Medienspiegel 28. August 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++LUZERN
Städte bieten Hilfe für Afghanistan an: Stadt Luzern will Flüchtlinge – der Bund blockt ab
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zwingt tausende Zivilisten zur Flucht. Erneut positioniert sich eine Allianz, bestehend aus 16 grösseren und kleineren Städte der Schweiz. Auch die Stadt Luzern setzt sich für eine Direktaufnahme der Flüchtlinge in den Städten ein. Das Begehren stösst beim Bund auf taube Ohren.
https://www.zentralplus.ch/stadt-luzern-will-fluechtlinge-aber-der-bund-blockt-ab-2177243/


++++GRIECHENLAND
Griechenland macht dicht!
Kein Einlass für afghanische Geflüchtete
https://www.heise.de/tp/features/Griechenland-macht-dicht-6175819.html


+++MITTELMEER
Sea-Eye 4 zu zweiter Rettungsmission aufgebrochen
Nach zehn Wochen Stillstand ist das Rettungsschiff “Sea-Eye 4” der Regensburger Seenotrettungs-Organisation auf dem Weg ins Mittelmeer, um Menschen zu retten. Das Schiff werde dort dringend gebraucht, die Seenotfälle hätten sich gehäuft, so Sea-Eye.
https://www.br.de/nachrichten/bayern/sea-eye-4-zu-zweiter-rettungsmission-aufgebrochen,ShMrbjl



Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa sind am Samstag (28. 8.) 539 Bootsflüchtlinge angekommen. Das sei «eine der grössten Anlandungen der letzten Zeit», sagte Bürgermeister Totò Martello. Die Migranten waren zuvor knapp 15 Kilometer vor der Küste Lampedusas in einem völlig überfüllten Fischerboot auf dem Mittelmeer treibend von italienischen Patrouillenschiffen entdeckt und gerettet worden. Die Geretteten stammten vorwiegend aus Ländern Nord- und Westafrikas sowie aus Bangladesh und Syrien, hiess es. Die Zahl der Migranten in dem Erstaufnahmezentrum von Lampedusa stieg nach Medienberichten nach der Ankunft vom Samstag auf deutlich mehr als 1200. Es hat eine Kapazität für lediglich rund 250.
(https://www.nzz.ch/international/migrationskrise-amnesty-international-fordert-entkriminalisierung-der-seenotrettung-ld.1535949)
-> https://www.nau.ch/news/europa/mehr-als-500-bootsmigranten-auf-lampedusa-angekommen-65991328


+++DEMO/AKTION/REPRESSION¨
Zapatista-Demo Basel:
-> https://telebasel.ch/telebasel-news/?channel=15881 (ab 03:34)
-> https://twitter.com/RegulaSterchi/status/1431616817726992385
-> https://twitter.com/ag_bern/status/1431617241259417601
-> https://twitter.com/girazapatistabs
-> https://twitter.com/RegulaSterchi/status/1431618720074539015
-> https://twitter.com/RegulaSterchi/status/1431639698414391301
-> https://twitter.com/girazapatistabs/status/1431623845388210182
-> Demoaufruf: https://barrikade.info/article/4719


Unter dem Motto «OneFamily»: 200 Personen marschieren an der Pride in Biel
Einen Monat vor der «Ehe für alle»-Abstimmung gingen in Biel rund 200 Menschen auf die Strasse.
https://www.bernerzeitung.ch/200-personen-marschieren-an-der-pride-in-biel-397440960303
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/onefamily-200-personen-marschieren-an-der-pride-in-biel-be-65991295
-> https://www.blick.ch/schweiz/onefamily-200-personen-marschieren-an-der-pride-in-biel-be-id16787197.html



tagesanzeiger.ch 28.08.2021

Critical Mass in ZürichTeilnehmende von der Polizei weggewiesen

Weil sie nicht bewilligte Lautsprecheranlagen mitführten, wurden Personen, die am Veloumzug teilnehmen wollten, aus der Stadt weggewiesen.

Thomas Hasler

Der Critical-Mass-Veloumzug von Freitagabend hallt in den sozialen Medien und Kommentarspalten nach. Auf der einen Seite wurde kritisiert, dass die Stadtpolizei Lautsprecheranlagen konfiszierte. Auf der anderen Seite liessen mutmasslich Autofahrer ihrem Frust freien Lauf.

