Medienspiegel 16. Januar 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Sonntagszeitung 16.01.2022

Klage gegen den härtesten Asylrichter: «Richter Gnadenlos» droht die Amtsenthebung

Manipulationen des Richtergremiums am Bundesverwaltungsgericht seien an der Tagesordnung, zeigt eine neue Untersuchung.

Denis von Burg, Mischa Aebi

David Wenger gilt als härtester Asylrichter am Bundesverwaltungsgericht. Jetzt muss er sich Mitte Februar in der Gerichtskommission verantworten. Traktandiert ist die allfällige Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens, wie Kommissionspräsident und SP-Nationalrat Matthias Aebischer bestätigt.

Zum Fall will sich Aebischer nicht äussern. Recherchen zeigen aber: Die Verwaltungskommission des Bundesgerichts wirft Wenger vor, er habe die Zusammensetzung des Richtergremiums für einen ihm zugeteilten Asylrekursfall unrechtmässig manipuliert. Konkret soll er einen Zweitrichter, der ihm vom automatischen Zuteilungssystem zur Seite gestellt worden war, kurzerhand durch einen ihm nahestehenden Richter ersetzt haben. Max Imfeld, der Anwalt von Richter Wenger, sieht das allerdings anders: Sein Klient habe den Richter nur deshalb ausgewechselt, weil dieser zuvor falsch zugeteilt worden war.

Eine neue Untersuchung über das System der Richterzuteilung am Bundesverwaltungsgericht wirft nun ein neues Licht auf den Fall Wenger. Die in der «Richterzeitung» publizierte Studie hat die Zuteilung der Richter durch den sogenannten Bandlimaten untersucht. Das ist eine Software, die den Richtern die Fälle nach dem Zufallsprinzip zuweist. Die Software galt wegen des Zufallsprinzips als besonders gerecht.

Fast die Hälfte der Richtergremien wird manipuliert

Die Studie kommt nun aber zum Schluss: «Der vom Bundesverwaltungsgericht erweckte Anschein einer grundsätzlich automatisierten Spruchkörperbildung entspricht nicht der Praxis». In satten 45 Prozent der Fälle wurden die vom Bandlimaten bestimmten Richtergremien nachträglich und von Hand abgeändert.

Für Wengers Anwalt entlastet die Studie den angegriffenen Richter: «Sie zeigt, dass das Auswechseln von Richtern im Bundesverwaltungsgericht System hatte.» Es sei deshalb «missbräuchlich, ja geradezu bösartig», seinem Klienten «etwas vorzuwerfen, das die Präsidentin seiner Gerichtsabteilung in vielen Hundert Fällen pflichtwidrig zugelassen hat, ohne je nach Begründungen zu fragen», sagt Imfeld.

Durch die Studie sehen sich indes auch jene bestätigt, die seit Jahren politische Manipulationen am Bundesverwaltungsgericht vermuten: Der Berner Asylanwalt Gabriel Püntener beklagte sich schon vor Jahren, dass ihm immer wieder die gleichen, wie er meinte, voreingenommenen Richter, meist von der SVP, zugeteilt würden. Und Püntener hat dazu immer wieder Zahlen geliefert, bis ihm das Bundesgericht bestätigen musste, dass in einem Drittel seiner Fälle der Bandlimat übersteuert worden sei. Das sei allerdings aus praktischen Gründen geschehen – zum Beispiel weil die ausgewählten Richter gar nicht anwesend gewesen seien, behauptete das Bundesverwaltungsgericht.

Die Untersuchung belegt nun aber, dass bei 40 Prozent der durch Übersteuerung des Zufallsgenerators ausgewählten Richter keine Gründe für die Manipulation angegeben werden. Und Püntener, der sich immer wieder darüber beklagt, dass er es in seinen Asylfällen mit besonders harten SVP-Richtern zu tun bekommt, sagt: «Die neue Studie belegt, dass der Bandlimat Manipulationen am Richtergremium nicht verhindert.» Der Verdacht, dass mit einer politisch motivierten Zusammensetzung der Spruchkörper Urteile beeinflusst werden sollen, werde bestätigt. In einem Brief an das Bundesverwaltungsgericht verlangt er jetzt eine Untersuchung.

