Medienspiegel 11. Dezember 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++AARGAU
aargauerzeitung.ch 11.12.2021

Warum Silvia Gasser einen Asylbewerber bei sich aufgenommen hat – und weshalb sie froh darüber ist

Silvia Gasser ist 75 Jahre alt und lebt alleine in einem Einfamilienhaus in Nesselnbach. Seit bald einem Jahr teilt sie ihr Daheim mit dem vorläufig aufgenommenen Asylbewerber Arash Bakhshi. Der 19-Jährige hat in Nesselnbach viel mehr als bloss eine Wohnung gefunden.

Nathalie Wolgensinger

Gemeinsam essen: Das verbindet Arash Bakhshi mit Silvia Gasser, mit der er viel mehr als bloss die Küche teilt. Sie sagt: «Wir essen regelmässig miteinander, manchmal gibt es Schweizer Gerichte, und manchmal bereitet Arash etwas aus seiner Heimat Afghanistan zu.»

Die 75-Jährige und der 19-Jährige sind auf den ersten Blick ein ungleiches Gespann. Und doch funktioniert ihr Zusammenleben im Einfamilienhaus in Nesselnbach aufs Beste. Beide kommen geradezu ins Schwärmen, wenn sie davon erzählen, wie sie gemeinsam kochen, Zeit mit Gassers Enkelkindern verbringen oder mit den Nachbarn zusammensitzen.

Dass Silvia Gasser einst einen Asylbewerber bei sich aufnehmen würde, hätte sie selber wohl am wenigesten für möglich gehalten. Zwar sei sie in einem Elternhaus gross geworden, dessen Türen immer für Menschen in Not offen gestanden seien. Dass sie selber jemandem auf Dauer ein Daheim bieten könnte, darüber machte sie sich jedoch keine Gedanken. Bis zu jenem Telefonanruf im letzten Jahr.

Sie will dem jungen Mann eine Chance geben

Es war eine Bekannte von Gasser, die Arash Bakhshi betreute und auf der Suche nach einer Unterkunft für den jungen Asylsuchenden war. Gasser erinnert sich: «Sie hat mir die Umstände geschildert, in denen er in der Asylunterkunft in Niederwil lebt, und gesagt, dass er unbedingt ein anderes Umfeld braucht.»

Die 75-Jährige beriet sich mit ihrem Ehemann. Sie waren sich bald einig, dass sie es versuchen möchten. Gasser erzählt: «Wir verfügen über ein Gästezimmer mit separatem Eingang und Badezimmer. Seit unsere beiden Kinder ausgezogen sind, brauchen wir das Zimmer nicht mehr.» Arash Bakhshi schildert die Verhältnisse in der Asylunterkunft: «Im Winter war es sehr kalt und zugig. Ausserdem hatte ich wenig Platz und keine Ruhe, um meine Hausaufgaben zu erledigen.»

Silvia Gasser und ihr Mann waren sich einig: Diesem jungen Mann, der zwei Jahre lang unterwegs gewesen war, wollten sie eine Chance geben.

Zum Einzug erhielt er ein Fahrrad geschenkt

Arash Bakhshi floh als Kleinkind mit seinen Eltern und den jüngeren Geschwistern aus Afghanistan in den Iran. Mit 15 Jahren trat er die Flucht in den Westen an.

Am 26. Dezember des vergangenen Jahres zog der junge Mann bei Gassers ein. Bereits nach wenigen Tagen stellte man fest, dass die Chemie zwischen dem Ehepaar und dem jungen Afghanen stimmt und er auf unbestimmte Zeit bleiben darf. Gasser erzählt: «Mein Mann schenkte ihm ein E-Bike. Nesselnbach liegt ja etwas abseits, und so bleibt er mobil.»

Die Augen des jungen Mannes leuchten, als er begeistert von den Velotouren erzählt, die er gemeinsam mit Nachbarn und den Kindern der Gassers unternommen hat.

In schweren Zeiten konnten sie zusammen trauern

Im Frühling dieses Jahres erkrankte Silvia Gassers Mann schwer und starb wenige Monate später. Nicht nur Silvia Gasser litt, auch Arash. Zur selben Zeit starb nämlich auch seine Mutter im Iran. Die beiden durchlebten gemeinsam die schwierigen Tage und Wochen nach dem Tod ihrer Liebsten.

Gasser sagt: «Ich bin froh, dass ich noch jemanden hier habe und ich nicht alleine lebe.» Und Arash Bakhshi freut sich über die eigenen vier Wände und darüber, dass ihm Silvia Gasser bei Alltagsproblemen mit Rat und Tat zur Seite steht. Er sagt: «Ich habe bei Gassers eine Familie gefunden.»

Es gibt Wochen, da sehen sich die beiden während einiger Tage gar nicht, erzählt die Gastgeberin. Die 75-Jährige engagiert sich in der Freiwilligenarbeit und ist oft unterwegs. Ihr junger Mitbewohner dagegen besucht unter der Woche das 10. Schuljahr in Baden.

An den Wochenenden aber verbringen sie hin und wieder gemeinsam Zeit. Manchmal seien auch die Nachbarn mit von der Partie, die sich ebenfalls mit dem jungen Mann angefreundet haben, erzählt Gasser und fügt an:  «Meine Enkelkinder sind total begeistert von Arash, sie fragen immer als Erstes nach ihm, wenn sie hier sind.»

Die erste Geburtstagsparty erlebte er in der Schweiz

Die Enkelkinder waren es auch, die Silvia Gasser und ihre Kinder auf die Idee brachten, eine Geburtstagsparty für den jungen Mann zu organisieren. Der Afghane erzählte ihnen nämlich, dass er noch nie in seinem Leben den Wiegentag gefeiert hat. Die Überraschungsparty war ein voller Erfolg. Freunde und Nachbarn kamen, um gemeinsam mit ihm zu feiern.

Arash Bakhshi hat in den anderthalb Jahren, die er in der Schweiz lebt, nicht nur sehr gut Deutsch gelernt, sondern sich auch gut integriert. Mittlerweile ist er aktives Mitglied des Niederwiler Turnvereins.

Das alles öffnet ihm nun ganz neue Perspektiven: Im August des kommenden Jahres tritt er die Ausbildung zum Schreiner an. Gemeinsam mit Silvia Gasser hofft er, dass er die Lehre abschliessen kann. Denn nach wie vor ist er bloss vorläufig aufgenommen in der Schweiz.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/freiamt/nesselnbach-warum-silvia-gasser-einen-asylbewerber-bei-sich-aufgenommen-hat-und-weshalb-sie-froh-darueber-ist-ld.2217587)


+++SCHWEIZ
Afghanische Migranten reisen irregulär in die Schweiz ein: Das sagt Bundesrätin Keller-Sutter dazu
Jeden Tag reisen Afghanen in die Ostschweiz. Doch nur rund 10 Prozent von ihnen stellen in der Schweiz ein Asylgesuch. Das Rückübernahmeabkommen mit Österreich braucht ein Update.
https://www.tagblatt.ch/schweiz/afghanische-migranten-keller-sutters-heikler-balanceakt-ld.2226805


+++ÄRMELKANAL
Migrantenboot gekentert: Fischer finden Leiche im Netz vor Calais
Fischer haben vor Calais eine Leiche in ihren Netzen entdeckt. Vor rund zwei Wochen ist dort ein Boot gekentert, mindestens 27 Migranten sind gestorben.
https://www.nau.ch/news/europa/migrantenboot-gekentert-fischer-finden-leiche-im-netz-vor-calais-66064873


+++GASSE
solothurnerzeitung.ch 11.12.2021

Mit der Polizei in der Oltner Innenstadt unterwegs: Die Randständigen sind nur ein Fokus der Kantonspolizei

Sie sorgen für Unmut bei Gewerbe und einem Teil der Bevölkerung: die Randständigen in der Oltner Kirchgasse. Doch unterwegs mit der Polizei zeigt sich, dass an diesem Nachmittag andere Personen in den Blickpunkt geraten.