Auf Verzeigungen verzichtet

Die Stadtpolizei bestätigte am Samstag, dass «etwa ein halbes Dutzend» Personen aus dem Stadtgebiet weggewiesen wurden. Die Wegweisungen seien in der Regel erfolgt, weil Lautsprecheranlagen eingesetzt worden seien. Für deren Betrieb auf öffentlichem Grund brauche es eine Bewilligung.

«Auf eine Verzeigung der betreffenden Personen wurde aber verzichtet», sagte der Sprecher. Warum die Personen überhaupt aus dem Stadtgebiet weggewiesen wurden, konnte der Polizeisprecher nicht sagen. «Immer irgendwelche Nadelstiche, damit nicht Untätigkeit vorgeworfen werden kann», kommentierte jemand auf Twitter das Vorgehen der Polizei.

«Reinster Terror»

Auf wenig Gegenliebe stiess der Veloumzug fast erwartungsgemäss bei jenen, die von dessen Auswirkungen betroffen waren. Auch die Stadtpolizei geht in einer groben Schätzung nämlich davon aus, dass «mehrere Tausend» Personen an der ersten Critical Mass nach den Sommerferien teilgenommen haben. Die Beobachtung der Polizei, dass dies zu einer «kurzzeitigen Einschränkung des Individual- und öffentlichen Verkehrs» führte, dürften manche Betroffene allerdings nicht teilen.

Von «reinstem Terror», von «infantilem Protestvelofahren» und einer Veranstaltung, die «an Arroganz und Egoismus kaum noch zu überbieten» sei, war in Kommentarspalten die Rede. Zürich demontiere sich selber. Strafanzeigen wegen Nötigung wurden gefordert. Offenbar blieb es bei diesem nachträglichen Luftablassen. Die Stadtpolizei registrierte während der mehrstündigen Fahrt durch Zürich «keine nennenswerten Vorfälle».
(https://www.tagesanzeiger.ch/teilnehmende-von-der-polizei-weggewiesen-929117744094)


+++RECHTSPOPULISMUS
tagblatt.ch 28.08.2021

Wenn der Hort der Freiheit plötzlich abgeriegelt werden soll – die Corona-Irrungen und Wirrungen von SVP-Aeschi

Nach seinen Sommerferien in Südosteuropa pries SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi die Balkanländer wegen ihren lockeren Corona-Massnahmen als Vorbilder für die Schweiz. Jetzt dient ihm die Region wegen der vielen infizierten Reiserückkehrer wieder als Sündenbock.

Christoph Bernet

Ende Juli kehrte der Zuger Nationalrat Thomas Aeschi begeistert von seinen Sommerferien zurück. Ein Roadtrip mit dem Auto führte den SVP-Fraktionschef durch 13 Länder in Ost- und Südosteuropa – vom polnischen Danzig an der Ostsee bis ins albanische Tirana nahe der Adriaküste.

Nebst Natur und Sehenswürdigkeiten hatte es ihm der Umgang mit dem Coronavirus in der Region besonders angetan: «In all diesen Ländern ist man praktisch zur Normalität zurückgekehrt», sagte Aeschi gegenüber der «Sonntagszeitung» und pries die Länder als Vorbild für die Schweiz an. Sein Covid-Zertifikat habe er kein einziges Mal vorweisen müssen. Auch Masken habe er kaum je gesehen.

Aeschi forderte den Bundesrat damals dazu auf, die besondere Lage «sofort aufzuheben». Schliesslich gebe es fast keine Corona-Erkrankte auf den Intensivstationen: «Das Risiko einer Überlastung des Gesundheitssystems ist praktisch ausgeschlossen», so lautete Aeschis Prognose Ende Juli.

Mit der Prognose daneben gelegen

In den fünf Wochen seit dieser Aussage hat sich die Anzahl der Covid-Patienten in den Spitälern verachtfacht. «Wir haben keinen Platz mehr», warnte ein Intensivmediziner des Zürcher Unispitals im «Tages-Anzeiger». Bereits müssten erste Operationen verschoben werden. Darunter auch dringende Eingriffe am Herzen oder Tumor-OPs.