Bei Asylentscheiden spielt die Richterzuteilung eine besonders wichtige Rolle, weil dort das Parteibüchlein der Richter nachweislich einen Einfluss auf das Urteil hat. Der «Tages-Anzeiger» hatte bereits 2016 nachgewiesen, dass Richter der SVP tendenziell mehr negative Asylentscheide fällten. Und Richter Wenger galt als der härteste von den SVP-Richtern.

Ständerat Stöckli verlangt vom Gericht Besserung

So oder so wird die Studie politische Folgen haben: SP-Ständerat Hans Stöckli, Präsident der für die Gerichte zuständigen Geschäftsprüfer, sagt: «Das Bundesverwaltungsgericht hat ein pionierhaftes System für die Zusammensetzung des Spruchkörpers entwickelt. Dass jetzt aber 45 Prozent der Fälle manuell korrigiert werden, erstaunt mich schon. Das ist ein ernst zu nehmendes Problem. Denn das stellt das Funktionieren des ganzen Systems infrage.»

Es bestehe eindeutig Handlungsbedarf. Man werde die Frage mit den Gerichten thematisieren. Und für Stöckli ist jetzt schon klar: «Es braucht jetzt Massnahmen, damit manuelle Umbesetzungen nur noch in Einzelfällen vorkommen und klar begründet werden.»

Dass die Umbesetzungen generell missbräuchlich geschähen, will Stöckli indes nicht glauben. Immerhin meint er, es brauche einen funktionierenden Bandlimaten, «damit das Gericht den Verdacht ausräumen kann, dass die Spruchkörper manipuliert würden, um Urteile zu beeinflussen».

Vorher aber muss die Gerichtskommission über Richter Wenger befinden. Insider glauben nicht, dass er abgesetzt wird. Im Lichte der neuen Erkenntnisse über die Zusammensetzung der Richtergremien werde er aber nicht ungeschoren davonkommen und mindestens eine Verwarnung erhalten.
(https://www.derbund.ch/richter-gnadenlos-droht-die-amtsenthebung-369633303646)
-> https://www.republik.ch/2022/01/11/von-unsichtbarer-hand


+++DEUTSCHLAND
„Das Verständnis für ein Leben in einem Verfolgerstaat fehlt oft“
Anna Weißig erzählt im Interview von der Arbeit für das Leipziger Queer Refugees Network und davon, was queere Geflüchtete bräuchten, um nach einer Flucht besser in Sachsen anzukommen.
https://www.queer.de/detail.php?article_id=40910
-> https://www.queer.de/detail.php?article_id=40907


Belarus – In der Asylfalle
In ihre Herkunftsländer wollen sie nicht zurück und die EU hält ihre Grenzen immer noch geschlossen. Hunderte von Migranten warten in einer umgebauten Lagerhalle des Zolls in Belarus auf ein Wunder
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/in-der-asylfalle
-> https://twitter.com/KatharinaKoenig/status/1482770573889617924


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
No WEF Aktionstag in Bern
Anlässlich des Aktionstags gegen das WEF unter dem Motto „Smash WEF – Gemeinsam gegen Krise, Staat und Kapital“ haben wir in Bern ein Transpi an der Kornhausbrücke aufgehängt.
https://barrikade.info/article/4958


Solidarität mit den Angeklagten im ZAD-Prozess
Von „KillErdogan“ zu ZAD de la colline – Widerstand heisst Leben!
Solidarität, Liebe und Kraft für die Angeklagten im ZAD-Prozess in Nyon
Wir, die Angeklagten im «Kill Erdogan» Verfahren senden unsere volle Solidarität an die Zadist:innen welche in Nyon vor Gericht stehen. Eure Aktion und euer Widerstand von der ZAD in Colline bis vor das Gericht in Nyon ist ein Widerstand der Kreativität und der Perspektive auf ein besseres Morgen!
https://killerdoganprozess.ch/de-fr-solidaritaet-mit-den-angeklagten-im-zad-prozess/


Farbe und Scheibenbruch bei AXA
In der Nacht auf heute, den 16. Januar, statteten wir der AXA-Filiale in Ostermundigen bei Bern einen Besuch ab. Wir hinterliessen die Botschaft «Kill Erdogan» und eingeschlagene Scheiben.
https://barrikade.info/article/4960


