Medienspiegel 22. Dezember 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Gesuch eines Kurden um Anerkennung als Staatenloser ist rechtens
Der Status der Staatenlosigkeit für einen in die Schweiz geflüchteten Kurden ist rechtens. Das Bundesverwaltungsgericht pfeift in einem Urteil das Staatssekretariat für Migration (SEM) zurück. Dieses hatte argumentiert, der Mann hätte sich in Syrien einbürgern lassen können.
https://www.watson.ch/schweiz/justiz/227747014-gesuch-eines-kurden-um-anerkennung-als-staatenloser-ist-rechtens
-> Medienmitteilung Bundesverwaltungsgericht: https://www.bvger.ch/bvger/de/home/medien/medienmitteilungen-2021/staatenlosigkeit.html


+++GROSSBRITANNIEN
nzz.ch 22.12.2021

Nur wer legal einreist, erhält Asyl – wie Grossbritannien seine Flüchtlingspolitik verschärfen will

Mit Push-backs, neuen Offshore-Zentren und der Bestrafung von irregulären Einreisen will sich Brexit-Britannien als Asylland unattraktiver machen. Doch die Reform wirft rechtliche Fragen auf – auch ist offen, wie stark sie die Migration eindämmen kann.

Niklaus Nuspliger, London

Beim Brexit-Referendum von 2016 fand ein Argument der EU-Gegner besonders viel Anklang: das Versprechen, die Kontrolle über die Migrationspolitik zurückzugewinnen und die Einwanderung zu drosseln. Doch während die EU-Personenfreizügigkeit seit Anfang 2021 der Vergangenheit angehört, schlägt die irreguläre Einwanderung über den Ärmelkanal alle Rekorde. Im Jahr 2019, als Premierminister Boris Johnson die migrationspolitische Hardlinerin Priti Patel zur Innenministerin ernannte, überquerten 1800 Personen den Ärmelkanal. 2020 stieg die Zahl auf 8420. Im laufenden Jahr wurden bereits rund 29 000 Bootsmigranten erfasst.

Umstrittene Push-backs

Um die Lage in den Griff zu bekommen, setzt Patel nun auf die Nationality and Borders Bill, die derzeit im Parlament hängig ist und angesichts der klaren Tory-Mehrheit im Unterhaus bis im Frühling definitiv verabschiedet werden dürfte. Im Asylbereich sieht die Gesetzesrevision drei umstrittene Verschärfungen vor: die Möglichkeit für die britische Grenzwache, Boote im Ärmelkanal zurückzustossen, die Unterbringung von Asylsuchenden in neuen Zentren im In- und Ausland sowie die unterschiedliche Behandlung von Asylsuchenden je nach Art ihrer Ankunft in Grossbritannien.

Während Priti Patel eine hohe Abschreckungswirkung verspricht und Nichtregierungsorganisationen die humanitäre Tradition gefährdet sehen, schlägt der Migrationsforscher Peter Walsh vom Migration Observatory der Universität Oxford nüchternere Töne an. «Was man ins Gesetz schreibt, ist das eine», sagt er im Gespräch. «Was sich in der Praxis umsetzen lässt, ist etwas anderes.»

Als Beispiel nennt Walsh das Zurückstossen von Flüchtlingsbooten im Ärmelkanal. Da zwischen den Territorialgewässern Frankreichs und Grossbritanniens keine internationalen Gewässer lägen, könne die britische Border Force keine Boote zurückstossen, ohne in französisches Hoheitsgebiet einzudringen – was einer Einwilligung aus Frankreich bedürfe. Zwar duldet mittlerweile auch die EU Push-backs, wie sich jüngst bei der Krise an der polnisch-weissrussischen Grenze gezeigt hat. Im Meer ist ein solches Vorgehen aber komplexer, und Paris hat gegenüber London Push-backs bereits abgelehnt, da diese gegen internationales Seerecht verstiessen.

Offshore-Zentren nach australischem Vorbild

Weiter ermöglicht der Gesetzesentwurf die Unterbringung von Asylsuchenden in Zentren ausserhalb des britischen Territoriums. Doch auch hier zweifelt Walsh an der Umsetzbarkeit: Zum einen habe bisher weder ein ausländischer Staat noch ein britisches Überseegebiet Bereitschaft signalisiert, solche Zentren zu beherbergen. Zum anderen wären solche Lösungen teuer: «Australien gibt für die Offshore-Unterbringung von 300 Asylsuchenden jährlich 3 Milliarden australische Dollar (rund 1,6 Milliarden Pfund) aus», sagt Walsh. «In Grossbritannien kosten die Betreuung und die Unterbringung von 40 000 Asylsuchenden eine Milliarde Pfund pro Jahr.»

Bis anhin bringt das Vereinigte Königreich Asylsuchende in privaten Behausungen unter. Neu sollen auch Zentren auf britischem Boden entstehen, welche die Asylsuchenden in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken – ähnlich wie in den Niederlanden oder in Dänemark. Doch da die britischen Asylverfahren notorisch lange dauern, drohen die Insassen jahrelang in den Zentren festzustecken.

Bootsmigranten sollen büssen

Die wohl umstrittenste Neuerung ist, dass nur noch Schutzbedürftige, die auf legalem Weg nach Grossbritannien kommen, dauerhaft im Land bleiben dürfen. Wer etwa mit einem Gummiboot über ein sicheres Drittland wie Frankreich einreist, soll dorthin oder in seine Heimat zurückgeschafft werden. Ist die Rückschaffung nicht möglich, soll der Asylsuchende zwar ein Verfahren erhalten. Doch selbst wenn sein Gesuch erfolgreich ist, soll er statt Asyl nur noch subsidiären Schutz bekommen – ohne stabile Aufenthaltsrechte, ohne Möglichkeit des Familiennachzugs und mit begrenztem Zugang zu Sozialleistungen.

Menschenrechtsorganisationen argumentieren, diese Unterscheidung widerspreche der Flüchtlingskonvention von 1951. Diese besagt, dass Asylsuchende nicht für die Art ihrer Einreise bestraft werden dürfen, wobei dieses Gebot nicht absolut gilt. Weiter droht ein Konflikt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die das Recht auf Familienleben garantiert und daher auch Ausschaffungen erschwert. Der Justizminister Dominic Raab publizierte jüngst Pläne für eine Revision der britischen Human Rights Act, welche die EMRK relativieren soll. Ein Austritt aus der Flüchtlingskonvention ist derzeit aber nicht geplant, weshalb am Ende wohl die Gerichte die widersprüchliche Rechtslage auflösen müssten.

Lassen sich Migranten abschrecken?

Trotz diesen Unsicherheiten wird Patels Asylgesetzrevision Grossbritannien für Bootsmigranten wesentlich unattraktiver machen. Doch bleibt laut dem Migrationsforscher Walsh abzuwarten, inwiefern sich Migranten davon abschrecken lassen. Denn die Attraktivität Grossbritanniens sei auch in der englischen Sprache, in kolonialen und familiären Verbindungen oder in den Hoffnungen auf einen Job im informellen Arbeitsmarkt begründet.

