Medienspiegel 18. Februar 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++GRIECHENLAND
Unerlaubte Pushbacks in Griechenland
Unhaltbare Zustände an den EU-Aussengrenzen: Die griechische Küstenwache soll Migranten vor der Insel Samos ins Meer geworfen haben, zwei Männer seien deswegen ertrunken. Der griechische Migrationsminister dementierte. Was passiert wirklich vor Samos und den anderen griechischen Inseln nahe der türkischen Küste?
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/unerlaubte-pushbacks-in-griechenland?partId=12145733
-> https://www.srf.ch/news/international/pushbacks-in-der-aegaeis-schwere-vorwuerfe-gegen-griechische-kuestenwache


+++GASSE
Basler Zeitung 18.02.2022

Knapper Sieg für Basler Linke: Die Obdachlosen dürfen künftig im Hotel übernachten

Das Basler Parlament stellt sich hinter das Anliegen des Basta-Grossrats Oliver Bolliger. Der Kanton muss jetzt ein Hotel kaufen – oder eine Kooperation mit einem Hotel eingehen.

Leif Simonsen

Rund 300 Menschen haben in Basel keinen festen Wohnsitz. Ein Teil von ihnen findet Unterschlupf bei Bekannten. Andere müssen in der Notschlafstelle übernachten – oder auf der Strasse. Basta-Grossrat Oliver Bolliger nimmt jetzt den Staat in die Pflicht. Er fordert, dass der Kanton ein Hotel für jene Menschen betreibt, die kein Dach über dem Kopf haben.

Mit Erfolg. Der Grosse Rat überwies in der Abendsitzung vom Mittwoch Bolligers Vorstoss. Das Parlament widersetzte sich dem Regierungsrat, der die Motion als weniger verbindlichen Anzug überwiesen haben wollte. Einerseits räumte die Regierung ein, dass es Handlungsbedarf gibt. Seit Anfang 2020 ist sie daran, eine Immobilie für wohnungslose Menschen zu suchen. Im vergangenen Jahr sei die Einigung an den hohen Preiserwartungen des Verkäufers gescheitert. Andererseits stellte sich der Regierungsrat auf den Standpunkt, dass sich das Problem in den vergangenen Jahren in Basel nicht verstärkt habe. «Die Übernachtungszahlen in der Notschlafstelle sind nicht gestiegen, und es gibt auch nicht mehr Meldeadressen beim Schwarzen Peter (Verein für Gassenarbeit, d. Red.)», heisst es in der Stellungnahme zum Bolliger-Vorstoss.

Darüber hinaus sei das Konzept eines «Stadthotels» zu starr, um die verschiedenen Wohn- und Betreuungsbedürfnisse der Obdachlosen zu erfüllen. Langzeitobdachlose, psychisch Erkrankte oder suchtbetroffene Menschen ohne Wohnung müssten auf unterschiedliche Art betreut werden.

Schleppender Kampf gegen die Obdachlosigkeit

Das sah eine knappe Mehrheit des Grossen Rats anders. Rot-Grün konnte dank der Unterstützung zweier Grünliberaler mit 46:44 Stimmen erreichen, dass die Motion im Wortlaut umgesetzt und damit am Stadthotel-Konzept festgehalten wird. Möglicherweise war Bolligers Votum entscheidend. Er wies darauf hin, dass der Kanton ja nicht verpflichtet werde, selber ein Hotel zu kaufen. «Im Gegenteil: Kooperationen mit bestehenden Hotels sind wahrscheinlich die bessere und zielführendere Massnahme», sagte er. Zudem habe man ja Erfahrungen aus der Pandemie, als der Kanton Basel-Stadt sich ins Hotel du Commerce eingemietet und den Obdachlosen ein Dach über dem Kopf ermöglicht hat.

Der Sozialpolitiker glaubt nicht, dass sich die Situation auf Basels Strassen entspannt hat. Dass die Zahl der Meldeadressen beim Schwarzen Peter nicht ansteige, bedeute nicht, dass das Problem weg sei. Bolliger verwies darauf, dass das andere Projekt der Basler Regierung gegen die Obdachlosigkeit schleppend vorangehe. Die Heilsarmee, welche das Housing-First-Projekt verantwortet, werde auf dem Wohnungsmarkt nicht fündig. «Mit dem Stadthotel könnte auf einen Schlag ein Angebot geschaffen werden, das die prekäre Wohnsituation sofort entschärfen würde», meinte Bolliger.