Verfahren wegen weiterer «Kill»-Plakate in Bern sind sistiert
Das «Kill Erdogan»-Plakat von März 2017 ist nicht das einzige dieser Art, das in den letzten Jahren an Kundgebungen in Bern zu sehen war.
https://www.nau.ch/news/schweiz/verfahren-wegen-weiterer-kill-plakate-in-bern-sind-sistiert-66086990


Extinction Rebellion in Zürich: Klima-Aktionswoche verursachte hohe Polizeikosten
Auf fast 700’000 Franken berechnet die Stadtpolizei ihre Einsatzkosten an den Aktionen im Oktober 2021.
https://www.tagesanzeiger.ch/klima-aktionswoche-verursachte-hohe-polizeikosten-427134570371


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Sonntagszeitung 16.01.2022

Streit um Maskenpflicht im Unterricht: «Ich kam mir vor wie in einem CIA-Film»

Foltervorwürfe, eingeschriebene Briefe, verpackt als «Diplomatenpost», und die Androhung eines internationalen Strafverfahrens: So wird ein Luzerner Schulleiter unter Druck gesetzt.

Nadja Pastega

Als das Schreiben bei Thomas Graber eintrudelte, war der Schulleiter aus dem luzernischen Dagmersellen fassungslos. «Verbrechen gegen die Menschlichkeit», ist der Brief überschrieben. Absender ist laut Briefkopf das Institut Trivium United. Ein Verein mit Vertretern in der Schweiz, in Österreich, Deutschland und der Tschechischen Republik. Die Abgesandten der Organisation weibeln zurzeit gegen Corona-Massnahmen an Schulen. Sie nennen sich «High Commissioner» des «Office-Human-Rights».

Der «High Commissioner» der Schweiz ist ein Mann aus dem Kanton Bern, Inhaber einer Firma für «komplette Baulösungen» – und Besitzer eines Bienenhofs. Seinen Brief an den Luzerner Schulleiter schickt er per Einschreiben. «Das Couvert trug den Stempel ‹Diplomatenpost›», sagt Graber. «Das Schreiben ist auf Hochglanzpapier gedruckt. Es wird behauptet, dass es an meiner Schule Folter gebe – ich kam mir vor wie in einem CIA-Film.»

Wörtlich heisst es in diesem Schriftstück: Man sei «in Kenntnis über verschiedene Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen gegen Mädchen und/oder Knaben an der von Ihnen geleiteten Schule: Bezüglich Maskenpflicht, Missachten von Masken-Attesten, Covid-19-Testzwang für Mädchen und Knaben sowie Diskriminierung durch Ausschluss und/oder Absonderung aus der Gruppe/Klasse». Es handle sich hier um «Misshandlungen von Schutzbefohlenen» und entspreche «dem Tatbestand der Folter».

Zum Schluss wird Graber eine «internationale Strafverfolgung» angedroht, wenn er die «Täter» nicht mit vollem Namen mitteile – Geburtsdatum und Privatadresse inklusive. Diese Personen seien «umgehend» vom Dienst zu suspendieren. Neben dem Schulleiter seien dem Verein weitere Personen «gemeldet» worden.

«Dahinter stehen massnahmenkritische Eltern», sagt Graber. «Man will sich gegen die Obrigkeit auflehnen und zeigen, dass man selber entscheiden kann. Seit Corona haben diese Druckversuche extrem zugenommen.» Er kennt die Mittel, mit denen Eltern versuchten, die Corona-Regeln im Klassenzimmer auszuhebeln. «Wir erhalten immer wieder dubiose Atteste zur Maskenbefreiung, die von pensionierten Rechtsanwälten ausgestellt werden. Sie verfügen über keinerlei medizinisches Fachwissen.»

Der Luzerner ist offenbar nicht der Einzige, der wegen der Maskenpflicht und Corona-Tests an den Schulen ins Visier von Trivium geraten ist. In den letzten Tagen und Wochen sei man über «verschiedene Verbrechen gegen die Menschlichkeit an verschiedenen Schulen in der Schweiz in Kenntnis gesetzt» worden, teilt der Verein mit. Wie viele Lehrpersonen, Schulleiter und Behördenvertreter bisher Post von Trivium erhielten, gibt die Organisation allerdings nicht bekannt – «wir unterliegen der Schweigepflicht».

