Medienspiegel 1. Dezember 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BASEL
Gesuch von Sans-Papiers abgelehnt: Angehende Pflegerin soll kein Härtefall sein
Als bei ihr eingebrochen wird, ruft eine junge Frau die Polizei. Das wird der Frau ohne Aufenthaltsbewilligung zum Verhängnis. Denn nun droht ihr die Ausschaffung.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-gesuch-von-sans-papiers-abgelehnt-angehende-pflegerin-soll-kein-haertefall-sein-ld.2222872



Basler Zeitung 01.12.2021

Basel ist bei Aufenthaltsbewilligungen streng: Sans-Papiers soll ausgewiesen werden – trotz Lehrstelle in der Pflege

Das Basler Migrationsamt hat den Antrag einer 22-jährigen Kolumbianerin auf eine Aufenthaltsbewilligung abgelehnt. Sie hofft nun auf die Milde der Härtefallkommission.

Leif Simonsen

Carmen (Name geändert) bangt. Das Schicksal der 22-jährigen Kolumbianerin liegt in den Händen der Behörden. Am Donnerstag entscheidet die Basler Härtefallkommission, ob sie in der Schweiz bleiben darf. Das Migrationsamt ist zum Schluss gekommen, dass sie kein Anrecht auf einen Aufenthalt hat. Sie bringt nicht alle Voraussetzungen mit, die eine sogenannte Sans-Papiers für eine Aufenthaltsbewilligung braucht. Carmen ist in der Schweiz integriert, hat hier Freunde sowie eine Tante, sie spricht mittlerweile ziemlich gut Deutsch und hat sogar eine Lehrstelle in einer Institution für Demenzkranke in Aussicht. Sie sagt: «Ich träume davon, mich in der Schweiz niederzulassen und hier zu arbeiten.»

Sie erfüllt fast alle Voraussetzungen, um hierzubleiben. Der Bund hat in seiner Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit definiert, dass Sans-Papiers während der Grundausbildung – also auch während der Lehre – einen Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung stellen können, wenn sie gut integriert sind, ein Gesuch des Arbeitgebers vorliegt und mindestens fünf Jahren hier zur Schule gegangen sind. Vermutlich hat das Migrationsamt sich an dieser Bestimmung orientiert, als es Carmen die Aufenthaltsbewilligung verweigerte. Sie besucht erst seit drei Jahren das Zentrum für Brückenangebote.

Basel-Stadt bezeichnet sich als liberal

Die Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel wirft dem Migrationsamt in Basel-Stadt vor, die Ermessensspielräume nicht zu nutzen. In anderen Kantonen habe sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass die buchstabengetreue Umsetzung der Verordnung deren Ziel verfehle. Roberto Lopez, Co-Leiter der Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel, stellt sich auf den Standpunkt, dass die Forderung von fünf Jahren Schule gerade für diejenigen, die als Teenager in die Schweiz kommen, unrealistisch sei. «Viele Sans-Papiers in diesem Alter finden eine Lehrstelle. Dieser Bildungsweg ist jedoch ohne Härtefallregelung nicht möglich», sagt er.

Von einem Kanton, der sich bei der Beantwortung eines parlamentarischen Vorstosses zum Thema Legalisierung von Sans-Papiers als schweizweit «einer der liberalsten» bezeichnete, hätte er einen anderen Entscheid erwartet. «Der Blick auf den Kanton Baselland zeigt, dass es auch anders geht», sagt Lopez. Im Landkanton hätten in der jüngeren Vergangenheit zwei von der Anlaufstelle begleitete Sans-Papiers eine Aufenthaltsbewilligung bekommen, die wie Carmen nur drei Jahre hier zu Schule gegangen seien. Auch in anderen Kantonen sei die Bewilligungspraxis lockerer als in Basel-Stadt.

«Der Bund sendet klare Signale, dass man auch ohne die fünf Jahre Schulzeit einen Antrag einreichen soll», sagt Lopez. Und vor dem Hintergrund des Pflegendenmangels in der Schweiz sei es doppelt unverständlich, warum man einer Lernenden in diesem Bereich den Aufenthalt verwehre.

«Allein der Gedanke daran ist wie Sterben»

Das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) verweist auf Anfrage auf das Ausländer- und Integrationsgesetz, das die Grundlage für die Entscheide in der ganzen Schweiz sei. «Im Gegensatz zu den meisten anderen Kantonen verfügt der Kanton Basel-Stadt über eine Härtefallkommission», sagt JSD-Sprecher Toprak Yerguz auf Anfrage. Es bestehe also in Basel-Stadt eine zusätzliche Ebene, die die Einschätzung des Migrationsamts überprüfe.
Carmens grosse Hoffnung liegt nun bei dieser Härtefallkommission. Was eine Bestätigung des Migrationsamtsentscheids für sie zur Folge hätte, mag sie sich gar nicht ausdenken. Sie müsste zurück zu ihrer Familie nach Cali, in diese Stadt, die für die Drogenkartelle berühmt ist und die «wirklich so schlimm ist, wie sie in den Dokumentationsfilmen dargestellt wird», wie sie sagt. Ihr Traum von einer Ausbildung in der Pflege würde platzen, denn die ist in Kolumbien teuer – ihre Familie könnte sich die nicht leisten. «Allein der Gedanke daran, alles in der Schweiz zu verlieren, ist wie Sterben», sagt Carmen.
(https://www.bazonline.ch/sans-papiers-soll-ausgewiesen-werden-trotz-lehrstelle-in-der-pflege-496987242915)


+++ST. GALLEN
Grossteil der Flüchtlinge in Buchs stellt keinen Asylantrag: Ihre Ziele sind Frankreich und England
In den letzten Monaten ist die Zahl der an den Bahnhöfen Buchs und St. Margrethen aufgegriffenen Flüchtlinge sprunghaft gestiegen. Gemäss aktuellen Kenntnisstand der Kantonspolizei benutzen die illegal eingereisten Personen die Schweiz lediglich als Transitland, mit der Absicht, nach Frankreich und England weiterzureisen
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/werdenberg/buchs-grossteil-der-fluechtlinge-in-buchs-stellt-keinen-asylantrag-ihre-ziele-sind-frankreich-und-england-ld.2222604