Nach seinem Erfolg im Grossen Rat ist nun allerdings Geduld gefragt. Vier Jahre hat die Regierung Zeit, um ein Stadthotel für Obdachlose in Betrieb zu nehmen. Ginge es nach den Linken, dürfte es gerne etwas schneller gehen. Bolliger monierte im Rat, dass man unzählige Male gefordert habe, nach der Annahme der Initiative «Recht auf Wohnen» Massnahmen zu ergreifen. Auch hier seien bereits vier Jahre vergangen. «Ich bin überzeugt», sagte Bolliger, «dass wir das schneller können.»
(https://www.bazonline.ch/die-obdachlosen-duerfen-kuenftig-im-hotel-uebernachten-427514760261)
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/grosser-rat-basler-weg-beim-bettelverbot-linke-kritisiert-passivitaet-der-regierung-ld.2253056


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
„Heute gab es in Bern eine Kundgebung in Solidarität mit dem Widerstand gegen die herrschende Militärjunta im Sudan. Bis jetzt sind weit über 100 Menschen ermordet worden. Hunderte wurden verletzt und festgenommen. Das Militär setzt in den Wasserwerfern Chemikalien ein.
Mehr dazu: https://twitter.com/gegen_oben/status/1494701663759781888


Kämpfen lohnt sich – Errungenschaften gegen reaktionäre Angriffe verteidigen
Kommentar zum Urteil des Prozesses vom 15.02.2022
Am Dienstag 15.02.2022 stand eine Genossin wegen den Protesten gegen den «Marsch fürs Läbe» 2019 vor Gericht.
https://barrikade.info/article/5020


+++BIG BROTHER
Automatisierte biometrische Überwachung
Die NGO AlgorithmWatch Schweiz hat eine Petition mitlanciert, die das Verbot von automatisierten biometrischen Erkennungssystemen im öffentlichen Raum fordert. Sergio Scagliola spricht mit Tobias Urech von AlgorithmWatch Schweiz über die Risiken einer grossflächigen Implementierung solcher Technologien und die grundlegenden Probleme in deren Entwicklung.
https://www.pszeitung.ch/automatisierte-biometrische-ueberwachung/#top


+++KNAST
La prison comme outil de contrôle social et racial
Ce mois ci Renversé s’intéresse aux questions carcérales à Genève et invite pour en parler le nouveau collectif genevois Parlons Prisons. À cette occasion, le collectif publie chaque semaine un extrait de : “Brisons les murs. À quoi servent vraiment la prison et la justice”, son texte fondateur.
Dans l’article de la semaine dernière, nous constations ensemble que les fonctions prétendues de la prison (la dissuasion, la neutralisation, la réinsertion et la punition) ne sont majoritairement pas remplies ou perpétuent un système dont nous ne voulons pas. Dans l’article de cette semaine, nous parlerons du fait que la prison remplit un autre objectif : celui d’être un outil de contrôle social et racial.
https://renverse.co/analyses/article/la-prison-comme-outil-de-controle-social-et-racial-3405


+++RECHTSEXTREMISMUS
Nazisymbolik verbieten?
Noch immer sind Hitlergruss und Hakenkreuz in der Schweiz erlaubt – ganz im Gegensatz beispielsweise zu Deutschland und Österreich. Gleich mehrere Parlamentarier*innen haben im vergangenen Herbst Verstösse eingereicht, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Sie alle forderten, dass Nazisymbolik im öffentlichen Raum verboten wird. Es gab parlamentarische Initiativen von Gabriela Suter und von Angelo Barrile von der SP und eine Motion von Marianne Binder Keller von der EVP. Letztere lehnte der Bundesrat mit der Begründung ab, dass Prävention besser geeignet sei im Kampf gegen Nazi-Symbolik als strafrechtliches Vorgehen.
https://rabe.ch/2022/02/18/nazisymbolik-verbieten/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Coronavirus: Skeptiker lästern über freiwillige Maskenträger
Auch nach der Aufhebung der Massnahmen gegen das Coronavirus gibt es Masken-Zoff. Skeptiker regen sich nun gehörig über freiwillige Maskenträger auf.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-skeptiker-lastern-uber-freiwillige-maskentrager-66111369