Die Drohungen gegen den Luzerner Schulleiter mögen erstaunen. Einzigartig sind sie keineswegs. «Schulleiter aus der ganzen Schweiz stehen zurzeit massiv in der Kritik. Vorlagen für Briefe an Schulen mit der Androhung von juristischen Schritten gehen von Elternchat zu Elternchat», sagt Thomas Minder, Präsident des Schweizer Verbands der Schulleiterinnen und Schulleiter. «Es kommt auch zu Einschüchterungsversuchen von Eltern, denen die Schutzkonzepte zu weit gehen. Solche Drohungen sind schlicht inakzeptabel.»

Oberster Schulleiter fordert einheitliche Regeln

Angeheizt werde der Kampf im Klassenzimmer durch den Flickenteppich bei den Corona-Massnahmen, sagt Minder. «Manche Eltern fragen sich zu Recht, warum zum Beispiel Primarschüler in St. Gallen einen Mundschutz tragen müssen, im Thurgau aber nicht. Ich wünschte mir landesweit einheitliche Regeln – sonst erscheinen die kantonalen Massnahmen vielen Eltern willkürlich.»

Widerstand gegen die Regeln an Schulen habe es schon immer gegeben, sagt Gabriela Heimgartner, Co-Präsidentin des Vereins Schule & Elternhaus Schweiz. «Aber seit der Pandemiezeit haben sich die aufmüpfigen Mütter und Väter vernetzt und ihren Widerstand koordiniert.» Daneben gebe es eine grosse schweigende Mehrheit von Eltern, die die Corona-Massnahmen akzeptierten, «auch wenn sie nicht immer glücklich darüber sind».

Massnahmenkritiker gibt es auch in der Lehrerschaft – sie machen auch vor den Bürotüren der Schulbehörden nicht halt. Kürzlich bekam eine Mitarbeiterin des Luzerner Bildungsdepartements die schriftliche Androhung, dass sie beim Verein Trivium wegen der Maskenpflicht angezeigt und vor den Kadi gezerrt werde. Absenderin: eine Lehrerin.
(https://www.derbund.ch/ich-kam-wir-vor-wie-in-einem-cia-film-757780885852)


+++HISTORY
Was Christoph Blocher mit dem Mord an Rosa Luxemburg zu tun hat. Eine deutsch-schweizerische Zeitreise
Vor hundert Jahren ermordeten rechtsextreme Freikorps – mit Zustimmung von SPD-Reichswehrminister Gustav Noske – die spartakistischen Führungspersonen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Waldemar Pabst, der Organisator des Doppelmords, lebte von 1943 bis 1955 in der Schweiz. Von hier aus versorgte er die Wehrmacht mit Kriegsmaterial, betrieb Spionage und wirkte nach 1945 massgeblich am Aufbau einer faschistischen Internationale mit. Dabei wurde Pabst von einem mächtigen Netzwerk aus dem Schweizer Herrschaftsapparat gedeckt und unterstützt. Noch heute leben die Strukturen fort, die den Nazi-Verbrecher protegierten. Höchste Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen.
https://www.ajourmag.ch/waldemar_pabst_in_der_schweiz-2/



NZZ am Sonntag 16.01.2022

«Skalpell und Wahn» – Folge 6: Hoffnungen

Die «NZZ am Sonntag» rollt die dunkle Geschichte der Psychochirurgie in einer Podcast-Serie neu auf.

This Wachter, Theres Lüthi, Patrick Imhasly, Simon Meyer

Wie es in der Psychochirurgie weitergehen könnte und wie die Psychiatrie von heute in die Zukunft blickt. Ein Rundgang im Burghölzli. Hören Sie jetzt Folge 6:

«Skalpell und Wahn» Episode 6  – Hoffnungen
https://cdn.podigee.com/media/podcast_13783_nzzas_serien_episode_632421_skalpell_und_wahn_6_6_hoffnungen.mp3

(https://nzzas.nzz.ch/notizen/folge-6-der-podcast-serie-skalpell-und-wahn-hoffnungen-ld.1663455)


+++DÄNEMARK
NZZ am Sonntag 16.01.2022

Für die Dänen ist nur kein Migrant ein guter Migrant

Dänemark ist das einzige Land in Europa, das syrische Flüchtlinge ins Heimatland zurückschicken möchte. Dies ist nur ein Merkmal ihrer harten «Null Migranten»-Politik.

