Medienspiegel 10. Februar 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Kommission besorgt über Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in den Rückkehrzentren
Bern, 10.02.2022 – Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) besuchte zwischen Mai und August 2021 die Rückkehrzentren in Aarwangen, Biel und Gampelen im Kanton Bern. Sie veröffentlicht heute ihre Erkenntnisse und Empfehlungen in einem Bericht. Die Kommission ist besorgt über die Lebensbedingungen von Kindern und deren Familien. Verbesserungen sind aus Sicht der Kommission in allen drei Zentren bei der Sicherheit von Frauen sowie bei der Infrastruktur notwendig.
https://www.nkvf.admin.ch/nkvf/de/home/publikationen/mm.msg-id-87123.html
-> Bericht: https://www.nkvf.admin.ch/dam/nkvf/de/data/Berichte/2022/rueckkehrzentren-be/bericht-rueckkehrzentren-be.pdf



Medienmitteilung der Sicherheitsdirektion: Kantonale Rückkehrzentren: Optimierungen im Rahmen der gesetzlichen Rahmenbedingungen
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat im Auftrag der Sicherheitsdirektion (SID) die kantonalen Rückkehrzentren auf ihre Menschenrechts- und Grundrechtskonformität überprüft. Die SID nimmt den Bericht der Kommission zum Anlass – wo sinnvoll, möglich und überhaupt zulässig – Optimierungen in den Rückkehrzentren umzusetzen. Dabei darf sie aber nicht von den gesetzlichen Vorgaben abweichen, die von Parlament und Stimmvolk festgelegt worden sind. Verbesserungen hatte die SID bereits von sich aus initiiert und erreicht: Familien mit Kindern und alleinstehende Frauen werden nun in Enggistein, gemäss ihren besonderen Bedürfnissen, ohne alleinstehende Männer unterbracht. Die NKVF kann schliesslich kein Kinderrecht konkretisieren, das verletzt würde und daher den Schluss zulässt, die Situation sei nicht kinderrechtskonform. Dies entspringt somit eher der politischen Einschätzung der Verfassenden des Berichts.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=3608985c-239b-4583-b6bd-710743f0dba3



derbund.ch 10.02.2022

Umstrittene Rückkehrzentren – Bericht: Unterbringung von Familien ist «menschenunwürdig»

Die Antifolterkommission des Bundes kritisiert den Umgang des Kantons Bern mit abgewiesenen Asylsuchenden. Verbesserungen seien in allen Zentren notwendig.

Andres Marti, Carlo Senn

Nach Kritik an der Unterbringung abgewiesener Asylsuchender hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) die Berner Rückkehrzentren untersucht. Die Besuche der NKVF fanden zwischen Mai und August 2021 in den Rückkehrzentren in Aarwangen, Biel und Gampelen statt. Die Kommission fokussierte sich insbesondere auf die Lebensumstände von Kindern und deren Familien. Das sind ihre Kritikpunkte:

Menschenunwürdige Unterbringung von Familien

Dass auch Kinder in den Rückkehrzentren leben müssen, ist seit jeher umstritten. «Nach Beurteilung der Kommission sind diese Verhältnisse nicht mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar», sagt nun Kommissionspräsidentin Regula Mader. Sie verletzten das Recht von Kindern auf «angemessene Lebensbedingungen und das Recht auf Ruhe und Freizeit sowie auf Spiel und altersgemässe aktive Erholung».

Keine kinder- und jugendgerechte Infrastruktur

Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in den Zentren sei «nicht kindergerecht». Es gibt zu wenig Räume für verschiedene Altersgruppen. Kinder hätten zu wenig Spielmöglichkeiten, Jugendlichen fehle es an Aufenthaltsräumen oder Zimmern, um Schulaufgaben zu erledigen. Neben den fehlenden Spiel- und Rückzugsmöglichkeiten für Kinder seien auch die Aussenbereiche keine kindergerechte Umgebung.

Zu knappe Nothilfe

Abgewiesene Asylsuchende erhalten heute 8 Franken pro Tag Nothilfe. Die Experten des Bundes fordern den Kanton auf, diesen Beitrag für Familien mit Kindern und Jugendlichen zu erhöhen. Ebenso soll der Kanton die Abgabe von Hygieneartikeln für Frauen und Mädchen sicherstellen. In den besuchten Zentren sei eine  Regelung, ob diese systematisch und kostenlos abgegeben würden, nicht ersichtlich gewesen. Gemäss Aussagen von Bewohnerinnen bezahlen sie alle ihre Hygieneartikel von ihrem Nothilfebetrag.

Fehlender Schutz von Frauen

Der Schutz von Frauen sei in den besuchten Zentren «nicht umfassend gewährleistet», schreibt die Kommission. Gerade Frauen lebten isoliert, weil sie sich nicht sicher fühlten. Aus den Gesprächen mit Frauen in den drei Rückkehrzentren geht laut dem Bericht hervor, dass sie sich in den Gemeinschaftsbereichen der Unterkunft, vor allem nachts, nicht sicher fühlen. Die NKVF empfiehlt, Frauen und Mädchen getrennt von alleinstehenden Männern unterzubringen. Toiletten und Duschen seien nicht in allen Zentren klar nach Geschlechtern getrennt oder ungenügend geschützt. Schliesslich sollen alle Frauen und Mädchen auch nachts einen sicheren Zugang zu Toiletten haben, ohne sich vor Belästigungen fürchten zu müssen. Teilweise seien die Zentrumsleitungen ungenügend über die Pflichten des Schutzes von Frauen, insbesondere vor Belästigungen und Gewalt, informiert und sensibilisiert.

Zu eng

In Aarwangen traf die Kommission eine Familie mit zwei Kindern, die in einem Schlafraum von 15 Quadratmetern lebt. Eine andere Familie lebt mit zwei Kindern im Alter von 15 Jahren und 1 Jahr in einem Raum von 23 Quadratmetern. Die Kommission vergleicht das mit einer Gefängniszelle für drei Personen, «die gemäss internationalen Standards» mindestens 22 Quadratmeter umfassen muss.

Keine Beschäftigungsmöglichkeiten

Für abgewiesene Asylsuchende gilt ein generelles Arbeitsverbot. «Die Perspektivenlosigkeit ist allgegenwärtig in den Gesprächen mit den Menschen in den Rückkehrzentren», schreibt die Kommission. Das Arbeitsverbot und die fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten hätten negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.

Schimmel im Schlafraum

Das Gebäude in Aarwangen sei veraltet und renovierungsbedürftig. Einige sanitäre Anlagen, Küchen und Schlafräume wiesen an den Besuchstagen «Spuren von Schimmel» auf. Gemäss der Zentrumsleitung wurden die sanitären Anlagen, aber auch die Schlafräume jedoch bereits von Schimmel befreit. Die Fensterläden sind teilweise morsch, nicht richtig befestigt und weisen Löcher auf.

Reaktion des Kantons: Bericht «politisch motiviert»

Zuständig für die Rückkehrzentren im Kanton Bern ist die Sicherheitsdirektion von Regierungsrat Philippe Müller (FDP). Dieser ist mit mehreren Kritikpunkten nicht einverstanden und findet, beim Bericht handle es sich um eine «politische» und nicht «juristische» Schlussfolgerung.

So weist die Direktion Müller den Vorwurf zurück, dass die Unterbringung in den Rückkehrzentren nicht kindergerecht sei. Verbesserungen habe die Sicherheitsdirektion bereits «von sich aus initiiert und erreicht», so sagt der Kanton weiter und nennt die Unterbringung von Familien mit Kindern in Enggistein.

Die Kommission könne zudem kein Kinderrecht konkretisieren, das vom Kanton verletzt werde. Die Schlussfolgerung der Kommission stuft der Kanton daher als «politische Einschätzung der Verfassenden» ein.

