Medienspiegel 8. Dezember 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Grosser Rat will mehr Engagement: Kanton Bern soll sich für afghanische Flüchtlinge einsetzen
Die Berner Kantonsregierung muss den Bund auffordern, mehr bedrohte Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Das hat der Grosse Rat mit knappem Mehr beschlossen.
https://www.derbund.ch/kanton-bern-soll-sich-fuer-afghanische-fluechtlinge-einsetzen-103656981074
-> Motion: https://www.gr.be.ch/gr/de/index/geschaefte/geschaefte/suche/geschaeft.gid-8cb00e7b76ef4a059468f6dbb0bd8f38.html


Nun erhalten alle abgewiesenen Asylsuchenden Nothilfe
Die Nothilfe für abgewiesene Asylsuchende war bisher auf jene beschränkt, die in einem Rückkehrzentrum leben. Wer bei Privatpersonen lebte, ging leer aus. Dies hat der bernische Grosse Rat jetzt geändert. Nun erhalten alle, die auf ihre Rückkehr warten müssen, acht Franken Nothilfe.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/nun-erhalten-alle-abgewiesenen-asylsuchenden-nothilfe?id=12102947


+++SCHWEIZ
Reiseverbot für Vorläufig Aufgenommene
Vorläufig Aufgenommene Geflüchtete dürfen künftig nur noch in Ausnahmefällen aus der Schweiz ausreisen. Die rechtsbürgerliche Parlamentsmehrheit hat entschieden, ein grundsätzliches Reiseverbot ins Gesetz zu schreiben.
https://rabe.ch/2021/12/07/umstrittenes-reiseverbot-fuer-vorlaeufig-aufgenommene/


Probleme beim Familiennachzug: Seine Frau wartet in Kabul, weil Schweizer Beamte monatelang Dokumente prüfen
Seit der Machtübernahme der Taliban sorgen sich viele Afghaninnen und Afghanen in der Schweiz um ihre Ehepartner und Kinder, die noch im Land leben. Doch beim Familiennachzug stossen sie auf erhebliche bürokratische Hürden.
https://www.blick.ch/politik/probleme-beim-familiennachzug-seine-frau-wartet-in-kabul-weil-schweizer-beamte-monatelang-dokumente-pruefen-id17051361.html


+++FREIRÄUME
Eine neue Bibliothek für Bern
Die Politische Bibliothek ist in den Holligerhof 8 gezogen. Dort möchte sie einen Ort zur Recherche und zum Austausch über soziale Bewegungen bieten.
https://journal-b.ch/artikel/eine-neue-bibliothek-fuer-bern/


+++KNAST
Brian gewinnt vor Bundes¬gericht
Nach den mahnenden Worten der Anti¬folter¬kommission und des Uno-Sonder¬bericht¬erstatters sagt nun das Bundesgericht, man müsse den «Fall Brian» anders angehen. Was das bedeutet.
 https://www.republik.ch/2021/12/08/brian-gewinnt-vor-bundesgericht
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/entscheid-des-bundesgerichts-zuercher-obergericht-muss-im-fall-brian-nochmals-ueber-die-buecher
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/vorinstanz-muss-ueber-buecher-bundesgericht-hebt-urteil-im-fall-brian-auf-id17050811.html
-> https://www.20min.ch/story/bundesgericht-hebt-urteil-im-fall-brian-auf-995927968793
-> https://www.watson.ch/schweiz/justiz/580066124-urteil-des-zuercher-obergerichts-im-fall-brian-aufgehoben
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/urteil-des-zuercher-obergerichts-im-fall-brian-aufgehoben-00170390/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/fall-brian-bundesgericht-hebt-obergerichtsurteil-auf?id=12103295
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/boostern-wo-und-wie-im-kanton-zuerich?id=12103487 (ab 08:19)
-> Medienmitteilung Bundfesgericht: https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/6b_0882_2021_2021_12_08_T_d_10_15_22.pdf
– Urteil Bundesgericht: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://12-11-2021-6B_882-2021&lang=de&zoom=&type=show_document



tagesanzeiger.ch 08.12.2021

Foltervorwürfe nicht geklärtÜberraschung im Fall Brian: Bundesgericht hebt Urteil auf

Das Obergericht hat nicht geprüft, ob sich der junge Straftäter in einer Notlage befand, als er einen Gefängnisaufseher angriff. Deshalb muss es den Prozess neu aufrollen.

