenn er mit seiner Frau schläft und wenn er Durchfall hat. Der Sklave muss ihn permanent beobachten, denn sein Leben ist in seiner Hand. Aber der Master sieht den Sklaven nicht. Darin liegt übrigens seine Schwäche.

Ich meinte etwas anderes. Sie sagen, die Sklaverei wurde nie wirklich abgeschafft. Die Bürgerrechtsbewegung, Obama, all das spielt keine Rolle. Wirklich?

Erinnern Sie sich an James Baldwins mildes Lächeln am Anfang von «I Am Not Your Negro», als ihm dieselbe Frage gestellt wurde? Mir geht es um den Kampf, den ich jeden Tag führen muss. Wie kann ich den Menschen, denen ich begegne, verständlich machen, dass sie ein Bild von mir haben, das auf Vorurteilen beruht? Nehmen Sie irgendeinen Franzosen. Er sagt zu mir: «Sie kommen aus Haiti? Oh Gott, Haiti ist so arm!» Aber Haiti hat nicht beschlossen, arm zu sein. Haiti produzierte ein Drittel von Frankreichs Reichtum. Wenn ein Franzose das nicht weiss, verstehen wir uns nicht. Er glaubt weiter, was Le Pen oder Zemmour ihm erzählen: Die Einwanderer wollen nur unser Brot. Ein Passant auf der Strasse sieht mich und sieht einen Schwarzen – und fantasiert über seine Vision einer hierarchischen Welt.

Und Sie machen diese Erfahrungen heute, in Paris?

Jeden Tag. In welcher Welt leben Sie?

Sie verwenden gespielte Szenen, um Dinge zu zeigen, wie sie passiert sind, aber auch um Dinge zu zeigen, die gerade nicht passiert sind, wie die Szene mit den weissen Kindern in Ketten. Und indem Sie Josh Hartnett die Rolle des Weissen spielen lassen, egal in welchem Jahrhundert, zerlegen Sie die Illusion von Echtheit.

Alles in diesem Film ist wahr. Auch die Szene mit den weissen Kindern. Ich stütze mich auf das Tagebuch eines schwedischen Pastors. Aber ich wollte weiter gehen. Ich wollte die weissen Zuschauer fühlen lassen, wie es ist, ein versklavtes weisses Kind zu sehen, euch ein Bild zeigen, das ihr noch nie gesehen habt, aber das ich mein ganzes Leben lang gesehen habe. Die Szene hat viele sehr aufgewühlt.

Auch das Archivmaterial ist sehr drastisch. Stumpft das nicht ab, die verstümmelten Menschen, die Leichenberge?

Sie vielleicht. Mich stumpfen diese Bilder nicht ab, seit ich zwölf war und sah, wie John Wayne Indianer tötete. Wenn ich in Hollywoodfilmen tote Indianer oder Vietnamesen sehe , denke ich immer an meine Familie, meine Tochter. Ich versuche, die Abstumpfung des westlichen Publikums zu durchbrechen. Aber ich wähle meine Bilder sorgfältig. Deshalb ist die Figur von Josh Hartnett auch kein bad guy. Er ist ein Mensch, kein pathologischer Killer.

Er wird gegen Ende sehr nachdenklich.

Nur für einen kranken Menschen ist Töten ein einfacher Akt. Frantz Fanon schreibt über die Folgen der Folter im Algerienkrieg, aber nicht nur für die Opfer, auch für die französischen Folterer. Das bleibt in der Gesellschaft. Wenn jemand in meinen Filmen tötet, achte ich immer darauf, dass wir seine Augen sehen und erkennen: Es ist eine Entscheidung. In meinen Filmen ist Gewalt nie beliebig.

Warum kommt ihre Serie gerade jetzt?