Man nehme den Bericht zwar zum Anlass, «wo sinnvoll, möglich und überhaupt zulässig», Optimierungen in den Zentren umzusetzen. Dabei dürften die Anpassungen aber nicht von den gesetzlichen Vorgaben abweichen, die von Parlament und Stimmvolk festgelegt worden seien.
(https://www.derbund.ch/bericht-unterbringung-von-familien-ist-menschenunwuerdig-655045532190)
-> Rendez-vous SRF: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/besorgniserregende-bedingungen-in-berner-rueckkehrzentren?partId=12140231
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/menschenrechte-verletzt-kritik-an-berner-rueckkehrzentren-besorgt-ueber-lebensumstaende
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/197131/
-> Regionaljournal BE Mittag: https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/kritik-an-berner-rueckkehrzentren-besorgt-ueber-lebensumstaende?id=12140174
-> Regionaljournal BE Abend (ab 02:54): https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/regierungsrat-mueller-reagiert-auf-kritik-an-den-rueckkehrzentren?id=12141119
-> https://solidaritaetsnetzbern.ch/medienmitteilung-nkvf/
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/antifolterkommission-bemangelt-lebensbedingungen-in-ruckkehrzentren-66105027
-> Echo der Zeit SRF: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/kritik-an-berner-rueckkehrzentren-fuer-abgewiesene-asylsuchende?partId=12141206
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/kritik-an-asylzentren-im-kanton-bern?urn=urn:srf:video:77fe245f-3042-44a2-b885-4fa06010972e
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/bericht-bestaetigt-kritik-an-berner-rueckkehrzentren-besorgt-ueber-lebensbedingungen-von-kindern-und-familien-145417241
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/kritik-am-berner-system-rueckkehrzentren-wie-streng-ist-bern-im-vergleich-mit-anderen
-> https://www.neo1.ch/artikel/antifolterkommission-bemaengelt-bedingungen-in-rueckkehrzentren-kanton-ist-enttaeuscht
-> https://www.luzernerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/rechte-verletzt-rueckkehrzentren-kommission-kritisiert-unterbringung-von-kindern-und-jugendlichen-ld.2248865



derbund.ch 10.02.2022

Politische Kontroverse um Rückkehrzentren: Philippe Müller verärgert über «unabhängige» Fachstelle

Der Sicherheitsdirektor wirft der Antifolterkommission vor, aus der Untersuchung der Berner Asylzentren «politische» Schlüsse zu ziehen. Diese reagiert «erstaunt».

Carlo Senn

Die Zustände in den Unterkünften für abgewiesene Asylbewerber waren wiederholt in die Kritik geraten. Deshalb hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) im Auftrag der bernischen Sicherheitsdirektion von Philippe Müller einen Bericht zur Situation verfasst. Es war eine Reaktion auf die grosse mediale Aufmerksamkeit und die Anschuldigungen von Nichtregierungsorganisationen.

Nun ist der Bericht erschienen, doch der Regierungsrat ist alles andere als zufrieden mit der Arbeit der Kommission. Die Schlussfolgerung des Berichts sei mehrheitlich eine «politische Einordnung», keine juristische, wie aus einer Stellungnahme seiner Direktion hervorgeht. Es werde von Einzelaussagen von Asylsuchenden auf das Vorliegen grundsätzlicher, struktureller Defizite geschlossen. Viele Vorschläge widersprächen zudem geltenden Gesetz. Es sei nicht möglich, von diesen Einzelaussagen auf strukturelle Probleme zu schliessen. Zudem seien viele geforderte Verbesserungen bereits umgesetzt.

Der Bericht stellt dem Kanton kein gutes Zeugnis aus. Die Unterbringung von Familien in den Zentren sei «menschenunwürdig», das strikte Arbeitsverbot führe zu psychischen Beeinträchtigungen, und es fehle an genügend Schutz für die Frauen.

Breit abgestützte Kommission

Die Kommission besteht aus zwölf Mitgliedern, darunter Ärzte, eine Professorin für öffentliches Recht sowie eine Polizeibeamtin. Sie haben einen fachlichen Hintergrund in den Bereichen Menschenrechte, Justiz, Straf- und Massnahmenvollzug, Medizin, Psychiatrie und Polizei und werden vom Bundesrat eingesetzt.

Die Tätigkeiten der NKFV sind vielfältig, oft stehen die Untersuchungen der Kommission aber in Zusammenhang mit Freiheitsentzug. Seit ihrer Gründung im Jahr 2010 hat sie zahlreiche Strafanstalten besucht, darunter auch das Gefängnis Thorberg. Ausserdem hat sie den Fall von Brian angeschaut, der seit 2018 in einem Zürcher Gefängnis sitzt, und lockerere Haftbedingungen gefordert.

Auch zu Ausschaffungen und Ausschaffungsflügen hat sich die Kommission wiederholt kritisch geäussert und beispielsweise weniger Fesselungen gefordert. Neben Kritik formuliert die Kommission immer auch Empfehlungen, wie eine Situation verbessert werden könnte, so auch im aktuellen Bericht zu den bernischen Rückkehrzentren.

Erstaunte Präsidentin

Präsidentin der Kommission ist Regula Mader, ehemalige Leiterin des Schlossgartens Riggisberg, einer Institution für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Die Rechtsanwältin ist in Bern keine Unbekannte: Mader leitete einst als Mitglied der SP das Regierungsstatthalteramt Bern-Mittelland. Allerdings gehört sie gemäss eigenen Aussagen schon seit über zehn Jahren keiner Partei mehr an.

Sie sei sehr «erstaunt» über die Reaktion des Kantons, sagt Mader auf Anfrage. «Die Kommission stützt sich auf nationale und internationale gesetzliche Grundlagen und nimmt nicht politisch Stellung», betont sie. Auch den Vorwurf, dass die Gespräche zu wenig umfassend gewesen seien, verneint Mader. Die Kommission spreche jeweils mit Leitungspersonen aus den Institutionen, mit Mitarbeitenden, Fachpersonen und den betroffenen Menschen und erhalte so ein umfassendes Bild.

Auch der Synodalrat der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Ueli Burkhalter, stellt sich hinter den Bericht. Dieser sei aus seiner Sicht «sachlich» und nicht «politisch» verfasst. Die Kirchgemeinde fordert nun Verbesserungen beim Kanton ein.

Kein direkter Vergleich

Rückkehrzentren in anderen Kantonen hat die Kommission bisher noch nicht besucht, da dies in Bern im Auftrag der Sicherheitsdirektion geschah. Allerdings hat die Kommission bereits mehrere Bundesasylzentren besichtigt. Ob Bern im Vergleich zu anderen Kantonen in seinen Rückkehrzentren den Spielraum weniger nutzt als andere, geht aus dem Bericht nicht hervor.
(https://www.derbund.ch/philippe-mueller-veraergert-ueber-unabhaengige-fachstelle-201358199877)



derbund.ch 10.02.2022

Kommentar zu den Rückkehrzentren:  Müller kann sich nicht nur hinter dem Volkswillen verstecken

Eine Mehrheit mag für strenge Asylgesetze sein. Doch wenn Grundrechte von Kindern verletzt werden, muss Sicherheitsdirektor Philippe Müller handeln.

Andres Marti

In den Berner Rückkehrzentren werden Grundrechte verletzt. Die Kinder der abgewiesenen Asylsuchenden leiden unter den engen Platzverhältnissen, es gibt zu wenig Spielzimmer und kaum Rückzugsräume, etwa um Hausaufgaben zu machen. Kritisch ist die Situation auch für alleinstehende Frauen: Aus Angst vor Belästigung wagen sich viele von ihnen nachts nicht auf die Toilette.