Liliane Minor

Erneuter Paukenschlag aus Lausanne im Fall Brian: Das Zürcher Obergericht muss den Prozess gegen den als Carlos bekannt gewordenen, 25-jährigen Straftäter wiederholen. Als die drei Richter Brian am 16. Juni dieses Jahres zu 6 Jahren und 4 Monaten Gefängnis verurteilten, taten sie das, ohne ausreichend auf seine Argumente einzugehen, so das Verdikt des Bundesgerichts.

Grund für das höchstrichterliche Urteil sind die schweren Vorwürfe, welche Brians Anwälte vor Obergericht gegen die Zürcher Justiz erhoben hatten. Die Anwälte bezeichneten die Haftbedingungen, denen der junge Mann schon seit seinem zehnten Lebensjahr immer wieder ausgesetzt ist, als Folter – und stützten sich dabei unter anderem auf Gutachten von Folterspezialisten.

Brians Angriff auf einen Gefängnisaufseher – vom Gericht als versuchte schwere Körperverletzung qualifiziert – sei vor diesem Hintergrund als Notwehr zu verstehen, argumentiert Verteidiger Thomas Häusermann. Denn Brian schlug zu, als ihm die Verantwortlichen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies sagten, dass er angeblich zu seinem eigenen Schutz aus einer etwas offeneren Abteilung in die Sicherheitsabteilung zurückversetzt werde. Sein Mandant sei von den früheren Erfahrungen traumatisiert, so Häusermann, deshalb sei ihm sein Ausraster nicht vorzuwerfen: «Es war eine Überlebensreaktion.»

Keine Folter, kein Notstand

Vor Obergericht verfingen diese Argumente nicht. Das dreiköpfige Gremium verwies in seinem Urteil auf einen Entscheid des Bundesgerichts vom März 2021. Darin hatte das oberste Gericht festgestellt, Brians aktuelle Haftbedingungen seien «fraglos äusserst restriktiv» und «durchaus mit dauerndem Arrest vergleichbar», aber sie liessen sich «noch rechtfertigen». Allerdings hätten die Behörden «alle möglichen Anstrengungen für angepasste und grundsätzlich zunehmend zu lockernde Haftbedingungen» zu unternehmen.

Aus diesem Urteil schloss das Obergericht, wenn kein Verstoss gegen das Folterverbot vorliege, so könne sich Brian auch nicht auf einen Notstand berufen. Daher brauche es auch keine weiteren Beweise. Die Gutachten, welche die Verteidigung am Prozess vorlegte, berücksichtigte das Gericht ebenso wenig wie die Tagebucheinträge des Gefangenen, die von ständigen Provokationen und Piesackereien seitens der Aufseher berichten.

Frühere Vorkommnisse ignoriert

Damit verletzte das Obergericht nach Ansicht des Bundesgerichts das rechtliche Gehör des jungen Mannes. Denn das fragliche Bundesgerichtsurteil bezog sich nur auf die Haftbedingungen nach dem Angriff, nicht aber auf frühere Vorkommnisse und Haftsituationen: «Indem sich die Vorinstanz lediglich mit den aktuellen Vollzugsbedingungen, jedoch nicht mit den Bedingungen der vom Beschwerdeführer bereits früher ausgestandenen Strafen und (Zwangs-)Massnahmen auseinandersetzt, verletzt sie ihre Begründungspflicht sowie den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör und stellt den massgebenden Sachverhalt nur unvollständig fest.»

Offen lässt das Bundesgericht, ob die Schilderungen der früheren Haftbedingungen glaubhaft sind und was daraus geschlossen werden kann. «Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, den Sachverhalt selbst festzustellen», heisst es im Urteil. Das Obergericht aber habe sowohl auf die Tagebucheinträge als auch auf die Gutachten einzugehen und zu begründen, wie es diese Beweise würdige.

Mit diesem Urteil ist auch ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verwahrung vom Tisch. Das Obergericht muss den Fall nun ohnehin komplett neu aufrollen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/bundesgericht-hebt-urteil-gegen-brian-auf-623406477642)



nzz.ch 08.12.2021

Brisanter Entscheid: Das Bundesgericht versenkt das Urteil des Zürcher Obergerichts im Fall des Straftäters Brian

Das Obergericht hat nicht genug abgeklärt, ob ein Notstand vorlag, als der junge Straftäter im Gefängnis Personal attackierte und bedrohte. Deshalb muss es den Fall nochmals aufrollen.