Wegen Trump, wegen des Rassismus in Frankreich, wegen des Aufstiegs des Rechtsextremismus, weil die Demokratie in Gefahr ist, und weil die Menschen beginnen zu vergessen. Es gibt immer weniger Überlebende des Holocaust, es gibt diese angebliche Konkurrenz zwischen Holocaust, Sklaverei und anderen Genoziden. Nein, es gibt keine Konkurrenz. Wir müssen nur die ganze Geschichte verstehen. Geschichte wurde in kleine Stücke zerteilt. Deshalb realisieren die meisten nicht, dass die Amerikaner nicht irgendein Volk waren, das vom Himmel gefallen ist, um Amerika zu kolonisieren. Nein, es waren Europäer. Die Neue Welt ist nur die Fortführung der Alten. Hitler verstand die USA als Modell für Deutschland. Wenn Sie diese Verbindung nicht machen, verstehen Sie nichts.
(https://www.derbund.ch/nur-fuer-einen-kranken-menschen-ist-toeten-ein-einfacher-akt-549971775254)


+++RECHTSPOPULISMUS
Kolumne von Rudolf Strahm: Wer Frontex ablehnt, überlässt die Migration den Schleppern und Banden
Soll die Schweiz mehr Geld an die Grenzschutzorganisation der EU bezahlen? Die Frage sollte ohne moralisches Getöse mit dem Blick auf einige unbequeme Realitäten beantwortet werden.
https://www.bernerzeitung.ch/wer-frontex-ablehnt-ueberlaesst-die-migration-den-schleppern-und-banden-772003933154


+++RECHTSEXTREMISMUS
Debatte um Hakenkreuzverbot: Extreme Toleranz
Schweiz: Regierung will erneut kein Verbot hitlerfaschistischer Symbole einführen. Bundesrat begründet das mit Meinungsfreiheit
https://www.jungewelt.de/artikel/421335.debatte-um-hakenkreuzverbot-extreme-toleranz.html


«Die Mitte liegt nicht zwischen Nazis und Antifa»
Juso-Präsidentin Ronja Jansen fordert von Bürgerlichen ein klares Statement gegen Rechtsextremismus. Zu oft würden Links- und Rechtsextreme in denselben Topf geworfen. Basler Politiker reagieren.
https://bajour.ch/a/Xg1HpVmTyNuENdBD/die-mitte-liegt-nicht-zwischen-nazis-und-antifaschistinnen


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Freiheitstrychler: Machtkampf mit markenrechtlichen Mitteln
Bei den «Freiheitstrychlern» tobt ein «wüster Machtkampf»: Die radikalen Gegner von Schutzmassnahmen gegen das Coronavirus in der Schweiz streiten um Ausrichtung, Einfluss und Geld – und auch das Markenrecht spielt eine Rolle.
https://steigerlegal.ch/2022/02/21/freiheitstrychler-marken-schweiz/


So konnte ein Schweizer Start-Up den QAnon-Gründer identifizieren
Das Westschweizer Start-Up OrphAnalytics konnte den Gründer der QAnon-Verschwörerbewegung identifizieren. Wie, das erklärt CEO Claude-Alain Roten im Interview.
https://www.nau.ch/news/schweiz/so-konnte-ein-schweizer-start-up-den-qanon-grunder-identifizieren-66113299


Wegen Apéro vor dem Richter: Gericht spricht Massnahmengegner teilweise frei
Ein ehemaliges Mitglied der «Freunde der Verfassung» musste sich am Dienstag vor Gericht verantworten. Es ging um Verstösse gegen die früher geltenden Corona-Regeln.
https://www.blick.ch/politik/wegen-apero-vor-dem-richter-gericht-spricht-massnahmengegner-teilweise-frei-id17260442.html
-> https://www.derbund.ch/massnahmengegner-erringt-teilerfolg-vor-berner-gericht-430037972206


Antifa-Online-Tresen Nord-Ost: Impfgegner und die Fiktion der Freiheit
Eine historische Analyse zu Impfgegnern, Querdenkern und Verschwörungsgäubigen
https://www.youtube.com/watch?v=J9CxoUm5xcM


NANO vom 22. Februar 2022: Querdenker – Opfer einer Infodemie?
Woche für Woche ziehen Tausende durch europäische Innenstädte. Der Zweifel an Politik, Wissenschaft und Medien eint sie. Doch zwischen Fehlinformationen und Halbwahrheiten scheinen viele Menschen den Überblick zu verlieren.
https://www.3sat.de/wissen/nano/220222-sendung-nano-102.html