+++SCHWEIZ
In Polizeigewahrsam an Protestaktion gegen Mario Gattiker
Mario Gattiker erhält von der Universität Fribourg als „Experte des Migrations- und Asylrechts“ den Ehrendoktortitel. Er überzeuge die Rechtswissenschaftliche Fakultät durch die „Kombination von grosser Gestaltungskraft, vertiefter Expertise, Loyalität und einem ausgeprägten Sensorium für die grosse Bedeutung des demokratischen Rechtsstaats.“
(…) Um all diesen Entrechtungen entgegenzutreten und die Annahme dieser Ehre als ehrlos zu entlarven, gingen Personen vom Migrant Solidarity Network, Poya Solidaire und droit de rester, die sich für die Rechte von und mit geflüchteten Menschen einsetzen, heute an Gattikers Vortrag an der Universität Fribourg.
Und dort geschah eine weitere Entrechtung. Ohne Intervention der Universität, die diesen Ehrendoktortitel verleiht, und die Gattiker als Person beschreibt, dem die Grund- und Menschenrechte ein grosses Anliegen seien, wurden (6) 2 Personen vom Migrant Solidarity Network von der Polizei bei der Protestaktion mit Transparenten in Polizeigewahrsam genommen. Sie wurden am späten Abend wieder freigelassen
https://migrant-solidarity-network.ch/2021/12/01/in-polizeigewahrsam-an-protestaktion-gegen-mario-gattiker/



nzz.ch 01.12.2021

Karin Keller-Sutter: «Wenn der Schutz der EU-Aussengrenze nicht funktioniert, kann es auch keine Reisefreiheit innerhalb von Europa geben»

Die Justizministerin fordert koordinierte Massnahmen gegen die Sekundärmigration. Auch müsse Europa die illegale Einwanderung in den Schengenraum verhindern können.

Elena Lynch, Christina Neuhaus

Sie sind kürzlich von einer Reise nach Griechenland und Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt. In beiden Ländern leistet die Schweiz Asylhilfe in Millionenhöhe. Doch die Menschen wollen weiter. Was läuft falsch?

Nur 2 Prozent der Migranten, die nach Bosnien kommen, stellen dort auch ein Asylgesuch. Die meisten wollen in den Schengenraum. Ich bin daher klar der Meinung, dass die EU den Westbalkan stärker einbinden und unterstützen müsste. Es braucht eine gemeinsame europäische Rückführpolitik. So hätte man viel mehr Wirkung gegenüber den Drittstaaten, aus denen die Migranten kommen.

Griechenland ist anders als Bosnien ein EU-Staat. Kann man da nicht erwarten, dass sich das Land an das Migrationsabkommen hält?

Griechenland steckt wirtschaftlich in Schwierigkeiten. Die Sozialhilfekosten belasten den Staat enorm. Der griechische Asyl- und Migrationsminister sagte mir, dass Griechenland schon Mühe habe, die eigene Bevölkerung genügend zu unterstützen. Nicht einig waren wir uns darüber, dass die Personenfreizügigkeit faktisch auch für Flüchtlinge gilt. Wenn man auswählen kann, in welchem europäischen Land man als Flüchtling leben will, ist das der Anfang vom Ende des Dublin-Systems.

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer kritisierte kürzlich Griechenland, weil es Flüchtlinge einfach weiterziehen lässt. Auch will er den Grenzschutz im Osten verstärken. Unterstützen Sie diese Forderungen?

Ich kann Horst Seehofers Position verstehen: Beim deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind seit Anfang Jahr 34 000 Asylanträge von anerkannten Flüchtlingen aus Griechenland eingegangen. Das ist fast die Hälfte aller Asylanträge in Deutschland. Diese Sekundärmigration ist zur Belastungsprobe für das ganze europäische Asylsystem geworden. Gemeinsam mit Deutschland und anderen EU-Ländern haben wir der EU-Kommission in einem Brief geschrieben, dass wir das unterbinden sollten. Neben dieser Herausforderung muss Europa auch die illegale Einwanderung in den Schengenraum verhindern können. Wenn der Schutz der EU-Aussengrenze nicht funktioniert, kann es auch keine Reisefreiheit innerhalb von Europa geben.

Viele Flüchtlinge reisen derzeit über Weissrussland ein. Die EU-Staaten werfen Machthaber Lukaschenko vor, Asylsuchende gezielt an die Grenzen bringen zu lassen, um den politischen Druck auf Westeuropa zu erhöhen.

Meine Amtskollegen in der EU sehen darin eine Erpressung gegenüber dem Schengenraum, sie sprechen gar von hybrider Bedrohung. Es ist der Versuch einer Destabilisierung, indem Weissrussland Menschen als Waffen einsetzt. Ich finde das verwerflich.

Wie soll Europa auf diesen Druck reagieren?

Europa müsste gegenüber Lukaschenko viel robuster auftreten. Die illegale Migration in den Schengenraum muss man mit einem guten Grenzschutz verhindern. Situationen wie in Polen oder Litauen sind hingegen politisch zu bereinigen – und zwar nicht nur in Minsk, sondern auch in Moskau. Ich sage es jetzt einmal so diplomatisch wie möglich.

An den europäischen Aussengrenzen werden Flüchtlinge immer wieder mit Gewalt zurückgedrängt. Was halten Sie von der Forderung nach legalisierter Einwanderung?

Die Aussengrenzen müssen geschützt werden, natürlich unter Einhaltung der Grundrechte. Legale Zugangswege gibt es schon heute, zum Beispiel in Form von Resettlement-Programmen des UNHCR, an denen sich auch die Schweiz beteiligt. Der Forderung nach zusätzlichen «legal pathways» für Migrantinnen und Migranten stehe ich hingegen skeptisch gegenüber. Weltweit sind über 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Auch wenn sich die europäischen Länder zur Übernahme einer gewissen Anzahl zusätzlicher Menschen einigen könnten, bliebe der Druck enorm. Es gibt kein perfektes Migrationssystem. Aber bei allen Unzulänglichkeiten überzeugen mich Resettlement-Programme als Ergänzung zur Hilfe vor Ort aus humanitärer Sicht am meisten.

Weshalb?

Bei Menschen aus Resettlement-Programmen handelt es sich um anerkannte Flüchtlinge. Sie werden einer Sicherheitsprüfung unterzogen und von der Schweiz auf ihre Integrationsbereitschaft überprüft. Dieser Prozess dauert Monate. Die Schweiz nimmt auf diesem Weg die Schwächsten auf: Frauen, Kinder und Ältere, die es sonst nicht hierher schaffen würden.

Die Schweiz hat immer wieder Resettlement-Flüchtlinge aufgenommen: Ungarn, Tibeter, Ex-Jugoslawen. Dennoch stellte sich die Schweiz gegen ein Resettlement-Programm für Afghanistan-Flüchtlinge. Wieso?

Wir nehmen heute schon afghanische Flüchtlinge auf, über das laufende Resettlement und natürlich über das Asylverfahren. Ich war Anfang Oktober an der Konferenz der Innenminister der Schengenstaaten. Die Forderungen des UNHCR nach zusätzlichen Kontingenten haben bei den Innenministern kaum Widerhall gefunden. Prioritär sei Hilfe vor Ort. Auch die Schweiz hat ihren Beitrag für humanitäre Hilfe um 33 Millionen auf insgesamt 60 Millionen Franken aufgestockt.