Fabian Baumgartner

Der Zürcher Oberrichter Christian Prinz wählte deutliche Worte, als er in diesem Frühsommer sein Urteil im Fall des jungen Straftäters Brian verkündete. Der Fall erinnere ihn an Heinrich von Kleists Novelle «Michael Kohlhaas». Dieser sei Opfer einer grossen Ungerechtigkeit geworden und habe sich entschlossen, zur Selbstjustiz zu schreiten. «Auch im Fall von Brian hat die ungerechte Behandlung in Institutionen dazu geführt, dass sich in ihm Wut und Ohnmacht verstärkten und sich in Gewalt entluden.» Und genau wie Kohlhaas werde Brian mit seinem Kampf untergehen.

In seinem Urteil vom 26. Mai sprach das Zürcher Obergericht eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 4 Monaten sowie eine Geldstrafe gegen den jungen Mann aus – wegen versuchter schwerer Körperverletzung, einfacher Körperverletzung, Sachbeschädigung sowie Beschimpfung und Drohung. Alle Delikte geschahen innerhalb der Gefängnismauern. Brian soll Gefängnispersonal bedroht, beschimpft und attackiert haben. Auf die Anordnung einer ordentlichen Verwahrung, wie sie die Staatsanwaltschaft gefordert hatte, verzichtete das Obergericht jedoch.

Auflehnung wegen Notstandslage?

Doch dieses Urteil hat nun keinen Bestand mehr. Das Bundesgericht hob in einem am Mittwoch publizierten Entscheid das Urteil des Obergerichts auf. Dieses muss sich nun erneut mit der Sache befassen.

Auf Geheiss des Bundesgerichts muss sich das Obergericht nochmals vertieft mit den Haftbedingungen, denen der junge Mann in seinem Leben bereits ausgesetzt war, auseinandersetzen. Das Bundesgericht hält fest, das Obergericht habe die Umstände der früheren Strafen und Zwangsmassnahmen nicht ausreichend aufgearbeitet. Damit verletze es seine Begründungspflicht sowie den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör, heisst es im Urteil vom 12. November.

Die entscheidende Frage dabei lautet: Wurde Brian nur deshalb straffällig, weil er sich gegen menschenunwürdige Haftbedingungen auflehnte?

Genau eine solche Notstandslage machten der 26-Jährige und seine Anwälte geltend. Dafür zogen sie die Vollzugsbedingungen in der Vergangenheit heran. Brian sei seit seinem 10. Lebensjahr wiederholt unmenschlich und erniedrigend behandelt worden. Und die Bedingungen in Einzelhaft, in der er sich seit über drei Jahren befinde, kämen dem Tatbestand der Folter gleich. Das angeklagte Verhalten könne ihm deshalb nicht vorgeworfen werden. Im Gegenteil: Es sei gerechtfertigt gewesen. Der junge Mann müsse deshalb freigesprochen werden.

Diese Forderung hatte die Verteidigung schon während des Prozesses am Obergericht vorgebracht. Doch dieses befand, ein Notstand liege nicht vor. Es berief sich dabei auch auf frühere Entscheide des Bundesgerichts. Dieses hatte sich zuvor tatsächlich bereits mehrfach mit den Haftbedingungen auseinandergesetzt. Es kam unter anderem zum Schluss, aufgrund des Gewaltpotenzials des jungen Straftäters lasse sich die restriktive Einzelhaft gerade noch rechtfertigen. Allerdings müssten die Haftbedingungen bei einem längeren Freiheitsentzug gelockert werden.

Wie das Bundesgericht nun ausführt, habe es sich dabei jedoch um eine isolierte Beurteilung der damals aktuellen Haftbedingungen gehandelt – «ohne Berücksichtigung der Behandlungen durch die Behörden, die der Beschwerdeführer angeblich bereits früher erfahren haben soll».

Mit seiner Begründung verkenne das Obergericht deshalb den für die Beurteilung der angeführten Notstandsfrage relevanten Zeitraum. Der Betroffene mache schliesslich geltend, dass er von den Behörden beziehungsweise vom Staat seit seinem 10. Lebensjahr wiederholt unmenschlich und erniedrigend behandelt worden sei.

Das Obergericht muss bei der Neubeurteilung auch auf die von Brians Anwälten vorgebrachten Tagebucheinträge und Privatgutachten eingehen. Das Bundesgericht hält diesbezüglich fest: «Das Obergericht wird sich in seinem neuen Urteil mit der Argumentation des Beschwerdeführers auseinandersetzen und ausdrücklich festhalten müssen, welche tatsächlichen Feststellungen es seiner rechtlichen Würdigung zugrunde legt.»

«Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl»

Es ist das dritte Mal, dass das Bundesgericht in den letzten Monaten einen Entscheid des Zürcher Obergerichts zum Fall Brian zurückweist. In den beiden vorgängigen Entscheiden ging es um Haftfragen. Auch dort gelangte das Bundesgericht zur Ansicht, das Obergericht kläre die Haftbedingungen zu wenig ab und verletze Brians Anspruch auf rechtliches Gehör, indem es auf die von ihm eingereichten Privatgutachten nicht eingehe.

Welche Auswirkungen der Bundesgerichtsentscheid auf den neu zu fällenden Entscheid des Obergerichts hat, bleibt allerdings offen. Denn die oberste Instanz überlässt die Abklärungen der Vorinstanz. Es sei nicht Aufgabe des Bundesgerichts, den Sachverhalt selbst festzustellen, hält es in dem Entscheid fest. Zwar schildere Brian im bundesgerichtlichen Verfahren sehr ausführlich, welchen Vollzugsbedingungen und Behandlungen er in seinem Leben ausgesetzt gewesen sei. Eine Beurteilung sei dem Bundesgericht jedoch nicht möglich, weil es im Urteil des Obergerichts an entsprechenden Feststellungen und Ausführungen mangle.

Für Brians Verteidiger Thomas Häusermann ist der Entscheid des Bundesgerichts dennoch überaus deutlich. «Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass die Notstandslage nun endlich vertieft abgeklärt werden muss.» Den Fall Brian könne man nur richtig beurteilen, wenn man auch die Haftbedingungen, denen er teilweise seit dem Jugendalter ausgesetzt gewesen sei, berücksichtige. Zudem könnten nun auch die von den Anwälten eingebrachten Gutachten nicht mehr einfach beiseitegewischt werden.

Das Obergericht will nun zuerst die Sachlage analysieren und danach über das weitere Vorgehen entscheiden. Klar ist: Sollte das Obergericht in der Neubeurteilung tatsächlich zum Schluss kommen, dass eine Notstandslage vorlag, hätte dies weitreichende Konsequenzen. Dann müsste es Brian nicht nur in diesem Verfahren freisprechen. Auch die weiteren Strafverfahren, welche die Staatsanwaltschaft derzeit gegen den jungen Straftäter führt, wären dann wohl hinfällig. Aber auch diesbezüglich dürfte das Bundesgericht das letzte Wort haben.

Urteil 6B_882/2021 und 6B_965/2021 vom 12. 11. 21.
(https://www.nzz.ch/zuerich/straftaeter-brian-bundesgericht-versenkt-obergerichts-urteil-ld.1659135 )


+++BIG BROTHER
Parlament regelt künftigen Umgang mit DNA-Spuren
Bei einem Kriminalfall dürfen Ermittlungsbehörden künftig mehr Informationen aus DNA-Spuren eines mutmasslichen Täters herauslesen. Aber nur in Einzelfällen.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/parlament-regelt-kunftigen-umgang-mit-dna-spuren-66062453


Eine Schweizer Firma als Spionageplattform? – Echo der Zeit
Eine Schweizer Firma mit Sitz in Zug soll die technische Drehscheibe sein für Überwachung und Spionage. Das zeigt eine Recherche vom Londoner Bureau of Investigation und der Nachrichtenagentur Bloomberg.Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte geht den Spionage-Vorwürfen nun nach. Er hat eine Vorabklärung gestartet.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/eine-schweizer-firma-als-spionageplattform?partId=12103601
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/datenschuetzer-reagiert-auf-spionagevorwuerfe-um-zuger-firma-144634561


+++POLIZEI DE
Datenvisualisierung: Website sammelt tödliche Polizeischüsse
Auffällig viele Menschen werden von der Polizei in ihrer eigenen Wohnung getötet, in vielen Fällen befanden sich die Betroffenen in einer psychischen Ausnahmesituation. Eine neue Website bereitet Informationen zu Polizeischüssen ab 1976 auf neue Weise auf.
https://netzpolitik.org/2021/datenvisualisierung-website-sammelt-toedliche-polizeischuesse/


+++RASSISMUS
tagesanzeiger.ch 08.12.2021

Gespräch über Migration in der Schweiz«Das macht mich so wütend, wenn mich jemand mit Hochdeutsch anspricht»

Unser Redaktor hat im Gespräch mit dem Bühnen-Duo Uğur Gültekin und Fatima Moumouni die Rollen getauscht und liess sich zum Thema Rassismus befragen – was nicht sehr angenehm war.