Thurgauer Car-Chauffeur wehrt sich gegen Wegweisung aus dem Kanton St.Gallen während illegaler Coronademo – und bekommt teilweise Recht
Ein Thurgauer Carchauffeur wurde im vergangenen April mit einer Busladung voll Coronademonstranten nicht an eine illegale Kundgebung in Rapperswil vorgelassen. Nach kurzer Zeit wurde er ein zweites Mal angehalten und des Kantons verwiesen. Zu Unrecht, wie das Verwaltungsgericht St.Gallen nun entschieden hat.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/gerichtsurteil-thurgauer-carchauffeur-wehrt-sich-gegen-wegweisung-aus-dem-kanton-stgallen-waehrend-illegaler-coronademo-und-bekommt-teilweise-recht-ld.2254783


+++ANTISEMITISMUS
Nicht mehr als ein Stimmungsbarometer
Der heute Dienstag erschienene Antisemitismusbericht 2021 präsentiert aktuelle Trends und weist erneut strukturelle Mängel auf.
https://www.tachles.ch/artikel/news/nicht-mehr-als-ein-stimmungsbarometer
-> Medienmitteilung SIG: https://swissjews.ch/de/news/antisemitismusbericht2021
-> Antisemitismus-Bericht 2021: https://swissjews.ch/de/downloads/berichte/antisemitismusbericht2021
-> https://www.20min.ch/story/judenfeindliche-vorfaelle-haben-massiv-zugenommen-371937344577
-> https://www.watson.ch/schweiz/religion/465032625-antisemitismus-corona-pandemie-verstaerkt-verschwoerungstheorien
-> https://www.blick.ch/schweiz/juedische-gemeinschaft-schlaegt-alarm-so-viel-hetze-gegen-juedische-menschen-gab-es-noch-nie-id17257092.html
-> https://www.blick.ch/schweiz/junge-juden-erklaeren-ihre-religion-in-schweizer-schulzimmern-liora-und-jonathan-sagen-was-koscher-ist-id17256801.html
-> https://www.toponline.ch/news/coronavirus/detail/news/corona-pandemie-verstaerkt-antisemitische-verschwoerungstheorien-1-00175970/
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/antisemitische-vorfaelle-nehmen-in-der-schweiz-zu?urn=urn:srf:video:dd6e66fa-dabc-4b98-8b33-6ffa8e010d73
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/corona-verschwoerungstheorien-wie-die-pandemie-dem-antisemitismus-auftrieb-gegeben-hat


Ralph Lewin: Die Pandemie als Antisemitismus-Treiber
Der Antisemitismusbericht 2021 verzeichnet vor allem online einen deutlichen Anstieg bei den gemeldeten antisemitischen Vorfällen. Warum wirkt die Pandemie als Treiber von Antisemitismus? Gast im «Tagesgespräch» ist Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG.
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/ralph-lewin-die-pandemie-als-antisemitismus-treiber?id=12148089



derbund.ch 22.02.2022

Antisemitismus in der Schweiz: Er sieht, wenn in Corona-Chats gegen Juden gehetzt wird

In Chats auf Telegram finden Antisemiten ein grosses Publikum. Ein Mann dokumentiert ihr Verhalten seit Beginn der Pandemie.

Luca De Carli

Hier sind sich reale und virtuelle Welt ganz nah. «Kein Sex mit Geimpften» steht auf einem Sticker, der neben dem Eingang zu einem Bürogebäude in Zürich befestigt wurde. Drinnen erwartet uns der Mann, der die sprachlichen Entgleisungen der Schweizer Corona-Leugnerinnen und Impfgegner in den sozialen Netzwerken so genau kennt wie wohl niemand sonst im Land. R., der anonym bleiben möchte, beobachtet ihre Chats auf dem Messengerdienst Telegram. Seit 20 Monaten liest er mit, jeden Tag Hunderte Nachrichten.

Sein Auftraggeber ist der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). Nachdem in der ersten Phase der Pandemie Medienberichte über antisemitische Parolen auf Telegram erschienen sind, wollte der SIG mehr dazu wissen. Die Bilanz für 2021: 451 antisemitische Vorfälle hat R. in den Chats entdeckt – deutlich mehr als im Vorjahr und doch nur die Spitze des Eisbergs. Diese Chats «ziehen Personen mit antisemitischen Haltungen an», schreibt der SIG in seinem neuen Antisemitismusbericht, der am Dienstag erschienen ist.