Eine abschreckende Wirkung hätte die Aussicht, nach der Fahrt über den Ärmelkanal rasch wieder in Frankreich zu landen. Brexit-Gegner erinnern allerdings daran, dass Grossbritannien nach dem EU-Austritt keine Rechtsgrundlage mehr hat, um Asylsuchende in EU-Staaten zurückzuführen. Walsh betont zwar, dass Grossbritannien im Rahmen des europäischen Dublin-Systems mehr Asylsuchende aus anderen EU-Ländern übernehmen musste, als es zurückschicken konnte. Doch gebe es seit dem Brexit so gut wie keine Rückführungen auf den Kontinent mehr. Will die britische Regierung die Migration über den Ärmelkanal dauerhaft eindämmen, wird sie daher kaum um neue Migrationsvereinbarungen mit Paris und Brüssel herumkommen.
(https://www.nzz.ch/international/grossbritannien-will-mit-asylrechtsreform-migranten-abschrecken-ld.1660265)


+++MITTELMEER
Flüchtlingsboot in Ägäis gesunken – Viele Menschen vermisst
Die griechische Küstenwache hat in der Ägäis zwölf Geflüchtete gerettet. Ihr Boot war vor der Kykladeninsel Folegandros gesunken. Zahlreiche Menschen werden noch vermisst. Es läuft eine Suche mit mehreren Schiffen und Hubschraubern.
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/fluechtlingsboot-in-aegaeis-gesunken-viele-menschen-vermisst,SsIzHrV
-> https://www.derstandard.at/story/2000132104912/dutzende-migranten-werden-nach-bootsunglueck-in-der-aegaeis-vermisst
-> https://www.watson.ch/international/griechenland/951552228-dutzende-migranten-werden-in-der-aegaeis-vermisst
-> https://www.derstandard.at/story/2000132119732/dutzende-migranten-werden-in-der-aegaeis-vermisst?ref=rss


+++LIBYEN
Flucht nach Europa: Die Verschwundenen von Tripolis
Aliou Candé gehörte zu den vielen, die hoffnungsvoll nach Europa aufbrechen und nun in Libyen inhaftiert sind. Dieser Report gibt erstmals einen Einblick in das tödliche Gefängnissystem und dokumentiert die Mitverantwortung Europas an diesem Verbrechen der Gegenwart.
https://www.woz.ch/2151/flucht-nach-europa/die-verschwundenen-von-tripolis


+++FREIRÄUME
Was geht eigentlich in der Elsi?
Gewaltsames Eindringen durch Eigentümer. Drei Jahre besetzt. Update zur Besetzung Elsi in Basel.
Vier Mal besetzt. Drei Mal geräumt. Und nun seit drei Jahren belebt. In der Elsi ist in den vergangenen Jahren Wohnraum für rund vierzig Menschen entstanden. Täglich wird hier ein- und ausgegangen, jeder Raum ist eingerichtet und belebt. Das Hinterhaus, als öffentlicher Ort, als soziales Zentum, bietet Möglichkeiten für kollektive Räume, in denen sich verschiedenstes Programm wöchentlich abspielt. Montags wird geboxt im Sportraum, Mittwochs gemeinsam am Mittagstisch gekocht, Donnerstags die Bar belebt und immer wieder finden Veranstaltungen diverser Art statt.
Die Elsi lebt.
Doch wie lange noch?
https://barrikade.info/article/4921


+++GASSE
700 Obdachlose in Genf – Schweiz Aktuell
In der Weihnachtszeit geniessen viele ein gemütliches Zuhause. Das ist aber nicht für alle Menschen in der Schweiz selbstverständlich: In Genf gibt es viele obdachlose Menschen – auch immer mehr Familien.
https://www.srf.ch/play/tv/-/video/-?urn=urn:srf:video:b0c81379-95f6-4753-ba85-e7c7a01a77cb


+++SEXWORK
Betrieb der Sexboxen in Altstetten soll bis 2026 verlängert werden – danach braucht die Stadt Alternativen
Die Stadt Zürich zeigt sich zufrieden mit dem bisherigen Betrieb des Strichplatzes Depotweg in Altstetten. Während der vergangenen neun Jahre hat sich einiges getan.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/zuerich-strichplatz-depotweg-betrieb-der-sexboxen-in-altstetten-soll-bis-2026-verlaengert-werden-ld.2230216


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
derbund.ch 22.12.2021

Unzulässige Demo-Bussen: Nur die Einsprecher kommen straffrei davon

Das Bundesgericht erklärte die 15-Personen-Regel bei Demos in Bern nachträglich für rechtswidrig. Davon profitiert allerdings nur ein Teil der Gebüssten.

Michael Bucher

Ob Maskentragpflicht an Schulen oder Datenerhebungen in Restaurants: Die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sorgen für ordentlich Juristenfutter. Exemplarisch zeigt sich dies im Kanton Bern gegenwärtig etwa beim Thema Einschränkung der Kundgebungsfreiheit.

Das Bundesgericht hat im September entschieden, dass die von der Kantonsregierung im November 2020 in Kraft gesetzte 15-Personen-Regel für Demonstrationen unzulässig war. Die Richter entschieden mit einer Mehrheit von 4 gegen 1, dass die Regelung gegen die in der Bundesverfassung verankerte Versammlungsfreiheit verstossen habe. Die Vorschrift ging deutlich weiter als die in dieser Zeitspanne gültige Covid-19-Verordnung des Bundes.

Nur Revisionsgesuch möglich

Die Frage war sodann: Erhalten die Betroffenen vom Kanton ihre bezahlte Busse zurückerstattet? Die Antwort ist: Nein. Ein solches Vorgehen sehe die Strafprozessordnung nicht vor, heisst es bei der Berner Staatsanwaltschaft auf Anfrage. Den Betroffenen stehe bei rechtskräftigen Entscheiden ausschliesslich die Möglichkeit offen, ein Revisionsgesuch einzureichen. Ein komplexes Verfahren also, das Zeit und Geld kostet und dessen Ausgang offen ist.

Die gebüssten Demonstrantinnen und Demonstranten bleiben also auf ihrer Strafe sitzen? Nicht ganz. Das gilt nur für jene, die gegen den Strafbefehl keine Einsprache erhoben und die Busse bezahlt haben. Wer sich jedoch dagegen rechtlich gewehrt hat, dem wird die Busse erlassen. Dies aus dem Grund, weil zum Zeitpunkt des Bundesgerichtsurteils das Einspracheverfahren noch offen war und die Berner Staatsanwaltschaft das korrigierende Verdikt aus Lausanne nun berücksichtigen muss. 80 solcher Einspracheverfahren gibt es laut Staatsanwaltschaft allein im Bezirk Bern-Mittelland. «Es haben schon Einstellungen stattgefunden, weitere werden folgen», heisst es. Mehr Zahlen gibt es dazu nicht.

Der Frust der Klimajugend

Das Ganze hat einen bitteren Beigeschmack. Durch die neue Ausgangslage wird eine Demo-Teilnehmerin bestraft, während ihr Kollege für das exakt gleiche Verhalten ungeschoren davonkommt. «Diese Ungleichbehandlung finden wir unfair», sagt Lina Vogt vom Klimastreik Bern. Die Jugendbewegung bekam die restriktive 15-Personen-Regel mit geballter Kraft zu spüren. Anlässlich eines Sitzstreiks auf dem Berner Waisenhausplatz im März dieses Jahres verzeigte die Polizei 180 Klimastreikende. Zu zahlen hatten sie eine Busse von 100 Franken inklusive Gebühren in derselben Höhe.

Was Lina Vogt zudem stört: Die Betroffenen seien von der Staatsanwaltschaft nicht informiert worden, dass die Bussen nicht zurückerstattet würden und nur die Möglichkeit der Revision bestehe. Mittlerweile weiss man beim Streikkollektiv darum. «Über Social Media haben wir die Betroffenen informiert und gleich eine Vorlage eines Revisionsschreibens beigelegt», sagt sie. Viele würden nun ein Gesuch einreichen.