Jean-Marc Nia

«Spoken-Word-Poetin Fatima Moumouni und Journalist Uğur Gültekin haben sich verbündet, um der Schweiz den Spiegel vorzuhalten.» So kündigt das Duo seine gemeinsame «postmigrantische Late Night Show» in der Roten Fabrik an. Es soll ein Abend mit Gästen werden, mit Anekdoten, Videobeiträgen und Livemusik. Moumouni gewann dieses Jahr mit ihrem Bühnenpartner den Salzburger Stier, Gültekin dürfte man als schlagfertigen Moderator des Jugendsender Joiz in Erinnerung haben.
Die Rollen werden vertauscht

Ich treffe die beiden Kunstschaffenden im Restaurant Ziegel oh Lac in der Roten Fabrik. Es ist noch früh am Morgen, noch ist niemand da, das kommt mir entgegen.

Der Plan ist nicht nur, zu erfahren, warum der Schweiz überhaupt ein Spiegel im Umgang mit Rassismus und Menschen mit Migrationshintergrund vorgehalten werden muss, sondern auch, ihn mir persönlich vorhalten zu lassen. Die Rollen werden also vertauscht. Zwei Menschen mit Migrationshintergrund stellen mir Fragen. Entstanden ist ein Gespräch über das Selbstbildnis der Schweiz, Rassismus, Eigenwahrnehmung und natürlich über die Frage «Woher kommst du?».

Uğur Gültekin: Wie viele People of Color (POC) arbeiten auf der Züritipp-Redaktion?

Jean-Marc Nia: Würden Sie den Begriff für mich definieren? Sind Sie denn ein POC?

Gültekin: Ja, das bin ich. POC beschreibt abgekürzt alle, die nicht weiss sind. Wenn also eine Person von der weissen Mehrheitsgesellschaft nicht als eine der ihren gelesen wird. Das Leben hat gezeigt: Das werde ich nicht.

Nia: Dann muss ich antworten: Keine.

Fatima Moumouni: Finden Sie es übertrieben, dass wir so einen grossen Wert auf unsere Migrationsgeschichte legen? Wir dazu sogar noch eine Late Night Show machen?

Nia: Das wäre wahnsinnig anmassend, wenn ich diese Frage beantworten würde. Für jemand ist es ein grösseres Thema, für andere vielleicht weniger. Ich habe Freunde in meinem Umfeld, die zum Beispiel die Frage «Woher kommst du?» nicht so störend finden.

Moumouni: Das Herkunftsland meines Vaters definiert mich viel weniger, als die Leute meinen, es mir anzusehen. Für sie ist das viel präsenter im Umgang mit mir, als es für mich ist.

Nia: Und wie ordnen Sie jetzt meine Antwort ein?

Gültekin: Die war nicht doof. Sie sind jetzt erleichtert, oder?

Tatsächlich wische ich mir imaginären Schweiss von der Stirn und merke, was ich mit dieser Geste ausdrücke: Super. Ich bin cool. Ein sehr heikler Schluss, den ich ziehe und den Uğur Gültekin sofort treffend analysiert.

Gültekin: Sie finden jetzt, Sie seien kein Rassist, weil Fatima und ich das gesagt haben. Das sind die spannenden Punkte, an denen Fatima und ich interessiert sind. Doch für mich geht Ihre Antwort auch ein bisschen zu fest in die Richtung, dass das jeder für sich entscheiden soll. Rassismus ist aber auch strukturell und systematisch. Menschen werden etwa nach Aufenthaltsstatus kategorisiert. Das ist rechtlich legitimierte Benachteiligung und Kategorisierung.

Moumouni: Strukturell heisst auch, dass es alle Lebensbereiche beeinflusst. Wenn man sich für einen Job oder für eine Wohnung bewirbt, in eine neue Beziehung tritt: Der Migrationsvorsprung spielt da immer eine Rolle.

Migrationsvorsprung? Migration werde, ausser man wird als Expat bezeichnet, eher als etwas Negatives empfunden, sagt Moumouni. Gültekin und sie sehen in den Geschichten migrierter Menschen aber eine Stärke, die sie wertschätzen wollen. Erfahrungen, durch die man sich eine gewisse Resilienz aneignen musste, also eine psychische Widerstandskraft.