Die Situation in den Zentren ist insgesamt «menschen­unwürdig». Das sagt nicht irgendeine NGO, sondern die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter in ihrem jüngsten Bericht. Die vom Bundesrat bestimmten Mitglieder der Kommission sind allesamt angesehene Fachleute, darunter Gefängnisdirektoren, Richter und Polizeibeamte.

In seiner Stellungnahme bleibt der zuständige Regierungsrat Philippe Müller (FDP) seiner bisherigen Linie treu: Es sei nun mal der «klare Wille des Gesetzgebers, dass weggewiesene Personen unser Land verlassen müssen». Nicht er ist demnach für den harten Umgang gegenüber den Abgewiesenen verantwortlich, sondern Parlament und Stimmvolk.

Ganz unrecht hat Müller damit nicht. Das Schweizer Asylrecht wird seit den 1990er-Jahren sukzessive verschärft. Dem aktuellen Regime der beschleunigten Verfahren haben 2013 fast 80 Prozent des Stimmvolks zugestimmt. Im Kanton Bern hat das Kantonsparlament den Verschärfungen ebenfalls deutlich zugestimmt. Seither werden abgewiesene Asylsuchende in gesonderten Zentren untergebracht, die vor allem abschrecken sollen. Eine Lockerung des harten Kurses könne nur das Parlament oder das Volk vornehmen, so Müller.

Doch damit macht er es sich zu einfach. Eine Mehrheit im Volk mag für eine harte Asylpolitik sein. Das heisst aber noch lange nicht, dass in den Zentren gegen die UNO-Kinderrechtskonvention verstossen werden darf. Dafür gibt es sicher keine Mehrheiten.

Dass es einen Spielraum für Verbesserungen gibt, hat Müller gleich selber gezeigt: So hat er kurz vor der Veröffentlichung des Berichts angekündigt, Frauen und Kinder künftig in einem separaten Zentrum unterzubringen.
(https://www.derbund.ch/mueller-kann-sich-nicht-nur-hinter-dem-volkswillen-verstecken-885325828459)



tagesanzeiger.ch 10.02.2022

Missstände in Asylzentren: «Für Familien mit Kindern nicht menschenwürdig»

Unterkünfte für weggewiesene Asylsuchende im Kanton Bern seien mangelhaft, befindet die Nationale Kommission zur Verhinderung von Folter. Besser geht es privat untergebrachten Weggewiesenen.

Hans Brandt

Ein Gutshaus? Ein Ferienheim? Eine Klinik? Das imposante, sicher 100 Jahre alte Gebäude liegt umgeben von Feldern im Berner Seeland, am Horizont der verschneite Jurabogen. Graureiher schreiten über den Acker, schwarz schillernde Krähen scharren in der Erde, darüber kreisen Rotmilane. Nächste Einkaufsmöglichkeit ist ein grosser Hofladen einen knappen Kilometer entfernt.

Die Idylle trügt. Der Eschenhof bei Gampelen an der Grenze des Kantons Bern zu Neuenburg ist ein Rückkehrzentrum, eine Unterkunft für weggewiesene Asylsuchende, die eigentlich nicht in der Schweiz bleiben dürfen, aber nicht ausgeschafft werden können. Und auch nicht freiwillig abreisen.

Dieses ist eines von drei festen Rückkehrzentren im Kanton Bern; die anderen beiden sind ein Containerdorf in einem Industriegebiet bei Biel und eine seit Jahren für Asylsuchende genutzte Sammelunterkunft in Aarwangen. Hinzu kommen temporäre Einrichtungen und ein neues, auf Familien und Frauen ausgerichtetes Zentrum.

«Für Familien mit Kindern nicht menschenwürdig»

Die Zustände in den Zentren werden schon seit Jahren kritisiert. Deshalb hat die Berner Kantonsregierung die Nationale Kommission zur Vermeidung von Folter (NKVF) beauftragt, sie zu untersuchen. Deren Bericht, der am Donnerstag veröffentlicht wurde, fällt negativ aus. «Verbesserungen sind in allen drei Zentren bei der Sicherheit von Frauen sowie bei der Infrastruktur notwendig», schreibt die Kommission. «Die Bedingungen sind für Familien mit Kindern nicht menschenwürdig.»

Auch andere Mängel identifiziert die Kommission: Der Umgang mit den Bewohnenden sei zu restriktiv, der Zustand der Unterkünfte oft «heruntergekommen». «Nach Beurteilung der Kommission sind diese Verhältnisse nicht mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar», sagt Kommissionspräsidentin Regula Mader.

Die Kantonsregierung reagiert mit Unverständnis. «Es ist eine politische Bewertung, keine juristische», heisst es in einer Stellungnahme der Sicherheitsdirektion. Dennoch werde der Kanton Optimierungen umsetzen.

Aufgebrachte Bewohnende

Besucher dürfen das Zentrum bei Gampelen, das früher zum nahe gelegenen Gefängnis Witzwil gehörte, derzeit nicht betreten. Die Einhaltung der Hygieneregeln habe Vorrang, teilt das zuständige Amt für Bevölkerungsdienste mit. Zentrumsleiter Senad Delic empfängt vor der Tür. 70 Personen wohnten derzeit in der Einrichtung, darunter drei Frauen in einem separaten Gebäude, berichtet er.

Im Aussenbereich zu sehen sind nur einzelne Bewohner: ein rauchender Mann, der an einer Wand Schutz vor dem eisigen Wind sucht, ein anderer, der mit dem Velo davonfährt. Auffällig hingegen in ihren leuchtend blauen Jacken sind die Mitarbeiter von ORS, der Firma, die diese und mehrere andere Schweizer Asylunterkünfte im Auftrag der Behörden betreibt.

Sogar Lutz Hahn, ORS-Medienbeauftragter aus Zürich, hat sich die Uniformjacke angelegt. «Wir haben nach einer öffentlichen Ausschreibung die Verantwortung hier im Juni 2020 von der Heilsarmee übernommen», erklärt Hahn. «Durch die strengeren gesetzlichen Vorgaben für Personen mit einem negativen Asylentscheid war unser Personal Prellbock für aufgebrachte Bewohnende. Doch inzwischen hat sich die Lage beruhigt.»

Tatsächlich haben die Asylbehörden in den letzten Jahren den Druck auf Weggewiesene erhöht. Sie müssen in zentralen Unterkünften wohnen, täglich eine Anwesenheitsliste unterschreiben. Sie dürfen nicht arbeiten, keine Ausbildung machen, erhalten nur Nothilfe. Im Kanton Bern sind das 8 Franken pro Tag und Person, ein Drittel der Sozialhilfe. «Das führt schon an Grenzen und zu Frust», räumt Hahn ein. «Aber wir können die Rahmenbedingungen nicht ändern.»

«Sie sollen nicht integriert werden»

Der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) sieht dabei die Asylsuchenden selbst in der Verantwortung. «Die Anwesenden sind freiwillig im Rückkehrzentrum», schreibt er in seiner Stellungnahme zum Bericht der NKVF. «Personen mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid sollen nicht integriert werden.»

Daniel Winkler ist empört über solche Aussagen. «Die Menschen werden in diesen Zentren zum Teil jahrelang verwahrt», sagt der Pfarrer aus Riggisberg südlich von Bern. Das sei menschenunwürdig. «Es ist eine Vergrämungsstrategie.» Dabei gibt es zahlreiche Gründe, warum Weggewiesene nicht in ihre Heimatländer ausgeschafft werden können. Afghanistan ist kein sicheres Land. In Eritrea und Äthiopien herrscht Krieg. Wer nach Tibet zurückkehrt, das von China beherrscht wird, muss mit Internierung rechnen.