Zentrale Frage bleibt offen

Auch Juristen anerkennen das Dilemma. «Solche Ungleichbehandlungen sind natürlich stossend», meint der Freiburger Strafrechtsprofessor Christof Riedo. Er gibt der Berner Staatsanwaltschaft aber insofern recht, als sie rechtskräftige Strafbefehle tatsächlich nicht einfach «zurücknehmen» könne und den Gebüssten somit nur ein Revisionsverfahren offenstehe.

Die eine zentrale Frage ist laut ihm aber immer noch offen. Das Bundesgericht habe zwar die 15-Personen-Regel für bundesrechtswidrig erklärt, «was das für die auf diese Regelung gestützten Strafbefehle bedeutet, ist jedoch alles andere als klar», sagt er. Rechtsexperten seien sich uneinig, ob durch das Bundesgerichtsurteil die damalige kantonale Verordnung nun nichtig oder bloss ungültig sei.

Während Laien zwischen diesen Formulierungen keinen Unterschied ausmachen dürften, gibt es den sehr wohl. Denn wäre die Verordnung nichtig, so gälte dies nachträglich auch für die bereits bezahlten Bussen. Endgültig klären kann diese Frage bloss ein Gericht. Das könnte dank den Revisionsgesuchen der Klimajugendlichen schon bald der Fall sein.

Wie auch immer das Ganze ausgeht, bei der komplexen Gemengelage rauchen nicht nur bei Laien die Köpfe. Strafrechtsprofessor Christof Riedo räumt ein: «Das Ganze bietet tatsächlich Stoff für mehrere juristische Fachseminare.»
(https://www.bernerzeitung.ch/nur-die-einsprecher-kommen-straffrei-davon-834340226209)


+++KNAST
Keine Anzeichen für Drittverschulden: Insasse (52) verstirbt in der Nacht im Zürcher Polizeigefängnis
Tod in der Zelle: Am Mittwochmorgen fanden Mitarbeitende des Zürcher Polizeigefängnisses einen 52 Jahre alten Syrer tot in seiner Zelle. Die Staatsanwaltschaft ermittelt zu den Umständen des Todes.
https://www.20min.ch/story/insasse-52-verstirbt-in-der-nacht-im-zuercher-polizeigefaengnis-638087251348
-> https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2021/12/211222r_zuerich.html


+++RASSISMUS
Nach Anzeige von SP-Nationalrätin Suter: SVP-Politiker Hofstetter wegen Rassendiskriminierung angeklagt
Weil er auf Facebook Afrikaner verunglimpfte, hat SP-Nationalrätin Gabriela Suter den SVP-Lokalpolitiker Naveen Hofstetter angezeigt. Mit Erfolg: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage.
https://www.blick.ch/politik/nach-anzeige-von-sp-nationalraetin-suter-svp-politiker-hofstetter-wegen-rassendiskriminierung-angeklagt-id17091347.html
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/svp-politiker-nach-ueblem-facebook-post-staatsanwaltschaft-erhebt-anklage-gegen-naveen-hofstetter-ld.2230911


Rassismus in der Medizin: „Rassismus im Gesundheitswesen wird schlimmstenfalls verleugnet“
Ärzte nehmen Schmerzen von Schwarzen Menschen weniger ernst – zuletzt berichtete eine Politikerin davon. Die Sozialforscherin Muna Aikins sieht darin rassistische Muster.
https://www.zeit.de/gesundheit/2021-12/rassismus-gesundheitssystem-schwarze-menschen-arzt-muna-aikins/komplettansicht


+++RECHTSPOPULISMUS
SVP-Lothe stellt sich gegen SVP-Abtreibungs-Initiative: «Als Frau ist es für mich unverständlich»
Noch bevor die Unterschriftensammlung für zwei SVP-Anti-Abtreibungs-Initiativen angelaufen ist, regen sich kritische Stimmen aus den eigenen Reihen. Die Zürcher JSVP-Präsidentin Camille Lothe stellt sich gegen das Anliegen.
https://www.blick.ch/politik/svp-lothe-stellt-sich-gegen-svp-abtreibungs-initiative-als-frau-ist-es-fuer-mich-unverstaendlich-id17092122.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
„WeiSSe Weihnachten“: Wenn Neonazis ihr Julfest feiern
Ja, auch Neonazis feiern zu dieser Zeit des Jahres. Doch bei ihnen geht es nicht um die Geburt eines jüdischen Kindes, vielmehr feiern sie die Wintersonnenwende, das sogenannte „Julfest“, das auch die Nazis im Dritten Reich feierten. Dazu gibt es allerlei menschenfeindliche Deko, inklusive: Ku-Klux-Klan-Adventskalender, „schwarze Sonne“-Weihnachtskugel und „Ungeimpft“-Schwibbogen.
https://www.belltower.news/weisse-weihnachten-wenn-neonazis-ihr-julfest-feiern-125913/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Bundesverfassungsgericht: Xavier Naidoo durfte Antisemit genannt werden
Eine Referentin der Amadeu-Antonio-Stiftung bezeichnete den Musiker Xavier Naidoo als Antisemiten. Zu Recht? Ja, hat jetzt das Bundesverfassungsgericht geurteilt.
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/bundesverfassungsgericht-xavier-naidoo-durfte-antisemit-genannt-werden-a-4c1a3d65-753b-4b9e-9f9b-4606482566b8
-> https://www.derstandard.at/story/2000132103141/xavier-naidoo-durfte-als-antisemit-bezeichnet-werden?ref=rss
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/xavier-naidoo-darf-laut-bundesverfassungsgericht-antisemit-genannt-werden,SsJQPXR
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/bundesverfassungsgericht-kippt-urteil-zu-xavier-naidoo-der-antisemit-der-nicht-antisemit-genannt-werden-wollte/27916304.html
-> https://taz.de/Saenger-Xavier-Naidoo/!5821139/
-> https://www.zeit.de/kultur/musik/2021-12/bundesverfassungsgericht-xavier-naidoo-antisemit-meinungsfreiheit



nzz.ch 22.12.2021

Ein Gericht entscheidet, dass Xavier Naidoo als Antisemit bezeichnet werden darf. Er sagt dazu: «Man hält es im Kopf nicht aus» – was ist passiert?

Xavier Naidoo wollte nicht, dass ihm jemand Judenhass vorwirft. Er bekam zunächst recht – doch jetzt hat das deutsche Bundesverfassungsgericht anders entschieden.

Corina Gall, Janique Weder

Xavier Naidoo ist so einiges. Er ist eine Galionsfigur der selbsternannten Impfrebellen, wenn er davon singt, wie «dieses Gift» niemals in seinen Körper reinkommen werde. Er ist ein Verschwörungstheoretiker, wenn er im Internet die Behauptung verbreitet, in der Bundesrepublik Deutschland herrsche «ein krankes und faschistisches System». Und seit Mittwoch ist Xavier Naidoo noch etwas anderes, ein Antisemit nämlich, der offiziell so genannt werden darf.

Der Hintergrund: Im Jahr 2017 hatte eine Referentin der Amadeu-Antonio-Stiftung bei einem Vortrag über «Reichsbürger» Xavier Naidoo als Antisemiten bezeichnet. Konkret sagte sie: «Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaube ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.»

Natürlich klagte Xavier Naidoo – mit Erfolg. Das Oberlandesgericht Nürnberg entschied, dass die Frau zu wenig Beweise habe, um die Richtigkeit ihrer Aussagen zu belegen.

Xavier Naidoo, ein Antisemit? Nicht in Nürnberg.