Und dann fügt Gültekin etwas hinzu, dessen ich mir noch nie bei der Verwendung des Begriffs Migrationshintergrund bewusst war: «Es ist eine Aussenbeschreibung. Kaum jemand würde von sich selbst sagen, er habe Migrationshintergrund.»

Moumouni: Was verstehen Sie unter «White Guilt»? Und was ist Ihr Umgang damit?

Nia: Ich muss zugeben, ich kenne den Begriff nicht. Ich nehme an, das hat etwas mit einem Erbe zu tun, das man als Weisser hat. Da bin ich jetzt nicht so ein Fan davon. Ich fühle mich als weisser Mann nicht schuldig. Doch der Geschichte des weissen Mannes muss ich mir bewusst sein. Die Verantwortung trage ich aber nur für mich.

Moumouni: Der Ausdruck «White Guilt» drückt eher den Impuls weisser Menschen aus, bei Situationen auf eine bestimmte Art zu reagieren. Es geht weniger um eine Erbschuld selbst, sondern um den Umgang mit dem Schuldgefühl wegen den eigenen Privilegien und darum, wie man sich deshalb nicht weissen Menschen gegenüber verhält.

Gültekin: Ein praktisches Beispiel: Ein Freund von mir war mal bei einer ihm bekannten Familie zu Besuch. Die sagten ihm irgendwann, dass es so schön sei, dass er bei ihnen sei. Sie hätten sich schon immer für Flüchtlinge eingesetzt. Und jetzt hätten sie einen richtigen Flüchtling bei sich zu Hause.

Moumouni: Das Schlimme an dieser Situation ist, dass es schlussendlich nicht um deinen Freund ging, sondern um die Familie. Dass die gut dasteht. Das ist ein wichtiger Aspekt der «White Guilt».

Moumouni: Hatten Sie schon mal einen rassistischen Moment?

Nia: Als ich vor langer Zeit in einer Bar im Kreis 4 gearbeitet hatte, kam einmal ein älterer schwarzer Mann herein und setzte sich. Und ich fragte ihn auf Hochdeutsch: «Was möchten Sie trinken?» Und er natürlich: «Ich het schaurig gern e Schtange.» Das war mir wahnsinnig unangenehm.

Gültekin: Das macht mich so wütend, wenn mich jemand mit Hochdeutsch anspricht. Dann noch mit diesem Schweizer Akzent. Das regt mich so wahnsinnig auf. Es ist auch verletzend.

Moumouni: So etwas Ähnliches ist mir auch schon passiert. Aber es wäre oberflächlich, zu meinen, dass das jetzt das grösste Problem am Rassismus in unseren Köpfen ist.

Wie sieht das Bild eigentlich aus, das Uğur Gültekin und Fatima Moumouni von der Schweiz haben? Gibt es für sie einen Typus? Nach Meinung der beiden ist die Schweiz ein sehr expressives Land, wenn es um die Nationalidentität geht. Moumouni sagt: «In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so einen echten Appenzeller-Käse-Menschen in Tracht mit Löffeli im Ohr gesehen. Aber wenn Sie mich fragen, was ist ein echter Schweizer, dann kommt mir der in den Sinn.»

Und klar, man könne dann auch von dem Bild sprechen, welches Italien oder Frankreich transportiere. Nur sei das ein blödsinniger Whataboutism, meint Gültekin. Es gehe ja bei ihnen um die Schweiz und ihr Selbstbild, das verzerrt sei.

Gültekin: Gibt es Situationen, in denen Sie merken, dass Sie in bestimmte Muster von Diskriminierung verfallen?

Nia: Wenn ich eine schwarze Person kennen lerne, ist mir bewusst, dass die Person schwarz ist. Da kann ich nicht abstellen. Ich hatte mal ein tolles Erlebnis mit meinem Sohn. Er hatte zwei Fussballtrainer, der eine war Asiate. Als er mir von einem der beiden erzählte, fragte ich ihn, welchen er jetzt meine. Seine Antwort war, der lautere von beiden. Wenn mich das jemand gefragt hätte, ich hätte «nicht der Asiate» gesagt.

Moumouni: Hatten Sie Schiss vor diesem Interview?

Nia: Natürlich! Ich hab ja das Gefühl von mir selber, ziemlich aufgeklärt zu sein. Und trotzdem weiss ich, dass es da ganz viele Fallen gibt, in die ich unbewusst treten könnte. Das finde ich spannend. Ich fühle mich schon ein bisschen wie auf dem heissen Stuhl.