An diesem Nachmittag liegen zwei Handys vor R. auf dem Tisch. Abonniert hat er ein Dutzend Chats auf dem abgenutzten Dienstgerät. Er will keine Risiken für sich und seine Angehörigen eingehen. Angemeldet ist er bei Telegram mit einem Allerweltsnamen. So geht er unter in der Masse der Chat-Abonnenten. Er liest mit, schreibt aber nie selbst. «Auch wenn es mich manchmal juckt, etwas richtigzustellen», sagt R.

Er scrollt für uns durch einen der Chats, in dem er besonders oft antisemitische Inhalte findet. Knapp 2000 Abonnenten sind dabei. Echte Namen inklusive Porträtfoto wechseln sich ab mit anonymen Profilen. Man liest Aufrufe zu Demonstrationen, Wutreden gegen Politiker, Verschwörungstheorien. Und in regelmässigen Abständen tauchen Aussagen auf wie diese: «Es sind die Juden, die Krieg gegen alle freien Völker führen.»

Solche offen antisemitischen Äusserungen lösten manchmal Widerspruch bei anderen Abonnentinnen und Abonnenten aus, sagt R. Die Verwalter der Chats griffen jedoch so gut wie nie ein, obwohl sie Mitteilungen löschen und Abonnenten sperren könnten. Mit dem Argument der Meinungsäusserungsfreiheit werde fast alles zugelassen. Ausser jemand äussere sich positiv über die Corona-Impfung oder die Massnahmen. «Diese Abonnenten fliegen jeweils schnell aus dem Chat», sagt R.

Er hat selbst jüdische Wurzeln. Die Hetze und Gewaltaufrufe treffen ihn persönlich. Dennoch schaffe er es, diesen offen zur Schau gestellten Antisemitismus nicht zu nahe an sich heranzulassen. «Anders ist es nicht möglich, die Chats über einen so langen Zeitraum zu beobachten.»

Beobachter wie ihn brauche es aber zwingend, sagt R. Ein Computerprogramm könne den Menschen noch nicht ersetzen – insbesondere in Schweizer Chats, wo viel in Dialekt geschrieben werde. Antisemiten würden zudem ihre Botschaften oft tarnen. Statt von Juden ist dann von den Rothschilds die Rede, oder es wird ein angeblich hebräisches Wort erfunden, das sich rückwärts wie Covid liest.

Beim Zählen antisemitischer Vorfälle in den Chats hält sich R. an die Definition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA). Die wiederholten Vergleiche von Corona-Massnahmen mit Methoden des Naziregimes und dessen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung fliessen deshalb nicht in die Statistik der Vorfälle ein. Ein Beispiel dafür sind Bilder von Massnahmengegnern mit dem gelben Stern. Die IHRA-Definition wertet dies gemäss dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund nicht per se als antisemitisch, sondern nur dann, wenn gleichzeitig ausdrücklich der Holocaust verharmlost wird.

Bei den registrierten Vorfällen werden oftmals Stereotypen und Theorien reproduziert, die schon seit Jahrhunderten existieren. Er sei davon nicht überrascht, sagt R. «Ein Teil der Schweizer Bevölkerung hat antisemitische Einstellungen oder widerspricht antisemitischen Stereotypen zumindest nicht.» Erhebungen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass rund 10 Prozent der Bevölkerung Jüdinnen und Juden gegenüber feindselig eingestellt sind, rund 20 Prozent stimmen antisemitischen Stereotypen zu.

Für R. ist deshalb klar, dass nicht einfach einige Rechtsextreme die antisemitischen Inhalte in den Telegram-Chats verbreiten, sondern auch viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Die Pandemie und die Anonymität der Telegram-Chats – diese Kombination mache Haltungen sichtbar, die schon immer da waren.