Der Holocaust ein blosses «Märchen»

Die Referentin liess das Urteil nicht auf sich sitzen. Sie reichte eine Verfassungsbeschwerde ein. Am Mittwoch nun hat ihr das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe recht gegeben.

Naidoos Antisemitismus ist belegbar. Etwa auf Telegram, einem Messenger-Dienst, der sich in der Corona-Krise zur Schaltzentrale der Unzufriedenen entwickelt hat. Dort hat er ein Video verbreitet, in dem der Holocaust als «gelungene historische Fiktion und Märchen» bezeichnet wird.

Antisemitische Äusserungen trifft Naidoo seit längerem. In dem 2009 erschienenen Lied «Raus aus dem Reichstag» wendet er sich an die Bankiersfamilie Rothschild und verbreitet Verschwörungstheorien rund um die Weltherrschaft reicher jüdischer Familien. Beim Versuch, sich von den Vorwürfen des Antisemitismus zu befreien, wirkt Naidoo hilflos. Sein Sohn habe einen hebräischen Namen. Er habe jüdische Freunde. Er könne kein Antisemit sein.

Wie wird jemand, der selber als Kind von Ausländern in Deutschland gross wurde und sich einst gegen rechte Gewalt einsetzte, zum Rassisten? Man möchte das Naidoo gerne fragen.

In einer anderen Welt

Lange Zeit sorgten seine Äusserungen nur für Kopfschütteln. Etwa im Jahr 2014, als er bei einer Kundgebung von Reichsbürgern auftrat und die Behauptung verbreitete, Deutschland werde noch immer von den USA besetzt.

Die Wende kam im vergangenen Jahr. In einem auf Twitter erschienenen Video sprach er über angebliche Straftaten von Flüchtlingen. Die Behauptungen waren allesamt falsch. Daraufhin warf der Sender RTL ihn aus der Jury von «Deutschland sucht den Superstar». Seither nimmt der 50-Jährige kein Blatt mehr vor den Mund. Und selbst die letzten Unterstützter sind verstummt.

Dabei war Xavier Naidoo einmal ein ganz anderer. Um die Jahrtausendwende zählte er zu den erfolgreichsten Pop-Stars Deutschlands. Er veröffentlichte sechs Nummer-eins-Alben und gewann die wichtigsten Musikpreise im deutschsprachigen Raum. Er gehörte zu den «Söhnen Mannheims», eine in ihrer Besetzung und Anzahl Mitglieder variierenden Gruppe von Soulmusikern. In dieser Formation gab er 2005 auf Einladung der deutschen Botschaft ein Konzert – in der Oper von Tel Aviv.

Ab 2001 sang Naidoo mit den «Brothers Keepers», einem Zusammenschluss von hauptsächlich afro-deutschen Musikern, die sich in ihren Liedern gegen rassistische Gewalt starkmachten. Als Reaktion auf die Ermordung von Alberto Adriano, einem Fleischer aus Moçambique, der in einem Park in Dessau von drei Neonazis zu Tode geprügelt wurde, entstand der Song «Adriano (Letzte Warnung)». Naidoo singt im Refrain: «(. . .) Wir fallen dort ein, wo ihr auffallt, gebieten eurer braunen Scheisse endlich Aufhalt.»

Sowohl die «Söhne Mannheims» als auch ehemalige Mitglieder von «Brothers Keepers» haben sich inzwischen von Naidoo distanziert. Dieser wiederum sprach letztes Jahr in einem Interview mit dem rechtsextremen Magazin «Compact» befremdet über sein früheres Ich und sagt, er bereue seine Mitarbeit bei «Adriano».

Auftritte mit rechtsextremen Musikern

Musik veröffentlicht Xavier Naidoo noch immer, nur seine musikalischen Begleiter sind nun andere. «Die Konferenz» heisst sein jüngstes Projekt, in dem sich Naidoo und andere Musiker über die Pandemie-Massnahmen auslassen. Mit Hannes Ostendorf zum Beispiel, dem Frontmann der rechtsextremen Hooligan-Band «Kategorie C», singt Naidoo darüber, der «letzte Widerstand mit Fackeln und Flammen» zu sein. Im Musikvideo wechseln sich Bilder von Anti-Corona-Demonstrationen mit Landschaften, Burgern und Denkmälern ab.

Xavier Naidoo ist in der militanten Rechten angekommen. Er selber sieht das natürlich nicht so, stellt sich als Opfer dar, dessen Meinungsfreiheit eingeschränkt sei. Und weil er immer wieder missverstanden werde, muss er gegen seine Kritiker gerichtlich vorgehen.

Antisemitismus als freie Meinungsäusserung?

Jetzt aber musste Naidoo eine Niederlage vor Gericht einstecken. Es ist zwar unzulässig, jemanden haltlos als Antisemiten zu bezeichnen. Ungerechtfertigte Beschuldigungen sind rufschädigend und greifen die Persönlichkeitsrechte einer Person an. Doch im Falle Naidoos waren die Aussagen eben nicht haltlos: Der Sänger versuchte nicht einmal, das fragwürdige Video von Telegram zu rechtfertigen.

Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch klargestellt, dass sich die Referentin nicht strafbar gemacht hat. Naidoo habe sich «mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben» und beanspruche «für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit». Wer Naidoo schütze, verunmögliche jegliche Kritik an seinen politischen Ansichten.

An diesen Ansichten wird sich auch nach dem Urteil nichts ändern. Kurz nach der Verkündung meldet sich der Sänger auf Telegram. Sein Kommentar: «Man hält es im Kopf nicht aus.»
(https://www.nzz.ch/panorama/xavier-naidoo-darf-als-antisemit-bezeichnet-werden-ld.1661537)



Verschwörungstheorien: Brigitte Macron geht juristisch gegen Behauptungen vor, sie sei als Mann geboren worden
Ein rechtes Portal hatte verbreitet, die Gattin des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sei eine Transgender-Frau. Nun zieht Brigitte Macron vor Gericht.
https://www.spiegel.de/ausland/brigitte-macron-geht-juristisch-gegen-behauptungen-vor-sie-sei-als-mann-geboren-worden-a-b5b07398-acc7-41a4-bdb1-ff0f8ebe1849


Verwaltungsgericht Zürich: Richter lassen Massnahmengegner abblitzen
Sie fühlen sich «als Ungeimpfte diskriminiert» oder finden die Maskentragepflicht an Schulen nicht verhältnismässig. Das Verwaltungsgericht sieht es anders.
https://www.tagesanzeiger.ch/richter-lassen-massnahmengegner-abblitzen-887793258914


Stiller Protest von Corona-Massnahmenkritikern in Luzern
Vor dem Regierungsgebäude in Luzern haben am Mittwochnachmittag gegen 200 Personen gegen die Coronapolitik demonstriert.
https://www.nau.ch/ort/luzern/stiller-protest-von-corona-massnahmenkritikern-in-luzern-66072685
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/coronapandemie-gesundheitspersonal-und-verbuendete-demonstrieren-in-luzern-gegen-zertifikatspflicht-an-spitaelern-ld.2230743
-> https://www.zentralplus.ch/demonstranten-ziehen-mit-fackeln-vors-regierungsgebaeude-2262579/


Folgt die Kündigung? – Coop greift nach Masken-Skandal durch
Als sich eine Frau bei Coop beschwert, weil die Mitarbeiter die Maskenpflicht nicht einhalten, wird sie als «Schlampe» beschimpft. Jetzt reagiert der Detailhändler: Für die betroffenen Mitarbeiter könnte der Vorfall schwerwiegende Konsequenzen haben.
https://www.blick.ch/schweiz/ostschweiz/folgt-die-kuendigung-coop-greift-nach-masken-skandal-durch-id17091847.html