Fabian Muster

Kurzer Marsch vom Polizeiposten im Oltner Stadthaus zum Coop City. Der Wetterdienst auf dem Handy zeigt knapp über Null Grad an, leichter Schneeregen. Die Randständigen sind an diesem Mittwochnachmittag an einer Hand abzuzählen. Sie halten sich unter dem Vordach des Warenhauses auf. Zwei Hunde sind da, zwei leere Dosen Prix-Garantie-Bier stehen herum. Man begrüsst sich, fragt, wie es geht, ist miteinander per Du.

Sascha wird kontrolliert. Name und Alter seines Personalausweises reichen, um diesen mit verschiedenen nationalen und internationalen Datenbanken abzugleichen. Gegen ihn liegt nichts vor. Der 17-Jährige wohnt in einem verlassenen Haus in Olten, hat seine Lehre als Siebdrucker abgebrochen und lebt nun in den Tag hinein.  «Ich holte meinen Vorschuss ab und ging danach nicht mehr zur Arbeit», erzählt er.

Wie es weitergeht, weiss er noch nicht. Er hofft, dass ihm das Sozialamt bald eine Wohnung vermittelt.

Auch Thomi, in der Stadt unter seinem Spitznamen «Blitz» bekannt, trinkt heute sein Bier vor dem Coop City. Halb im Ernst, halb im Spass sagt der 40-Jährige zur Begrüssung zu den Polizisten: «Das sind meine Freunde.» Er wird diesmal nicht kontrolliert. Weil er sich nicht speziell aufführe, sagen die beiden Polizisten Dario Panzeri und Francesco Mauro und belassen es bei einem kurzen Schwatz; sie bilden mit dem stellvertretenden Regionenchef Markus Schneeberger die heutige Dreierpatrouille. Der Alkoholpegel scheint noch tief, die Situation wirkt entspannt. Eine Frau in den Siebzigern tritt dazu, sieht den Gurt der Polizisten mit den Pistolen und fragt, ob diese ihr eine Waffe ausleihen könnten. Sie müsse zwei Leute erschiessen. Es riecht nach Haschisch: Sie hat kurz vorher einen Joint geraucht. Die Polizisten lächeln gequält.

Randständige sind vor Coop City nicht gerne gesehen

Markus Schneeberger mahnt die Leute, den Stehtisch vor dem Marronistand freizugeben, wenn sie seine Produkte nicht konsumieren, um andere Kundschaft nicht davon abzuhalten. Die bekiffte Seniorin trinkt ihren dritten oder vierten Glühwein – so genau weiss sie das nicht mehr. Sie kriege keinen neuen Becher, obwohl sie den Glühwein bezahle. Sie reicht mir den Fünfliber und bittet den Journalisten, ihr das alkoholische Heissgetränk zu holen. Nach kurzem Zögern willige ich ein. Doch bevor ich beim Tresen des Marronistandes ankomme, mahnt mich ein Mann, dies zu unterlassen. Sie sei besoffen. Wer bringe sie nachher nach Trimbach? Würde ich es tun? Der Marroniverkäufer überlässt es mir, wie ich mich entscheide. Ich bestelle ihr einen alkoholfreien Apfelpunsch – der kostet nur drei Franken. Dazu 200 Gramm Marroni, auf meine Kosten; ich überlasse ihr ein paar davon. Sie habe den ganzen Tag noch nichts gegessen, sagt sie.

Der Marroniverkäufer sieht es nicht gerne, wenn sich die Randständigen vor seinem Stand aufhalten. Sie würden Kundschaft vertreiben, sagt er. Das Geschäft laufe derzeit sowieso durchzogen, weil das Gerüst vor dem Coop City wegen der Sanierung die Sicht auf seinen Stand verdecke. Zudem hatte er mit Littering und Vandalismus zu kämpfen. Mittlerweile liess er auf eigene Kosten zwei Videokameras installieren. Auch Coop-City-Chef Hans Ruedi Kern ist nicht glücklich mit der Situation. «Für mich stimmt es so nicht», sagt er auf Anfrage. Man schicke die Randständigen zwar immer mal wieder weg, doch sie kehrten schnell zurück – gerade in Tagen wie diesen mit dem nass-kalten Wetter. Wie schon bei der Podiumsveranstaltung Ende Oktober plädiert er für eine Alternative an einem zentralen Ort mit Containern und einem Witterungsschutz, wo sich die Randständigen «wohl und sicher fühlen», wie er damals sagte. Doch seit dem Anlass habe er von der Stadt nichts mehr gehört.

Die drei Polizisten gehen weiter, treffen vor der Drogerie Müller auf einen Mann, der Akkordeon spielt. Sein Personalausweis verrät, dass er aus der Slowakei stammt und eine Kurzaufenthaltsbewilligung für die Schweiz hat. Die Quittung für die Tagesbewilligung für Strassenmusik der Stadt Olten kann er ebenfalls vorweisen. 15 Franken hat er dafür bezahlt. Auch gegen ihn liegt nichts vor. Er darf auf dem Trottoir seine Dienstleistung anbieten, nimmt dafür ein paar Franken ein. «Romanians, romanians», sagt er und zeigt auf die Baslerstrasse vor sich. Rumänen seien wieder unterwegs, die betteln würden, übersetzt Francesco Mauro für den unwissenden Journalisten. Im Gegensatz zur Strassenmusik sei Betteln im ganzen Kanton nicht erlaubt. Man müsse aber jemanden in flagranti erwischen, um die Person überführen zu können. Der Polizist bedankt sich für den Tipp.

Polizisten erwischen Mann mit Zigarette auf der Alten Holzbrücke

Das Auto bleibt an der Ecke Baslerstrasse/Konradstrasse vor der Abschrankung des Adventsdorfs stehen, währenddessen sich die Patrouille zu Fuss Richtung Schützenmatte verschiebt. Ein Mann hat gerade seinen Lieferwagen rückwärts einparkiert und sucht das Gespräch mit den Polizisten. Er wolle das Parkticket lösen, müsse sich davor aber seine Autonummer merken. Das sei doch ein Seich. Wer die Gebühren für seinen Parkplatz nicht bezahlt, hat von den drei Herren in schwarz-dunkelblauer Uniform allerdings nichts zu befürchten: Für die Kontrolle der Parktickets sind die Kolleginnen und Kollegen der Polizei-Sicherheitsassistenz zuständig. Ebenfalls nicht kümmern müssen sich die drei Polizisten um die Coronakontrollen beim Gastro- und Detailhandel. Dafür sind die Kontrollpersonen aus dem kantonalen Amt für Wirtschaft und Arbeit verantwortlich.