Die meisten Asylgesuche werden derzeit von Afghanen gestellt. An fünfter Stelle kommen Gesuche aus Algerien, obwohl Migranten aus diesem Land kaum Chancen auf Aufnahme haben. Hält das beschleunigte Verfahren, was es versprach?

Ja. Seit ich das Justizdepartement übernommen habe, haben wir fast alle altrechtlichen Fälle abgebaut. Wir haben noch 130, davor waren es über 11 000. Seit wir das beschleunigte Verfahren haben, stellen an der Südgrenze nur noch 10 Prozent aller Migranten ein Asylgesuch. Wir konnten vor der Corona-Pandemie 40 Prozent der Asylsuchenden, die bereits in einem anderen europäischen Staat registriert worden waren, im Dublin-Verfahren zurückführen. Bei Wegweisungen in Drittstaaten ist die Schweiz in 55 Prozent aller Fälle erfolgreich. In den EU-Ländern liegt diese Quote bei knapp 30 Prozent. Aber die Frage nach den vielen Anträgen von Algeriern ist berechtigt. Ihre Schutzquote liegt bei 1,4 Prozent. Ich war im Frühling in Algerien und bin zuversichtlich, dass die Rückführungen wieder zunehmen werden, wenn sich die Pandemiesituation im Land verbessert hat.

Stellen Sie sich manchmal die Frage, ob es die Schutzwürdigsten bis in die Schweiz schaffen?

Diese Frage stellt sich im Asylrecht nicht. Menschen in einem Asylverfahren werden nach dem geltenden Asylrecht beurteilt: Entweder sind sie schutzwürdig, oder sie erfüllen die Asyleigenschaften nicht – und dann müssen sie zurück, sofern dies zumutbar und zulässig ist. Mit Ihrer Frage treffen Sie aber einen Punkt: Oft schaffen es die Schwächsten gar nie in die Schweiz. Genau deshalb beteiligen wir uns an den Resettlement-Programmen. Weil das Kontingent 2020/2021 wegen Corona nicht ausgeschöpft wurde, haben wir die Plätze für das Programm 2022/23 von 1600 auf 1900 Plätze erhöht.

Eine Untersuchung hat kürzlich Fälle von unangemessener Gewalt in Bundesasylzentren aufgezeigt. Befürchten Sie, dass die Missstände zunehmen, wenn mehr Flüchtlinge kommen?

Nein. Der Bericht von Altbundesrichter Oberholzer hat gezeigt, dass Grund- und Menschenrechte in den Asylzentren eingehalten werden. Wir sprechen hier von durchschnittlich 2000 Personen, die sich in den Asylzentren aufhalten, und 700 Sicherheitskräften. Oberholzer hat drei Vorfälle identifiziert. Das darf natürlich nicht passieren, und ich erwarte, dass sich das nicht wiederholt. Aber man muss auch anerkennen, dass die Arbeit in den Zentren sehr anspruchsvoll ist.

Die Medienberichterstattung war stark von den NGO beeinflusst. Die «Rundschau» von SRF hat dreimal über die angeblich systemische Gewalt in den Zentren berichtet.

NGO haben die Aufgabe, Kritik zu äussern und auf Fehler hinzuweisen. Damit habe ich kein Problem, es ist richtig, wenn jemand von aussen hinschaut. Das Staatssekretariat für Migration steht ständig im Kontakt mit diesen Organisationen und nimmt ihre Kritik ernst. Zum Teil wird aber übers Ziel geschossen: etwa wenn im Zusammenhang mit den Vorfällen in den Bundesasylzentren Foltervorwürfe gemacht werden. Das war völlig überzogen und respektlos gegenüber echten Folteropfern.

Während linke Parteien regelmässig die Aufnahme von mehr Flüchtlingen fordern, schürt die SVP die Angst vor Migration. Produziert parteipolitischer Druck in der Flüchtlingsfrage nicht vor allem Aktionismus?

Eine Zuwanderungspolitik ohne parteipolitische Bewirtschaftung wird es nie geben: Da gibt es zu starke Emotionen, zu viele Interessen. Umso wichtiger ist es, dass die Behörden ihre Arbeit korrekt, aber mit Pragmatismus und Vernunft erledigen. Im Grossen und Ganzen gelingt uns das. Das Schweizer Asylwesen hat international einen guten Ruf.

Parteipolitik prägt auch die Schweizer Rechtsprechung. Die Justizinitiative, über die im November abgestimmt wird, fordert deshalb ein Losverfahren für Bundesrichter als Ersatz für den freiwilligen Parteienproporz. Wären Richter ohne Parteibuch die besseren Richter?

Das Losverfahren ersetzt in erster Linie die demokratische Wahl. Das schwächt nicht nur die demokratische Legitimation des Bundesgerichts, es schwächt auch das Parlament. Ich kenne kein Land, in dem die obersten Richter durch Losverfahren bestimmt würden. Auch Parteilose haben eine politische Haltung. Nur ist bei parteilosen Richtern nicht transparent, für welche Werte und Überzeugungen sie stehen.

Wäre ein Losverfahren nicht demokratischer?

Im Gegenteil. Mit dem Losverfahren würde die demokratische Legitimation des Bundesgerichts geschwächt. Zudem würde eine vom Bundesrat eingesetzte Fachkommission bestimmen, wer überhaupt am Losverfahren teilnehmen darf. Das ist eine Machtverschiebung weg vom Parlament, hin zur Regierung und zum Expertentum. Mit dem Los würden auch nicht mehr die fähigsten Bundesrichterinnen und Bundesrichter «gewählt», sondern die, die am meisten Glück haben. Ich sehe nicht, inwiefern dieses System demokratischer sein sollte.
(https://www.nzz.ch/schweiz/illegale-einwanderung-karin-keller-sutter-fordert-massnahmen-ld.1652757)


+++ÄRMELKANAL
Ärmelkanal: Nach Kentern von Flüchtlingsboot erheben Überlebende schwere Vorwürfe
Nur zwei Menschen haben das Bootsunglück im Ärmelkanal überlebt. Britische und französische Behörden hätten ihre Notrufe empfangen, aber nicht gehandelt, sagen beide.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-12/aermelkanal-gekentertes-fluechtlingsboot-vorwuerfe-ueberlebende
-> https://www.derstandard.at/story/2000131577706/schwere-vorwuerfe-der-ueberlebenden-nach-untergang-von-fluechtlingsboot