Gültekin: Ich sass als Kind und Jugendlicher die ganze Zeit auf diesem Stuhl und hatte immer dieses Gefühl, anders zu sein. Dass ich vorsichtig sein muss. Dass ich alles richtig machen muss und nichts falsch machen darf. Diese Unsicherheit war ein Lebensgefühl.

Gültekin und Moumouni wollen das Selbstverständnis von Menschen mit Migrationshintergrund mit der Plattform Diasboah! stärken. Der Name ist ein Kofferwort, zusammengesetzt aus «Diaspora» und dem Ausruf «Boah!». Hier sollen Leute zu einer Gemeinschaft zusammenfinden und in einen Dialog treten können. So auch bei der Bühnenshow «Moumouni Gültekin» in der Roten Fabrik.

Also vor einem Publikum, das eh schon auf ihrer Seite ist. Werden da nicht Eulen nach Athen getragen? Es sei nicht in ihrem Interesse, jedes Mal bei null anzufangen. «Wir wollen keine Überzeugungsarbeit leisten», sagt Moumouni. Es sei «fubu: for us, by us», ergänzt Gültekin. «Wir wollen die Show für unsere Leute machen. Mit unseren Leuten meine ich Menschen, die Rassismus erfahren haben, Menschen mit Migrationsvorsprung, die nicht weiss sind. Aber auch für jene, die sich ganz bewusst mit dem Thema auseinandersetzen wollen.»

Gültekin und Moumouni wollen das Selbstverständnis von Menschen mit Migrationshintergrund mit der Plattform Diasboah! stärken. Der Name ist ein Kofferwort, zusammengesetzt aus «Diaspora» und dem Ausruf «Boah!». Hier sollen Leute zu einer Gemeinschaft zusammenfinden und in einen Dialog treten können. So auch bei der Bühnenshow «Moumouni Gültekin» in der Roten Fabrik.

Also vor einem Publikum, das eh schon auf ihrer Seite ist. Werden da nicht Eulen nach Athen getragen? Es sei nicht in ihrem Interesse, jedes Mal bei null anzufangen. «Wir wollen keine Überzeugungsarbeit leisten», sagt Moumouni. Es sei «fubu: for us, by us», ergänzt Gültekin. «Wir wollen die Show für unsere Leute machen. Mit unseren Leuten meine ich Menschen, die Rassismus erfahren haben, Menschen mit Migrationsvorsprung, die nicht weiss sind. Aber auch für jene, die sich ganz bewusst mit dem Thema auseinandersetzen wollen.»



Fatima Moumouni wurde 1992 in München geboren und lebte dort, bis sie 2013 in die Schweiz zog, wo sie im Aargau erst bei ihrem Onkel wohnte. Seit 2015 lebt sie in Zürich. Sie hat Sozialanthropologie, Philosophie und Volkswirtschaft studiert und arbeitet derzeit an ihrem Master in Sozialanthropologie in Bern.

Moumouni ist Spoken-Word-Poetin und gewann im Duo mit ihrem Bühnenpartner Laurin Buser den Salzburger Stier 2021. Mit ihm schrieb sie auch eine eigene Fassung vom «Räuber Hotzenplotz», welche derzeit im Theater Basel zu sehen ist . Im Januar 2022 wird in der Schiffbau-Box ihr Stück «Bullestress» uraufgeführt, welches sie ebenfalls mit Buser zusammen verfasste. Moumouni ist zudem Kolumnistin für das Strassenmagazin «Surprise» und hat ihre eigene Gesprächsreihe «Die Neue Unsicherheit» in der Gessnerallee.
-> https://youtu.be/hZqrTWZ4phI

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Uğur Gültekin

Uğur Gültekin kam 1984 in der Türkei, nahe der syrischen Grenze, zur Welt. Als er vier Jahre alt war, flüchteten seine kurdischen Eltern mit ihm über das Mittelmeer in die Schweiz. Die Familie beantragte politisches Asyl und lebte lange Zeit in Rheineck, St. Gallen. Uğur Gültekin lebt seit 2006 in Zürich.