Der Mittwochnachmittag verläuft bisher ruhig. Es ist knapp vor vier Uhr, als es über den Salzhüsliweg Richtung Winkelunterführung geht. Ein Mann kommt mitten auf der Alten Holzbrücke entgegen, spricht laut in sein Handy, in der einen Hand eine brennende Zigarette. «Grüezi, Kantonspolizei», sagt Markus Schneeberger. Er verlangt den Ausweis. Die Szene verschiebt sich an den östlichen Brückenkopf. Der Mann raucht fertig und schnippt die Kippe in den metallenen Aschenbecher, der an der Stange mit dem Schild befestigt ist, das auf das Rauchverbot hinweist. Dieses hat der Stadtrat nach dem Brand im März 2018 erlassen. «Ich weiss schon, übersehe es aber immer wieder», entschuldigt sich der Mann. Eine Busse muss er trotzdem zahlen. Die Polizei bringt ihn bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige.

Mit Velo durch Winkelunterführung: Mutter zahlt Busse, Sohn nicht

Nun gehts die Treppe hinunter zur Winkelunterführung. Hier gilt allgemeines Fahrverbot. Die Velofahrenden steigen meistens trotzdem nicht ab, wie eine Stichprobe dieser Zeitung vor fünf Jahren ergeben hat: Über 80 Prozent der Personen fuhren durch. An diesem Nachmittag zeigt sich ein anderes Bild: Das Rad wird geschoben – bis auf eine Ausnahme: Am Ende der Winkelunterführung, als die Polizisten eigentlich schon die Treppe zur Tannwaldstrasse hochsteigen wollen, versucht eine Mutter mit ihrem Sohn, die Rampe hochzufahren. Francesco Mauro und Dario Panzeri fangen die Frau ab. Der Regelverstoss kostet sie 30 Franken. Ihr Sohn kommt ohne Folgen weg: Weil er noch zu jung ist, wird bei ihm weder das Jugendstrafrecht (erst ab 10 Jahren) noch das Ordnungsbussengesetz (erst ab 15 Jahren) angewendet.

Es geht über die Tannwaldstrasse durch die Martin-Disteli-Unterführung des Bahnhofs Olten zurück zum an der Baslerstrasse stationierten Fahrzeug. Die Polizisten markieren rein durch ihr Auftreten Präsenz: Sie werden angeschaut, gegrüsst und immer wieder angequatscht. Ein leicht angetrunkener Mann auf der Terrasse des Restaurants Gleis 13 nimmt die Uniformierten auf den Arm, weil sie zu Fuss patrouillieren: «Wenn die Stadt Olten nicht zu wenig Geld hätte, wärt ihr jetzt mit dem Ross unterwegs.»
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/olten/reportage-mit-der-polizei-in-der-oltner-innenstadt-unterwegs-die-randstaendigen-sind-nur-ein-fokus-der-kantonspolizei-ld.2226254)



solothurnerzeitung.ch 11.12.2021

Oltner Polizist über Randständige in der Kirchgasse: «Alkohol ist vielleicht das grösste Problem»

Er ist seit über 20 Jahren Polizist in Olten und kennt die Randständigen und oft auch ihren persönlichen Hintergrund: Der stellvertretende Regionenchef Markus Schneeberger sagt im Interview, welches das grösste Problem der Leute ist und warum die Polizei die Sache nicht alleine mit Repression lösen kann.

Fabian Muster

Die Randständigen in der Kirchgasse sorgen beim Gewerbe, bei der christkatholischen Kirchgemeinde, aber auch bei Teilen der Bevölkerung für Unmut. Wie sieht die Polizei die Szene in der Kirchgasse?

Markus Schneeberger: Weil Olten eine zentrale Lage hat, kommen zum Teil Leute aus der ganzen Schweiz in die Stadt. Daher halten sich an der Kirchgasse auch viele Randständige auf. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass der öffentliche Raum von allen genutzt werden kann. Viele Randständige sind uns bekannt. Ich bin schon seit 20 Jahren Polizist in Olten: Daher kennen wir häufig auch den persönlichen Hintergrund dieser Leute.

Konsum von harten Drogen und Alkoholika, Pöbeleien unter sich, Bettelei, Diebstahl in den Läden oder Lärm: Was ist aus der Sicht der Polizei das grösste Problem bei den Randständigen in der Kirchgasse?

Alkohol ist vielleicht das grösste Problem, weil es ein billiges Suchtmittel ist. Wenn die Randständigen viel Alkohol getrunken haben, kann es schnell einmal ausarten und lässt so die Stimmung kippen.

Es heisst, es seien nur einzelne Personen, die wirklich für Zoff sorgen. Welche Erfahrungen hat die Polizei gemacht?

Das ist so – nicht jede randständige Person macht Probleme. Es sind Einzelne, die in einer Gruppe auffallen – was schliesslich die ganze Gruppe negativ dastehen lässt. Vor allem diese Einzelpersonen kontrollieren wir und nehmen dann entsprechende Massnahmen vor.

Welche Massnahmen müssen häufig gegen die Randständigen ausgesprochen werden?

Das häufigste Mittel ist sicher die Wegweisung. Diese kommt beispielsweise zur Anwendung, wenn Leute Dritte belästigen, Einsätze zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung behindert werden oder Personen ernsthaft gefährdet sind.

Jemand wegzuweisen heisst, dass sich eine Person für bis zu einem Monat nicht mehr im Innenstadt-Bereich aufhalten darf. Wahrscheinlich halten sich die Randständigen aber irgendwo anders auf.

Das kann so sein. Wir wollen die Person, die negativ auffällt, für eine bestimmte Zeit einfach nicht mehr vor Ort antreffen. Das Problem wird so zum Teil verlagert, aber die Polizei kann dieses nicht alleine lösen. Dazu braucht es die einschlägigen sozialen Institutionen wie die Suchthilfe oder Massnahmen der Politik.

Die Randständigen haben generell ein gutes Bild von der Polizei: Sie fühlen sich von der Polizei nicht belästigt, wie sie selbst im Interview mit dieser Zeitung erwähnten. Treten die Polizistinnen und Polizistinnen gegenüber ihnen anders auf als gegenüber dem Rest der Bevölkerung?

Nein, wir behandeln alle Leute gleich. Aber wir haben natürlich häufig Kontakt mit ihnen. Sie kennen uns, wir kennen sie und sie wissen, was auf sie zukommt, wenn wir vor Ort sind.

Anscheinend wurden die Polizeikontrollen in diesem Sommer aber verstärkt. Ist das so? Und aus welchem Grund?

Die Polizei reagiert immer ereignisorientiert. Wenn wir feststellen, dass es vermehrt an einem Ort zu Menschenansammlungen kommt, setzen wir dort bei den Patrouillen einen Schwerpunkt.

Die Randständigen beklagten sich, dass sie von der Polizei abgefangen werden, wenn sie von der Innenstadt zur Suchthilfe Ost an der Aarburgerstrasse laufen: Passiert dies, müssen sie den gekauften Stoff abgeben und erst noch eine Busse zahlen. Was sagen Sie dazu?

Es gibt natürlich immer einen Grund für eine Personenkontrolle: Wir halten Leute nicht willkürlich an. Mögliche Gründe sind Pöbeleien, aggressives Verhalten, Ruhestörungen oder verdächtiges Verhalten. Manchmal müssen wir auch eine Person kontrollieren, die komisch läuft, weil hier ein medizinisches Problem vorliegen könnte. Zudem wissen wir in der Regel nicht, wohin eine Person will, wenn wir sie kontrollieren.

Die Suchthilfe-Leiterin Ursula Hellmüller schlägt vor, dass man die Süchtigen in Ruhe lässt, wenn sie zur Kontakt- und Anlaufstelle unterwegs sind, damit sie dort den Stoff im geschützten Rahmen konsumieren können. Was halten Sie von dieser Idee?

