Diese Woche begann in Bern, nunmehr fünf Jahre nach dem fraglichen Ereignis, der sogenannte «Kill Erdogan»-Prozess. Anstatt jedoch – wie geplant – innert zwei Tagen mit einem erstinstanzlichen Urteil zu enden, konnte bis zum Ende des zweiten Prozesstages am Mittwoch 19. Januar 2022 erst das Beweismittelverfahren abgeschlossen werden. Die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sowie die Urteilseröffnung werden am 2. und 9. März 2022 erwartet.
Das Kill-Erdogan-Transparent wurde 2017 bei einer Demonstration in Bern gegen die Politik Erdogans mitgeführt. Kurz nach der Demonstration ging das Bild des Transparentes mit dem Spruch «Kill Erdogan with his own weapons» um die Welt und wurde in den türkischen Medien aufgegriffen. Erdogan nutzte das Banner in seinem Wahlkampf und forderte die Schweiz auf, Schuldige zu finden und diese zu internieren. Es gab mehrmalige Telefonate zwischen dem türkischen und dem schweizer Botschafter und auch das EDA (Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten) brachte sich ein und führte Telefonate mit der Berner Staatsanwaltschaft. Am 18. und 19. Januar fand nun der Prozess gegen die vier angeklagten Personen statt.
Die Verwendung dieses Prozesses als Propagandamittel für die türkische Regierung wurde bereits am ersten Verhandlungstag klar sichtbar. Das Gericht hatte über einen Antrag der Verteidigung zum Ausschluss eines Mitarbeiters der Nachrichtenagentur Anadolu zu befinden, einem Propaganda-Blatt von Erdogans Partei AKP. Der angebliche Journalist bezeichnete die Angeklagten als Terrorist*innen und forderte ihre «Internierung». Das Gericht vertagte die Entscheidung; verwarnten ihn zwar, schloss ihn jedoch nicht aus – ein Ausschluss hätte vermutlich die Spannungen mit der Türkei wieder verschärft.
Der zweite Verhandlungstag begann mit der Befragung einer, durch die Verteidigung aufgebotene, Zeugnisperson. Die Person erzählte vor dem Gericht von ihren Erfahrungen mit der türkischen Regierung. Sie ist eine Überlebende des Suruc-Attentates, einem Bombenattentat in der kurdischen Stadt Suruc in der Türkei im Jahr 2015. Bei diesem Attentat wurden die Rettungskräfte durch die türkische Polizei behindert und es starben über 30, mehrheitlich jugendliche Menschen. Erschwert wurde diese Einvernahme dadurch, dass sich der beigezogene Übersetzer der Zeugnisperson gegenüber eher herablassend verhielt und deren Aussagen oft verkürzt oder gar inkorrekt übersetzte. Erst als die Zeugnisperson sich dagegen wehrte, gab sich der Übersetzer mehr Mühe.
Den beschuldigten Personen war es in erster Linie ein Anliegen, auf den politischen Kontext aufmerksam zu machen und sie verweigerten Aussagen zu den konkreten Vorwürfen. Die erste angeklagte Person erwähnte dabei vor allem das völkermörderische Verhalten der faschistischen türkischen Regierung – etwa durch den Angriffskrieg in Nordsyrien, Giftgaseinsätze auch gegen die Zivilbevölkerung, die jahrzehntelange Inhaftierung vermeintlicher politischer Gegner*innen oder die Unterdrückung der kurdischen Sprache sowie weitere Formen der ethnischen Säuberung – und widmete den Ermordeten dieser Politik eine Schweigeminute, der alle Angeklagten, Besuchenden und einige Journalist*innen folgten. Ausserdem verwies die beschuldigte Person darauf, dass die Schweiz als wichtiger Investor in der Türkei ein grosses Interesse an einer guten Beziehung zu deren Regierung hat und dafür die Augen vor jeglichen Verbrechen verschliesse. Eine weitere Person fokussierte auf die sexistische und frauenfeindliche Politik der AKP – etwa durch Kündigung der Istanbul-Konvention, die Senkung des Heiratsalters oder die Entkriminalisierung von Vergewaltigungen – während eine weitere angeklagte Person versuchte, anhand des Bauprojekts für den Istanbul-Kanal auf die klimaschädlichen Auswirkungen der türkischen Politik einzugehen. Der Richter reagierte jedoch zunehmend ungehalten und begann die Angeklagten immer häufiger zu unterbrechen. Dies endete erst, als die Verteidigung bei der letzten Einvernahme darauf hinwies, dass sich die angeklagte Person gerade zu Punkten äussere, die sich auf konkrete Aktenstücke beziehen und dies deshalb nicht als sachfremd abgebrochen werden könne. Das Beweisverfahren endete schliesslich wieder mit der Frage nach der Einmischung der türkischen Regierung in dieses Verfahren. Die Angeklagten machten darauf aufmerksam, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren kaum Interesse an diesem Prozess zeigten und nur aufgrund politischen Druckes überhaupt vor Gericht stünden.
Trotz den Versuchen des Richters, die politische Ebene des Prozesses auszublenden und als isolierte Frage zu betrachten, liessen sich die Angeklagten und deren Verteidigung nicht beeindrucken und konnten den Inhalt der Verhandlung bisher weitestgehend dominieren. Am 2. März wird es mit den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung weitergehen und das Urteil wird am 9. März erwartet. Auch bei diesen Verhandlungstagen kann wieder mit einem Rahmenprogramm gerechnet werden, bei dem die Politik der Türkei, die Verwicklungen der Schweiz und der Widerstand gegen den türkischen Faschismus aufgegriffen und kritisiert werden. Auf der Webseite killerdoganprozess.ch wird laufend informiert.
«Kill Erdogan»-Prozess Website
Bericht vom «Kill Erdogan»-Prozess
Radio LoRa, 20. Januar 2022
Ein Prozess auf Druck der türkischen Regierung?
Antirep Bern, Megafon, 20. Januar 2022