Warum Querdenker offen zugeben, dass sie die ganze Zeit lügen
Querdenker Schiffmann rief dazu auf, „Schockvideos“ über Impfungen zu fälschen und zu inszenieren, um Angst zu verbreiten. Querdenker geben sogar offen zu, zu lügen und schämen sich auch nicht dafür. Warum sie das nicht stört und was das für unseren Umgang mit ihnen bedeutet, erklärt Thomas Laschyk.
https://www.youtube.com/watch?v=fLZj9UInCE8



Basler Zeitung 18.02.2022

Danke, liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten!

Warum ein Abstecher nach Zürich nachdenklich stimmte, schockierte und den Anstoss zu dieser Kolumne gab.

Kolumne von Ronja Jansen

Letzten Samstag bin ich am Bahnhof in Zürich gestanden, mit einem mulmigen Gefühl, doch mit unerschütterlicher Überzeugung. Neonazis hatten ihr Kommen angekündigt und wollten mit ihren gefährlichen Parolen durch die Stadt marschieren.

Wenn ich Neonazis schreibe, ist das kein deplatzierter Kampfbegriff für Menschen, die mir nicht in den Kram passen, sondern eine Beschreibung einer gewalttätigen Gruppe, die sich offen zu den Gräueltaten des NS-Regimes bekennt und in den radikalen Gegnerinnen der Corona-Massnahmen ein neues Rekrutierungsfeld gefunden hat.

Diese Neonazis pilgerten am Samstag also nach Zürich und wegen ihnen etwa 2000 Antifaschisten, die sich ihnen in den Weg stellten und ihren Aufmarsch verhinderten. Ich war eine von jenen Antifaschistinnen, denn jeder Meter Platz für Neonazis ist ein Schritt zur Normalisierung ihres gefährlichen Gedankengutes. Dass gewalttätige Faschisten in unserem Land wieder das Selbstbewusstsein haben, um offen auf unseren Strassen zu marschieren und Menschen zu attackieren, beunruhigt mich. Richtig Angst machte mir, als sie am Samstag fünf Minuten nach Demobeginn in die Menge der Gegendemonstranten rannten und begannen auf Menschen einzuprügeln.

Doch was mich nachhaltig schockierte und seit Samstag nicht mehr loslässt, ist das, was danach folgte. Die öffentliche Einordnung der Ereignisse: ohrenbetäubendes Schweigen gegen Nazis und Entrüstung gegen jene, die sich ihnen in den Weg stellen. Der Aufmarsch der Faschistinnen scheint bürgerliche Politiker und Medien kaum zu beunruhigen. Die Welle der Empörung richtet sich stattdessen auf die vereinzelte Sachbeschädigung und Auseinandersetzungen mit der Polizei am Rande der Gegendemonstration. Die grösstenteils friedlichen Antifaschisten werden zu den Bösewichten gemacht und die Neonazis verharmlost. Das ist hochgefährlich.

Auch ich lehne die Ausschreitungen vom Samstag entschieden ab. Doch wer sie zum Hauptproblem hochschreibt, verharmlost die massive Gefahr durch den Faschismus. Wer gewaltbereite Neonazis und Menschen, die sich ihnen entgegenstellen, als zwei gleichermassen extreme Gruppen darstellt, stärkt damit Erstere und hilft bewusst oder unbewusst mit, den Faschismus wieder salonfähig zu machen. Dabei ist klar: Es gibt keine goldene Mitte zwischen Faschismus und seiner Bekämpfung. Wer sie sucht, setzt unsere Gesellschaft der Gefahr aus, in den braunen Sumpf gezogen zu werden.

Man muss sich entscheiden, nicht für Linksextremismus oder Rechtsextremismus, sondern zwischen Faschismus und Demokratie. Bei der Entscheidung für Letzteres gehört Antifaschismus zwingend dazu.