Die Polizei findet es gut, dass die Süchtigen eine Anlaufstelle haben. Unsere Absicht ist es sicher nicht, sie auf dem Weg dorthin abzufangen. Aber: Wenn wir feststellen, dass mit Drogen gedealt wird oder Meldungen deswegen aus der Bevölkerung an uns gelangen, nehmen wir entsprechende Kontrollen vor und bringen die Leute allenfalls zur Anzeige.

Wie sieht die Kantonspolizei die SIP, die dafür sorgen soll, dass verhaltensauffällige Personen in der Stadt auf die Grundregeln hingewiesen werden?

Die SIP ist für uns ein wichtiger Partner. Wir sind mit ihnen im Austausch und sprechen uns ab.

Die Randständigen kritisierten, dass sie nach Kontakten mit der SIP zum Teil verhaftet wurden.

Es kann Meldungen geben von den SIP-Patrouillen, dass sich Randständige auffällig verhalten. Wenn Dritte angepöbelt werden oder eine körperliche Auseinandersetzung entsteht, werden wir aufgeboten.

Es heisst immer wieder, die Polizei unternehme zuwenig gegen die Drogenhotspots und die Dealenden in der Stadt. Was sagen Sie dazu?

Wir machen Kontrollen in Uniform aber auch in Zivil; sind zu Fuss, mit den Segways oder in Fahrzeugen unterwegs. In Zivil nimmt man uns häufig nicht als Polizei wahr. Das könnte dazu führen, dass die Bevölkerung meint, die Polizei sei nicht präsent.


Zur Person: Markus Schneeberger hat eine Lehre als Maschinenmechaniker abgeschlossen und arbeitet seit 2000 bei der Polizei; zuerst bei der Stadtpolizei, seit deren Auflösung ab 2016 bei der Kantonspolizei. Der 46-Jährige ist stellvertretender Chef der Polizei Region Olten. Schneeberger wohnt mit seiner Familie in der Region. (fmu)
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/olten/interview-oltner-polizist-ueber-randstaendige-in-der-kirchgasse-alkohol-ist-vielleicht-das-groesste-problem-ld.2226273)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Demo in Zürich gegen Femizide: Gegen 2000 Menschen waren zusammen «traurig und hässig»
Das Bündnis Ni-Una-Menos hatte mit über 80 Organisationen aus der Schweiz zum Protest gegen Gewalt an Frauen aufgerufen. Die Demo durch Zürich war laut, aber friedlich.
https://www.tagesanzeiger.ch/tausende-demonstrieren-in-zuerich-gegen-gewalt-an-frauen-838512713898
-> https://www.20min.ch/story/trauer-sichtbar-machen-demo-gegen-gewalt-an-frauen-950433996112
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/hunderte-auf-den-strassen-protest-in-zuerich-gegen-gewalt-an-frauen-id17060559.html
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/alle-zwei-wochen-ein-neues-opfer-frauen-demonstrieren-gegenfemizide-144676367
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/ueber-tausend-menschen-protestieren-in-zuerich-gegen-gewalt-an-frauen-00170588/
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/3000-menschen-an-frauenstreik-demo-gegen-femizide-in-zurich-66064439
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/demonstration-gegen-femizide-144676278
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nicht-eine-weniger-mehr-als-1000-menschen-protestieren-gegen-gewalt-an-frauen
-> https://twitter.com/femstreikzh
-> https://twitter.com/MegahexF
-> https://twitter.com/sozialismus_ch
-> https://www.instagram.com/feministischerstreik_zh/
-> https://twitter.com/farbundbeton
-> https://twitter.com/FrauenstreikBS
-> https://www.instagram.com/fem_streik_bs/
-> https://twitter.com/SchillerManuela
-> https://twitter.com/__investigate__


SCHWEIZWEITE DEMO GEGEN FEMIZIDE
Samstag, 11. Dezember 2021 – 14 Uhr
Ni una Menos-Platz (ehemals Helvetiaplatz), Zürich
*** Demonstration ist bewilligt und offen für alle Geschlechter! ***
Organisiert von: Ni Una Menos Zürich

Wir gehen auf die Strasse, weil die patriarchale #Gewalt seit der #Pandemie und #Krise in der #Schweiz massiv zugenommen hat. Die Frauenhäuser waren voll und dieses Jahr wurden bereits bis zum August mehr Femizide begangen als im letzten Jahr gesamthaft.

Ein Angriff auf eine*r, ist ein Angriff auf alle!

Alle 10 Tage tötet ein Mann in der Schweiz eine Frau. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. In den allermeisten Fällen handelt es sich bei der ermordeten Person um die Partnerin, Ex-Partnerin oder ein weibliches Familienmitglied.

Diese Femizide erfassen feministische Organisationen anhand von Medienberichten, denn eine offizielle Statistik fehlt bis heute. Zu den Morden an trans, inter und nicht binären Personen gibt es fast keine Informationen, da die Berichterstattung unterschiedliche Geschlechtsidentitäten nicht anerkennt.

Das Leben und die Gesundheit von Frauen wird durch #Flucht, #Vertreibung, #Krieg und #Völkermord, institutionelle und familiäre Gewalt unter ernsthafte Bedrohung gestellt.

Im alltäglichen Leben werden FLINTA (Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre und trans Personen) getötet, weil sie FLINTA sind. Femizide bilden dabei die Spitze des Eisberges der alltäglichen patriarchalen Gewalt.

Gewalt an FLINTA ist strukturell in unseren stattlichen Institutionen verankert und reicht von verbalen und manchmal ganz subtilen Übergriffen bis hin zu psychischer, sexualisierter und offen körperlicher Gewalt. Dabei haben nicht alle FLINTA die gleichen Ressourcen und Möglichkeiten, aus gewaltvollen Beziehungen wieder rauszukommen.

Wir fordern deshalb:
– Die Anerkennung des politischen Begriffes Femizid und dadurch die Anerkennung der systematischen Gewalt gegen FLINTA
– Die Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt als Flucht- und Migrationsgrund
– Den Ausbau von Beratungs- und Unterstützungsangeboten, wie zb ein flächendeckendes Netzwerk von Frauenhäusern und Schutzhäusern für FLINTA und eine 24h-Hotline für Gewaltberoffene
– Umfassende Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt

+++ Die einzig nachhaltige Prävention ist die feministische Revolution! +++

Die Demonstration hat FLINTAS an der Spitze, ist aber OFFEN FÜR ALLE GESCHLECHTER! Kommt zahlreich!
(https://www.facebook.com/events/429085908866570)



Ni Una Menos Brunnen
In der Nacht auf Donnerstag, direkt am Bahnhofsplatz in Zürich wurde der Adolf-Escher-Brunnen rot eingefärbt. Das blutrote Wasser soll auf Femizide aufmerksam machen und mobilisieren für die Demo am Samstag. (Nationale Ni Una Menos Demo in Zürich)
https://barrikade.info/article/4908


Anklage wegen «Kill Erdogan»-Plakat: Heikle Anrufe aus dem EDA
Die Berner Staatsanwaltschaft klagt vier mutmassliche Urheber des «Kill Erdogan»-Plakats an, das 2017 eine internationale Krise ausgelöst hatte. SonntagsBlick-Recherchen zeigen: Das EDA hat mehrmals bei den Ermittlern interveniert – aufgrund von Druck aus der Türkei.
https://www.blick.ch/schweiz/anklage-wegen-kill-erdogan-plakat-heikle-anrufe-aus-dem-eda-id17060570.html


S’organiser, occuper, tout bloquer
Retour sur l’occupation de la cafétéria d’Uni Mail et l’obtention des repas à 5 CHF.
https://renverse.co/infos-locales/article/s-organiser-occuper-tout-bloquer-3351


Protest gegen Peking 2022: Tibet-Aktivisten ketten sich an IOC
Tibet-Aktivisten haben vor dem Sitz des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Lausanne demonstriert. Sie wehren sich gegen die Durchführung der Winterspiele in Peking im kommenden Februar.
https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/lausanne-protest-gegen-peking-2022-tibet-aktivisten-ketten-sich-an-ioc-ld.2226857


+++SPORTREPRESSION
derbund.ch 11.12.2021

Machtspiele vor dem Knüller: Basler Fans zwingen YB in die Knie

Weil Basler Fans trotz geschlossener Gästesektoren am Mittwoch ins Wankdorf wollen, verkauft YB keine Einzeltickets. Es ist die jüngste Episode einer unrühmlichen Posse.