Ein Grund für die angespannte Lage sind die Reiserückkehrer. Gemäss der wissenschaftlichen Covid-Taskforce hat sich über ein Drittel der Hospitalisierten in einem Land in Südosteuropa angesteckt. Den Löwenanteil machen Kosovo und Nordmazedonien aus. Somit tragen Ansteckungen in zwei Ländern massgeblich zum drohenden Kollaps des Gesundheitssystems bei, die Aeschi während seinen Sommerferien bereist – und für ihren Verzicht auf Masken und Zertifikat gelobt hat.

Vom Hort der Freiheit zum Sündenbock

Aeschis Reaktion? Gemeinsam mit seiner SVP verlangt er, Reiserückkehrer verbindlich zu testen und allenfalls in Quarantäne zu stecken. Dass überdurchschnittlich vielen Personen mit Migrationshintergrund – insbesondere vom Balkan – auf den Intensivstationen liegen, sei schon lange bekannt. Der Bundesrat verschweige dies aus politischer Korrektheit und bestrafe lieber «die arbeitende Schweizer Bevölkerung» mit verschärften Massnahmen.

Wir fassen zusammen: Vor fünf Wochen waren die Balkanländer Vorbilder für eine vernünftige Coronapolitik. Jetzt sind jene, die sich dort wegen fehlender Massnahmen angesteckt haben, die Sündenböcke. Der Balkan mag für einen SVP-Politiker in den Sommerferien als Hort der Freiheit gelten. Den Rest des Jahres dient er dem üblichen Zweck: Dem Schüren von Feindbildern.
(https://www.tagblatt.ch/meinung/glosse-wenn-der-hort-der-freiheit-ploetzlich-abgeriegelt-werden-soll-die-corona-irrungen-und-wirrungen-von-svp-aeschi-ld.2179708)


+++RECHTSEXTREMISMUS
Neben dem Profilbild von Grossrat Eric W.: “Politiker töten”
Man ist sich vom Basler Chaos-Politiker im Grossrats-Rang Eric W. schon einiges gewöhnt. Dennoch lässt ein Post auf Facebook aufhorchen. Neben seinem klar identifizierbaren Profilbild steht ein Eintrag, zu dem nicht mehr geschwiegen werden darf: “Bitte Bundeshaus stürmen und alle Politiker töten.” Offenbar sind laut Text auch Polizisten mitgemeint.
https://www.onlinereports.ch/News.117+M55c8f7e7dc2.0.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Gegner der Corona-Massnahmen machen in drei Städten mobil
Rund 250 Gegnerinnen und Gegner der Corona-Massnahmen haben am Samstagnachmittag in Schaffhausen, etwa 200 in Brig VS und eine unbekannte Zahl in Bellinzona demonstriert. Die Kundgebungen waren bewilligt. Die Anlässe verliefen friedlich.
https://www.swissinfo.ch/ger/gegner-der-corona-massnahmen-machen-in-drei-staedten-mobil/46903306
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-massnahmen-gegner-gehen-in-brig-vs-auf-die-strasse-65989673
-> https://www.toponline.ch/news/schaffhausen/detail/news/schaffhausen-demonstration-gegen-corona-massnahmen-00164511/
-> https://www.nzz.ch/schweiz/coronavirus-in-der-schweiz-die-neusten-entwicklungen-ld.1542664
-> https://twitter.com/CovidiotenCH
-> https://www.rsi.ch/news/ticino-e-grigioni-e-insubria/Totale-libert%C3%A0-di-scelta-14675370.html


Trotz mehr Mitgliedern: Verfassungsfreunden geht das Geld fürs Covid-Referendum aus
Der massnahmenkritische Verein «Freunde der Verfassung» will das Covid-Zertifikat kippen. Für den Abstimmungskampf fehlt aber Geld. So dürfte es schwierig werden, sagt ein Politologe.
https://www.20min.ch/story/verfassungsfreunden-geht-das-geld-fuers-covid-referendum-aus-619772226874


+++HISTORY
derbund.ch 28.08.2021

Der Fall Pauline Schwarz: Eine solche Frau galt als «moralisch defekt»

Sie war widerspenstig – und zahlte bitter dafür: Pauline Schwarz verbrachte über neun Jahre ihres Lebens zwischen Gefängnis und Psychiatrie. Wie die Schweizer Justiz Frauen einfach wegsperrte.