+++GRIECHENLAND
Journalist auf Lesbos festgenommen
Behörden hielten Filmemacher Tim Lüddemann fest
Griechische Polizisten haben auf Lesbos den Journalisten Tim Lüddemann festgenommen. Laut dem Filmemacher hielten die Behörden ihn für zwei Stunden fest. Immer wieder beklagen Medienschaffende die Behinderung ihrer Arbeit an den europäischen Außengrenzen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159169.pressefreiheit-journalist-auf-lesbos-festgenommen.html


+++EUROPA
Krise an der Grenze zu Belarus: EU will Asylregeln zeitweise aufheben
Abschiebungen sollen einfacher werden, Asylprozesse länger dauern dürfen: Die EU-Kommission will Polen, Lettland und Litauen wegen der Grenzkrise erlauben, Schutzrechte von Migranten vorübergehend aufzuheben.
https://www.spiegel.de/ausland/grenze-zu-belarus-eu-kommission-eu-will-asylregeln-zeitweise-aufheben-a-19173e08-1d85-46c6-92d8-68bec6bc1a1f
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-12/fluechtlinge-belarus-eu-asylregeln-aufhebung
-> https://www.watson.ch/international/eu/444657515-eu-will-in-der-grenzregion-zu-belarus-abschiebungen-vereinfachen
-> https://www.watson.ch/international/polen/690086317-polen-begrenzter-zugang-zu-belarus-grenzgebiet-fuer-journalisten
-> https://www.nau.ch/news/europa/eu-kommission-will-asylregeln-an-belarus-grenze-temporar-aufheben-66057351
-> https://taz.de/Lage-an-der-Grenze-Belarus-und-Polen/!5819567/
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/neues-regime-an-eu-ostgrenze?partId=12099974
-> https://www.srf.ch/news/international/migrationsstreit-mit-belarus-eu-kommission-will-haerteres-regime-an-der-ostgrenze-aufziehen



nzz.ch 01.12.2021

Verschärfung des Asylregimes und Sanktionen: So bremst die EU den Zustrom von Migranten über Weissrussland

Mit einem neuen Paket an Sanktionen gegen Minsk will Brüssel die Instrumentalisierung von Migranten durch Weissrussland abstellen. Das Asylrecht wird für vorerst sechs Monate verschärft.

Andreas Ernst, Daniel Steinvorth, Brüssel

Nach der «hybriden Attacke» Weissrusslands auf die EU bleibt die Lage angespannt. Rund 10 000 Migranten harren nach Einschätzung des polnischen Grenzschutzes weiter hinter der EU-Aussengrenze aus. 8000 Personen befinden sich in polnischen, litauischen und lettischen Empfangszentren, und etwa 10 000 sind weiter nach Deutschland gereist.

Für den weissrussischen Machthaber Alexander Lukaschenko sind die Asylbewerber ein nützliches Druckmittel gegenüber der EU, das er so schnell nicht aus der Hand geben will. Nachdem Polen unlängst gedroht hatte, seine Grenzen auch für den Handel zu schliessen, drohte Lukaschenko seinerseits, keine Energielieferungen aus Russland mehr durchzuleiten.

Und so erhält auch Brüssel den Druck gegen das Regime in Minsk aufrecht. Mitte November einigten sich die Mitgliedstaaten auf das mittlerweile fünfte Paket an Sanktionen gegen Weissrussland. Am Mittwoch diskutierten die EU-Botschafter über die letzten Details. Vorab durchgesickert war, dass die nationale Fluggesellschaft Belavia und der Sprecher des Aussenministeriums, Anatoli Glas – jedoch nicht Aussenminister Wladimir Makei – auf der erweiterten Sanktionsliste stehen werden.

Bisher hat die EU 166 Personen und Organisationen aus Weissrussland mit Einreiseverboten und Kontosperren belegt, weil sie an Wahlfälschung oder schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Nun sollen zusätzlich 17 weissrussische Beamte sowie 11 Organisationen auf der Liste geführt werden. Neben diversen Kadern der Sicherheitskräfte, Richtern und Staatsanwälten gehören auch die syrische Charterfluggesellschaft Cham Airlines und der türkische Pass- und Visumsdienstleister VIP Grub dazu. Beide Unternehmen haben sich nach Einschätzungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes, der die Sanktionen prüft, als Schlepper betätigt.

Eine Fluggesellschaft als Schlepper

Im Fall von Belavia scheint dies besonders eindeutig. «Migranten, die die Aussengrenze der EU überqueren möchten, sind mit Flügen von Belavia aus einer Reihe von Ländern des Nahen Ostens nach Minsk geflogen. Um dies zu erleichtern, hat Belavia neue Flugrouten eröffnet und die Anzahl der Flüge auf bestehenden Strecken erweitert», heisst es in dem EU-Dokument. Das neue Sanktionenpaket ist am Mittwochabend beschlossen worden und kann am Donnerstag in Kraft treten.

Als wenig brauchbar gelten die vorsichtig konzipierten Wirtschaftssanktionen, die Brüssel im Juni gegen Minsk verhängte. Mit Einfuhrverboten für die EU wurden damals unter anderem Güter der Öl- und Düngemittelindustrie belegt. Gemäss weissrussischen Regierungsstatistiken wurden trotzdem von Januar bis September Waren im Wert von sieben Milliarden Dollar, und damit fast doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres, in die EU verkauft. Die Importe aus Weissrussland bestehen fast ausschliesslich aus Erdölprodukten, Kali- und Stickstoffdünger.

Aber auch migrationspolitisch legt die Kommission jetzt nach, nachdem sie vom Rat der Staats- und Regierungschefs den Auftrag dazu erhalten hat. Die Rechte von Asylsuchenden werden in Weissrusslands Nachbarländern Polen, Litauen und Lettland eingeschränkt. Die Massnahmen gelten vorerst für sechs Monate, können aber verlängert werden.

Damit, so Vizepräsident Margaritis Schinas, reagiere die EU auf die «Instrumentalisierung der Migranten» durch Minsk. Ähnliche Versuche habe es schon früher seitens der Türkei oder Marokkos gegeben. Die Verschärfung der Regulierungen sei gedeckt durch den «Vertrag über die Arbeitsweise der EU». Es sei geplant, sie als Massnahme für ausserordentliche Lagen dauerhaft in den Schengener Grenzkodex einzuschreiben. So erweise sich die EU als widerstandsfähig gegen Druckversuche und gleichzeitig solidarisch mit den Staaten an den Aussengrenzen.