Für einige gibt es allerdings eine andere Perspektive: die Unterbringung bei Privatpersonen. Im Kanton Bern ist das erlaubt, in manchen Kantonen stillschweigend geduldet, in anderen strikt verboten. Mit seiner Initiative Riggi-Asyl organisiert Daniel Winkler private Unterkünfte für besonders bedürftige Asylsuchende.

Eritrea, Sahara, Sudan, Mittelmeer, Schweiz

Das alte Bauernhaus, in dem der Eritreer Bereket Andom mit seiner Frau Aster Tekle und den Kindern Rodas (6) und Rai (3) Zuflucht gefunden hat, liegt abgelegen an einem Hang in Rüti bei Riggisberg mit Blick auf die Berner Alpen. Die beiden 33-Jährigen sind über den Sudan durch die Sahara nach Nordafrika und zuletzt über das Mittelmeer in die Schweiz gelangt.

Bis 2019 lebte Bereket Andom in der Nähe von Thun, arbeitete bei einer Asylorganisation, die Familie hatte eine Wohnung. «Dann kam der Brief», erzählt er. Ihnen wurde kein Asyl gewährt, sie sollten die Schweiz verlassen. Er musste Arbeit und Wohnung aufgeben, die Familie ins Rückkehrzentrum Aarwangen umziehen.

Im Juni 2021 kam die Wende: Stephan und Nadine Maag stellten ihnen zwei kleine Zimmer in ihrem Bauernhaus zur Verfügung. «Wir sind Freunde geworden», sagt Stephan Maag. «Bereket und Aster sind feine Menschen.» Für die Maags, die selbst vier Kinder haben, ist es ein Auftrag ihres christlichen Glaubens, Bedürftige aufzunehmen. Sie sind Mitglieder einer freikirchlichen Gruppe, in der Stephan Maag als Prediger auftritt.

In der Nachbarschaft und im Dorf wurden die Gäste aus Eritrea freundlich aufgenommen, sagt Nadine Maag. Auch die Schulbehörde habe alles getan, um für die 6-jährige Rodas einen Platz zu finden. «Das Problem ist nicht etwa die mangelnde Hilfsbereitschaft, das Problem sind die Regeln.»

Insgesamt leben im Kanton gut 600 Menschen von der Nothilfe. Etwa 200 Weggewiesene haben im Kanton Bern private Unterkünfte gefunden. Schweizweit bezogen im Jahr 2020 laut dem Staatssekretariat für Migration über 4000 Menschen Nothilfe, davon fast drei Viertel seit mehr als einem Jahr. «Die Schweiz hat eines der restriktivsten Asylgesetze aller westlichen Länder», sagt Winkler. Für die Betroffenen sei das eine schwere Belastung: «Wenn man keine Hoffnung hat, leiden Seele und Körper.»

Die Weggewiesenen «haben sich ihrer Pflicht zur selbstständigen Ausreise widersetzt», meint hingegen Sicherheitsdirektor Philippe Müller in seinem Schreiben an die NKVF. «Es ist nicht zielführend, klare und gefestigte politische Mehrheiten anzuprangern.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/fuer-familien-mit-kindern-nicht-menschenwuerdig-217691769618)


+++ZÜRICH
Basishilfe für Sans-Papiers läuft in zehn Wochen aus
Mit der wirtschaftlichen Basishilfe wollte der Zürcher Stadtrat Menschen in Not unkompliziert finanziell unterstützen. Weil der Bezirksrat das Projekt gestoppt hat, sind die reformierte und die katholische Kirche eingesprungen. Nun beenden sie ihr Engagement.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/basishilfe-fuer-sans-papiers-laeuft-in-zehn-wochen-aus?id=12141179
-> https://www.tagesanzeiger.ch/basishilfe-fuer-arme-endet-in-zehn-wochen-484384945759
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/zuerich-wirtschaftliche-basishilfe-pilotprojekt-laeuft-in-zehn-wochen-aus-ld.2249141



nzz.ch 10.02.2022

Endgültiges Aus für die Basishilfe: «Die Existenzsicherung der Ärmsten ist klar eine Aufgabe des Staates»

Die Basishilfe als Aufgabe zu übernehmen, würde die finanziellen Mittel der reformierten Kirche übersteigen, sagt Kirchenpflegerin Claudia Bretscher.

Isabel Heusser

Die Stadt Zürich hat die Rekursfrist bei der eigens aufgezogenen Basishilfe für Sans-Papiers und andere Ausländer verschlafen. Damit ist das Pilotprojekt, das der Bezirksrat als ungesetzlich taxiert hatte, Geschichte. Wie nun am Donnerstag bekanntwurde, wird auch die Reformierte Kirchgemeinde Zürich die Basishilfe nicht weiterführen.

Die Kirche war nach dem Entscheid des Bezirksrats im Dezember eingesprungen und hatte 100 000 Franken gesprochen, um Bedürftige weiterhin zu unterstützen. Zudem hatten Katholisch Stadt Zürich sowie die Katholische Kirche im Kanton Zürich jeweils 50 000 Franken genehmigt.

Die finanzielle Unterstützung sei von Anfang an als Überbrückungshilfe gedacht gewesen, bis ein Entscheid zur Basishilfe feststehe, sagt die Kirchenpflegerin Claudia Bretscher. Weil die Stadt die Rekursfrist verpasst habe, sei der Entscheid nun klar.

Sie bedaure das Aus der Basishilfe sehr, denn der Bedarf sei ausgewiesen. «Aber die Existenzsicherung der Ärmsten ist klar eine Aufgabe des Staates und nicht der Kirchen.» Die Basishilfe als kirchliche Aufgabe zu übernehmen, würde die finanziellen Mittel der Kirche ausserdem bei weitem übersteigen.

Bretscher betont, dass sich die Kirche immer für Menschen in Notlagen eingesetzt habe und dies auch weiter tun werde. So hatte das Zürcher Kirchenparlament eine Million Franken als «Corona-Batzen» gesprochen, um Menschen aus dem unteren Mittelstand zu unterstützen, die durch die Maschen fallen; Menschen etwa, die keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, die aber auf finanzielle Unterstützung angewiesen wären, also etwa Sans-Papiers.

Die Basishilfe-Auszahlungen an Bedürftige sind voraussichtlich noch zehn Wochen lang möglich. «Das erlaubt einen menschenwürdigen Ausstieg aus der Basishilfe», sagt Bretscher. Sie hofft, dass sich bis Ende April die Situation rund um Corona und die wirtschaftliche Lage verbessert haben.

«Ein harter Schlag»

Vier Organisationen waren am Pilotprojekt der Stadt beteiligt: Caritas Zürich, das Schweizerische Rote Kreuz Kanton Zürich, Solidara Zürich (vormals Stadtmission) und die Sans-Papier-Anlaufstelle Spaz. Sie hatten die Gelder verteilt.

In einer gemeinsamen Mitteilung schreiben die Organisatoren, die ersten Monate der Umsetzung der Basishilfe hätten die Wichtigkeit des Angebots bestätigt. Die vom Bundesgesetz geschaffene Verknüpfung von aufenthaltsrechtlichen Fragen mit dem Sozialhilfebezug treibe Menschen ohne Schweizer Pass in prekäre Lebensumstände – «nicht nur, aber ganz besonders während einer Pandemie».

Bea Schwager ist Geschäftsführerin der Spaz. Das baldige Ende der Basishilfe sei für die Betroffenen ein harter Schlag. 34 Personen oder Familien hatten bei der Spaz einen Antrag auf finanzielle Unterstützung gestellt, 30 Anträge wurden bewilligt.