Gültekin ist durch den Jugendsender Joiz bekannt geworden, wo er das Format «Joiz in the Hood» moderierte. Lange hostete er ausserdem den legendären Freestyle-Rap-Event «Freestyle Convention». Als Journalist arbeitete er unter anderem für MTV Schweiz und Vice International . Zurzeit ist er bei der WOZ für die Social-Media-Kanäle verantwortlich und publiziert dort auch eigene Texte. Zudem ist er Produzent von diversen Videoformaten mit seiner eigenen Agentur Amikaro. Aktuell hat er als Musiker unter dem Namen Urabi bereits drei türkischsprachige Singles veröffentlicht. Weitere sollen folgen.
-> https://youtu.be/Cq0oM3NUTFo
(https://www.tagesanzeiger.ch/das-macht-mich-so-wuetend-wenn-mich-jemand-mit-hochdeutsch-anspricht-665607655523)


+++RECHTSPOPULISMUS
Weihnachtsessen abgesagt: Berner Restaurant will SVP-Fraktion nicht bewirten
Im Restaurant Malso nahe des Bahnhofs ist die Stadtberner SVP nicht erwünscht: Ihre Anfrage für ein Weihnachtsessen wurde von den Betreiberinnen abschlägig beantwortet.
https://www.20min.ch/story/berner-pop-up-lokal-will-svp-fraktion-nicht-bewirten-534010835344


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Skeptiker fühlen sich verraten: Ex-SVP-Präsident Toni Brunner lässt sich doch impfen
Der ehemalige SVP-Präsident und Nationalrat Toni Brunner will sich doch noch gegen Corona impfen lassen – zur Enttäuschung der Impfskeptiker in gewissen Telegram-Kanälen.
https://www.blick.ch/politik/skeptiker-fuehlen-sich-verraten-ex-svp-praesident-toni-brunner-laesst-sich-doch-impfen-id17051919.html


Mordpläne auf Telegram
Politiker im Visier von Impfgegnern
Die Diskussion um die allgemeine Impfpflicht führt zu einer noch stärkeren Radikalisierung der Coronaleugner-Szene, die vor allem in Chats auf dem Messengerdienst Telegram zu Gewalt aufruft.
https://www.zdf.de/politik/frontal/corona-radikalisierte-impfgegner-mordplaene-auf-telegram-100.html


Radikalisieerte Telegram-Gruppen: „Diese Menschen haben vor, den Staat anzugreifen
Reporter Arndt Ginzel hat verdeckt mit radikalen Gegnern der Coronapolitik gechattet. Dabei wurde unter anderem über illegale Waffenkäufe gesprochen. Hier berichtet er von seinen Erfahrungen.
https://www.mdr.de/video/mdr-videos/a/video-580072.html


Coronavirus: Spital Grabs wehrt sich gegen Skeptiker-Lügen
Das Spital Grabs SG rüttelt mit einem Video auf: Gezeigt werden Szenen, welche in Zeiten des Coronavirus Alltag sind. Das Feedback darauf ist vor allem positiv.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-spital-grabs-wehrt-sich-gegen-skeptiker-lugen-66061400


Michael Wendler teilt Impfverschwörung zu Mirco Nontschew (†52)
Michael Wendler teilt auf Telegram eine Corona-Verschwörungstheorie zum Tod von Mirco Nontschew. Der Komiker starb im Alter von 52 Jahren.
https://www.nau.ch/people/welt/michael-wendler-teilt-impfverschworung-zu-mirco-nontschew-52-66062317


Personalien verweigert: Maskenverweigerin prügelt auf St. Galler Polizist ein
Eine Frau, die ohne Maske in einem St. Galler Geschäft herumlief, weigerte sich, ihre Personendaten anzugeben. Als ein Polizist einschritt, griff sie diesen tätlich an. Sie wird angezeigt und erhielt eine Wegweisung ausgesprochen.
https://www.blick.ch/schweiz/ostschweiz/personalien-verweigert-maskenverweigerin-pruegelt-auf-st-galler-polizist-ein-id17051622.html
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/stgaller-maskenverweigerin-greift-polizisten-an-00170413/


+++HISTORY
Schweizer Saisonnierstatut – Saisonniers mussten sich zwischen Arbeit und Familie entscheiden
Wegen dem Saisonnierstatut lebten Kinder von den Eltern getrennt oder mussten sich verstecken. Heute fordern sie Gerechtigkeit.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/schweizer-saisonnierstatut-saisonniers-mussten-sich-zwischen-arbeit-und-familie-entscheiden


Die Schweiz soll eine Kommission zur Beurteilung von NS-Raubkunst bilden
Die Schweiz soll eine unabhängige Kommission für den Umgang mit NS-Raubkunst bilden, fordert ein Parlamentarier. Andere Nationen haben solche Institutionen seit Jahrzehnten.
https://www.swissinfo.ch/ger/ns-raubkunst_die-schweiz-soll-eine-kommission-zur-beurteilung-von-ns-raubkunst-bilden/47174520