Auch in der realen Welt mehr antisemitische Vorfälle registriert

Der neue Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz und das Tessin zeigt, dass die Pandemie im letzten Jahr auch die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungstheorien verstärkt hat. Insbesondere online wurde im Vergleich mit dem Vorjahr eine deutlich höhere Zahl von Vorfällen (806, plus 66 Prozent) erfasst – ein grosser Teil davon entfällt auf Telegram-Chats. Weniger antisemitische Inhalte wurden dagegen auf Facebook und in den Kommentarspalten von klassischen Medien beobachtet.

Die Zahl der gemeldeten Vorfälle in der realen Welt ist mit 53 deutlich kleiner. Zugenommen haben antisemitische Zusendungen an Jüdinnen und Juden. Tätlichkeiten wurden 2021 keine registriert. Schweizweit für Aufsehen sorgten Anfang Jahr mehrere Vorfälle bei Synagogen. In Genf und Lausanne wurde Schweinefleisch deponiert, in Biel ein Hakenkreuz und antisemitische Parolen entdeckt. Für die Herausgeber des Berichts, der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, ist das eine «Warnung davor, dass auf Worte Taten folgen können». (ldc)
(https://www.derbund.ch/er-sieht-wenn-in-corona-chats-gegen-juden-gehetzt-wird-370394425510)



bielertagblatt 22.02.2022

«Weder übertreiben noch vergessen»

Vor einem Jahr ist die jüdische Gemeinde von einem antisemitischen Vorfall erschüttert worden, der die Synagoge betraf. Charlotte Schnegg erzählt, was die Gemeinde heute bewegt.

von Vanessa Naef

Zwei Einlagen aus dunklem Eichenholz bestücken das rostfarbene Metalltor, vor dem Charlotte Schnegg von der jüdischen Gemeinde Biel steht. Die reliefartige Oberfläche ist von Furchen geprägt. Dass diese Holzeinlagen in der Tür sind, ist kein Zufall. Noch vor einem Jahr hat es hier anders ausgesehen. Am 18. Februar 2021 wurden antisemitische Botschaften in die Synagogentür eingeritzt, unter anderem ein Hakenkreuz. Die Türe musste damals behelfsmässig überdeckt werden. Nun ist sie von einem Künstler neu gestaltet worden. Aber wie geht es den Menschen, die sich hinter dieser Türe treffen, um zu beten und Zeit in der Gemeinschaft zu verbringen?

Davon, was die Gemeinde derzeit bewegt, erzählt Charlotte Schnegg in der Synagoge. Die jüdische Gemeinde in Biel begleitet sie schon ihr Leben lang. Es war ihre Grossmutter, die wegen des Kriegs aus Deutschland in die Schweiz geflüchtet ist. Heute ist sie in Begleitung ihres Enkels da. Im Vorstand der jüdischen Gemeinde Biel kümmert sich die ehemalige Grafikerin um die Synagoge. Bis Ende Jahr gehörte noch die Betreuung des Gemeindesaals zu ihren Aufgaben. Doch diesen hat man aufgegeben – gezwungenermassen.

Denn die Mitgliederzahl ist geschrumpft auf 50 Personen. Zu Spitzenzeiten waren es zehn Mal mehr, damals, als die Bieler Synagoge Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und nach 1918 aufgrund von Pogromen eine grosse Fluchtbewegung aus Osteuropa einsetzte. Heute sei die Gemeinde überaltert, weil viele der jungen Generation in die USA oder nach Israel auswandern, sagt Charlotte Schnegg. Entsprechend schwierig gestalte sich die Partnersuche innerhalb der Gemeinde in Biel.

In der Synagoge stehen Kisten, die aus dem Gemeindesaal geräumt wurden. Man plant, Archivmaterial an ein Museum zu übergeben. In Biel ist das Neue Museum interessiert, wo bisher nichts zur Geschichte der Bieler Juden vorhanden ist. Auch das Jüdische Museum Basel käme in Frage.

Die Ideologie stirbt nicht aus

Zur jüngsten Geschichte gehört die Synagogenschändung vom letzten Jahr. Es war noch früh an diesem Januarmorgen, als das Telefon bei Charlotte Schnegg und den Gemeindemitgliedern klingelte. Die Polizei holte sie mit dieser Nachricht aus dem Bett. Der Schock war gross. «Besonders, als wir sahen, um was es geht, welche Worte dort stehen», erzählt Charlotte Schnegg. Ein Hakenkreuz, «Sieg Heil» und «Juden Pack» waren eingeritzt. Sie sagt dazu: «Meine Grossmutter musste unter diesen rechtsextremen Parolen aus Deutschland flüchten – und auf einmal finde ich dieselben Parolen hier auf unserer Synagoge.»