Stille Nacht – zerstrittene Nacht: Wie die Impfdebatte Familien spaltet – Rundschau
Von wegen Fest der Liebe: Corona reisst Familien und Freundeskreise auseinander. Wir treffen Menschen, die von ihren Verwandten beschimpft werden und den Kontakt zu ihrem engsten Familienkreis abbrechen. Dies alles, weil die Meinungen zu Impfungen und Corona-Massnahmen auseinanderdriften. Für viele Familien gibt es dieses Jahr kein gemeinsames Weihnachten.
https://www.srf.ch/play/tv/-/video/-?urn=urn:srf:video:2e44e508-a94c-4825-8712-5c0e45ac552a


Betrug mit Zertifikaten: Fälscher haben leichtes Spiel – Rundschau
Ein gefälschtes Zertifikat kaufen, statt sich impfen zu lassen: Im Kanton Schaffhausen waren es offenbar mehrere Hundert Fälle. Nun laufen Ermittlungen, ein mutmasslicher Täter sitzt in U-Haft. Wir reden mit dem Anwalt des Hauptverdächtigen, dem zuständigen Staatsanwalt – und mit anonymen Käufern. Recherchen zeigen zudem: Schaffhausen ist kein Einzelfall. Neue Zahlen aus den Kantonen zeigen, wie verbreitet die Fälschungen sind – und auch online floriert der Handel mit den Fälschungen.
https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/betrug-mit-zertifikaten-faelscher-haben-leichtes-spiel?urn=urn:srf:video:7e6749ad-285a-4496-afbf-9a93b78413a4



nzz.ch 22.12.2021

 Was haben radikale Impfgegner und Sektenmitglieder gemein? «Es gibt auffällige Parallelen», sagt die Sektenexpertin

Viele Angehörige von radikalen Corona-Leugnern suchen derzeit Rat bei Susanne Schaaf. Die Psychologin diagnostiziert eine ideologische Verblendung – und gibt Tipps, wie man mit Impfgegnern in der eigenen Familie sprechen kann.

Simon Hehli, Daniel Gerny

Frau Schaaf, Intensivmediziner berichten, dass auf ihren Abteilungen vermehrt radikale Impfgegner liegen, die den Sinn der Impfung auch dann nicht einsehen, wenn es um Leben und Tod geht. Melden sich Angehörige solcher Personen auch bei Ihrer Beratungsstelle?

Ja, und zwar mehrere pro Woche. Anfragen zu familiären Konflikten wegen Corona nehmen inzwischen einen namhaften Anteil meiner Beratungsarbeit in Anspruch.

Weshalb melden sich Angehörige von Impfgegnern gerade bei einer Sektenberatungsstelle?

Viele Ratsuchende stossen über entsprechende Texte auf unsere Website. Andere machen die Analogie zu einer Sektenmitgliedschaft von sich aus. Tatsächlich gibt es auffällige Parallelen.

Inwiefern?

Sektenartige Systeme weisen eine eigene Ideologie und Dynamik auf, die in ihrer Ausprägung vergleichbar sind mit einem Teil der «Querdenker»-Szene. Alles richtet sich ausschliesslich nach diesen Überzeugungen. Ein System mit seiner eigenen Logik macht es für Aussenstehende so schwierig, Mitglieder solcher Gemeinschaften zu verstehen und Zugang zu finden. Sie prallen mit Fakten oder mit sonst breit akzeptierten Meinungen einfach ab.

Impfgegner grenzen sich auf diese Weise also selber stark von den Geimpften ab?

Genau, diese ausgeprägte Betonung des «wir» gegen «sie» ist ein weiteres Kriterium von Sektenhaftigkeit. Es ist eine schematische, dogmatische Denkweise, ein Schwarz-Weiss-Muster: Entweder man ist auf der wahrhaftigen Seite unterwegs – oder mit den dunklen Mächten. Es ist bezeichnend, dass sich die Anhänger der Anti-Impf-Bewegung so inszenieren, als seien sie die einzigen aufrechten Bürgerinnen und Bürger.

Manche Leute lassen sich selbst dann nicht impfen, wenn sie ihre Corona-kranken Angehörigen während Wochen auf der Intensivstation leiden sehen. Wie lässt sich das erklären?

Psychologisch gesehen sind radikale Impfgegner Teil eines ideologischen Systems mit gewissen unumstösslichen Grundannahmen: etwa, dass der Impfstoff die DNA angreife, dass Menschen durch Impfungen gechipt würden oder dass der Bundesrat die Bevölkerung vorsätzlich belüge. Alles, was dagegen spricht, wird ausgeblendet oder im eigenen Sinne interpretiert. Diese Menschen fühlen, denken und handeln entsprechend ihren Überzeugungen.

Wie ein christlicher Fundamentalist, der sich durch nichts von seiner Überzeugung abbringen lässt, dass die Welt erst einige tausend Jahre alt sei.

Ja, denn naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden, die zeigen, dass das nicht stimmen kann, zählen nicht. Ein anderes Beispiel sind die Zeugen Jehovas. Immer wieder sterben Anhängerinnen dieser Gemeinschaft bei der Geburt, weil sie keine Bluttransfusionen annehmen dürfen und ihr Leben aus Loyalität zum Glauben opfern.

Was passiert, wenn sich jemand aus der Bewegung trotzdem impfen lässt?

Der Impfstatus ist ein Kriterium, an dem man festmachen kann, wer dazugehört – und wer nicht. Das geht so weit, dass radikale Impfgegner ihren betagten Eltern drohen, sie nicht mehr zu besuchen, falls sie sich impfen lassen. Teilweise entscheiden sich die Leute, nicht zu erzählen, dass sie sich haben impfen lassen, um Konflikte zu vermeiden. In den Beratungsgesprächen zeigt sich, wie sehr die Fronten verhärtet sind.

Und wer sich impfen lässt, gilt als Verräter.

Wenn sich radikale Impfgegner doch impfen lassen, wird ihnen dieser Widerspruch angelastet, ja. Man kann das zum Beispiel beim Thurgauer Corona-Skeptiker und Youtuber Daniel Stricker beobachten, der in die USA gereist ist und sich deshalb vermutlich impfen lassen musste. Während die Bewegung zuvor ohne Wenn und Aber an seinen Lippen hing, machen nun Verräter-Vorwürfe die Runde. Die Community stellt seine Glaubwürdigkeit infrage. Bei sektenhaften Organisationen spielen solche Mechanismen eine enorm wichtige Rolle.

Umgekehrt werden Ungeimpfte auch von Geimpften teilweise radikal abgelehnt.

Diese Verhärtung der Fronten halte ich für ein Problem. Sie schadet dem gesellschaftlichen Dialog, der das Gemeinschaftliche ins Zentrum setzen sollte.

Versucht nicht jeder Mensch, ein für ihn stimmiges Weltbild zu schaffen – und blendet dabei Fakten aus, die nicht hineinpassen?

In gewissem Ausmass reden wir uns viele Dinge schön oder legen sie uns so zurecht, dass sie ins eigene Bild passen – zum Beispiel, wenn wir überzeugt sind, dass der Schiedsrichter ungerechtfertigt für das gegnerische Team gepfiffen hat. Das ist menschlich: Jeder hat seine persönlichen Meinungen, deshalb gibt es auch Auseinandersetzungen im Freundeskreis oder in Partnerschaften. Der grosse Unterschied zwischen temporärer Empörung und einer radikalen Haltung liegt im Ausmass des Wahrheitsanspruchs der eigenen Ansichten und in welche Lebensbereiche dieser Anspruch übertragen wird.

