Nach zehn Jahren in der Schweiz soll eine Familie aus dem Tessin ausgeschafft werden. Dank breiter Unterstützung spricht ihnen der Kanton eine Aufenthaltsbewilligung aus – die das SEM jedoch nicht anerkennen muss.
Die Familie um die 19-jährige India stammt aus dem Grenzgebiet zwischen Äthiopien und Eritrea und gilt ohne Papiere als staatenlos. Die Behörden wollen sie nach Äthiopien, ein aus ihrer Sicht «sicheres Herkunftsland» ausweisen. Seit langem erhält die Familie breite Unterstützung. Initiiert wurde sie von einer Lehrerin Indias, die zusammen mit Mitschülerinnen und Bewohnerinnen des Ortes über 2’000 Stimmen für ein Bleiberecht der Familie sammelte. In einem dringenden Appell forderten daraufhin auch Politiker*innen und Prominente, dass die Familie die Schweiz nicht verlassen müsse. Und hatten damit Erfolg. Der Kanton Tessin gewährt der Familie, die sie als ‚gut integriert‘ beschreibt, nun eine Aufenthaltsbewilligung. Allerdings: Die endgültige Entscheidung hängt vom SEM ab, das den Willen des Kantons nicht berücksichtigen muss.
Viele Menschen, die ihr Asylgesuch vor dem 28. Februar 2019 und damit im alten Verfahren eingereicht haben, ergeht es ähnlich wie der nun betroffenen Familie. Die Bearbeitung des Asylgesuchs zog oder zieht sich über Jahre hin. In dieser Zeit kommen die Menschen in der Schweiz an, können ein neues soziales Umfeld und eine Perspektive für sich aufbauen – immer unter den Beschränkungen der Nothilfe. Dagegen gibt es Widerstand. Eine Motion im Nationalrat fordert eine einmalige Regularisierung für Menschen aus dem altrechtlichen Asylverfahren. Sie kann über die Petition «Gegen legales Unrecht und für ein humanes Verfahren für Menschen aus altrechtlichen Asylverfahren» unterstützt werden.
Gleichzeitig zeigt das Beispiel Indiens auf, wie wichtig eine solidarische Unterstützung aus dem Umfeld für die betroffenen Menschen ist und wie wirkungsvoll sie sein kann. Neben der Aussicht, vielleicht doch noch ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu erhalten, erhielt India auch eine Stimme in der Öffentlichkeit. Im RSI-Interview antwortet sie auf die Frage, ob das Tessin ihre Heimat sei: «Einerseits ja, denn hier bin ich aufgewachsen und hier habe ich in den letzten zehn Jahren gelernt zu leben. Aber andererseits haben mir all diese Einschränkungen, die sie mir auferlegt haben, nicht die Möglichkeit gegeben, mich hier wirklich zu Hause zu fühlen, denn die Auflagen, wohin ich mich bewegen konnte, die Dinge, die ich tun konnte, die Dinge, die ich nicht tun konnte, all das hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich nicht willkommen war. Obwohl meine Freunde, meine Nachbarn und alle um mich herum versuchten, mir zu sagen, dass du hier bist und einer von uns bist, schränkten all diese Dinge meine Sichtweise ein. Aber mit all den Menschen, die ich um mich herum hatte, dank all derer, die versuchten, mir die schönen Seiten dieser Welt zu zeigen, fühle ich mich jetzt dank all dieser Menschen zu Hause.»
Sie gibt somit einer breiten Öffentlichkeit einen Einblick in die Lebensrealität von Migrant*innen in der Schweiz und die persönlichen Auswirkungen einer unfairen Asylpolitik.
Nach zehn Jahren Warten: Protest gegen Abschiebung äthiopisch-eritreischer Familie
Gerhard Lob, St. Galler Tagblatt, 9. Januar 2022
India, „sì a permanenza in Ticino“
RSI News, 19. Januar 2022
India: il Ticino dà preavviso favorevole
Giorgio Doninelli, tio, 19. Januar 2022
Ausserordentliche humanitäre Aktion für Nothilfe beziehende Personen aus altrechtlichen Asylverfahren
Motion von Marianne Streiff-Feller, 16. März 2022