Andrea Jeska, Ranum

Søren Kierkegaard, dänischer Philosoph, hat einst geschrieben, es gehöre Mut dazu, sich so zu zeigen, wie man in Wahrheit ist. Vielleicht hat Mattias Tesfaye, Dänemarks sozialdemokratischer Minister für Ausländer und Integration, diese Worte gelesen, vielleicht hat er auch einfach auf den Beifall des Europaparlaments gehofft, als er dort diesen Donnerstag in Brüssel Rede und Antwort stand.

Thema der Anhörung im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres war der Umgang seiner Regierung mit syrischen Flüchtlingen. Dänemark behauptet auf der Grundlage einer Einschätzung seiner Immigrationsbehörden, es sei sicher, Flüchtlinge aus Damaskus und Umgebung in ihr Land zurückzuschicken.

Eine Überzeugung, mit der Tesfaye sich als Vorreiter einer gerechteren Flüchtlingspolitik darstellen möchte. Dänemark ist das erste EU-Land mit dieser Praxis. Das geltende Asylsystem, hat er in der Vergangenheit gesagt, sei gescheitert, ineffizient und kaputt. Öffentlich hat Tesfaye beklagt, Dänemark verschwende Ressourcen für Menschen, die keinen Schutz brauchten.

Die Politik seiner Regierung sorge für ein faireres System. Damit meint Tesfaye nicht nur die Rückführungspraxis, sondern auch die geplante Auslagerung des Asylprozesses in Drittländer. «Wir wollen sicherstellen, dass Europa die Kontrolle darüber hat, wer in die EU kommt, und nicht Menschenschmuggler», argumentierte er in der Fragestunde.

Gegen die Werte Europas

Doch der Gegenwind war so heftig, dass er droht, Dänemark aus dem Dublin-Abkommen zu fegen. Dieses Abkommen stellt sicher, dass Flüchtlinge in dem EU-Land bleiben müssen, in dem sie sich zum ersten Mal als Asylsuchende registrieren – und dorthin zurückgeschickt werden, wenn sie sich nicht daran halten. Sollte die in der Luft hängende Ausschlussdrohung wahr werden, wäre dies das Ende von Dänemarks politischer Zielvorgabe «Null Migranten». Denn dann könnte und würde wohl jeder, der in anderen EU-Staaten abgelehnt wird, sein Glück im Land des Dannebrog versuchen.

Es klang ein wenig wie Greta Thunbergs «How dare you», was Sophie in’t Veld, niederländische Politikerin der Fraktion Renew Europe, Tesfaye entgegenhielt. «Wie können Sie nachts schlafen?», fragte sie und warf Dänemark vor, eine Politik zu betreiben, die nicht mit den Werten Europas übereinstimme und nur dem Stimmenfang im äusseren rechten Lager diene.

Auch Malin Björk von der Vänsterpartiet in Schweden zeigte wenig Verständnis: «Entscheiden Sie sich für Menschenrechte, nicht für den Visegrad-Klub.» Etliche Abgeordnete kritisierten, Dänemark entziehe sich seiner Verantwortung, weil seine Rückführungspolitik bewirke, dass die Menschen in anderen EU-Ländern Schutz suchten.

Ein begründeter Vorwurf. Seit 2019, so recherchierte der Lighthouse Report, ein investigatives Netzwerk aus den Niederlanden, sind 412 Syrer aus Dänemark nach Deutschland, in die Niederlande und nach Belgien geflohen und haben dort zum Teil Asyl erhalten. Einige Gerichte in Deutschland begründeten das damit, Dänemark sei kein sicheres Land mehr für syrische Flüchtlinge. Dänemark riskiere auch, das im Völkerrecht verankerte Refoulment-Verbot zu verletzen, den Grundsatz der Nichtrückweisung in Länder, in denen Folter oder Tod drohen.

Eine Woche bevor Tesfaye in Brüssel auftritt, atmen das Ehepaar Maryam und Yaser Almohamad zum ersten Mal seit über einem Monat die Luft der Freiheit. Hinter ihnen schliessen sich die Tore des Abschiebezentrums Sjælsmark, in das sie Anfang Dezember geschickt wurden, nachdem die dänische Regierung ihnen das Aufenthaltsrecht entzogen hatte. Die Almohamads sind Syrer und seit 2015 in Dänemark. So wie auch sieben ihrer acht Kinder, die nacheinander gen Westen geflohen sind.