Die Innenkommissarin Ylva Johansson betonte, die «Flexibilisierung» der Prozeduren an der Grenze bedeute nicht, dass die fundamentalen Rechte der Migranten verletzt würden. Der Anspruch auf ein individuelles Asylverfahren bestehe weiter, und es gelte das «Non-refoulement»-Gebot, wonach keine Person in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem sie gefährdet ist. Anders als Beobachter im Vorfeld vermuteten, werden auch Pushbacks nicht legalisiert, sondern bleiben verboten.

Geschlossene Empfangszentren in Grenznähe

Die entscheidende Massnahme in dem Paket ist wohl die Einrichtung von geschlossenen Empfangszentren in Grenznähe. Sie verhindern, dass Migranten, nachdem sie ihr Asylgesuch gestellt haben, weiter wandern. Stattdessen müssen sie dort bleiben, bis das Gesuch abschliessend behandelt ist. Die maximale Dauer dafür soll nicht mehr als 16 Wochen betragen. Dabei würden die Bewerber angemessen versorgt und hätten Anspruch auf Rechtsberatung.

Auch die Rückführung soll vereinfacht und beschleunigt werden. Allerdings hat sich gezeigt, dass für ihre praktische Durchführung weniger die Regulierungen der EU zählen als vielmehr der politische Wille des Herkunftslandes, seine Bürger wieder aufzunehmen.

Auch dabei, sagte Schinas, seien Kommission und Mitgliedsstaaten dank vereintem Einsatz weitergekommen. Nach Angaben der Kommission haben Sanktionen und ihre Androhung gegenüber Fluggesellschaften sowie Druck und Hilfsangebote an die Adresse der Herkunftsländer den Zustrom von Migranten abreissen lassen. Aus Minsk wurden bisher 2000 Rückreisen durchgeführt. 6000 Personen sind aus Polen in ihre Heimatländer zurückgebracht worden.
(https://www.nzz.ch/international/migrationskrise-die-eu-antwortet-weissrussland-mit-neuen-sanktionen-ld.1658076)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Riesen Transpi drop am Zürcher HB!
Die Türkei mordet mit Chemiewaffen!
Aktions Video: http://streamable.com/81q67n
Wir – eine Gruppe solidarischer Internationalist:innen – haben am Fr 26.11 das Dach des zürcher Hauptbahnhofes besetzt, ein riesiges Transparent ausgebreitet und mit Flugblättern darauf aufmerksam gemacht, dass der türkische Staat in den Bergen Kurdistans im Nordirak chemische Waffen gegen die kurdisch-türkische Freiheitsbewegung einsetzt. Sie greifen in ihrem faschistischen Krieg zu diesem völkerrechtlich geächteten und barbarischen Mittel – doch die Guerilla wird siegen!
https://barrikade.info/article/4888


Bau eines Schneemanns kostete Gebühren: Demonstrieren soll in Baden künftig gratis sein
Für die Bewilligung von Kundgebungen wird in Baden derzeit eine Gebühr erhoben. Kurios war der Fall vor einigen Monaten, als eine Frau mit einem Schneemann auf den Klimawandel aufmerksam machte und dafür ins Portemonnaie greifen musste. Gian von Planta von den Grünliberalen verlangt nun eine Überarbeitung des Reglements.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/baden/baden-bau-eines-schneemanns-kostete-gebuehren-demonstrieren-soll-in-baden-kuenftig-gratis-sein-ld.2222811


+++SPORTREPRESSION
Ausweispflicht für Fans – Basler Polizeidirektorin schafft sich viele Gegner
Die Regierungsrätin Stephanie Eymann setzt vermehrt auf Repression. Beim Thema Fussball stösst sie an ihre Grenzen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/ausweispflicht-fuer-fans-basler-polizeidirektorin-schafft-sich-viele-gegner
-> https://telebasel.ch/2021/12/01/was-wuerde-eine-id-pflicht-im-joggeli-bringen-frau-eymann/?channel=105100


+++POLIZEI VD
Stellungnahme gegen Polizeigewalt
29 Kollektive, Verbände und politische Organisationen richten sich mit einem offenen Brief erneut an die Behörden.
Im Zusammenhang mit den Mobilisierungen für Mike Ben Peter und anderen Opfern von Polizeigewalt, haben sich B. Métraux und P-A. Hildbrand (die beiden Verantwortlichen der Polizei auf Kantons- und Kommunalebene) in ihrer Antwort an das Kollektiv Kiboko schamlos aller Verantwortung der im Kanton Waadt begangenen rassistischen Verbrechen entzogen.
Während die Polizei mehr als drei Jahre nach dem Tod von Mike Ben Peter weiterhin ungestraft Schwarze Menschen tötet, richten sich 29 Kollektive, Verbände und politische Organisationen mit einem offenen Brief erneut an die Behörden.
https://barrikade.info/article/4890


+++RASSISMUS
Exotisiert, sexualisiert, kriminalisiert
Im Afrozensus wurden erstmalig die Rassismuserfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland erhoben
Schwarze Menschen in Deutschland erfahren Diskriminierung in allen Lebensbereichen – und nach ganz spezifischen Mustern. Das ist das Ergebnis des ersten Afrozensus. Die Verfasser fordern die Bundesregierung zum Handeln auf.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159143.anti-schwarzer-rassismus-exotisiert-sexualisiert-kriminalisiert.html
-> https://afrozensus.de/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
400 Menschen demonstrieren in Zürich gegen Maskenpflicht an Schulen
Massnahmen-Gegner demonstrieren am Mittwoch-Nachmittag gegen die Masken-Pflicht an Schulen. Auch Kinder sind mit dabei.
https://www.nau.ch/news/schweiz/400-menschen-demonstrieren-in-zurich-gegen-maskenpflicht-an-schulen-66056453
-> https://twitter.com/farbundbeton/status/1466035304725426182
-> https://twitter.com/__investigate__/status/1466040984920330247/photo/1
-> https://twitter.com/farbundbeton
-> https://twitter.com/__investigate__


Die Freiheit, die sie meinen
Woche für Woche fordern ideologisierte Corona-Leugner*innen gemeinsam mit der organisierten Rechten »Freiheit«. Welche Freiheit ist da eigentlich gemeint?, fragt Natascha Strobl und schaut sich den Begriff einmal genauer an.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159157.corona-leugner-die-freiheit-die-sie-meinen.html


Weder Pferd noch Kuh
Gefährlicher Corona-Hype um ein Entwurmungsmittel für Tiere – Ivermectin kann für Menschen hochgiftig sein
Vor allem in sozialen Medien geistern Erzählungen zur vermeintlichen Wunderwaffe Ivermectin gegen Covid-19 schon länger herum. Mit dem Präparat werden eigentlich Parasiten bekämpft, vor allem bei großen Haustieren.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159171.ivermectin-weder-pferd-noch-kuh.html


Alternative Medizin? Natascha Strobl analysiert das Problem mit den Heilpraktiker:innen.
Was ist „alternative“ Medizin? Kann „alternative“ Medizin bei Corona funktionieren? Oder ist es reine Geschäftemacherei ohne Beweise? Politologin Natascha Strobl analysiert das Problem mit den Heilpraktiker:innen.
https://www.moment.at/story/alternative-medizin-bei-corona


«Trauriger Clown»: Marco Rima erntet nach Abstimmungs-Schlappe Spott
Marco Rima setzte sich für ein Nein zum Covid-Gesetz ein. Nach den deutlichen Abstimmungsergebnissen wird er mit spöttischen Kommentaren überschüttet.
https://www.nau.ch/people/aus-der-schweiz/trauriger-clown-marco-rima-erntet-nach-abstimmungs-schlappe-spott-66056942



nzz.ch 01.12.2021

Was steckt hinter «Aufrecht Schweiz»?