Wo liegt die Grenze?

Wenn jemand bis zum Äussersten daran fest hält, die absolute Wahrheit zu besitzen, dann wird es problematisch. Die Flexibilität kommt abhanden, um mit gewissem Abstand über einen Vorfall zu reflektieren. Das kann so weit gehen, dass man mit der eigenen Haltung sich oder anderen Menschen schadet.

Wieso ist die Ideologie so stark, dass man sogar bereit ist, dafür zu sterben?

Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren wie gesellschaftliche Krisen, individuelle Lebenssituationen, persönliche Ressourcen und Manipulation. Wenn Existenzängste belasten, wenn jemand krank oder einsam ist, wenn sich jemand ohnmächtig fühlt und kein tragendes soziales Netz hat, steigt das Risiko, sich einer sektenähnlichen Bewegung anzuschliessen. Es sind ähnliche Risikofaktoren wie bei einer Suchterkrankung: Es besteht die Gefahr, dass man die Überforderungssituation löst, indem man sich an vermeintlich einfachen Auswegen orientiert.

Ist es eine Frage der Intelligenz, ob man anfällig ist für radikale Ideologien?

Es kommt – wenn schon – auf die Bildung an und darauf, wie viele Informationen jemand zur Verfügung hat und wie er mit Informationen umgeht. Wir alle sind in dieser Krise mit medizinischen Fragen konfrontiert, die uns an unsere Grenzen des Verstehens bringen. Die Fähigkeit, Dinge aus unterschiedlicher Perspektive zu beurteilen, hilft dabei. Aber Bildung und Wissen bieten nur einen bedingten Schutz vor sektenhaften Milieus, wie sich in den Beratungen zeigt. Ausschlaggebend sind oft die persönlichen Lebensumstände. Und in diesem Bereich geht es weniger um Vernunft, sondern eher um Emotionen und Befindlichkeiten.

Vergrössert die Krise, in der wir derzeit stecken, das Risiko, dass Menschen in solche Denkmuster abdriften?

Tatsächlich: Michael Butter, der zu Verschwörungstheorien forscht, sagt, dass diese vor allem in gesellschaftlichen Krisenzeiten erstarken. Die Menschen versuchen, das Unverständliche und Unerträgliche plausibel einzuordnen und greifbar zu machen. Als Aussenstehender könnte man denken: Ist es nicht noch viel beunruhigender, wenn man sich vorstellt, dass hinter der Pandemie eine weltweite Verschwörung steckt, dass Menschen gechipt werden oder dass sogar Ausserirdische ihre Hände im Spiel haben? Aber eine frei flottierende Angst wird für viele erträglicher, wenn es einen identifizierbaren Täter gibt und sie die Machenschaften angeblich durchschauen.

Werden auch Menschen zu radikalen Impfgegnern, die sich vorher überhaupt nicht sektenhaft verhalten haben?

Das gibt es. Ratsuchende berichten mir, ihre Angehörigen hätten Verschwörungstheorien vor der Pandemie immer belächelt und jetzt steckten sie mittendrin. Andere Leute hatten vorher schon eine Affinität zu esoterischen Konzepten, die anschlussfähig sind an Verschwörungsmythen.

Sekten bringt man gerne mit starken Führungsfiguren in Verbindung. Impfgegner und Verschwörungstheoretiker sind gegenüber Autoritäten eher skeptisch. Weshalb?

Die Autoritätskritik richtet sich gegen etablierte Instanzen, denen bösartige Motive unterstellt werden. Diese Sichtweise vertreten auch gewisse sektenhafte Gemeinschaften. Innerhalb der «Querdenker»-Szene gibt es durchaus Wortführer und Influencer, die für die Anhängerinnen und Anhänger eine Autorität darstellen. Doch es stimmt: Solche Personen sind nicht mit einem Bhagwan oder dem Scientologen David Miscavige vergleichbar. Der Guru-Aspekt beziehungsweise die unhinterfragbare autoritäre Führungsfigur ist nur eines von verschiedenen Sektenmerkmalen.

Im Unterschied zu Sektenmitgliedern nehmen ja viele Massnahmenkritiker gerade für sich in Anspruch, Dinge zu hinterfragen und kritisch zu beurteilen. Dieser Aspekt steckt schon in der Bezeichnung «Querdenker».

Dies entspricht dem Selbstverständnis der Bewegung – und kann auf den ersten Blick tatsächlich irritieren. Doch kritisches Denken bedeutet, dass man eine Wahrheitsbehauptung an objektiven Fakten überprüft, Annahmen und Interpretationen reflektiert, die Informationsquellen kritisch hinterfragt – und Meinungsvielfalt zulässt. Es ist kein kritisches Denken, wenn man nicht belegte Zusammenhänge konstruiert, Zahlen und Aussagen aus dem Zusammenhang reisst oder ausschliesslich die Position der anderen angreift.

Fällt es den Menschen grundsätzlich schwer, sich einzugestehen, dass sie falsch gelegen sind?

Das ist tatsächlich so. Bei radikalen Gegnern wird aber die Tatsache, nicht geimpft zu sein, zu einem wesentlichen Pfeiler einer Ideologie und vielleicht auch zu einem relevanten Teil des Selbstverständnisses. Würden sie sich für die Impfung entscheiden, stellten sie sich damit als Person infrage. Das geht weit darüber hinaus, in einem Punkt einen Irrtum einzugestehen. Ferner läuft man Gefahr, aus der Community ausgeschlossen zu werden und seine bisherigen Weggefährten zu verlieren.

Was bewirkt staatlicher Druck, etwa in Form einer 2-G-Regelung oder einer Impfpflicht?

Wenn die Ungeimpften von einem Teil des öffentlichen Lebens ausgeschlossen werden, bestärkt dies sicher einige im Gefühl, Opfer und Märtyrer zu sein. Das kann zu einer weiteren Radikalisierung in der Haltung führen. Andere werden sich vermutlich pragmatisch verhalten und sich impfen lassen.

Wie kann es denn gelingen, Leute, die in den letzten Monaten zu radikalen Impfgegnern geworden sind, zurückzugewinnen?

Auf einer übergeordneten Ebene, mit Kampagnen oder politischer Kommunikation, funktioniert dies bei radikalen Gegnern kaum. Entscheidend sind persönliche Begegnungen mit Vertrauenspersonen, die nicht zur impfgegnerischen Community gehören. Wichtig ist, dass die Angehörigen die Impfgegner nicht verspotten oder fallenlassen, sondern trotz Schwierigkeiten mit ihnen das Gespräch suchen. Zum Umgang mit solchen Gesprächssituationen sind in letzter Zeit verschiedene gute Bücher und Leitfäden erschienen.

Und wie spricht man am besten mit der impfkritischen Schwester oder dem Onkel, der Verschwörungstheorien verbreitet?

Man sollte realistische Erwartungen an das Gespräch haben. Wenn das Gegenüber in einer Überidentifikation feststeckt, lösen ein paar Gespräche keinen Aha-Effekt aus. Einsicht ist das Ergebnis eines längeren Prozesses, daher führen überhöhte Erwartungen nur zu Enttäuschung und zu neuem Streit. Man muss sich auf einen Marathon einstellen: dass mein Angehöriger zur Einsicht kommt, ist das Fernziel.

Und bis es so weit ist?