Michael Bucher

Rund um das heiss ersehnte Spitzenspiel zwischen YB und Basel am Mittwochabend ist eine Posse entbrannt. Eine Posse mit Eskalationspotenzial. Eine Posse auch, die nur Verlierer zu hinterlassen scheint.

Was war geschehen? Den Anfang machte die Stadt Bern, indem sie dem Spiel für den ursprünglichen Termin (21. November) die Bewilligung entzog. Die damalige Begründung: Aufgrund einer SBB-Grossbaustelle beim Bahnhof Wankdorf sei eine geregelte Anreise der Basler Fans nicht möglich. Eine Spielverschiebung aufgrund einer Bahnhofbaustelle – das gibts vermutlich nur in der Schweiz.

Jedenfalls zeigten sich die Basler Ultras ob der kurzfristigen Verschiebung wenig erfreut. Was folgte, war eine mutmassliche Provokation gegenüber der Stadt Bern und Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte). So rief die Fanvereinigung Muttenzerkurve dazu auf, sich fürs Nachholspiel vom kommenden Mittwoch bereits am Nachmittag in der Berner Altstadt zu versammeln und am Abend zusammen zum Wankdorfstadion zu marschieren. Dabei würden die Fans statt in SBB-Extrazügen in Regelzügen anreisen.

10’000 Tickets zurückgehalten

Aufgrund dieser Ankündigung soll gemäss Recherchen dieser Zeitung Reto Nauses Sicherheitsdirektion erneut einen Bewilligungsentzug erwogen haben. Die heikle Frage wurde denn auch am Mittwoch an der Gemeinderatssitzung diskutiert. Doch nur wenige Stunden später schien das Problem für die Stadt Bern gelöst. Denn die Swiss Football League verkündete, bis Ende Jahr in den Stadien keine Gästefans mehr zuzulassen. Offizieller Grund: die epidemiologische Lage.

Die eingefleischten Basler Fans hält offenbar auch dies nicht davon ab, nächsten Mittwoch nach Bern zu reisen. «Jetzt erscht rächt – alli uff Bärn!», schreibt die Muttenzerkurve auf ihrer Homepage. Doch das Machtspiel geht noch weiter: FCB-Fans riefen daraufhin auf dem Instagram-Account baselfc1893 dazu auf, Matchtickets zu kaufen für Plätze, welche ausserhalb des Gästesektors liegen.

Dies brachte wiederum YB in die Bredouille. Weil die Durchmischung der beiden Fanlager ein Sicherheitsrisiko darstelle, verkündete YB am Donnerstag, für den Knüller keine Einzeltickets zu verkaufen. Rund 10’000 Plätze würden dadurch leider leer bleiben, führt YB-Mediensprecher Albert Staudenmann auf Anfrage aus. Plätze, die eigentlich YB-Fans zustehen würden.

«Es ist ein Entscheid, der den ganzen Club sehr schmerzt», schreibt YB auf seiner Website. Und dies einen Tag nachdem YB-CEO Wanja Greuel gegenüber dem «Blick» gesagt hatte: «Wir dürfen uns nicht erpressen lassen.»

Und was meint eigentlich Reto Nause dazu, dass ihm Basler Fans auf der Nase herumtanzen und am Mittwoch nach Bern pilgern wollen? Die Antwort aus der Sicherheitsdirektion: kein Kommentar. Auch bei der Frage nach dem Gerücht eines neuerlichen Bewilligungsentzugs geht Nause auf Tauchstation.

Drohte eine Forfait-Niederlage?

Es gingen Gerüchte um, wonach bei einem wiederholten Bewilligungsentzug statt einer Verschiebung ein Forfait drohen könnte. Laut der Swiss Football League (SFL) halten die Reglemente jedoch keine eindeutige Antwort auf diese Frage bereit. «Für eine Forfaitniederlage muss einem Club ein Versäumnis oder eine Schuld nachgewiesen werden können», sagt SFL-Mediensprecher Philippe Guggisberg. Als Beispiel nennt er den FC Vaduz, der es 2010 nicht geschafft hatte, auf dem Heimplatz rechtzeitig den Schnee zu räumen.

Beim Machtspiel zwischen den Basler Fans und der Stadt Bern ist die Lage weniger eindeutig. Wem würde man eine allfällige Forfaitniederlage aufbrummen? Gegenüber einem Bewilligungsentzug durch die Stadt wäre YB ja machtlos. Andererseits: Was kann der FC Basel dafür, wenn einzelne Fans zu provokativen Aktionen aufrufen? Aufgrund dieser kniffligen Ausgangslage scheint ein Forfait wenig wahrscheinlich.
(https://www.derbund.ch/basler-fans-zwingen-yb-in-die-knie-877547077623)


+++RASSISMUS
Rassismus-Vorwürfe gegen Migros-Tochter Aproz
«Man nannte mich Makake, Schneewittchen oder Neger»
Bei den Aproz Sources Minérales SA, einer Migros-Tochter, sei er wegen Rassismus durch die Hölle gegangen und letztlich entlassen worden, berichtet ein junger Familienvater. Das Unternehmen bestreitet die Anschuldigungen entschieden.
https://www.blick.ch/politik/rassismus-vorwuerfe-gegen-migros-tochter-aproz-man-nannte-mich-makake-schneewittchen-oder-neger-id17060404.html


«In der Schweiz muss man Baby Steps machen»
Tatiana Cardoso ist Co-Präsidentin des Instituts Neue Schweiz (INES). Im Interview erklärt sie, warum es die «alte Schweiz» schon längst nicht mehr gibt, wie es war, in der Meitle-Flade als «fremd» abgestempelt zu werden, und warum die Einbürgerung nicht reicht, um in dieser Gesellschaft nicht diskriminiert zu werden.
https://www.saiten.ch/in-der-schweiz-muss-man-baby-steps-machen/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Wie sich der Corona-Widerstand in der Gewaltspirale radikalisiert
In Österreich sind Coronaleugner mittlerweile die größte Bedrohung für die innere Sicherheit. Einige von ihnen wieder in die Gesellschaft zurückzuholen wird eine Herausforderung
https://www.derstandard.at/story/2000131828278/wie-sich-der-corona-widerstand-in-der-gewaltspirale-radikalisiert?ref=rss



tagblatt.ch 11.12.2021

Das noch kleine Fähnlein der Aufrechten: Wie der Ostschweizer Coronawiderstand in der Politik künftig mitbestimmen will

Der politische Coronaprotest «Aufrecht Schweiz» will zu Wahlen antreten. In der Ostschweiz setzt der Verein vor allem auf die Thurgauer Kantonsrätin Barbara Müller. Die Bewegung steht vor einem schwierigen Balanceakt.