Yaser Almohamad war einst Soldat der syrischen Armee, verdiente sein Geld aber schon lange als Kaufmann. Als der Bürgerkrieg begann, wurde er einberufen. Weil er nicht auf die eigenen Leute schiessen wollte, floh er mit seiner Familie nach Libanon. In Syrien droht ihm Gefängnis. Mag Damaskus auch nicht mehr umkämpft sein, das Regime, dessen Einberufungsbefehl er entkam, ist noch immer an der Macht.

Die Almohamads lebten in drei verschiedenen Wohnungen in der kleinen jütländischen Stadt Brønderslev und verbrachten viel Zeit miteinander. Einige der Töchter sind verheiratet und haben selber schon Kinder, der jüngste Sohn Mahmoud, 19 Jahre alt, bestand 2021 sein Abitur als Jahrgangsbester und jobbt seither bei einem Discounter, um Geld für sein Studium zu sparen.

Ab Sommer wird er Medizin in Århus studieren. Mahmoud ist das, was man einen gut integrierten Flüchtling nennt. Höflich, klug, strebsam. Für Medizin hat er sich entschieden, weil er «etwas zurückgeben will». Er erinnert sich noch gut an den Tag, als er, noch halb Kind, nach Dänemark kam. «Ich dachte, jetzt bin ich für immer frei. Und eines Tages werde ich ein Däne sein.»

Doch die dänische Flüchtlingspolitik ist nicht auf Erlangung der Staatsbürgerschaft ausgelegt. Sie gelingt nur wenigen. Menschenrechtler kritisieren, die dänische Bürokratie sei von Willkür und Unvorhersehbarkeit geprägt. Die meisten Flüchtlinge bekommen ein Aufenthaltsrecht, das alle zwei Jahre verlängert werden muss. «Es gibt keine Bemühungen, die Menschen zu integrieren. Fairness zu erwirken, ist ein harter Kampf», sagt der Anwalt für Asylrecht, Daniel Nørrung.

Nicht die Gefahr für die Flüchtlinge, sondern die Tatsache, dass Dänemark kein Rückführungsabkommen mit Syrien und auch keine diplomatischen Beziehungen dorthin hat, verhindern, dass die Syrer mit Gewalt abgeschoben werden. Dänemark setzt mit seinen Zentren auf das, was Menschenrechtler und die Flüchtlinge selber als «mentale Kriegsführung» bezeichnen. Abgewiesene Asylbewerber oder solche, denen man den Status entzog, haben kein Recht auf Arbeit, Bildung oder freie Bewegung.

Als Mahmouds Eltern jenen Brief bekommen, der ihnen mitteilt, sie sollen nun nach Sjælsmark bei Kopenhagen umziehen und entweder freiwillig nach Damaskus zurückkehren oder für immer dort leben, bringt er seine Eltern dorthin – sechs Stunden Fahrt. In Brønderslev zurück bleiben die Kinder und Enkel, die wissen, ihr Arbeitsalltag und die Besuchsregeln im Zentrum werden es ihnen nur selten erlauben, die Eltern zu sehen.

Mahmoud wendet sich an Medien und Menschenrechtsorganisationen, schreibt einen Brief an die Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, sammelt gemeinsam mit Amnesty Dänemark 95 055 Unterschriften, damit der für den Aufenthaltsstatus zuständige Beschwerdeausschuss den Fall seiner Eltern noch einmal aufnimmt. Amnesty organisiert eine persönliche Übergabe der Unterschriften an Tesfaye. Ein grosser Tag für Mahmoud, ein Pflichttermin, so nahm es der junge Syrer wahr, für Tesfaye. Doch die Aktion ist erfolgreich. Zu Weihnachten kommt die Nachricht, der Fall von Maryam und Yaser Almohamad solle überprüft werden. Nur deshalb dürfen sie im Januar Sjælsmark verlassen.