Ein erstes Etappenziel ist es, die Beziehung zu stärken und einen emotionalen Zugang zu finden. Das kann dann gelingen, wenn man sein Gegenüber nicht abwertet und direkt konfrontativ vorgeht. Die Person sollte auch gewürdigt werden. Würdigen bedeutet nicht, mit den Überzeugungen einverstanden zu sein. Man kann zum Beispiel anerkennen, dass sich der Betroffene Sorgen hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen macht oder dass er sich engagieren will. Aber dieses Vorgehen ist natürlich keine Garantie, dass sich die Parteien wieder annähern. Auch wenn Sie besonnen vorgehen und alles richtig machen, sind Sie darauf angewiesen, dass das Gegenüber eine minimale Bereitschaft mitbringt, sich zu öffnen und sich mit Ihnen ernsthaft auseinanderzusetzen.

Viele Leute beobachten, dass sich einzelne Personen in ihrem Umfeld radikalisieren. Wie gross sind die Chancen, dass diese Leute nach dem Ende der Pandemie wieder zurückfinden?

Während sich spirituelle Gemeinschaften an einer Tradition, einem göttlichen Prinzip und gewachsenen Strukturen orientieren, ist das verbindende Element der heterogenen Protestbewegung die Pandemie. Wenn sich die Situation bezüglich Corona einigermassen normalisiert hat, ist zu vermuten, dass sich diese Bewegung teilweise auflösen und ein Teil davon ihr Engagement auf andere Themen umlagern wird. Je nachdem besteht die Chance, dass sich familiäre Konflikte wieder legen.
(https://www.nzz.ch/schweiz/parallelen-zwischen-radikalen-impfgegnern-und-sektenmitgliedern-ld.1660665)


+++HISTORY
Bührle-Komplex: Wer ist hier bei wem eingezogen?
Negativschlagzeilen und sture Entscheidungsträger: Wie weiter mit der kontaminierten Sammlung Bührle am Kunsthaus Zürich? Ein Blick zurück – und in die Zukunft.
https://www.woz.ch/2151/buehrle-komplex/wer-ist-hier-bei-wem-eingezogen



tagesanzeiger.ch 22.12.2021

Streit um Bührle-SammlungRenommierte Künstlerin will ihre Bilder vom Zürcher Kunsthaus «zurückkaufen»

Die Schweizerin Miriam Cahn meldet sich in einem offenen Brief zum Streit um die Bührle-Sammlung zu Wort.

Christoph Heim, Andreas Tobler

Miriam Cahn, Basler Künstlerin von Weltruf, will ihre Bilder wegen der Causa Bührle aus dem Kunsthaus Zürich zurückziehen. In einem offenen Brief, der zuerst von der jüdischen Zeitschrift «Tachles» zitiert wurde, schreibt die 72-Jährige, dass sie als Jüdin nicht mehr im Kunsthaus vertreten sein wolle und deshalb ihre Bilder «zum Originalpreis des Ankaufs zurückkaufen» werde.

Cahn reagiert damit auf eine Medienkonferenz des Kunsthauses und der Stiftung E. G. Bührle von vergangener Woche. An diesem Anlass beharrten Kunsthaus und Bührle-Stiftung auf ihren Positionen und wiesen Kritik am Dokumentationsraum und an der Provenienzforschung zurück.
Äusserungen der Bührle-Stiftung schlagen hohe Wellen

Besonders hohe Wellen schlugen Äusserungen von Bührle-Stiftungs-Präsident Alexander Jolles: Der Jurist, der sich seit vielen Jahren mit Restitutionsfragen beschäftigt, erklärte an der Medienkonferenz vor einer Woche, dass alle Ansprüche auf Bilder aus der Bührle-Sammlung verjährt seien. Und dass nicht jedes Rechtsgeschäft, das ein jüdischer Emigrant in der Schweiz, in den USA oder in einem anderen nicht besetzten Gebiet während des Zweiten Weltkriegs getätigt hat, «primär einmal als verfolgungsbedingt erzwungen betrachtet werden kann».

Vielmehr müsse auch zur Kenntnis genommen werden, dass es während der Zeit des Zweiten Weltkriegs auch «einen ordentlichen Handel» geben habe. «Millionen von Leuten haben im Krieg gelitten, haben ihr Leben verloren, haben ihr Hab und Gut verloren, aber Millionen haben weitergelebt und in einem ordentlichen normalen Handel weitergelebt, in der Schweiz und anderswo. Das muss auch berücksichtigt werden», sagte Jolles.
«Dummer Leihvertrag», «billiger Ablasshandel»

Auf diese Äusserungen von Alexander Jolles reagiert nun die Künstlerin Miriam Cahn: Sie zitiert Jolles mit den Worten, dass «Millionen Juden gestorben, aber auch Millionen gelebt und Handel getrieben hätten». Als Jüdin denke sie nicht daran, «den üblen Inhalt dieser Bemerkungen von Herrn Jolles zu entschlüsseln – erkläre Antisemiten niemals ihren Antisemitismus!». Cahn kritisiert aber an Jolles’ Äusserungen den Gebrauch von antisemitischen Stereotypen: «Aha? Gestorben? Nicht ermordet? Und Juden können es schon immer in Handel- und Geldgeschäften?»

Miriam Cahns Kritik gilt im Weiteren der «undurchsichtigen Gemengelage zwischen Kunsthaus, Stadt, Bührle-Stiftung und Wissenschaft», die zu einem «dummen Leihvertrag» geführt habe. Den Leihvertrag, der 2012 abgeschlossen wurde, bezeichnet sie als «billigen Ablasshandel» der Bührles, die von ihren Waffendeals ablenken und die Herkunft des Geldes, das für den Kauf der Bilder eingesetzt worden sei, vertuschen wollten. Im Unterschied zum Kunsthaus Zürich hätten die Kunstmuseen Basel und Bern einen vorbildlichen Umgang mit Raub- und Fluchtkunst sowie NS-Verfolgungs-bedingten Vermögensverlusten gefunden, schreibt Cahn weiter und gibt zu bedenken: «Kunst kaufen wäscht nicht weiss! Kunst sammeln macht nicht zum besseren Menschen.»
Kunsthaus: Werk kann nicht zurückgezogen werden

Björn Quellenberg vom Kunsthaus Zürich erklärt auf Anfrage, das Kunsthaus selbst habe noch keinen Brief von Miriam Cahn erhalten. Dennoch äussert sich Quellenberg zu Cahns offenem Brief und kommentiert ihn wie folgt: «Weder Frau Cahn noch andere Künstlerinnen oder Künstler haben dem Kunsthaus die Absicht eines ‹Rückzugs› mitgeteilt. Ein Werk, das dem Kunsthaus verkauft worden ist und sich im Eigentum der Zürcher Kunstgesellschaft befindet, kann nicht ‹zurückgezogen› werden.»

Entgegen einer Aussage von Quellenberg, das Zürcher Museum besitze nur ein Bild von Miriam Cahn, teilt die Künstlerin auf Anfrage mit, das Kunsthaus habe mindesten drei Arbeiten von ihr in seiner Sammlung. Neben der Arbeit «Handelsschiff» von 1982, die sich im Onlinekatalog des Kunsthauses findet, befindet sich der Kunsthaussammlung auch noch ein Video, das in einer Ausstellung im neuen Kunsthaus-Erweiterungsbau zu sehen ist. Zudem eine grosse Rauminstallation mit mehreren Zeichnungen, die ungefähr um das Jahr 1990 im Kunsthaus ausgestellt war und dann angekauft wurde.
Jolles steht «Holocaust mit Entsetzen gegenüber»

Alexander Jolles weist die Kritik von Miriam Cahn an seinen Äusserungen auf Anfrage zurück: Er sei sich «nicht bewusst, mich antisemitisch geäussert zu haben». Falls dieser Eindruck entstanden sein sollte, «würde ich dies sehr bedauern», schreibt Jolles. Er hege keine antisemitische Gesinnung und «stehe der jüdischen Gemeinschaft mit grösstem Respekt und dem Holocaust mit Entsetzen gegenüber».