Silvan Meile und Marcel Elsener

Barbara Müller politisiert im Abseits. Die 58-jährige Thurgauer SP-Kantonsrätin hat sich mit der eigenen Partei überworfen. Zwischen den Sitzreihen unterhält sich Müller am Mittwoch während der Budgetdebatte im Grossen Rat lieber mit Kollegen anderer Parteien, mit denen sie eine Gemeinsamkeit hat: Fundamentalkritik an der Coronapolitik.

Nach dem Ja zum Covid-Gesetz schlagen Massnahmengegner mit dem Verein «Aufrecht Schweiz» einen neuen Weg ein. Sie wollen zwar keine Partei sein, haben sich aber dennoch zum Ziel gesetzt, künftig an kantonalen und nationalen Wahlen teilzunehmen. Auf der Website taucht Barbara Müller als Vorstandsmitglied und «Kandidatin» auf. Der Thurgau ist nebst St.Gallen einer von sieben Kantonen, in denen der Verein bereits ein Gesicht hat.

Müller äussert sich gegenüber dieser Zeitung nur knapp zu ihren Plänen mit «Aufrecht Schweiz».  «Hier ist alles noch im Fluss, es wird ein Netzwerk geschaffen und was meine politische Zukunft betrifft, so lasse ich dies im Moment offen, das betrifft auch allfällige Kandidaturen.»

Sie nutzt sogleich die Gelegenheit, die mediale Berichterstattung rund um Corona zu kritisieren. Seit zehn Jahren sitzt sie im Grossen Rat. In dieser Zeit ist die sehbehinderte Geologin durch Rechtsstreitereien mit der Invalidenversicherung aufgefallen. Meistens ging es um die Bezahlung persönlicher Hilfsmittel.

Widerstand gegen die Coronapolitik

«Aufrecht Schweiz» ist getragen von Vereinen, die als Widerstand gegen die Coronapolitik entstanden. «Wie ein Blick auf die Mitglieder- und Sympathisantenliste zeigt, deckt die Bewegung das ganze Spektrum zwischen Esoterik, Rechtskonservativismus und Verfassungspurismus ab», stellt die NZZ fest. Ideell ist sie auch mit dem Aktionsbündnis Ostschweiz verbunden, eine von Kybun-Schuhunternehmer Karl Müller im Frühling lancierte Bewegung gegen den Lockdown. Dutzende Ostschweizer Kantons- und auch Nationalräte folgten dem Aufruf.

Heute scheint das Bündnis, das 100’000 Sympathisanten gewinnen wollte und bis heute lediglich 6084 erreichte, auf Eis gelegt zu sein. Ob Politprominenz wie die St.Galler SVP-Nationalrätin Esther Friedli oder FDP-Nationalrat Marcel Dobler ihren Namen im Zusammenhang mit einer Corona-Protestbewegung sehen wollen, die politische Ambitionen hat, ist zu bezweifeln.

SVP-Kantonsrat hat sich bereits wieder zurückgezogen

Zu den Gründern von «Aufrecht Schweiz» gehört auch der Thurgauer SVP-Kantonsrat Oliver Martin. Doch sein Eintrag auf der Website ist bereits wieder gelöscht. Er habe gemerkt, dass er nicht auf zwei Hochzeiten tanzen könne, erklärt er. Seine politische Heimat sei die SVP. Kritisch gegenüber Coronamassnahmen und der Impfung sei er weiterhin, ohne das Virus zu leugnen. Als Ungeimpfter habe er eine Patientenverfügung unterschrieben. Er wolle keiner geimpften Person einen Intensivbettenplatz wegnehmen, sagt er.

Innerhalb der SVP hat die Pandemie zu Spannungen geführt. Natürlich seien alle frei, einer solchen Gruppierung beizutreten, sagt der Thurgauer Parteipräsident Ruedi Zbinden. «Erfreut sind wir aber nicht.» Er kenne «Aufrecht Schweiz» nicht genauer. Bisher sind dort wohl kaum SVP-Mitglieder in Scharen beigetreten.

Barbara Müller könnte sich dank «Aufrecht Schweiz» Chancen ausrechnen. Sie kann eine politische Gruppierung gut gebrauchen. Denn bei der Thurgauer SP wird sie es kaum noch auf eine Wahlliste schaffen. Vielmehr eckt sie weiter an. Sie trat auch schon als Rednerin an Skeptiker-Kundgebungen auf und verklagte Zugbegleiterinnen wegen Nötigung, nachdem es Ärger wegen der fehlenden Maske gab. Und die Partei wirft ihr vor, Personen mit anderen Meinungen zu beleidigen. Die Bezirkspartei Münchwilen hob sie kürzlich in ihrer Abwesenheit aus dem Amt als Präsidentin. Nun droht ihr der Rauswurf aus der SP.

Impfgegner Trappitsch als St.Galler Aushängeschild

Keine Parteiprobleme hat der St.Galler «Aufrecht»-Kandidat: Der in Buchs wohnhafte Naturheilpraktiker Daniel Trappitsch ist Geschäftsführer von «Netzwerk Impfentscheid». Er zählte schon vor Corona zu den bekanntesten Impfgegnern der Schweiz. Trappitsch machte kürzlich als konsequenter Vertreter der «Parallelgesellschaft» Schlagzeilen, weil er die Zahlung von Steuern und Krankenkassen verweigert. Die im Amtsblatt publizierte Betreibung und die entsprechenden Medienberichte bezeichnet er in einer längeren Stellungnahme als «Denunzierung», die ihn bestätige, in einer «kommunistisch-faschistisch linksgesteuerten Zeit» mit seinem Einsatz «für den Erhalt der Freiheitsrechte und der Selbstbestimmung» auf dem richtigen Weg zu sein.

Auf Einladung der Naturheilpraktikerin und Parteifrei-SG-Aktivistin Luzia Osterwalder tritt Trappitsch an diesem Samstag vor angemeldetem Publikum in St.Gallen auf. Auftrittsort nur für Eingeweihte, Titel des Vortrags: «Korruptes System – wie weiter?». Dabei geht es Trappitschs Themenkatalog nach nicht nur ums Gesundheitssystem, sondern auch um die öffentlich-rechtlichen Medien, Politik, Verwaltung, Polizei und das Finanzwesen. «Wegen der vielen Anmeldungen» werde der eineinhalbstündige Vortrag zweimal gehalten, heisst es. Dabei «gelten die Hygieneregeln des Bundesrates» – keine Selbstverständlichkeit, ist doch Veranstalterin Osterwalder wegen Nichteinhaltens der Coronamassnahmen an einem ihrer «Corona-Kongresse» schon gerichtlich gebüsst worden.

Geringe Wahlchancen für Querdenker

Die Ostschweizer Kantone haben das Covid-Gesetz knapper angenommen als die Restschweiz, Innerrhoden hat es sogar abgelehnt. So gross die Coronaskeptiker-Szene ist, so klein dürften die Chancen für politische Mandate ihrer neuen Bewegung sein. Grundsätzlich habe sie ein «Mobilisierungsproblem», sagt Patrick Emmenegger, Politikwissenschaftler an der Universität St.Gallen. «Weil ja gerade die Kritik am System ein Grund ist, sich eben von diesem System zurückzuziehen.»