Simone Rau

Als Pauline Schmid (Name geändert) im November 1941 vom Zürcher Bezirksgefängnis in die psychiatrische Klinik Burghölzli überführt wird, ist sie gerade mal 23 Jahre alt, verheiratet, Mutter eines kleinen Sohnes, Stiefmutter einer ganzen Kinderschar. In der «Heilanstalt», wie das Burghölzli damals offiziell genannt wird, soll die junge Frau psychiatrisch begutachtet werden. Fünf Wochen lang.

Pauline Schmid, geborene Schwarz, ist eine Woche zuvor von der Polizei verhaftet worden – auf Anzeige ihres Ehemanns hin. Armin ist mehr als doppelt so alt wie sie, verwitwet, Vater von neun Kindern. Anfangs hat der Landwirt und Bauarbeiter aus dem Zürcher Unterland Pauline als Haushälterin angestellt. Doch sie wird rasch schwanger, die beiden heiraten, er schlägt sie, immer wieder, bald auch das gemeinsame Kind aus ihrem Bauch.

«Wie verrückt»

Nach der Fehlgeburt wird Pauline wieder schwanger. Wieder schlägt Armin sie. So flieht Pauline nach der Geburt des kleinen Jakob aus dem Haus, erst mit dem Buben, dann ohne ihn, verdingt sich in fremden Häusern, flunkert, schwindelt, stiehlt, fliegt auf. Geht wieder heim zu Ehemann Armin. Wird wieder schwanger.

Nach einem weiteren Streit ruft der gewalttätige Ehemann die Polizei. Seine Frau führe sich auf «wie verrückt», berichtet er, man müsse damit rechnen, dass «ein Unglück passiere». Sie habe «schon vor zwei Tagen gedroht, sie schneide sich und dem kleinen Jakob (…) den Hals auf». Die Polizei findet Pauline mit ihrem Kind verbarrikadiert in einem Zimmer vor – und nimmt die «wiederholte Betrügerin» mit.

Nach einer Woche in Untersuchungshaft im Bezirksgefängnis Zürich wird sie in die Kantonale Heilanstalt Burghölzli überführt, auf dem gleichnamigen Hügel im Südosten der Stadt. Hier soll die Schwangere auf ihre «Geistestätigkeit» abgeklärt werden. Eine gängige Praxis in den 1940er-Jahren, insbesondere bei Frauen.

Wegsperren von Liederlichen

Paulines Vorgeschichte findet sich in keiner Akte so chronologisch aufbereitet. Wie es zu straffällig gewordenen Frauen im 20. Jahrhundert überhaupt wenig Akten gibt. Wenig Literatur und Forschung. Zwar arbeitet die Schweiz auf, wie sie jahrzehntelang verfuhr mit einer ganzen Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern. Mit sogenannt Liederlichen, Arbeitsscheuen, Trunksüchtigen oder Asozialen. Doch die offizielle Schweiz interessiert sich nur wenig für Lebensläufe. Für die Menschen hinter den Abstraktionen und Zahlen. Im Fall von Pauline ist es das Leben einer Frau.

Die Autorin Lisbeth Herger hat dieses Leben akribisch rekonstruiert. Sie hat psychiatrische Gutachten studiert, Gerichtsurteile, Vormundschaftsakten, Scheidungspapiere, Lebensläufe, geschrieben von der Straftäterin selbst, im Gefängnis oder in der Psychiatrie.

Insgesamt neun Jahre und einen Monat ihres Lebens verbrachte Pauline Schwarz in Institutionen. In Weinfelden, St. Gallen, Zürich, Regensdorf, Rosegg, Deitingen, Lenzburg, Altdorf, Königsfelden und Hindelbank. Und damit in Unfreiheit. Hergers Rekonstruktion ermöglicht einen Blick in das getriebene Leben einer Frau aus der Unterschicht im 20. Jahrhundert. Und damit auch in ein System, das unzimperlich umging mit Anstössigen wie ihr.

Fünf Ehemänner, fünf Kinder, vierzehn Verurteilungen

Pauline Schwarz stiess zeitlebens an. Sie wurde 1918 in eine arme Ostschweizer Familie geboren, kam früh als Küchen- und Hausmädchen in fremde Dienste, heiratete fünfmal, gebar fünf Kinder, stand vierzehnmal vor Gericht. Hauptsächlich wegen kleinerer Diebstähle und Betrügereien.