Antifaschismus ist die Grundlage jeder funktionierenden Demokratie und die Pflicht aller, die sie verteidigen wollen. In den meisten Ländern ist das Teil des demokratischen Selbstverständnisses. Wenn es darum geht, Neonazi-Aufmärsche zu verhindern, sind alle von links bis Mitte-rechts an Bord. Nicht so in der Schweiz. Hier betonen heuchlerische bürgerliche Politiker gern ihre Ablehnung gegen Nazis, nur um dann sofort auf die falschen einzudreschen, wenn es ernst gilt. Hier skandalisieren die Medien lieber verschmierte Trams statt marschierende Faschos. Während antifaschistischer Widerstand immer mehr kriminalisiert und diskreditiert wird, ist die bürgerliche Mehrheit im Bundesrat nicht mal bereit, menschenverachtende Nazisymbole endlich zu verbieten. Das muss sich schleunigst ändern.

Deswegen mein Aufruf an alle bürgerlichen Politiker und Politikerinnen: Statt gegen jene zu schiessen, die sich gegen den aufkeimenden Faschismus wehren, nehmt eure eigene demokratische Verantwortung wahr. Kommt an Demonstrationen und macht sie breiter oder organisiert eure eigenen Proteste. Wenn ihr Antifaschismus nicht linken Gruppierungen überlassen wollt, dann werdet selber aktiv und holt ihn in die Mitte der Gesellschaft.

Seid froh und dankbar, gibt es schon heute mutige Antifaschistinnen, die über Nazi-Gruppen recherchieren, Demonstrationen organisieren und trotz massiver Repression die Verantwortung wahrnehmen, die eigentlich bei uns allen – und damit auch bei euch – liegt.
(https://www.bazonline.ch/danke-liebe-antifaschistinnen-und-antifaschisten-636752868411)



Massnahmengegner «Aufrecht Schweiz» fordern Untersuchungskommission

Die Sammelbewegung der Corona-Massnahmengegner «Aufrecht Schweiz» fordert eine «komplette politische und juristische Aufarbeitung der Massnahmen-Politik in der Schweiz». Die Massnahmen hätten Kosten von mehreren Hundert Milliarden Franken verursacht, eine komplette unabhängige Aufarbeitung sei also Pflicht. «Aufrecht Schweiz» fordert unter anderem eine ausserparlamentarische Untersuchungskommission und die Schaffung eines Spezialgerichts mit Kompetenzen gleichwertig einer PUK, wie es in einer Mitteilung vom Freitag heisst.

Als Minimum verlangt die Bewegung die Aufarbeitung des Verhaltens des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), die Überprüfung des Wahrheitsgehalts von dessen Veröffentlichungen und die Offenlegung möglicher Verflechtungen mit der Pharmaindustrie wie auch solcher zwischen Medien und Behörden. Des weiteren sollen die Auswirkungen im sozialen Bereich ebenso untersucht werden wie Folgeschäden.

Hinter «Aufrecht Schweiz» stehen neun Bürgerbewegungen, die allesamt an den Demonstrationen gegen Corona-Massnahmen und Impfzwang aufgetreten sind. Die grösste und wichtigste von ihnen sind die «Freunde der Verfassung». An zweiter Stelle kommt das «Aletheia-Netzwerk der Gesundheitsberufe» mit ihrem Motto «Medizin und Wissenschaft für Verhältnismässigkeit». Mit von der Partie ist auch das «Netzwerk Impfentscheid».

Als Präsident wird auf der Website Patrick Jetzer genannt. Jetzer, der im Aussendienst des US-Pharmariesen Pfizer tätig gewesen war, trat später in der Öffentlichkeit als «Corona-Skeptiker» auf.
https://www.toponline.ch/news/coronavirus/detail/news/coronavirus-ticker-februar-00173954/


+++HISTORY
Zwei Jahre nach Hanau: Über Aufklärung hinaus kämpfen!
Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch “Auklärung” rassistischer “Einzelfälle”, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.
https://lowerclassmag.com/2022/02/18/zwei-jahre-nach-hanau-uber-aufklarung-rassismus-polizeiproblem-hinaus-kampfen/
-> https://www.akweb.de/politik/zwei-jahre-nach-dem-rassistischen-anschlag-in-hanau-hoert-ihr-noch-zu/



bielertagblatt.ch 18.02.2022

Von Uhrmachern und Anarchisten

Der Regisseur Cyril Schäublin erzählt im Spielfilm «Unrueh», wie sich im Berner Jura der Anarchismus aus der Uhrenindustrie entwickelt hat. Nun ist er an der Berlinale dafür ausgezeichnet worden.