Wegen Corona sei die Situation für viele Sans-Papiers noch immer prekär, sagt Schwager. Sie hätten in der Pandemie ihre Arbeit verloren, nicht alle hätten wieder eine Anstellung finden können. Um ihnen auch in Zukunft finanzielle Hilfe leisten zu können, müsse man nun wieder bei privaten Stiftungen anklopfen und dort Einzelanträge stellen. «Das ist nicht nur für uns aufwendig, sondern auch für die Betroffenen selbst.»

An offizielle Stellen könnten Sans-Papiers nicht gelangen, sagt Schwager. Nothilfe zu beantragen, sei keine Option. «Das ist mit einer Meldepflicht verbunden, und dann würden die Sans-Papiers sofort verhaftet und ausgeschafft.» Schwager hofft nun, dass die Basishilfe von rot-grüner Seite im Parlament neu aufgegleist wird.

«Es gibt nur Verlierer»

Tatsächlich hat die SP bereits angekündigt, einen entsprechenden Vorstoss im Parlament einzureichen. Sehr zum Ärger der Bürgerlichen. An der Sitzung vom Mittwoch wurden gleich drei persönliche Erklärungen zur Basishilfe verlesen. Es setzte Schelte für den Stadtrat – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

«Es gibt nur Verlierer», sagte Alexander Brunner (FDP), der die Beschwerde über die Basishilfe an den Bezirksrat formuliert hatte. «Die Betroffenen sind Verlierer, denn man hat ihnen etwas vorgegaukelt, das es nicht gibt. Und wir Parlamentarier sind Verlierer, weil wir nicht zum Pilotprojekt befragt wurden.»

An die Adresse der SP gerichtet, die die Basishilfe unterstützte und weiter vorantreiben will, sagte Brunner: «Die Verknüpfung von Sozial- und Migrationsrecht wurde mehrmals in Abstimmungen vom Volk gewünscht. Wenn Sie das alles ignorieren, haben Sie keine Lehren gezogen.»

Markus Merki (GLP) kritisierte die Fehlerkultur in der Stadtkanzlei. Statt selbst nachzuforschen, wo der Fehler passiert sei, habe die verantwortliche Stelle stolz verkündet, man habe eine externe Untersuchung in Auftrag gegeben. «Ich frage mich, warum man in der Stadt eine strenge hierarchische Führungs- und Kompetenzordnung hat, wenn nicht einmal eine Kleinstabteilung wie die Stadtkanzlei fähig ist, die eigenen Abläufe zu hinterfragen.»

Verärgert war auch die SP – allerdings darüber, dass die Stadt die Rekursfrist verschlampt hatte. Die Stadtkanzlei habe einen «unsäglichen, furchtbaren und katastrophalen Fehler» begangen, sagte Marco Geissbühler.

Der Vorstoss, um die wirtschaftliche Absicherung der «Verletzlichsten in der Gesellschaft» auf ein solides Fundament zu stellen, soll nach den Sportferien eingereicht werden.

Demgegenüber steht die Überlegung von SVP-Kantonsrat Claudio Schmid, das ausbezahlte Geld müsse eigentlich zurückgefordert werden. Insgesamt war eine Ausgabe von 160 000 Franken widerrechtlich getätigt worden.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-reformierte-kirche-fuehrt-basishilfe-nicht-weiter-ld.1669068)


+++SCHWEIZ
Informationen und Interview zu den Hungerstreikenden vor dem SEM
Die beiden Hungerstreikenden, Nazary und Shekib, fordern einen geregelten Aufenthaltstatus, das Recht auf Familiennachzug und Bewegungsfreiheit für alle Geflüchteten. Mit ihrem 10 tägigen Hungerstreik vor dem SEM in Bern bauen sie Druck auf um eine politische Lösung für geflüchtete aus Afghanistan zu erlangen. Radio LoRa hat mit einem der Aktivisten gesprochen der mit uns seine Erfahrungen und sein Kampf teilt rund um den Asylprozess in der Schweiz.
https://soundcloud.com/radio_lora/informationen-und-interview-zu-den-hungerstreikenden-vor-dem-sem


+++FREIRÄUME
Gemeinschaftlich leben – funktional, kreativ, sozial
Drei Wohnformen, die Menschen zusammenbringen. Drei Alternativen zur typischen Kleinfamilienwohnung. Eine Altbewährte, eine Brandneue und eine mit grossen Zukunftsplänen.
https://rabe.ch/2022/02/09/gemeinschaftlich-wohnen-funktional-kreativ-sozial/


Wir bleiben alle. Auch in Schwamendingen.
Die Siedlungen heissen Dreieck, Riedacker, Probstei, Altwiesen oder Luchswiesen. Sie kommen weg. Und mit ihnen auch viele ihrere Bewohner*innen.
https://barrikade.info/article/5007


+++GASSE
Studie zur Obdachlosigkeit in der Schweiz
Schätzungsweise 2200 Menschen sind in der Schweiz von Obdachlosigkeit betroffen und etwa 8000 sind von Wohnungsverlust bedroht. Die Kantone anerkennen ihre Verantwortung für die Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Das und mehr zeigt die Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz», welche die Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz (FHNW) im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO) erarbeitet hat.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-87122.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/studie-des-bundes-8000-menschen-in-der-schweiz-droht-die-obdachlosigkeit
-> https://rabe.ch/2022/02/10/obdachlosigkeit-in-der-schweiz/
-> https://www.toponline.ch/news/schweiz/detail/news/2200-obdachlose-und-8000-von-wohnungsverlust-bedrohte-00174890/
-> https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/gesellschaft-obdachlosigkeit-behoerden-fehlt-eine-klare-strategie-ld.2248877


+++SEXWORK
OnlyFans: Neues Geschäftsmodell, altes Stigma
Der Umgang der Plattform OnlyFans mit pornografischen Inhalten zeigt auf, dass Sexarbeit nie unabhängig von der Gesellschaft ist, in der sie entsteht
Auf OnlyFans können Sexarbeiter*innen ihren Content selbstständig und relativ uneingeschränkt verwalten. Viele feiern die Plattform deswegen als Ort neuer Freiheiten. Aber führt das auch zu mehr Anerkennung und besseren Arbeitsbedingungen?
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161158.sexarbeit-onlyfans-neues-geschaeftsmodell-altes-stigma.html



tagesanzeiger.ch 10.02.2022

Sexarbeit in Zürich Regierung verteidigt umstrittenes Verbot

Prostitutionsverbot wegen Corona. Eine Studie sagt: Das war ein Fehler. Der Regierungsrat rechtfertigt seine Massnahmen.

Martin Sturzenegger

Eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) machte kürzlich auf eine Branche aufmerksam, die während der Pandemie wenig Beachtung fand: das Sexgewerbe. Die Forschenden wollten wissen, wie sich das aus epidemiologischen Gründen verhängte Arbeitsverbot auf Männer und Frauen, die in der Branche tätig sind, ausgewirkt hat. Dieses dauerte im Kanton Zürich insgesamt fast zehn Monate – so lange wie in keinem anderen Kanton.

Gemäss Studie führte das Arbeitsverbot unter anderem zu finanziellen Problemen, einem grösseren Machtgefälle gegenüber Freiern und erhöhten gesundheitlichen Risiken der Prostituierten. Es habe eine «Verhaltensveränderung der Freier» bewirkt, da diese mehr Verhandlungsmacht erhielten. Interviewte Sexarbeitende berichteten von mehr Nötigungs- und Betrugsversuchen, Dumpingpreisen oder Zahlungsverweigerungen.

Drei SP-Kantonsrätinnen reichten Mitte Januar aufgrund der Studie eine Anfrage beim Regierungsrat ein. Dieser rechtfertigt nun sein Vorgehen: Er sieht das Prostitutionsverbot nach wie vor «als in der damaligen Situation der Corona-Pandemie gerechtfertigte Massnahme.» Er widerspricht damit der ZHAW-Studie, die zum Schluss kam, dass bei einem Verbot die negativen Effekte die positiven überwiegen würden. «Wir empfehlen, in einem ähnlichen Fall kein Berufsverbot mehr auszusprechen», schrieb Studienleiter Michael Herzig.