Die Skeptiker-Szene formiert sich als neue politische Kraft, die sich weder links noch rechts positionieren will. Was sie eint, ist eine starke Neigung zu Esoterik und Verschwörungstheorien.

Christina Neuhaus

Unter dem Namen «Aufrecht Schweiz» wollen Gegner der Corona-Politik künftig an kantonalen und nationalen Wahlen teilnehmen. Wie die Vereinigung am Dienstag mitgeteilt hat, will sie allerdings keine neue Partei gründen. Man verstehe sich als Teil der Bürgerrechtsbewegung und wolle aktiv für die Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Grund- und Menschenrechte einstehen.

Von der Partei ausgeschlossen

Doch wer steht eigentlich hinter der neuen Organisation, die laut Communiqué die Meinungsfreiheit retten und die Demokratie wiederherstellen will? Wie ein Blick auf die Mitglieder- und Sympathisantenliste zeigt, deckt die Bewegung das ganze Spektrum zwischen Esoterik, Rechtskonservativismus und Verfassungspurismus ab. Beigetreten sind die «Freunde der Verfassung», die Bewegungen Lozärn stoht uf, Bürger für Bürger, Aktionsbündnis Ostschweiz, Aletheia, SOS Gesundheitsberufe, Aktionsbündnis Aargau-Zürich, Verband Freie KMU, Netzwerk Impfentscheid, Aktionsbündnis Urkantone, Zertifikatsfreie Bildung, Lehrernetzwerk Schweiz und Public Eye on Science.

Als Co-Präsidenten des neuen Vereins amten Patrick Jetzer und Peter Eberhard. Bei Jetzer handelt es sich um einen ausgebildeten Chemielaboranten und ehemaligen Aussendienstler eines Impfstoffherstellers. Weil er sich als Organisator an Corona-Skeptiker-Demonstrationen beteiligte, wurde sein Arbeitsverhältnis beendet. Eberhard repräsentierte als ehemaliger Berner Grossrat die BDP und war Mitgründer der mittlerweile aufgelösten Minipartei DU – Die Unabhängigen Bern. Als Aktuar amtet das Gesicht des «Aktionsbündnisses Urkantone», der Schwyzer IT-Unternehmer Josef Ender. Zum Gründungsteam von «Aufrecht Schweiz» gehören weiter der St. Galler Naturheilpraktiker Daniel Trappitsch und die Thurgauer SP-Kantonsrätin Barbara Müller.

Die Massnahmengegnerin Barbara Müller ist in ihrer Partei allerdings nicht mehr gelitten. Ihre Bezirkspartei wählte sie in ihrer Abwesenheit als Präsidentin ab, und die Kantonalpartei hofft, dass die SP Schweiz sie aus der Partei ausschliesst.

Dieses Schicksal teilt sie mit Urs Hans, einem der drei Kandidaten, die im Kanton Zürich zu den Wahlen antreten wollen. Der ehemalige Grüne wurde von seiner Kantonalpartei bereits letztes Jahr ausgeschlossen. Der Landwirt, der sich vor Jahren bis vor das Bundesgericht gegen die Impfung seiner Kühe gegen die Blauzungenkrankheit gewehrt hatte, verbreitete im Zürcher Kantonsrat Verschwörungstheorien. Eine seiner Thesen lautet, die Pharmaindustrie treibe Impfungen voran, weil sie später an den Schäden, die diese in der Bevölkerung anrichteten, viel Geld verdienen werde.

Ebenfalls in Zürich kandidieren will Joyce Küng. Sie engagierte sich bei der Vereinigung «Mass-voll!», arbeitet als Kolumnistin für die «Weltwoche» und schürte vor der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz Zweifel an den demokratischen Prozessen in der Schweiz.

Zusammengehalten wird die heterogene Vereinigung durch ihre gemeinsame Abneigung gegen die Pandemiepolitik des Bundes und ihre Angst um die Meinungsfreiheit. Man müsse, sagte der Sprecher Ender am Dienstag, «den offenen Diskurs pflegen und unsere Schweizer Demokratie wiederherstellen».

Menschenwürde wichtiger als das Recht auf Leben

Laut eigenem Verständnis positioniert sich die Vereinigung weder links noch rechts. Auch wolle man sich «klar von jeglicher Form von Extremismus und Radikalismus abgrenzen». Wie aus dem Leitbild hervorgeht, will die Vereinigung unter anderem den Einfluss der Grosskonzerne begrenzen und eine Abkehr vom Schweizer Parteiensystem einleiten: Bei der Besetzung «hoher Amtsstellen (Richter, Stimmenauszähler)» dürfe die Parteizugehörigkeit keine Rolle mehr spielen. Stadt-, Kantons- und Bundesratswahlen sollten «keine Amtswahlen mehr sein». Wer Finanzdirektor oder Justizministerin werden wolle, solle sich in einer Bewerbungswahl durchsetzen müssen.

Als ethisches Leitbild dient «Aufrecht Schweiz» die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in der Version von 1948. Daraus leitet die Vereinigung ihren radikalen Freiheitsbegriff ab: Gebe es innerhalb der Menschenrechte scheinbare Widersprüche, seien Menschenwürde und Freiheit höher zu gewichten als das Recht auf Leben.
(https://www.nzz.ch/schweiz/esoteriker-und-verschwoerungstheoretiker-wollen-ins-parlament-ld.1657867)



tagesanzeiger.ch 01.12.201

Interview mit Verhaltensforscherin: Sie weiss, wie man Impfgegner überzeugt

Heidi Larson unterscheidet drei Gruppen von Menschen mit Impf-Widerstand. Die Anthropologin sagt, welche in der Schweiz vorherrscht, und wie man mit Unwilligen verhandelt.

Andrian Kreye

Frau Larson, hätten Sie gedacht, dass die Pandemie so lange dauern würde?