Julie Gaudio/tg

Die deutsche Hauptstadt ist bekannt für ihre Abende, die nie enden, und ihre Clubs, die rund um die Uhr offen sind. Selbst am Montagabend. Cyril Schäublin kennt sich da aus. Der Zürcher Regisseur ist nach Berlin gekommen, um seinen Spielfilm «Unrueh» am Internationalen Filmfestival Berlinale zu zeigen. Das Werk hatte er letzten Sommer gänzlich im Berner Jura gedreht (siehe Zweittext). Am Montagabend hat Schäublin nicht etwa den Valentinstag mit seiner Frau gefeiert, sondern die Weltpremiere seines Films mit seinen Freunden. «Ich bin um 7 Uhr morgens ins Bett gegangen», gibt er zu und lacht wie ein Teenager, als er am nächsten Tagen darüber spricht.

Man spürte bei ihm eine gewisse Erleichterung nach der Premieren-Präsentation von «Unrueh» im Wettbewerb in der Sektion «Encounters». Diese bietet laut Berlinale «ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden eine Plattform». «Die Stimmung im Saal war ausgezeichnet. Das Publikum hat gelacht, das hat mich gefreut», sagt Schäublin. Verheiratet und Vater von drei Kindern, scheint Cyril Schäublin in Berlin noch einmal seine Jugend zu erleben. Schäublin wurde 1984 geboren, studierte in China, dann für mehrere Jahre an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). «Ich habe hier gelebt, als ich zwischen 22 und 30 Jahre alt war und viele Freunde gefunden», sagt er, «sie waren bei der Vorführung am Montagabend dabei.»

Die Idee hatte er schon lange

Seine Berliner Freunde erinnern sich auch an die Entstehung des Projekts «Unrueh»: «Es stimmt, dass ich die Idee zum Film vor gut einem Dutzend Jahren hatte», sagt Schäublin, «ich wusste schon als ich nach China oder später nach Deutschland zog stets, dass ich etwas rund um die Uhrenbranche realisieren würde.»

Wie viele Schweizer hat auch Cyril Schäublin Uhrmacherinnen und Uhrmacher in der Familie. «Meine Grosstanten erzählten mir, wie sie und ihre Mutter Stunden damit verbracht haben, Uhren einzuschalen, selbst als sie schwanger waren», sagt Schäublin. «Noch mit 96 Jahren hat mein Grossonkel ganz genaue Erinnerungen an die Uhrenfirmen. Daraus habe ich mich bedient, um die Ateliers des 19. Jahrhunderts nachzubilden.»

Die Fertigung einer Uhr benötigt mehrere komplexe Etappen. Cyril Schäublin hat sich entschieden, seinen Film auf die Assemblage der Unruh (in Schweizerdeutsch «Unrueh») zu konzentrieren. Er hat darum ein Atelier von Termineuren und ein weiteres von Regleusen kreiert. Dort arbeitet Joséphine, die Hauptfigur des Films.

Wenig bekannte Geschichte

Als Zürcher ist Schäublin nicht in unserer Region aufgewachsen, auch seine Uhrmacher-Familie stammt nicht von hier. «Meine Grosstanten arbeiteten eher im Kanton Basel-Landschaft.» Warum hat er also die Handlung seines Films im Berner Jura verortet und nicht in einer anderen Schweizer Uhrenregion? «Ich wollte eine Geschichte erzählen, die nur wenige Menschen kennen: Die Geburt der anarchistischen Bewegung im Vallon von St-Imier. Dort hat sich 1872 die Antiautoritäre Internationale konstituiert. Anarchisten aus ganz Europa fanden sich ein, zahlreiche Gewerkschaften haben sich aus dieser Bewegung heraus gebildet», unterstreicht Schäublin.