Die meisten Straftaten waren aus der Not gedrungen, Flunkereien eigentlich, und Pauline gab sie sofort zu. Bestraft wurde sie jedoch hart, einmal mit zwei Jahren in einer Arbeitserziehungsanstalt, einmal mit einer dreijährigen Verwahrung. Da war sie 33 Jahre alt. Auf dem Deckel ihrer Verwahrungsakte stand schlicht: «schlecht erzogen».

Die Verwahrung wurde zu Paulines Zeiten viel schneller eingesetzt als heute, da die Verwahrung die strengste und härteste Massnahme ist, die das Schweizer Strafrecht zulässt. Damals ermöglichte sie das zeitlich unbegrenzte Wegsperren einer nur vage definierten Tätergruppe.

Zu Pauline schrieb das Obergericht Aargau: «Die Verwahrung richtet sich gegen Personen schwachen Charakters, die (…) keiner Versuchung zu widerstehen vermögen.» Sie sei, das habe bereits ihr psychiatrisches Gutachten gezeigt, «debil» und «moralisch defekt».

«Patientin stets ruhig, unauffällig»

Zurück ins Burghölzli, knapp zehn Jahre zuvor. Fünf Wochen lang wird die 23-jährige Pauline in der psychiatrischen Klinik beobachtet. Sie überrascht die Ärzte vor allem mit ihrer Unauffälligkeit. Die Patientin sei «sehr vergnügt», notiert der Psychiater bald nach ihrem Eintritt, «lacht lustig, hat sich in die Situation gefunden. Ruhig.» Einzig wenn man auf ihren Ehemann zu sprechen kommt, wird sie unruhig. Er habe ihr immer wieder «wüst getan», gibt sie zu Protokoll. Sei «grob geworden».

Trotz der geschilderten Brutalitäten wird Pauline nicht als Opfer häuslicher Gewalt behandelt, sondern als Strafgefangene. Als Wiederholungstäterin. Die sie – zu ihrem Verhängnis – tatsächlich auch ist. Nach vierzehn Tagen notiert der Psychiater erneut: «Patientin stets ruhig, unauffällig.»

Steckt die junge Mutter in einer Depression? Oder sind es die Geschichten, die man sich im Waschsaal zuflüstert, vom Umgang mit Widerspenstigen, mit sogenannt Renitenten, die Pauline gefügig machen? Oder verhält sie sich aus taktischen Gründen ruhig, weil sie weiss, dass sie als Straftäterin nur zur Begutachtung in der psychiatrischen Klinik weilt?

Klar hingegen ist, was ihr ihre Unauffälligkeit bringt: nichts. Im 17-seitigen Gutachten, das die Psychiater nach fünf Wochen vorlegen und welches auf Polizeiakten, den mündlichen Berichten des Ehemannes und den ärztlichen Beobachtungen basiert, wird sie als minderintelligent beschrieben, als debil. Es fehle der Delinquentin weitgehend an einem «Gefühl für Gut und Böse». Sie wolle partout nicht einsehen, «dass sie selbst für ihre Taten zur Verantwortung gezogen wird, sie beschuldigt ihren Mann, sie geschlagen zu haben, und vermeint dadurch all ihre deliktischen Handlungen entschuldigt».

«Schwerer moralischer Defekt»

Dass Pauline sich in der Klinik unauffällig verhalten hat, ist aus Sicht der Psychiater höchst auffällig. Dass sie ihren gewalttätigen Mann als Grund für ihre Straftaten angibt: höchst frech. Ihre Reden jedenfalls finden kein Gehör, die Psychiater klagen im Gutachten über die «ermüdende Eintönigkeit» dieser «unzureichenden Erklärungen». Das Gutachten spricht von «Trotz, Reizbarkeit, Neigung zu Affektausbrüchen und Launenhaftigkeit» und erkennt darin dieselben Schwächen, die Pauline bereits zu ihren Straftaten antrieben.