Auch einem anderen Vorwurf widerspricht der Regierungsrat: demjenigen der wirtschaftlichen Benachteiligung für Sexarbeitende aufgrund des langen Verbots. Gegen «allfällige negative Folgen» seien verschiedene Massnahmen ergriffen worden. Darunter die Kurzarbeitsentschädigung oder die Entschädigung für Erwerbsausfall bei Selbstständigen. Auch Sozialhilfe könnten alle Menschen mit einer Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung bei Bedarf erhalten. Hinzu komme, dass Sozialhilfebezug aufgrund der Pandemie «keine Auswirkung auf den Aufenthaltsstatus» habe.

Keine Sanktionen gegen Freier

Sexarbeitende aus dem EU-Raum erhielten bereits im September 2020 keine Arbeitsbewilligung mehr. Im Gegensatz zu Werktätigen in anderen Branchen mit engem Körperkontakt wie etwa Coiffeusen oder Masseuren. Der Regierungsrat rechtfertigt diese Massnahme: Das Migrationsamt habe aus «Gründen der öffentlichen Gesundheit» keine Bewilligungen mehr ausgestellt. Im Gegensatz zum Sexgewerbe, das sich teilweise im Illegalen abspiele, könne bei anderen Berufen mit Körperkontakt eine Kontrolle stattfinden – etwa bezüglich Maskenpflicht.

Verstösse gegen das Prostitutionsverbot konnten hart bestraft werden – mit Bussen von bis zu 10’000 Franken oder mit Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Die Sanktionen galten in erster Linie den Bordellbetreibern und Sexarbeitenden, jedoch nicht den Freiern. Strafbar sei, schreibt der Regierungsrat, «wer für den Verstoss verantwortlich war». «Eine Strafbarkeit von Freiern sehen weder die bundesrätliche noch die kantonale Verordnung vor.» Wie viele Strafen erteilt wurden, schreibt der Regierungsrat nicht.

Keine Mitsprache für Sexarbeitende

Ein weiterer Kritikpunkt der Studie zielt darauf, dass Sexarbeitende in Zürich keinerlei Mitspracherecht hätten, was ihr Berufsleben betreffe. So gibt es in der Stadt Zürich zwar eine Fachkommission Prostitution der Stadt Zürich. In dieser diskutieren Juristen, Polizistinnen, Ärzte und Sozialarbeiterinnen über das Sexgewerbe – jedoch keine Prostituierten. Den Vorschlag der SP-Kantonsrätinnen, eine zusätzliche kantonale Kommission unter Einbezug der Sexarbeitenden zu schaffen, verwirft der Regierungsrat. Die Kantonspolizei tausche sich laufend mit der Stadtpolizei aus. «Eine weitere Kommission auf Kantonsebene ist deshalb nicht erforderlich.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/regierung-verteidigt-umstrittenes-verbot-468067950936)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Kanton Waadt: Bedrohte Gewaltenteilung? – Schweiz Aktuell
Weil die kantonale SP-Präsidentin die Staatsanwaltschaft öffentlich kritisiert hat, sieht der zuständige Generalstaatsanwalt die Gewaltenteilung zwischen Justiz und Politik bedroht. Das Büro des Grossen Rats tut sich schwer mit einer Stellungnahme zum Konflikt.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/kanton-waadt-bedrohte-gewaltenteilung?urn=urn:srf:video:73ed2e0f-82c7-4199-b8d5-f7bf00996279


+++KNAST
U-Haft in der Schweiz – ein Betroffener erzählt
Nach einer Nachtschicht wartet die Polizei zuhause auf Herrn M., verhaftet ihn und nimmt ihn mit auf den Polizeiposten. M. weiss: Nichts wird mehr sein wie zuvor: «Ich habe mein Leben zerfliessen sehen. Mir war klar, dass das alles verändern wird».
Im Gespräch mit humanrights.ch berichtet Herr M. von seiner Zeit im Gefängnis und wie der Freiheitsentzug sein Leben erschüttert hat.
https://soundcloud.com/user-950863061/untersuchungshaft-schweiz-eine-fallgeschichte
Die Untersuchungshaft hat für Betroffene einschneidende Konsequenzen. Neben der Freiheit verlieren sie wie M. oftmals ihre Wohnung und Arbeitsstelle. Darüber hinaus werden die Beziehungen zur Familie und zum weiteren sozialen Umfeld aufs Spiel gesetzt. Bestraft werden folglich nicht nur die Gefangenen, sondern auch deren Freunde, Familien und Kinder.

Während der U-Haft gilt die Unschuldsvermutung: Wer nicht verurteilt ist, gilt als unschuldig. Gemäss Art. 212 der Strafprozessordnung muss eine Person in der Regel während einem Strafverfahren in Freiheit bleiben. Die Ersatzmassnahmen sind in Art. 237 StPO gesetzlich geregelt. Die Gerichte berufen sich bei ihren Haftentscheiden jedoch oft auf allgemeine Floskeln und die rein theoretische Möglichkeit, jemand könnte fliehen oder kolludieren.

humanrights.ch fordert die Staatsanwaltschaften sowie die Zwangsmassnahmengerichte auf, die gesetzlichen Vorgaben endlich umzusetzen und Untersuchungshaft nur noch in absoluten Ausnahmefällen zu beantragen, bzw. anzuordnen.

Die einschneidenden persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Untersuchungshaft müssen dringend wissenschaftlich untersucht werden.
https://www.humanrights.ch/de/fachstellen/fachstelle-freiheitsentzug/podcast-untersuchungshaft-freiheitsentzug-menschenrechte?search=1


+++RASSISMUS
Neue Forderung: Rassismus-Strafnorm soll auch Sexismus einschliessen
Nicht nur Rassismus, sondern auch Sexismus soll strafbar werden: So lautet die Forderung einer Gruppe von Nationalrätinnen. Die Rassismus-Strafnorm müsste somit durch den Aspekt Geschlechter-Diskriminierung erweitert werden. Der Auslöser für den Vorschlag war ein frauenverachtendes Banner von Schaffhauser Fussball-Fans.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/neue-forderung-rassismus-strafnorm-soll-auch-sexismus-einschliessen-145417391


Hakenkreuze und Hitlergrüsse : Bundesrat schmettert Nazi-Symbol-Verbot ab und stösst alle vor den Kopf
Der Bundesrat will nationalsozialistische Symbole weiterhin nicht unter Strafe stellen. Damit erhitzt er die Gemüter.
https://www.20min.ch/story/bundesrat-schmettert-nazi-symbol-verbot-ab-und-stoesst-alle-vor-den-kopf-168073758239


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Linke gegen Corona-Skeptiker: Zürcher Polizei rüstet sich für Demo-Clash am Samstag
Diesen Samstag marschieren Massnahmen-Gegner durch Zürich – besonders in rechtsextremen Kreisen wird mobilisiert, obwohl ein Ende der Massnahmen in Sicht ist. Nun hat das linke Lager zur Gegendemo mobilisiert. Eine brenzlige Ausgangslage für die Polizei.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/linke-gegen-corona-skeptiker-zuercher-polizei-ruestet-sich-fuer-demo-clash-am-samstag-id17223018.html


„Was geht eigentlich bei euch, @Blickch? Zum Artikel über die bevorstehende Demo vom Samstag in Zürich zeigt ihr ohne jede Einordnung das Propagandavideo der Jungen Tat, fast in ganzer Länge? Inklusive “White Power”-Handzeichen und “Jetzt ist Schluss”? Übel.„
(https://twitter.com/Megafon_RS_Bern/status/1491812008001425410)