Manche Mitglieder der Gemeinde hätten nach dem Vorfall Angst gehabt, und seien der Synagoge eine Zeit lang ferngeblieben, berichtet Charlotte Schnegg. Damit sind sie nicht allein: Gemäss einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) von 2020 verspürt in der Schweiz fast jede dritte befragte jüdische Person eine «subjektive Unsicherheit», und vermeide es deshalb sogar, gewisse Örtlichkeiten aufzusuchen. Die Bieler Gemeinde hat Strafanzeige erstattet, doch die Polizei konnte keine Täterschaft ausfindig machen. Ende Jahr hat die Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland das Verfahren mangels Indizien sistiert.

In der multikulturellen Stadt Biel sei das Zusammenleben ansonsten ruhig, erzählt Charlotte Schnegg. Auch in der gesamten Deutschschweiz sind Vorfälle dieses Ausmasses eher selten (siehe Zweittext). Was Angriffe auf Synagogen angeht, war Biel ein Einzelfall im letzten Jahr. Dennoch hat gemäss dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund die Anzahl weiterer antisemitischer Vorfälle in der Deutschschweiz im Jahr 2021 zugenommen. Zudem ist es in der Romandie (Genf und Lausanne) ebenfalls zu Vorfällen bei Synagogen gekommen. Die Vertreterin der jüdischen Gemeinde Biel sagt: «Man sollte den Vorfall nicht übertreiben, aber auch nicht vergessen.»

Spenden für die Reparatur

An den Vorfall erinnert die neue Holzkunst auf dem Tor. Die Eichenholz-Elemente sind vom Künstler Beat Breitenstein aus Ins gestaltet. Dieser hat das Holz zu einer unruhigen Oberfläche bearbeitet, die an Schnitte erinnert. Das Holz wirkt bewegt und stehe für Wandel, sagt Charlotte Schnegg. Etwas roh und nie fertig – denn so sei es im Leben. «Bewusst nicht perfekt» wollte man es haben.

Die jüdische Gemeinde Biel hat nach dem Vorfall Unterstützung von verschiedenen Seiten erhalten: So hat nicht nur die Stadt Biel Geld gesprochen, auch christliche Gemeinschaften aus Biel haben sich finanziell an der Tür beteiligt.

Die Sicherheitskosten bleiben für alle jüdischen Gemeinden ein Thema. An Sicherheitsmassnahmen beteiligen sich mittlerweile der Bund, der Kanton und manche Städte. Seit 2019 unterstützt der Bund die Sicherheit von Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen. 2020 hat der Kanton Bern nachgezogen. Diese Unterstützung hat auch die jüdische Gemeinde in Biel in Anspruch genommen, wobei sich die Stadt Biel ebenfalls beteiligte.

Gemeinsam in die Synagoge kommen die Bielerinnen und Bieler meist nur noch an den Feiertagen, wie beispielsweise an Jom Kippur. Monatliche oder gar wöchentliche Sabbat-Gottesdienste gibt es in Biel aufgrund des fehlenden gemeindeeigenen Rabbiners seit 2019 nicht mehr. Dafür ist jetzt Rabbiner Michael Kohn von der Gemeinde in Bern ebenfalls für Biel zuständig.

Aufklären in Schulen

Wie lebt es sich abgesehen vom Vorfall des letzten Jahres als Jüdin oder Jude in Biel? Antisemitische Erfahrungen macht Charlotte Schnegg in der Gegenwart wenige. Gemeindemitglieder erhalten aber immer wieder anonyme antisemitische Briefe. Doch heutzutage werde immer seltener nach der Religion gefragt, so Schnegg. Und die Kippa werde nur von wenigen Bieler Juden am Samstag getragen. Klar ist: Die Kleidung hat einen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl und auf erlebte Angriffe. In Zürich beispielsweise gibt es viele Orthodoxe, die sich entsprechend kleiden. Gemäss der Studie der ZHAW verspüren jene, die aufgrund von Kleidungsstücken als jüdisch erkennbar sind, die meisten Unsicherheiten, ebenso wie junge Jüdinnen und Juden, und Orthodoxe. Diese Gruppen sind zudem am meisten von antisemitischen Übergriffen wie Belästigungen betroffen.