Leben wie Kriminelle

67 Verschärfungen des Asylrechts haben die Dänen in den vergangenen zwei Jahrzehnten vorgenommen. Dazu gehören das Einrichten von Zentren, die ausschliesslich der Unterbringung von Asylsuchenden während der Dauer ihres Verfahrens dienen, und das 2016 von der damaligen rechtsliberalen Regierung verabschiedete Gesetz, das die Möglichkeit einer Familienzusammenführung erst nach drei Jahren erlaubt. Vonseiten der EU hat es an vielen dieser Massnahmen Kritik gegeben, vor allem am desolaten Zustand der Zentren, die so angelegt sind, dass es die Bewohner alles andere als dänisch hygge haben, also ein gutes Leben in gemütlicher, herzlicher Atmosphäre.

Dänemarks Rückführungspolitik wurde von der EU-Kommission als Alleingang und von der Uno als Untergrabung des internationalen Schutzsystems gesehen. Als das dänische Parlament 2019 zur Verhinderung von Parallelgesellschaften beschloss, den Ausländeranteil in bestimmten Stadtteilen auf 30 Prozent zu limitieren, und begann, Sozialwohnungen abzureissen und die Bewohner umzusiedeln, wurde Dänemark von der Uno aufgefordert, das umgehend zu unterlassen.

Wie konnte aus dem gemütlichen Dänemark, das so liberal und tolerant war, dessen Bewohner durchschnittlich 5000 Euro im Monat verdienen und regelmässig auf der Liste der glücklichsten Menschen der Welt stehen, ein Land werden, dessen Asylpolitik auf Abschreckung und Verzweiflung setzt?

Die Normalisierung von Islamophobie und Rassismus kam nicht über Nacht, sondern begann lange bevor Dänemark die Null-Migranten-Politik erdachte. Die ersten Zentren wurden bereits 1984 gebaut, heute gibt es davon 14. Sjælsmark gilt als eines der schlimmsten. Das einstige Gefängnis untersteht der Justizbehörde Kriminalforsorgen. Wer dort landet, hat das Leben eines Kriminellen. Mauern, Gitter, grelle Beleuchtung, im inneren karge Räume, kaum Privatsphäre.

Bereits vor der Flüchtlingskrise 2015 hat es in Dänemark Forderungen nach einer Migrationsbegrenzung gegeben, vor allem vonseiten der rechtspopulistischen Dansk Folkeparti. Deren radikalste Vertreterin ist Pia Kjærsgaard, die Muslime als Menschen sieht, «die lügen, betrügen und täuschen» und die in den Brennpunktstadtteilen einen «täglichen Jihad» vermutet. Die Aktivistin Lene Kjær, eine der freiwilligen Flüchtlingshelferinnen, glaubt nicht, dass ihre Landsleute per se rassistisch sind. Wenn es um tragische Einzelfälle gehe, habe es stets Protest gegeben, doch gegen die Politik gebe es diesen nicht. «Den Leuten wird einfach seit zu langer Zeit eingetrichtert, dass Migranten eine Gefahr sind.»

Ebenfalls 2016 erliess das Parlament ein Gesetz, das es erlaubt, Flüchtlingen an der Grenze Wertsachen ab 1340 Euro abzunehmen als Zahlung für Unterkunft und Verpflegung. Vom Tisch ist inzwischen ein Plan, Flüchtlinge, die nicht abgeschoben werden können, auf der von Tierversuchen verseuchten Insel Lindholm unterzubringen. Er scheiterte am Protest der Bewohner an Land, die ihre Sicherheit in Gefahr sahen. Und erst vor wenigen Wochen wurde Inger Støjberg, Tesfayes Vorgängerin im Ministeramt, zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt. Sie hatte die Zwangstrennung von Flüchtlingspaaren durchgesetzt, bei denen einer der Ehegatten unter 18 Jahre alt ist. Damit hat sie gegen dänisches Recht verstossen.

Die Dansk Folkeparti ist heute eine unwichtige Partei, doch ihr Vermächtnis lebt auch unter der Regierung der Sozialdemokraten fort. «Das ist reine Machtpolitik», sagt der dänische Europaabgeordnete Nikolaj Villumsen. Die Sozialdemokraten hätten die Wahl 2019 deshalb gewonnen, weil sie die Asylpolitik der Rechten übernommen und noch übertrumpft hätten.