Und so tauchen denn nach und nach auch in «Unrueh» die Anarchisten auf. Um in historischen Belangen möglichst präzise zu sein, hat sich der Filmemacher lange mit dem Bieler Historiker Florian Eitel unterhalten. Eitel hat seine Dissertation diesem Thema gewidmet: «Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz». «Ich habe von ihm viel gelernt. Er hat mich darauf hingewiesen, dass die Direktoren der Uhrenfabriken, zum Beispiel jener von Longines, die anarchistische Presse lasen. Diese war der traditionellen oft voraus», sagt Schäublin.

Verweis in die Gegenwart

Auf den ersten Blick sieht der Film des Zürcher Regisseurs also wie eine historische Fiktion aus. Tatsächlich aber beleuchtet «Unrueh» unsere heutige Gesellschaft genauso wie jene von damals. «Historische Filme erzählen immer von der Gegenwart, indem sie einen Umweg über die Vergangenheit nehmen. Manche tun dies in voller Transparenz, andere sind weniger eindeutig», sagt Schäublin.

Cyril Schäublin entschied sich also für die Transparenz, indem er die Kooperation der Uhrenarbeiter unterstreicht, die im 19. Jahrhundert herrschte. Er wünschte sich, dass diese Idee in der heutigen Gesellschaft stärker zum Tragen kommt. «Heute schaffen zahlreiche Politiker der Rechten Gräben zwischen den Menschen. Die anarchistischen Ideen stehen im Gegensatz zum Prinzip des Wettbewerbs», sagt er.

Auch wenn Cyril Schäublin Wettbewerb kritisch sieht: An der Berlinale hat er sich diesem gerne gestellt. In der Sektion «Encounters» hat er sich mit 14 anderen Spielfilmen von Regisseuren aus der ganzen Welt gemessen. Mit Erfolg: Er hat den Preis für die beste Regie erhalten. «Mit einer merkwürdigen und verwirrenden Ruhe lässt der Film die Zuschauerinnen und Zuschauer in einen Moment eintauchen, in dem Ideale der Kollektivität und Anarchismus den Kräften des Kapitalismus begegnen», hiess es in der Jurybegründung. Bundesrat Alain Berset schickte Glückwünsche über Twitter. Der Mittwochabend dürfte für Cyril Schäublin in den Berliner Bars und Clubs bis zum Morgengrauen weitergegangen sein.

Goldener Bär für «Alcarràs»

Das Drama «Alcarràs» der spanischen Regisseurin Carla Simón hat den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Der Film erzählt vom Alltagsleben einer Familie, die eine Pfirsichplantage betreibt und in Existenznöte gerät. Die Auszeichnung hat auch im Streit um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Region im Nordosten Spaniens seinen Niederschlag gefunden. Der separatistische Regionalregierungschef Kataloniens, Pere Aragonès, sprach von einem «Triumph» und dankte Simón dafür, dass sie «der Welt die katalanische Kultur und Sprache gezeigt» habe. Hingegen gratulierte der sozialistische Regierungschef Spaniens, Pedro Sánchez, Simón zu dem Erfolg des «spanischen Films».

Die Jury zeichnete am Mittwochabend auch Meltem Kaptan aus. Die Darstellerin, die in Köln lebt, bekam den wichtigsten Schauspielpreis des Festivals. Ausgezeichnet wurde sie für ihre Hauptrolle im Drama «Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush». Darin spielt sie die Mutter des langjährigen Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz. Regisseur Andreas Dresen erzählt, wie sie versucht, ihren Sohn aus dem US-Gefangenenlager zu befreien. Auch Drehbuchautorin Laila Stieler gewann einen Silbernen Bären. Damit bekam die Produktion gleich zwei Preise.

Lange war diskutiert worden, wie die Berlinale trotz Pandemie stattfinden kann. Wegen der Pandemie wurde der Ablauf geändert. Die Preise wurden diesmal früher verliehen als üblich – bis Sonntag sind nun noch mehrere Publikumstage geplant. Beim Kinobesuch gelten besondere Regeln. sda



Eine realitätsnahe Fiktion

«Unrueh» wurde letzten Sommer im Berner Jura gedreht, «um so nah wie möglich am Ort des Geschehens zu sein», sagt Regisseur Cyril Schäublin. Der Film erzählt von der Entstehung der ersten anarchistischen Uhrenarbeitergewerkschaften in den 1870er-Jahren. Im Vallon de St-Imier lernt Josephine (Clara Gostynski), Regleuse in einer Uhrenwerkstatt, den russischen Kartografen Pjotr Kropotkin (Alexej Evstratov) kennen. Inspiriert von anarchistischen Ideen stellen sie ihre Forderungen und setzen den Werten des Marktes und des Nationalismus Solidarität und Pazifismus entgegen.