Ihre persönlichen Angaben wurden in Chats geleakt: SRF-Journalistin wird zur Zielscheibe von Corona-Skeptikern
Das SRF berichtete über Massnahmen-Gegner, die sich auf Telegram tummeln. Während der Recherche gerät die Journalistin ins Kreuzfeuer: Ihre persönlichen Angaben werden in allen Kanälen veröffentlicht – es folgen Anrufe und schlimme Beleidigungen.
https://www.blick.ch/schweiz/ihre-persoenlichen-angaben-wurden-in-chats-geleakt-srf-journalistin-wird-zur-zielscheibe-von-corona-gegnern-id17223923.html


Ständige Corona-Demos: Nause hat die Nase voll
Regelmässig muss sich die Stadt Bern mit unbewilligten Demonstrationen von Massnahmenkritikern herumschlagen. Sicherheitsdirektor Reto Nause reisst allmählich der Geduldsfaden. Die Skeptiker aber wollen weiter protestieren.
https://www.blick.ch/politik/staendige-corona-demos-nause-hat-die-nase-voll-id17223206.html


Polizei untersagt Corona-Autokonvoi, der Wien “lahmlegen” sollte
Nach dem Vorbild der kanadischen Trucker-Proteste gegen Corona-Maßnahmen gibt es solche Pläne auch für Wien. Ein für Freitag geplanter Autokonvoi wurde von der Polizei allerdings untersagt
https://www.derstandard.at/story/2000133268596/polizei-untersagt-corona-autokonvoi-der-wien-lahmlegen-sollte?ref=rss
-> https://www.standpunkt.press/schwurblerinnen-wollen-wien-lahmlegen-822/


Coronavirus: Ausgewanderte Skeptiker gehen auf Kritiker los
Wegen des Coronavirus ziehen Schweizer Skeptiker in eine Paraguay-Kommune. Gegen Kritiker geht man nun sogar mit einem Anwalt vor.
https://www.nau.ch/news/amerika/coronavirus-ausgewanderte-skeptiker-gehen-auf-kritiker-los-66104011


Wie rechte amerikanische Medien versuchen, kanadische Trucker-Proteste ins grosse Nachbarland zu importieren
Die anhaltenden Proteste von Lastwagenchauffeuren und Aktivisten in Kanada sind auf dem US-Nachrichtensender Fox News Channel ein Top-Thema. Die Aushängeschilder des Kanals erwecken den Eindruck, als wollten sie im eigenen Land mögliche Nachahmer anspornen.
https://www.tagblatt.ch/international/konvoi-der-freiheit-wie-rechte-amerikanische-medien-versuchen-kanadische-trucker-proteste-ins-grosse-nachbarland-zu-importieren-ld.2249040


Hass- und Hetzbotschaften im Netz – Tagesschau
Zu tausenden kursieren Gewaltaufrufe und Hassbotschaften auf sozialen Netzwerken. Es sind Ausfälligkeiten, die nicht tolerierbar sind. Doch rechtlich dagegen vorzugehen ist schwierig.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/hass–und-hetzbotschaften-im-netz?urn=urn:srf:video:ba79d8fc-c3fb-4654-9b80-304d751763ab
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/drohungen-hass-und-gewaltaufrufe-gegen-berner-politiker-hassnachrichten-haben-seit-der-pandemie-deutlich-zugenommen-145417281
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/hetze-im-internet-kaum-rechtliche-handhabe-in-der-schweiz-gegen-hass-im-internet



nzz.ch 10.02.2022

Vögel gibt’s nicht mehr. Nur noch Überwachungsdrohnen, die sich tarnen

Am Himmel fliegen nur noch getarnte Drohnen der amerikanischen Regierung. Die «Birds Aren’t Real»-Bewegung kämpft mittels einer absurden Verschwörungstheorie gegen den digitalen Wahnsinn an. Und amüsiert sich dabei bestens.

Katja Müller

Die Idee ist so einfach wie absurd: Vögel gibt es nicht mehr; die amerikanische Regierung liess alle umbringen, um sie durch Drohnen zu ersetzen. Diese sehen zwar aus wie echte Vögel, spionieren aber eigentlich die Bevölkerung aus.

Vögel, die auf Stromleitungen sitzen? Das sind Geräte, die gerade aufgeladen werden. Berge werden ausgehöhlt, um darin die kleinen Überwachungsmaschinen herzustellen. «Birds Aren’t Real», ruft es von riesengrossen Plakaten, T-Shirts und natürlich auf Social Media. Auf Plattformen wie Tiktok, Instagram oder Reddit hat die gleichnamige Bewegung insgesamt 1,5 Millionen Anhänger; und die Videos des Gründers Peter McIndoe verbreiten sich rasant. Er wettert gegen die Gehirnwäsche durch die Eliten und appelliert an Amerika, endlich aufzuwachen.

Protest gegen das Twitter-Logo

Die Verschwörungstheorie findet seit 2017 immer mehr – vornehmlich junge – Anhänger. Sie erinnert in ihrer Absurdität an Gruppen wie QAnon. Der Unterschied dabei ist, dass niemand ernsthaft an die Federvieh-Theorie glaubt, nicht einmal die Fans, die mit Plakaten an Demonstrationen teilnehmen.

Im vergangenen Jahr versammelten sich «Bird Truthers», wie sie sich nennen, vor dem Hauptquartier von Twitter, um gegen dessen Vogel-Logo zu protestieren. Es sei reine Propaganda und müsse verschwinden. Niemand fiel aus der Rolle. Auf einem Auto stand McIndoe, er trug Anzug und hatte einen riesigen Cowboyhut auf; mit dem Megafon feuerte er die Menge an.

Parodie auf Verschwörungstheorien

Vier Jahre lang hielt McIndoe durch und blieb seinem fiktionalen Charakter treu. Auch bei TV-Interviews, als ihn verunsicherte Moderatoren fragten, ob er wirklich an die Theorie glaube, blieb er standfest und rief: «Diese Frage ist eine Beleidigung!» Doch Ende 2021 – in der «New York Times» und vor kurzem in einem Dokumentarfilm des Magazins «Vice» – legte der 23-Jährige seine Rolle ab.

«Birds Aren’t Real» ist eine Parodie, eine soziale Bewegung mit einer ironischen Absicht. In einer postfaktischen Welt, dominiert von Online-Verschwörungstheorien, wehrt sich die junge Generation gegen Falschinformationen und macht sich über sie lustig. Man versuche, «Wahnsinn mit Wahnsinn zu bekämpfen», sagte eine Anhängerin. Die gängigen Verschwörungstheorien werden ad absurdum geführt.

Generation Internet

Die Generation Z – Z für Zoomers – ist mit dem Internet aufgewachsen. Die zwischen 1997 und 2012 Geborenen kennen kein Leben ohne Social Media und Smartphones. Sie beherrschen deshalb auch die Sprache des Internets wie keine andere Generation vor ihr. Gleichzeitig sind sie in eine Welt voller Extreme geboren, in der Amerikaner in unterschiedlichen Bubbles leben und viele in ihrer eigenen Sicht der Dinge gefangen sind.

Es ist die erste Generation, die mit einem Bombardement von Informationen und Meinungen aufwächst. Wie es McIndoe gegenüber einer Zeitung sagte: «Wir sehen ständig das Beste und Schlechteste von allem. Wir sehen so viele Extreme und so viele Meinungen. Ohne eine Grauzone.» Mit «Birds Aren’t Real» antworten Junge auf den aktuellen Zeitgeist; die Bewegung ist der Versuch, den eigenen Landsleuten einen Spiegel vorzuhalten. Zumindest hat man in schwierigen Zeiten etwas zu lachen.