Zwar hätten namhafte Quereinsteiger im Majorz, also bei Personenwahlen wie den Ständeratswahlen, durchaus Chancen. Aber die «Querdenker» seien hier chancenlos, sagt Emmenegger. Einerseits sei die Konkurrenz besonders stark, weil die etablierten Parteien mit prominenten Namen antreten. Andererseits müsse man fähig sein, über das eigene Lager hinaus Wählerschaft zu mobilisieren – dafür aber sei die Bewegung «zu extrem».

Bessere Karten haben solche Bewegungen bei Proporzwahlen, also für den Nationalrat oder den Kantonsrat, wo Listen und damit Parteien gewählt werden. Aber auch da werde es sehr schwierig, meint Emmenegger. «Ihnen fehlt oftmals die starke Liste, die man bei solchen Wahlen braucht, die Partei als Wahlkampfmaschine und Marke, und in vielen Kantonen die kritische Grösse, damit sie Sitze gewinnen können.» Eine prominente Einzelperson könne kaum eine schwache Liste ziehen.

Ein Label müsse eine neue Bewegung ebenso wie Infrastruktur und Finanzierung erst einmal aufbauen. «Jedes Wählerprozent ist viel harte Arbeit», weiss der Politologe. Es brauche aber meist recht viele Wählerprozente, bevor daraus ein Sitz werde. Emmenegger nennt als Beispiel die FDP im Thurgau, die 2019 trotz eines Wähleranteils von 11,5 Prozent keinen der sechs Nationalratssitze sichern konnte.

In grösseren Kantonen könne eine neue Bewegung eher einen Sitz erlangen, weil dort manchmal auch kleinere Wähleranteile reichten. Beispielsweise holte die Autopartei auf ihrem Höhepunkt 1991 fast alle ihrer acht Nationalratssitze in den grössten Deutschschweizer Kantonen: Zürich, Bern, Aargau, St.Gallen. Damals habe die SVP das rechte Spektrum noch weniger gut abgeholt, heute sei die «Luft» am rechten Rand deutlich dünner.

Mobilisierungskraft der Bewegung noch unklar

Ein grosses Fragezeichen setzt Emmenegger bei der Mobilisierungskraft einer Protestbewegung. Viele Sympathisanten lehnten die Wahl in ein System ab, das ihre Bedürfnisse und Interessen ignoriere. Nach dem Motto «Welchen Sinn hat die Wahl, wenn sie sowieso keinen Effekt hat?» sei deshalb für viele «die Stimmenthaltung die präferierte Form des Protests». Emmenegger vergleicht die Situation mit jener von Trump, der seine Sympathisanten mit dem angeblichen Wahlbetrug mobilisiere, aber sie trotzdem überzeugen müsse, wählen zu gehen. «Man verwendet die radikale Kritik, um die Leute zu mobilisieren, aber sie darf nicht zu radikal sein, weil man ansonsten die anderen Wähler abschreckt.»

Ein schwieriger Balanceakt, der sich bei der neuen Bewegung bereits abzeichne.

Emmenegger glaubt, dass die Protestbewegung «kleiner ist, als man aufgrund ihrer Sichtbarkeit denken könnte. Eine laute, aber nicht allzu grosse Gruppe.» Nichtsdestotrotz bestehe die Möglichkeit, dass sie mit «Hilfe vieler williger Sympathisanten etwas bewegen» könne. Er habe die Debatte in der Schweiz «noch selten so vergiftet erlebt», erklärt Emmenegger. «Solche Emotionen sind oftmals der Boden, auf dem solche organisatorischen Kraftakte entstehen können.»

Die impfkritische MFG in Österreich macht es vor

Derzeit ist die Corona-Protestbewegung mit eigenen Spaltungen beschäftigt. Das zeigt sich auf den einschlägigen Kanälen wie jenen des Thurgauer Aktivisten Daniel Stricker (StrickerTV) ebenso wie bei «Mass-voll», dessen halber Vorstand in den neuen Verein Taraxxa übertrat. Bis zu den Wahlen 2023 (Nationalrat) und 2024 (Kantonsrat) ist noch ein langer Weg. Wenn die aus der Pandemie entsprungene «Bewegung» einen Blumentopf gewinnen wolle, brauche sie Strukturen, Personen, Ressourcen, sagt Politologe Emmenegger.

Der jüngst überraschende Wahlerfolg der impfkritischen Kleinpartei «Menschen – Freiheit – Grundrechte» (MFG) in Oberösterreich, die auf Anhieb 6,2 Prozent Wählerstimmen und drei Mandate schaffte, liege – nebst dem Einbruch der FPÖ – in ihrer Organisation begründet. Die MFG habe sich «klassisch organisiert, als Partei mit Ortssektionen, und genau in diesen Gemeinden war die Partei auch am stärksten».

Von der schwachen Konkurrenz auf der rechten Seite und lokal prominenten Führungsfiguren profitierten in der jüngeren Vergangenheit in der Schweiz namentlich die Lega im Tessin und das Mouvement Citoyens Genevois (MCG) – beides Beispiele, die in der Ostschweiz ihresgleichen suchen.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/frauenfeld/skeptiker-das-noch-kleine-faehnlein-der-aufrechten-wie-der-ostschweizer-coronawiderstand-in-der-politik-kuenftig-mitbestimmen-will-ld.2226385)


+++HISTORY
Bethanien-Besetzer über Vergangenes: „Sich erst mal verwirklichen“
Vor 50 Jahren besetzten Jugendliche das ehemalige Schwesternwohnheim des Bethanienkrankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Sie wollten selbstbestimmt leben.
https://taz.de/Bethanien-Besetzer-ueber-Vergangenes/!5818723/


+++FREIRÄUME
tagblatt.ch 11.12.2021

Eine Ära geht zu Ende: Die Wagenburg der Zigaukler muss weg – einige von ihnen haben noch keine Bleibe gefunden

Die Liegenschaft im Grossholz ist baufällig. Die Ortsbürgergemeinde und die Stadt St.Gallen haben darum den Bewohnenden gekündigt. Das Haus soll im Frühling abgerissen werden. Die meisten Personen sind schon weggezogen, doch einige haben noch keine Anschlusslösung gefunden.

Dinah Hauser

Die stolze Wagenburg der Zigaukler im Grossholz neben der Autobahn A1 nahe bei Abtwil ist nicht mehr. Ihnen wurde gekündigt. Nur noch wenige Personen halten sich hier auf. Am Eingang des Hauses finden sich noch Zeugen der Bewohnerinnen und Bewohner. Zeugen in Form von handschriftlichen Dankesbriefen, Fotos und Notizen. Auch ein Zettel hängt da, der den Abgabetermin des Areals ankündigt.

Das Areal scheint menschenleer an diesem regnerischen Tag. Doch aus einem Wagen bellt ein Hund. Die Türe geht auf und ein Kopf mit braunen Locken lugt hervor. Michael grüsst freundlich und lässt sich auf ein Gespräch ein. Er möchte nicht mit vollem Namen auftreten.

In seiner Wohnung – ein kleiner Lastwagen – hat er alles, was er braucht. Wie eines dieser im Trend liegenden Tiny Houses, nur halt mobil. Hund Lenny mustert die Besucherin, lässt sich streicheln und befindet irgendwann, seinen Ruheplatz im warmen Wagen aufzusuchen.

Eine Bleibe finden, ist schwierig

Michael ist eine der letzten Personen auf dem Areal. Er kann sich nicht vorstellen, fix in eine Wohnung zu ziehen. Und trotzdem muss er bald umziehen. «Einen Abstellplatz zu finden, ist nicht einfach. Und wegen der Coronapandemie ist es noch schwieriger.» Andere seien vorläufig in einer WG oder bei den Eltern untergekommen oder könnten ihr mobiles Zuhause bei Bekannten abstellen. Michael weiss auch von einer Person mit Gemütsverstimmung aufgrund der Kündigung und der schlechten Platzaussichten.