Wie in seinen früheren Filmen wählte Cyril Schäublin auch für diesen Spielfilm keine professionellen Schauspieler, sondern umgab sich stattdessen mit Freunden und rund 100 Einwohnern des Berner Juras und der Umgebung. «Ich wollte insbesondere Personen finden, die zweisprachig sind», erklärt der Regisseur. «Die Idee war dann, Situationen aus dem 19. Jahrhundert mit Menschen aus dem 21. Jahrhundert nachzustellen und zu sehen, wie sie reagieren. Das funktioniert besser, wenn diese keine professionellen Schauspieler sind», fuhr er fort.

Zu den Hauptfiguren rund um Josephine oder Pjotr gehörten auch Mitwirkende, die tatsächlich Uhrmacher und Uhrmacherinnen von Beruf sind. Diese konnten während der Dreharbeiten zu den Atelierszenen den Nichtkennern einige Grundlagen erklären. Sie alle müssen sich nun bis zum 5. Oktober gedulden, um sich selbst auf der Leinwand zu entdecken. Dann startet der Film in den Schweizer Kinos. jga/tg
(https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/kultur/von-uhrmachern-und-anarchisten)



Kommission für NS-Rabukunst schafft erste Hürde
Bundes- und Nationalrat wollen eine Kommission für NS-Raubkunst schaffen. In einem sind sich die beiden Räte aber noch uneinig.
https://www.tachles.ch/artikel/news/kommission-fuer-ns-rabukunst-schafft-erste-huerde



Italienischer Diktator als Maurer in Luzern: Benito Mussolini am Bau der Dietschibergbahn beteiligt
Aufgrund einiger Grossprojekte in der Baselstrasse steigt im 19. und 20. Jahrhundert der Bedarf an Arbeitskräften, welcher mit einer Zuführung von italienischen Gastarbeitern befriedigt wird. Darunter befindet sich der italienische Diktator Benito Mussolini. Er wird in Luzern von seinem Vorgesetzten der Brandstiftung verdächtigt.
https://www.zentralplus.ch/blog/damals-blog/benito-mussolini-am-bau-der-dietschibergbahn-beteiligt/



nzz.ch 18.02.2022

Was ist eigentlich die Antifa? Ein Buch porträtiert die linksradikale Bewegung

Der Historiker Richard Rohrmoser hat eine faktenreiche Überblicksdarstellung zur Geschichte des Antifaschismus geschrieben. Zentrale Aspekte bleiben aber unterbelichtet.

Eckhard Jesse

Zum Antifaschismus in der Geschichte und der Gegenwart Deutschlands gibt es kaum seriöse Literatur, es überwiegen nämlich Pamphlete aus der Antifa-Szene. Eine Studie zum Thema zu verfassen, ist also im Prinzip ein löbliches Unterfangen. Der promovierte Zeithistoriker Richard Rohrmoser bietet eine Tour d’Horizon zum Antifaschismus in den letzten hundert Jahren – doch leider verdient sein flüssig geschriebenes Buch keine vorbehaltlose Empfehlung.

Eingangs kommt die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zur Sprache. Nach Benito Mussolinis «Marsch auf Rom» 1922 und der von ihm etablierten faschistischen Diktatur in Italien entstand eine breite antifaschistische Bewegung, zunächst dominiert von Demokraten, später von Kommunisten. Das Ausrufen der Antifaschistischen Aktion 1932 ist ein Beispiel für die Dominanz der Kommunisten – und nicht, wie der Autor schreibt, ein «letzter Versuch einer breiten Einheitsfront gegen rechts».

Das damals geschaffene Logo – zwei nach rechts wehende rote Fahnen in einem weissen Kreis, umrandet von einem roten Ring mit dem weissen Schriftzug «Antifaschistische Aktion» – sieht heute etwas anders aus: Die nach links gerichtete rote Fahne symbolisiert den Kommunismus, die ebenso nach links zeigende schwarze den Anarchismus.