Ich habe nicht erwartet, dass es so lange dauern würde. Die Impfstoffe haben uns als Gesundheitsbehörden zuversichtlicher, vielleicht zu zuversichtlich gemacht. Sie haben auch enorm dazu beigetragen, die Zahl der Todesfälle und die Zahl der Krankenhausaufenthalte zu verringern, aber das reicht nicht aus. Vor allem mit der Delta-Variante und jetzt mit den Nachrichten über die neue Omikron-Variante.

Was sollten wir denn angesichts Omikron tun?

Wir müssen mit den strengen Massnahmen Zeit gewinnen. Wir wissen noch nicht, wie tödlich sie ist, wie übertragbar und ob die derzeitigen Impfstoffe ausreichend Schutz bieten. Wir hoffen, dass wir in den nächsten Wochen mehr wissen, bis dahin müssen wir die Menschen weiterhin dazu auffordern, sich impfen zu lassen, Masken zu tragen und Zusammenkünfte zu minimieren.

Mehr können wir nicht tun?

Doch. Wir müssen immer wieder einen Schritt zurücktreten und schauen, wo sind die Fehler im System? Und damit meine ich nicht die Infrastruktur, sondern gesellschaftliche, politische und kulturelle Aspekte. Wie können wir Zusammenhalt schaffen? Da sind wir nicht gut aufgestellt.

Wie zeigt sich das?

Ich beobachte natürlich vor allem den extremen Widerstand gegen politische Massnahmen. Andererseits gibt es Menschen, die geimpft wurden und trotzdem weiter das Gefühl haben, in Gefahr zu sein. Die sind wütend auf die andere Seite. Die Situation hat sich verschärft und polarisiert, und das liegt zum Teil daran, dass die Menschen die Nase voll haben. Für sie geht das schon viel zu lange immer so weiter. Das ist eine psychologische Belastung für die Menschen.

Historisch betrachtet, was war bei der Spanischen Grippe von 1918 anders, warum waren die Gesellschaften da nicht so polarisiert?

Es gab damals keine Impfstoffe. Und auch nicht die globale Vernetzung und das Bewusstsein für das, was überall die ganze Zeit vor sich geht. Die haben meiner Meinung nach dazu beigetragen, dass nicht nur Informationen, sondern auch Fehlinformationen verbreitet werden. Damals unterdrückten viele der alliierten Partner die Informationen über die Grippe, weil sie ihre Bevölkerung auf den Krieg konzentrieren wollten. Der Grund, warum sie Spanische Grippe genannt wird, ist ja nicht, weil sie in Spanien begann, sondern weil Spanien unabhängiger war und anfing, sie in den Medien zu veröffentlichen. Und so kamen die ersten Nachrichten aus Spanien, obwohl die Krankheit auch in anderen Ländern im Umlauf war. Wir haben jetzt das gegenteilige Problem, wir haben zu viele Informationen, und viele sind falsch.

Warum dauert die Pandemie denn so lange?

Ein grosser Fehler bei vielen Vorbereitungsmassnahmen war, dass wir davon ausgingen, dass die Menschen angesichts der Massen von Menschen, die sterben und sich infizieren, das Richtige tun würden. Und auch die Politiker. Aber die Realität ist, dass sie es nicht getan haben. Für mich und meine Arbeit ist das ein wichtiges Thema, weil es einige der Dinge ins Rampenlicht rückt, die ich schon lange untersuche und über die wenig geredet wird. Zum Beispiel dass Politiker die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Krankheit im Widerspruch zur Wirtschaft betrachten. Das ist der wichtigste der Faktoren, die ihre Entscheidungen beeinflussen. Und auch die Öffentlichkeit sieht das ja so. Deshalb glaube ich, dass wir die Gesundheitswissenschaften mit den Politik-und Sozialwissenschaften zusammenbringen müssen. Das fehlt in unseren Bereitschaftsplänen.

Gibt es bei Impfkampagnen immer ein politisches Element?

Mandate und Massenkampagnen lösen immer politischen Widerstand aus. Und eine unserer Achillesfersen in Bezug auf Impfungen und Immunisierungsprogramme ist, dass Impfstoffe weltweit sehr abhängig von grossen Unternehmen sind. Sie werden von der Regierung reguliert, empfohlen und manchmal sogar vorgeschrieben, was in Ordnung ist, wenn man mit seiner Regierung einverstanden ist. Aber das führt auch zu Meinungsverschiedenheiten, wenn man das nicht ist.

Was sind einige Beispiele für politisch motivierten Impfwiderstand?

Beim Polio-Boykott in Nigeria spielte die Politik eine grosse Rolle. In den Jahren 2003 bis 2004 gab es zunächst in fünf Bundesstaaten im muslimischen Norden einen Boykott der Polioimpfung. Da wurden Gerüchte verbreitet, die Impfstoffe seien nicht sicher, sie würden die Menschen unfruchtbar machen. Dies geschah vor dem Hintergrund mehrerer Ereignisse: Bei den Präsidentschaftswahlen hatte ein muslimischer Kandidat aus dem Norden gegen einen christlichen Kandidaten aus dem Süden verloren. Sie wollten also die neue Regierung in Lagos schwächen. Ausserdem gab es ein Gerichtsverfahren gegen Pfizer, weil ein Kind im Zusammenhang mit einer Meningitis-Studie gestorben war. Es handelte sich zwar nicht um einen Impfstoff, aber es schürte ein gewisses Misstrauen. Und dann war da noch der 11. September. Sie waren überzeugt, dass der Westen versuchte, die Muslime anzugreifen. Es gab also alle möglichen lokalen und geopolitischen Gründe. Es war dann der Gouverneur von Kano, der den Boykott ausrief.

Wäre die Kinderlähmung bereits ausgerottet, wenn es in Nigeria keinen Widerstand gegeben hätte?

Beweise gibt es nicht, aber wir wissen, dass aufgrund des Boykotts in Nordnigeria in den Jahren 2003 bis 2004 etwa 20 Länder erneut mit dem nigerianischen Stamm infiziert wurden, die für poliofrei erklärt worden waren. Ein nigerianischer Polio-Stamm wurde in Indonesien gefunden, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass er über Mekka eingeschleppt wurde und indonesische Pilger in Mekka von nigerianischen Pilgern angesteckt wurden. Und insgesamt kostete es das «Global Polio Program» 500 Millionen Dollar, um den Schaden wiedergutzumachen.

Wo ist der Widerstand gegen Covid-Impfungen besonders stark?