Als Charlotte Schneggs Enkel sieben Jahre alt war, lernte er, dass Juden verfolgt wurden und hat zu seiner Grossmutter gesagt: «Wie kannst du jüdisch sein, das ist doch gefährlich?» Das musste sie zuerst verdauen. Um gegen Antisemitismus vorzugehen, leistet die jüdische Gemeinde Biel Aufklärungsarbeit in Schulen. Früher waren es Konzentrationslager-Überlebende aus der Umgebung, die Klassen besucht haben. Heute bietet Schnegg Führungen durch die Synagoge an. Dass dies nötig ist, zeigt sich gerade, wenn man hört, was ihr zwölfjähriger Enkel plötzlich erzählt: Dass manche an seiner Schule «als Witz» ein Lied singen würden und den Hitlergruss dazu machen. Solche Schüler würden alles glauben, was auf Sozialen Medien zu finden sei, sagt der Junge. Hass im Netz ist ein immer grösseres Problem, das zeigen auch die neuen Zahlen aus dem Antisemitismusbericht für 2021.

Charlotte Schnegg bedauert, dass die Bieler Gemeinde so klein geworden ist. Sind keine zehn Männer da, werden die Thorarollen nicht aus ihren bestickten Stoffhüllen hervorgeholt. Nun ruhen die grossen Schriftrollen weiter im Thoraschrein und werden einzig zum gemeinsamen Gebet an Feiertagen hervorgeholt.



Antisemitismus hat zugenommen

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) gibt jährlich mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) einen Antisemitismusbericht heraus. Im heute veröffentlichten Bericht für 2021 sticht die Synagogenschändung von Biel als einzige Sachbeschädigung und als einer der gravierendsten Fälle in der Deutschschweiz heraus.

Insgesamt hat die Zahl an Vorfällen zugenommen auf gesamthaft 859. Zählt man jene im Internet nicht dazu, sind es 53 Meldungen, die der SIG registrierte. Unter anderem die Sachbeschädigung in Biel, Beschimpfungen, Schmierereien und antisemitische Aussagen.

Ein eklatanter Anstieg der Vorkommnisse um 66 Prozent ist im Netz zu verzeichnen: Ganze 806 Vorfälle sind dem SIG bekannt. Dazu gehörte beispielsweise die Störung einer Online-Veranstaltung einer jüdischen Gemeinde mit «Hitlerbildern und obszönen Schmierereien».

Der SIG hält fest, dass die Pandemie als Auslöser für Antisemitismus wirkt. Im Zuge dieser haben Verschwörungstheorien Auftrieb erhalten. Und als im letzten Frühling die Auseinandersetzungen im Nahostkonflikt aufflammten, kam es gemäss Bericht zu mehr israelbezogenem Antisemitismus.

Der Bericht stützt sich auf Fälle, die der Antisemitismus-Meldestelle gemeldet wurden; es müsse aber von einer Dunkelziffer ausgegangen werden. Weiter wird die Medienberichterstattung beobachtet und auf Sozialen Medien oder in Kommentarspalten recherchiert.

Politisch aktuell ist die jüngste Antwort des Bundesrats Anfang Februar auf einen parlamentarischen Vorstoss, der Nazi-Symbolik verbieten wollte: Der Bundesrat erteilte einem solchen Verbot eine Absage. Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus setzt sich weiter dafür ein, und lancierte eine Petition.
(https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/weder-uebertreiben-noch-vergessen)


+++HISTORY
Ein Zeuge des Widerstands
Ein äthiopischer Krieger trug im Kampf gegen italienische Invasoren einen Armschutz. Wie letzterer nach Bern gelangte, erforscht der Historiker Samuel Bachmann im Projekt «Spuren kolonialer Provenienz».
https://journal-b.ch/artikel/ein-zeuge-des-widerstands/