Der Grund für den zwangsweisen Auszug: Das Haus soll abgerissen werden. Hier wurden Dusche, WC und die Waschmaschine genutzt. Draussen wurde eine Küche eingerichtet und eine Feuerstelle mit Sofas drumherum. Doch das gemütliche Beisammensein hat ein Ende. Bald findet die definitive Abgabe statt. Vieles ist schon auf- oder weggeräumt. Michael will noch ein wenig mehr aufräumen. «Wir haben hier eine gute Zeit verbracht. Es liegt mir am Herzen, das Areal sauber zu hinterlassen.»

Der Verein Zigaukl hatte 2007 eine Bauwagen-Siedlung in der Watt oberhalb vom Riethüsli errichtet. Sie gastierten dort eineinhalb Jahre ohne Erlaubnis des Grundeigentümers. Dieser veranlasste daraufhin ein Betretungsverbot. Die Zigaukler zogen weiter ins Lerchenfeld, wo heute der Lidl steht. Wiederum ohne Erlaubnis, denn sie fanden keine Bleibe wegen Vorurteilen und der Gesetzeslage. Die Gruppe wollte auf ihre Wohnform bestehen. Michael stiess zu dieser Zeit zur Gruppe.

Alsbald griff ihnen die Stadt St.Gallen unter die Arme und half mit beim Suchen. Michael erzählt, dass sie einige Orte besichtigen konnten. Doch keiner entsprach den Bedürfnissen. «An einem Ort hätten wir die Wagen nebeneinander aufreihen müssen. Doch das entspricht nicht unserer Wohnart.» Bereits im Riethüsli waren die Wagen so angeordnet, dass ein zentraler Platz mit Feuerstelle entstand, wie ein kleines Dorf.

«Als wir eines Tages im Gebiet Grossholz spazieren gingen, sahen wir das Haus und das Gelände. Da haben wir gefragt, ob wir dahin können», sagt Michael. So kam es, dass die Stadt das Areal von der Ortsbürgergemeinde mietete und dem Verein weitervermietete. Ursprünglich war der Vertrag für fünf Jahre bis 2013 befristet. «Ich bin dankbar, dass der Vertrag immer wieder verlängert wurde», sagt Michael.

Marode Elektrik und Wasserleitung

Doch nun geht eine Ära zu Ende. Die Stadt und die Ortsbürgergemeinde lösen den Mietvertrag auf. Urban Hettich, Leiter Forst und Liegenschaften der Ortsbürgergemeinde, nennt den Grund: «Das Gebäude ist in einem sehr schlechten Zustand. Die elektrischen Installationen sowie die Heizöfen sind sehr alt und stellen eine erhebliche Gefahr dar.» Zudem habe die Wasserleitung kaum mehr Druck, es tröpfelte nur noch aus den Wasserhähnen. Die Zuleitung verläuft unter der Autobahn hindurch. Eine Instandstellung wäre entsprechend teuer. Zudem sei eine Sanierung des Hauses schon bei Mietbeginn im Jahr 2008 ausgeschlossen worden.

Yvonne Bischof, Leiterin der städtischen Dienststelle Liegenschaften, bestätigt dies. «Die Mieterinnen und Mieter waren über den Umstand, dass das Gebäude nur auf Zeit gemietet werden kann von Anfang an informiert.»

Die Gebäudebesichtigung habe im Dezember 2020 stattgefunden, Die Mieterinnen und Mieter seien dann schriftlich im darauf folgenden Februar über die Kündigung informiert worden.

Michael bestätigt den obsoleten Zustand der Wasserleitung und hätte auch gleich einen Vorschlag parat: «Man könnte eine Wanne als Reservoir installieren und das Wasser auffangen. Wenn sie genügend voll ist, dann kann man vernünftig duschen.» Er zieht als Vergleich die WC-Spülung heran, die ebenfalls nach diesem Prinzip funktioniert.

Abbruch im Frühling

Wohnen wird niemand mehr im Grossholz, so viel ist sicher. Die Ortsbürgergemeinde als Eigentümerin lässt das Haus im Frühling abreissen. Das Land wird danach landwirtschaftlich genutzt. «Wir sind im Gespräch mit dem Landwirt, der bereits die umliegenden Flächen bestellt», sagt Urban Hettich. «Er hat durch die Sanierung der Autobahn Land verloren.»

Er habe geprüft, ob es im Landbesitz der Ortsbürgergemeinde für die Zigaukler ein anderes Plätzchen habe, doch er habe nichts gefunden, sagt Hettich. Bei der Stadt klingt es ähnlich. Yvonne Bischof sagt: «Auch wir haben die städtischen Liegenschaften und Grundstücke für eine Anschlusslösung geprüft.» Sie bedauert: «Leider konnte keine Anschlusslösung gefunden werden.» «Man könnte meinen, in einer grossen Stadt wie St.Gallen hätte es Platz für Leute, die so leben wollen wie wir.»

Platz mit Nasszellen

Michael hätte Vorschläge, wie diese Lebensform ermöglicht werden könnte: Etwa eine Gewerbezone für Kleinstunternehmer errichten, mit Recyclingstation, Park- und Stellplätzen mit Stromanschluss sowie Zähler. Oder bei geplanten Neubauten oder auf Industriearealen. Dort wären die Leitungen schon bis zum Grundstück gezogen. «Man könnte einen Container mit Nasszellen hinstellen und wir wären zufrieden.» Einen Ort ohne Wasser wäre schwierig. «Wir sind nicht dreckig und stinken», stellt er klar und begegnet so einem entsprechenden Vorurteil. «Wir wollen auch sauber sein und unser Geschäft verrichten, wie andere Menschen auch.»

Klar gebe es auch schwarze Schafe, die ihren Abfall liegen liessen oder laut seien. Doch Michael findet, dass dies die Ausnahme bleiben soll. Yvonne Bischof bestätigt, dass «das Mietverhältnis sehr gut verlief und es keine Beanstandungen gab». «Auch wir hatten es immer gut mit den Zigauklern», sagt Regina Mock auf Anfrage. Sie und ihr Mann pachten das umliegende Land.

Falls ein Platz für eine Wagenburg geschaffen wird, «dann ist es wichtig dass es rechtlich verhebet.» Er spielt damit drauf an, dass in einer Landwirtschaftszone eigentlich nicht gewohnt werden darf. Ausnahmen sind Landwirte, die das Land bestellen. Im Zusammenhang mit der allgemeinen Not um bezahlbaren Wohnraum denkt Michael an Amerika und dessen Trailerparks. «125 Dollar für ein Eigenheim, das klingt vernünftig.» Ein solcher Ort könne für manchen auch ein Sprungbrett aus einer Schuldenfalle sein, oder um sich Ferien leisten zu können.

Doch nun ist es Zeit, Adieu zu sagen. Im Gespräch merkt man Michael die Wehmut an. Wenige Meter nebenan rauschen die Autos vorbei. «Es ist schon etwas laut», gibt er zu. Wohin es zu Weihnachten geht, weiss Michael noch nicht.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/stadt-stgallen-eine-aera-geht-zu-ende-die-wagenburg-der-zigaukler-muss-weg-einige-von-ihnen-haben-noch-keine-bleibe-gefunden-ld.2223529)