Für Villumsen ist Dänemark heute eines der schlimmsten Länder für Flüchtlinge innerhalb der EU. Was die Regierung betreibe, sei ohne Moral. «Wir halten uns zwar an die Gesetze, aber wir machen den Flüchtlingen das Leben unerträglich, wir nehmen ihnen alle Rechte und die Lebensqualität, bis sie aufgeben und freiwillig gehen.»

Dänemark den Dänen

Doch die Politik der dänischen Regierung basiert auf mehr als reinem Stimmenfang. Ihr liegt auch ein parteiübergreifendes Misstrauen gegen Migration zugrunde, und die Vermutung, Flüchtlinge wollten nur den dänischen Wohlfahrtsstaat ausnutzen. Ähnlich misstrauisch sieht man die EU. Dänemark ist zwar einer der Gründerstaaten, doch man trat hauptsächlich aus wirtschaftlichen Überlegungen bei und betonte stets die Souveränität seines Parlaments. Seither haben etliche Parteien mit Europa-skeptischen Aussagen und der Betonung, dass Dänemark den Dänen gehöre, Stimmenfang betrieben.

Womöglich war all das zu viel des Unguten. Die Schärfe der Debatte im EU-Ausschuss jedenfalls zeigt, dass die dänische Regierung den Boden des ethischen Konsenses in den Augen vieler Abgeordneter verlassen hat. Auch der jüngste Plan in der Migrationsverhinderung, die Auslagerung des Asylverfahrens in Drittländer, wurde von etlichen Abgeordneten kritisiert.

Erst vor einigen Wochen hat Dänemark einen Deal mit Kosovo geschlossen, Asylsuchende während der Dauer ihres Verfahrens dort in einem umgewidmeten Gefängnis unterzubringen. Eine saubere Sache für die Hände der dänischen Politik. Im Fall einer Ablehnung obliegt Kosovo die Abschiebung. Doch selbst nach einer Asylgewährung sollen die Bewerber weiterhin in Kosovo bleiben – auf Dänemarks Kosten zwar, aber aus Dänemarks Augen. Das allerdings ist keine rein dänische Idee.

Auch andere EU-Staaten liebäugeln mit der extraterritorialen Verschiebung der europäischen Aussengrenzen, wollen die Verantwortung an Akteure übertragen, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen und bereit sind, eine EU-Politik durchzusetzen, die Überwachung, Deportation und Inhaftierung erfordert.

Für Maryam und Yaser Almohamad ist die Wiederaufnahme ihres Verfahrens zunächst kein Happy End. Sie müssen zwar nicht mehr in Sjælsmark, aber in einem anderen Zentrum leben, solange ihr Fall nicht entschieden ist. Ein Abend, ein gemeinsames Frühstück ist den beiden im Kreis ihrer Familie in Brønderslev vergönnt. Dann fährt Mahmoud mit ihnen in die Ortschaft Ranum am Limfjord.

Es ist ein grauer Tag, und grau ist die Stimmung im Auto. Yaser schweigt, Maryam seufzt in einem fort. Erst als die Sonne kurz durchbricht, endet die Stille. Maryam sagt: «Vielleicht ist es ja ganz nett.» «Schlimmer als Sjælsmark kann es nicht sein», antwortet Yaser. «Wenigstens ist es näher bei uns», sagt Mahmoud.

Doch es ist nicht nett. Das Zentrum sieht zwar von aussen aus wie ein Jugendheim, Rasen, ein Spielplatz, Fahrräder vor den Türen, im Inneren ist es heruntergekommen und schäbig. Maryam und Yaser bekommen ein Zimmer von höchstens zwanzig Quadratmetern zugewiesen. Zwei einzelne Betten, ein Schreibtisch, ein Kühlschrank, ein Fernseher. Eine Knastzelle ist heimeliger. Still setzen sie sich auf ein Bett, nach vielen weiteren Seufzern beginnen sie, ihre wenigen Habseligkeiten auszupacken. «Was ausser fernsehen sollen wir hier tun?», fragt Yaser und schaut hilflos auf die leere Strasse vor dem Fenster.

Mitte Januar wird der Beschwerde über ihren Fall stattgegeben und ihr Aufenthaltsstatus wiederhergestellt. Maryam und Yaser dürfen zurück zu ihren Kindern.
(https://nzzas.nzz.ch/international/fuer-die-daenen-ist-nur-kein-migrant-ein-guter-migrant-ld.1664912)