Zudem betont Jolles, dass er in seinen umstrittenen Äusserungen von den Menschen und nicht von den Juden im Krieg gesprochen habe. «Ich wollte damit bloss sagen, dass aus heutiger Sicht nicht jede wirtschaftliche Transaktion während der Kriegszeit per se als verdächtig gelten kann, sondern dass es darum geht, in jedem Einzelfall zu beurteilen, ob Umstände vorlagen, die im konkreten Fall verfolgungsbedingt waren.» In jedem konkreten Fall müsse geprüft werden, «ob eine Transaktion, ein Verkauf, zu gerechtfertigten oder unter zwangsweisen und wirtschaftlich nicht regulären Bedingungen» erfolgt sei. «Sollte jemand aus dieser Feststellung den falschen Schluss gezogen haben, ich sei antisemitisch, würde ich dies im höchsten Masse bedauern», so Alexander Jolles.
Entschuldigung für «Ungeheuerlichkeit»?

Miriam Cahn ist mit ihrer Kritik am Kunsthaus und der Bührle-Stiftung nicht allein. Auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) reagierte vergangene Woche empört. An der Medienkonferenz sei «eine teilweise sehr verzerrte Darstellung der historischen Tatsachen präsentiert» worden, schrieb der SIG. Dies sei eine «wenig konstruktive und unnachgiebige Haltung» und für den SIG «erschreckend».

Noch schärfer kritisiert wird das Kunsthaus von der Organisation Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina (JVJP). Der Organisation, die sich gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzt, gehören gemäss eigener Darstellung Nachkommen von Familien an, «die viel Leid durch den Holocaust und damalige antisemitische behördliche Handlungen in der Schweiz erlebt haben».

Wie die SIG kritisiert auch die JVJP die Äusserungen von Bührle-Stiftungs-Präsident Alexander Jolles an der Medienkonferenz im Kunsthaus vor einer Woche. Eine «Ungeheuerlichkeit» findet die JVJP vor allem Jolles’ Aussage, während des Zweiten Weltkriegs habe es keine staatliche Verfolgung in der Schweiz gegeben. «Tatsache ist, dass die jüdischen Gemeinden selbst für die Flüchtlinge aufkommen, dass ihre Mitglieder zur Finanzierung eine staatlich verordnete Pflichtsteuer leisten mussten», schreibt die JVJP in ihrem offenen Brief. Sie fordert Stadtpräsidentin Corine Mauch und das Kunsthaus zu einer öffentlichen Entschuldigung und zu internen Konsequenzen auf.
Corine Mauch will ihre Haltung darlegen

Stadtpräsidentin Corine Mauch will sich zu den Forderungen der jüdischen Organisationen und Miriam Cahns Abzugsankündigung vorerst nicht äussern: Sie stehe mit den jüdischen Organisationen «in einem stetigen und konstruktiven Austausch». Im Anschluss an die Medienkonferenz von vergangener Woche habe die Stadt ein Treffen zwischen dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und dem Präsidenten der Zürcher Kunstgesellschaft als Trägerin des Kunsthauses vermittelt. Dieses Treffen findet im Januar statt, teilt Mauch auf Anfrage mit.

Von Miriam Cahns Absicht, ihre Werke aus dem Kunsthaus zurückzuziehen, hat die Stadtpräsidentin am Mittwoch aus den Medien erfahren. Sie könne sich im jetzigen Zeitpunkt dazu nicht äussern. Den Bührle-Präsidenten Alexander Jolles will Mauch «persönlich auf seine Äusserungen ansprechen und ihm meine Haltung darlegen».

Antisemitismus habe in Zürich «keinen Platz», schreibt Corine Mauch. Zudem sei historisch belegt, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg keineswegs einfach ein «sicherer Hafen» für die Verfolgten des Naziregimes war. «Viele jüdische Flüchtlinge waren zur Weiterreise gezwungen, sie wurden teilweise interniert, waren oftmals lediglich ‘toleriert’ und lebten häufig in wirtschaftlich prekären Situationen. Mit diesen dunklen Seiten unserer Geschichte müssen wir uns auseinandersetzen», so die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch.
Kunsthaus will Expertengremium einsetzen

Das Kunsthaus Zürich will ein unabhängiges Expertengremium einsetzen, das klären soll, ob die Stiftung E. G. Bührle ihre Provenienzforschung richtig betrieben und die Ergebnisse korrekt präsentiert hat. Das Kunsthaus reagiert damit auf eine Forderung von Kanton und Stadt Zürich.

Mit der Integration der privaten Sammlung E. G. Bührle als Dauerleihgabe ans Kunsthaus wurde die Debatte um NS-Verfolgungs-bedingte Vermögensverluste in diesem Herbst neu lanciert. In der Folge wurden die ausgestellten Bührle-Bilder mit QR-Codes ergänzt, die zur Herkunftsforschung führen, welche die Sammlung selber betrieb.

Es besteht der Verdacht, dass die Sammlung auch Kunstwerke aus der Zeit des Nationalsozialismus enthält, die in die Kategorie NS-Verfolgungs-bedingter Vermögensverluste fallen. Emil Georg Bührle war durch Waffengeschäfte während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum damals reichsten Mann der Schweiz geworden. Bührle lieferte Waffen auf beide Seiten, sowohl an Nazideutschland als auch an die Alliierten.

Da sich nach aktueller Einschätzung keine Raubkunst in der Sammlung der Stiftung Bührle befindet, wurde das Wort in diesem Artikel teilweise ersetzt durch «NS-Verfolgungs-bedingter Vermögensentzug».



Miriam Cahn

Miriam Cahn befasst sich in ihrer Kunst mit Krieg, Flucht und dem Verhältnis der Geschlechter. Ihre expressive Auseinandersetzung mit Gewalt, Liebe, Schönheit sowie der Fragilität der Natur zeigt sie in Zeichnungen, Aquarellen und Ölgemälden, aber auch mit monumentalen Skulpturen und performativen Videos. Sie war mit ihren Arbeiten 1982 und 2017 an der Documenta in Kassel vertreten. Zahlreiche öffentlichen Kunstsammlungen haben Werke der Künstlerin in ihren Sammlungen, zum Beispiel das Museum of Modern Art in New York, die Tate Modern in London, das Museo Reina Sofía in Madrid, das Kunstmuseum Basel, das Kunsthaus Zürich, die Städtische Galerie im Lenbachhaus in München und das Museum für Moderne Kunst in Warschau. Die 1949 in Basel geborene Künstlerin wurde unter anderem 2005 mit dem schweizerischen Meret-Oppenheim-Preis und 2021 mit dem deutschen Rubenspreis ausgezeichnet. (hm)
(https://www.tagesanzeiger.ch/miriam-cahn-zieht-ihre-bilder-aus-dem-zuercher-kunsthaus-ab-234399794887)
-> https://www.tachles.ch/artikel/news/miriam-cahn-zieht-ihre-bilder-vom-kunsthaus-zuerich-ab
-> https://www.luzernerzeitung.ch/kultur/buehrle-debatte-geschichtsblindheit-bekannte-schweizer-kuenstlerin-will-ihre-bilder-vom-kunsthaus-zuerich-zurueckkaufen-ld.2230733