In den USA, da sind es die republikanischen Bundesstaaten. Wobei natürlich nicht alle Republikaner automatisch Impfgegner sind. Und in Deutschland. Da natürlich auch nicht überall. In Europa gibt es vor allem in der Schweiz, in Österreich und im bayerischen Raum Gruppen, die eher homöopathisch, naturheilkundlich orientiert sind. Und dann gibt es die Rechtsextremen, da geht es mehr um Freiheit, Anti-Repression, Anti-Kontrolle.

Warum schlagen sich denn Spanien und Portugal gerade so gut?

Die Bevölkerung von Portugal hat ein gutes Vertrauensverhältnis zur Regierung, das macht einen grossen Unterschied. Spanien wurde von Corona anfangs sehr hart getroffen, und niemand in Spanien will das noch einmal erleben. Dort gab es mit die härtesten Abriegelungen, man konnte nicht einmal nach draussen gehen. Die Kinder waren für lange Zeit nicht in der Schule.

Wie kommunizieren oder verhandeln Sie mit Widerständigen?

Ich versuche zu verstehen, was der Auslöser für den Widerstand ist. Und einzusehen, dass man nie eine totale Umkehr erreichen wird. Man muss Kompromisse finden. Zwang spornt Widerstand nur an, das ist ja bekannt. Das war auch der Auslöser für die allererste Anti-Impf-Liga im 17. Jahrhundert bei der Bekämpfung der Pocken. Es war nicht der Pockenimpfstoff, es war das erste Mandat, das den Protest auslöste. Was die Proteste damals beruhigte, war, dass die britische Regierung eine Verweigerungsklausel einführte. Die Leute hatten die Möglichkeit, das Impfen aus Gewissensgründen zu verweigern. Und dann hatten sie das Gefühl, eine Wahl zu haben. Ich versuche aber manchmal, erst einmal ganz andere Themen zu finden, bei denen wir uns einigen können.

Zum Beispiel?

Im Zusammenhang mit Covid frage ich erst mal, wie geht es Ihnen? Wie sind Sie während Covid zurechtgekommen? Was brauchen Sie? Lassen wir das Problem der Impfstoffe oder der Abriegelung einmal beiseite. Was vermissen Sie am meisten? Was wünschen Sie sich zurück? Und dann überlegen wir uns, wie wir das erreichen können. Und in diesem Zusammenhang sollten wir einige dieser Massnahmen einbringen, die zeigen, dass wir alle auf der gleichen Seite stehen, weil wir die gleichen Dinge wollen wie Sie. Vielleicht haben Sie auch Ideen innerhalb Ihrer eigenen Gruppen.

Aber gibt es nicht auch Glaubenssysteme, die für Vernunft und Logik unerreichbar bleiben? Neulich meinte ein Anthroposoph, dass die Impfung seinen Inkarnationszyklus durcheinanderbringe. Wie wollen sie da argumentieren?

Einige Menschen müssen sich eben von der Gesellschaft absondern, während dieser Sturm vorüberzieht. Wenn ihr Inkarnationszyklus nicht mit den Massnahmen in Einklang gebracht werden kann, wenn ihr Inkarnationszyklus andere Menschen töten wird.

Das wäre wieder eine Einschränkung der Rechte. Das schafft mehr Widerstand.

Ich habe mich viel mit Rechten beschäftigt, als ich bei der UN tätig war. Die Menschen sehen Rechte oft absolut. Das ist aber nicht der Fall. Man hat bestimmte Freiheiten, bis diese Freiheiten anfangen, anderen Menschen zu schaden.

Ich stelle mir gerade vor, wie sich die Zentren homöopathischer Glaubenssysteme kollektiv sozial vom Rest der Gesellschaft distanzieren.

Das ist wie der Bibelgürtel in den Niederlanden. Oder die Amish-Community.

Das wirkt sehr dystopisch.

Ich habe mich vielleicht etwas zu krass ausgedrückt. Sie müssen sich eben so verhalten, dass sie keinen anderen schaden. Ich habe hier keine Patentrezepte. Im Idealfall findet man ein paar Leute in der Gemeinschaft, die bereit sind, sich impfen zu lassen. Und mit denen entwickeln sie dann eine Strategie.

Nennen Sie mir ein Beispiel.

In einigen muslimischen Gemeinden gab es zum Beispiel Probleme damit, dass einige dieser Impfstoffe nicht als halal angesehen wurden. Der Polio-Impfstoff, der Schluckimpfstoff, besteht aus Gelatine, die auch aus Schweinefleisch hergestellt wird. In Grossbritannien wurde auch der nasale Grippeimpfstoff für Kinder zu einem Problem, weil die Gelatine vom Schwein den Impfstoff in der Nase hält. Aber wenn man sich mit den religiösen Führern zusammensetzt, akzeptieren sie – mit ein, zwei Ausnahmen, mit denen man sich gesondert auseinandersetzen muss –, dass unser oberstes Ziel das Leben und die Gesundheit unserer Kinder ist und es keine Alternative gibt. Aber die Leute müssen dann untereinander zu dem Kompromiss kommen. Das ist wie bei Friedensverhandlungen. Das braucht viel Zeit, braucht viel Arbeit, und wenn es brennt, haben Sie die nicht.

Würde das nicht funktionieren, wenn man es einfach vorschreibt? Es sind ja nur noch Minderheiten, die ungeimpft sind und den Rest der Bevölkerung gefährden und in wirtschaftliche Geiselhaft nehmen.

Hier und dort versucht man ja genau das. Aber dann gibt es eben Menschen, die ihre Jobs kündigen, weil sie sich nicht an die Vorschrift halten wollen. Bei den Pocken hat man das getan, und manchmal musste man das dann eben mit dem Militär durchsetzen. Aber das geht in der Art von Gesellschaft, in der wir leben, nicht.



Führende Forscherin

Die Anthropologin Heidi Larson (64) ist die führende Forscherin auf dem Gebiet, das sie selbst «Vaccine Reluctance» nennt, Impfzurückhaltung. Sie ist Professorin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Mit ihrem «Vaccine Confidence Project» arbeitet sie aktiv daran, Widerstand gegen Impfkampagnen zu überwinden.
(https://www.tagesanzeiger.ch/sie-weiss-wie-man-impfgegner-ueberzeugt-963503664140)


+++HISTORY
AL Zürich fordert: Bührle-Sammlung soll der Stadt geschenkt werden
Einen «Befreiungsschlag» nennt die Alternativen Liste (AL) der Stadt Zürich ihre Forderung: Die Bührle-Stiftung soll ihre Sammlung der Stadt Zürich schenken. Die AL verspricht sich davon einen freie Provenienzforschung und eine «ungeschönte» Darstellung der Sammlung.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/raubkunst-al-zuerich-fordert-buehrle-sammlung-soll-der-stadt-geschenkt-werden-ld.2222762