Idee spontan entstanden

Die Idee entstand spontan in Memphis während eines Frauenmarschs nach Trumps Amtseinführung 2017. McIndoe sah einige Gegendemonstranten und wollte mit einer grotesken Idee dagegenhalten. Er kritzelte «Birds Aren’t Real» auf ein Schild.

Ein Video seiner Aktion ging viral; die Bewegung war geboren. McIndoe und Freunde spannen eine ganze Geschichte rund um die Idee, mischten Fiktion und Tatsachen. So sei John F. Kennedy ermordet worden, weil er gegen die Ausrottung der Vögel gewesen sei, schreiben sie auf ihrer Website.

Bald entstanden an vielen Colleges in den USA Ableger der Bewegung, die eigene Aktionen planten. Die sogenannten «Bird Brigades» sind Aktivisten, die auch auf der Strasse gegen abstruse Ideen kämpfen. Sie nehmen an Protesten von Verschwörungstheoretikern oder rechten Gruppen teil und schlagen die Demonstranten mit ihren eigenen Waffen, indem sie sie übertönen.

«Bible Man» statt «Superman»

Für Peter McIndoe ist die Welt der Verschwörungstheorien nicht neu. Er wuchs in einem konservativen, sehr religiösen Elternhaus in Ohio und Arkansas auf. Eingebettet in wilde Theorien, beispielsweise dass der Glaube an die Evolution durch eine Gehirnwäsche der Demokraten entstanden sei. Statt «Superman» musste er «Bible Man» schauen, wie er im «Vice»-Interview erzählt. Erste Risse in seinem Weltbild entstanden durchs Internet. Dort erkannte er, dass es andere Ansichten als die seiner Familie gab. Dokumentarfilme und Youtube waren seine neue Schule.

So wie McIndoe erging es vielen Anhängern der Bewegung. Familienangehörige oder Freunde wurden in den Strudel von Verschwörungstheorien gezogen. «Birds Aren’t Real» ist ihre Art der Verarbeitung.

Auf Social Media läuft die Geschichte nun weiter. McIndoe distanziert sich von seinen Interviews. Der «Vice»-Dokumentarfilm sei ein Deepfake, alles gefälscht, sagt er. Er zeigt seinerseits ein Video mit einem sogenannten Experten, der sich auf eine Ratte verlässt, die auf Computer-Fälschungen spezialisiert ist.
(https://www.nzz.ch/feuilleton/birds-arent-real-avoegel-gibts-nicht-mehr-nur-noch-drohnen-ld.1668688)



aargauerzeitung.ch 10.02.2022

«Wir hätten Gallati skandiert» – jetzt redet der Organisator der Trychler-Demo von Aarau

Am Montag verabschiedete Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati das Spitalbataillon 66, das die Impfzentren und Spitäler unterstützt hatte. Unterbrochen wurde die Zeremonie kurzzeitig von den Freiheitstrychlern. «Reiner Zufall», sagt einer der Organisatoren. Die Stadtpolizei räumt einen Fehler ein.

Dominic Kobelt und Daniel Vizentini

Am vergangenen Montag zogen Massnahmenkritiker an einer bewilligten Kundgebung durch Aarau, nach Angaben der Organisatoren waren es etwa 200. Ihre Route führte sie auch am Schlossplatz vorbei, wo der Aargauer Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati das Spitalbataillon 66 verabschiedete, das unter anderem die Aargauer Spitäler und Impfzentren unterstützt hatte.

Als die Demonstranten in etwa 200 Meter Entfernung hielten und die Glocken ertönen liessen, musste der Kommandant seine Rede für mehrere Minuten unterbrechen.

Gabriel Iberg ist einer der Organisatoren des Umzugs und meldete sich nach der Berichterstattung bei der AZ. «Wir haben gar nicht gewusst, dass Jean-Pierre Gallati da ist», erklärt er. Dass die Demonstration auf die Fahnenabgabe traf, sei reiner Zufall gewesen. «Hätten wir gewusst, dass der Gesundheitsdirektor da ist, hätten wir sicher seinen Namen gerufen und ihm klar gemacht, dass wir mit seinen radikalen Massnahmen nicht einverstanden sind», hält er fest.

«Im Nachhinein ist man immer gescheiter, wir lernen dazu»

Die Route sei der Stadtpolizei Aarau bekannt gewesen und auch so bewilligt worden. Dies bestätigt Daniel Ringier, Leiter der Abteilung Sicherheit in Aarau. Man sei sich beim Erteilen der Bewilligungen bewusst gewesen, dass beide Anlässe gleichzeitig stattfänden.

Allerdings räumt Ringier ein: «Das mögliche Konfliktpotenzial wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt. Dies geschah erst, als die beiden Anlässe begannen.» Dieses wäre sicherlich erkennbar gewesen, sagt Ringier. «Im Nachhinein ist man immer gescheiter, wir lernen dazu.»

Einwohnerrat fordert Abklärungen

In Aarau hat Einwohnerrat und Ex-Kriminalpolizeichef Urs Winzenried (SVP) inzwischen Erklärungen vom Stadtrat verlangt. Wie konnte es dazu kommen, dass «Demonstranten eine würdige militärische Feier für Soldaten, die sich in ihrem Wiederholungskurs für die Gesundheit der Bevölkerung eingesetzt hatten, ohne weiteres und ungehindert stören konnten», schreibt er in der offiziellen Anfrage.

Es sei nicht nachzuvollziehen, weshalb die Demo nicht im Vorfeld verboten oder warum die Störer nicht umgehend aus der Feier vertrieben wurden. Auch eine allfällige Anzeige wegen Nötigung stellt er in den Raum. Urs Winzenried will genau wissen, wer in Aarau das Gesuch für die Demo bewilligte und warum. Und auch, ob eine Vertretung des Stadtrats für eine Lagebeurteilung vor Ort gewesen ist.

Was das für Soldaten waren, wussten die Demonstranten nicht

Mitorganisator Gabriel Iberg beschreibt die Szene am Montagabend so: «Während des Spaziergangs fielen uns die Soldaten auf, wieso sie dastanden oder dass das Leute waren, die in Impfzentren einen freiwilligen Dienst leisteten, wusste von uns niemand.»

Und auch die Freiheitstrychler seien nicht einfach nach Aarau gekommen, weil sie in Bern weggewiesen wurden. «Sie hatten bei uns schon vor zwei Wochen angefragt, ob sie uns bei diesem Spaziergang begleiten dürfen», sagt Iberg. Zudem seien die Glocken der Freiheitstrychler, die an diesem Tag in Bern waren, konfisziert worden.

Iberg ist ehemaliger Personal-Trainer und arbeitet jetzt hauptberuflich als Monteur. Er ist im Vorstand der Organisation «Kindersegen Schweiz», die sich während der Pandemie gegründet hat, aber sich darüber hinaus für den Schutz von Kindern ganz allgemein einsetzen möchte. Am Montag sei es im Wesentlichen darum gegangen, gegen die Maskenpflicht an den Schulen zu demonstrieren, sagt der 32-Jährige, der in der Region Aarau lebt.

Diese wird am kommenden Montag im Aargau aufgehoben, trotzdem ist ein weiterer Spaziergang geplant. Gegen was wird überhaupt noch demonstriert? «Die Massnahmen sind ja nicht nachhaltig aufgehoben. Jederzeit kann die Maskenpflicht wieder eingeführt werden und zudem gibt es sie immer noch in den Läden und in vielen Betrieben. Solange die ‹besondere Lage› bestehen bleibt, demonstrieren wir weiter.»
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/aarau-wir-haetten-gallati-skandiert-jetzt-redet-der-organisator-der-trychler-demo-von-aarau-ld.2248843)