Von Fantifa bis Panthifa

Präsentiert das nächste Kapitel in einem Überblick über die antifaschistischen Organisationen Deutschlands nach 1945 wenig Neues, etwa die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der ältesten, bis heute bestehenden Organisation, ist der umfangreiche Teil über die «autonome Antifa» von anderem Kaliber. Er fusst auf eigenen Recherchen des Autors und liefert neue Erkenntnisse, so zum Entstehen der «autonomen Antifa» in den frühen 1980er Jahren oder zu verschiedenen Vernetzungen Anfang der neunziger Jahre, als nach rechtsextremistischen Gewaltexzessen die Antifa eine Renaissance erlebte.

«Den» Antifaschismus gibt es dabei nicht. Rohrmoser beschreibt Subgruppen wie die Fantifa und die Migrantifa, antifaschistische Feministinnen und Migranten. Zu ergänzen wären, als Reaktion auf die «Black Lives Matter»-Bewegung, die Panthifas, die sich an schwarze Antifaschisten richten. Auch die instruktiven Abschnitte über die differierenden, zum Teil gegensätzlichen Positionen zwischen den Antideutschen und den Antiimperialisten, die sich jeweils als Antifaschisten begreifen, sind hilfreich. Während die Antideutschen die USA und Israel unterstützen, sehen die Antiimperialisten in diesen Staaten die Hauptfeinde.

Zum Innenleben der Antifaschisten kann Rohrmoser wenig beisteuern. Das darf ihm nicht angelastet werden, schottet sich die Antifa-Szene doch weithin ab. Immerhin wäre es möglich gewesen, die Vielzahl einschlägiger Zeitschriften vorzustellen und auszuwerten. Aus ihnen geht nicht nur die Ablehnung des Faschismus hervor, was immer das heissen mag, sondern auch die des Kapitalismus, ja der parlamentarischen Demokratie. Dieser zentrale Aspekt fällt unterbelichtet aus.

Mit Sympathie geschrieben

Rohrmoser ist zwar weit davon entfernt, die Gewalt der Antifa gegen Sachen oder gar gegen Personen zu rechtfertigen, aber immer wieder legitimiert er die Bewegung. Sie soll sogar ein Vorreiter des staatlichen Antifaschismus sein. Der bayrische Verfassungsschutz habe Outings von Rechtsextremisten durch Antifaschisten «anerkannt». Hier wird ein zentraler Aspekt unterschlagen: Die Antifa mit ihrer Absage an das staatliche Gewaltmonopol kriminalisiert sich selber und kann kein Bündnispartner in der Auseinandersetzung mit rechtsextremen Positionen sein.

Es spricht nichts dagegen, antifaschistisches Selbstverständnis wiederzugeben, aber eine angemessene Konfrontation mit der oft kruden Realität wäre wünschenswert gewesen. Der Verfasser gebraucht zehnmal das Adjektiv «brutal», siebenmal davon im Zusammenhang mit Rechtsextremisten und Polizisten, kein einziges Mal ausschliesslich im Hinblick auf antifaschistische Kräfte, und das in einem Buch über Antifaschismus. Empathie gleitet über in Sympathie.

Entsprechend ist dem Autor auch das mehrmals erwähnte «Postulat der Äquidistanz» ein Dorn im Auge. Doch anders als Rohrmoser meint, bedeutet es nicht, dass Rechts- und Linksaussen gleichgesetzt werden sollen. Äquidistanz würde vielmehr bedeuten, gleichen Abstand zu allen Formen des Extremismus zu halten.

Richard Rohrmoser: Antifa. Porträt einer linksradikalen Bewegung. Von den 1920er Jahren bis heute. Verlag C. H. Beck, München 2022. 208 S., Fr. 25.90.
(https://www.nzz.ch/feuilleton/antifa-richard-rohrmoser-schreibt-die-geschichte-der-bewegung-ld.1669284)
-> https://taz.de/Antifaschistische-Aktion/!5830067/
-> https://www.chbeck.de/rohrmoser-antifa/product/31397024