Die Straftäterin wehrt sich heftig. Sie sei eine gute Schülerin gewesen, betont sie, sie halte sich für intelligent. Ihre Delikte habe sie nicht aus Dummheit oder Unkenntnis begangen, sondern weil sie Geld für den Haushalt gebraucht habe. Zudem sei sie schwanger, bekomme von ihrem Ehemann keine Hilfe. Die Weigerung, sich reuig zu zeigen, kommt die junge Frau teuer zu stehen. Das abschliessende Fazit der Ärzte ist vernichtend: «Es besteht bei ihr ein weitgehender Mangel an Moralgefühl, ein schwerer moralischer Defekt.»

Die Folgen dieser Diagnose sind für Pauline Schwarz verheerend. Die Psychiater im Burghölzli gehen bei der 23-Jährigen von einer verminderten Zurechnungsfähigkeit aus. Aufgrund ihrer «Debilität» und ihrer «Charakterschwäche» – beides «unheilbar» – brauche sie eine enge fürsorgerische Begleitung. Sprich: eine Entmündigung. Ein damals gängiger Vorgang, insbesondere bei Frauen.

Auch später im Leben wird Pauline Schwarz die mächtigen Pflöcke spüren, die das psychiatrische Urteil in ihren Lebensweg gerammt hat. Immer und immer wieder begrenzen sie ihren Weg. Führen in neue Sackgassen.

«Abweichung von der Norm»

Damit war Pauline Schwarz nicht allein. Zwar gebe es nur spärliche Untersuchungen zur Geschlechterdifferenz in der Kriminalgeschichte, schreibt Lisbeth Herger. Diese lieferten jedoch Indizien dafür, dass delinquente Frauen schneller in den Verdacht geistiger Abnormalität kamen als männliche Täter. Sie seien bereitwilliger als «Abweichung von der Norm» wahrgenommen worden.

«Von solch delinquenten Frauen weiss man noch wenig. Sie waren in der göttlichen Ordnung der Männer nicht vorgesehen», schreibt die Autorin. «Entsprechend hart wurden sie von der Justiz gemassregelt. Und von der Psychiatrie als ‹moralisch defekt› pathologisiert.»

Die Rekonstruktion von Pauline Schwarz’ Leben zeigt denn auch mehr als nur ihre individuelle Geschichte. Sie steht exemplarisch für das weibliche Geschlecht, das fast ein Jahrhundert lang mit patriarchalen Vorurteilen von Psychiatern und Richtern zu kämpfen hatte.

Pauline kommt frei – und erneut in Haft

Nach fünf Wochen im Burghölzli wird Pauline Schmid, es ist mittlerweile kurz vor Weihnachten 1941, ins Zürcher Bezirksgefängnis zurückgeführt. Bald kommt sie frei – und erneut in Haft. Sie hat einmal zwanzig Franken, einmal fünfzehn Franken gestohlen, kleine Schwindeleien zwar, doch sie ergänzen die Liste ihrer Delikte um zwei weitere Straftaten.

Also wird sie, die Wiederholungstäterin, erneut verurteilt, dieses Mal sind es sechs Monate unbedingt. Da sie inzwischen im 7. Monat mit ihrem zweiten Kind schwanger ist, wird der Haftantritt auf nach der Geburt verschoben. Im Juni 1942 bringt sie eine Tochter zur Welt. Nur knapp entgeht sie danach einer Zwangssterilisation – damals ein fast selbstverständlicher Eingriff im Zusammenspiel von Psychiatrie und Gynäkologie.

Ihre Tochter aber, die kleine Rita, wird Pauline sogleich weggenommen und in einem Heim untergebracht, später zur Adoption freigegeben. Den älteren Sohn Jakob hat Vater Armin längst im Tessin fremdplatziert. Drei Wochen nach Ritas Geburt wird Pauline in die Kantonale Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf überführt. Was sie im Gefängnis erlebt, ist nicht überliefert.

Erst zu ihrer Scheidung vom gewalttätigen Ehemann im Herbst 1942 gibt es wieder Dokumente. Seine Darstellung der ehelichen Misere – sie sei «streitsüchtig» und als Hausfrau «völlig unfähig» – wird von den Scheidungsrichtern fraglos übernommen. Armin kommt auf zwei Seiten des Urteils ausführlich zu Wort, Pauline muss sich mit drei Sätzen begnügen: «Die Beklagte erklärt sich mit der Scheidung einverstanden», wird notiert. «Auch sie wollte nicht zum Kläger zurück. Er habe sie grob behandelt und geschlagen.»

Heirat als Fluchtort

Und so geht es immer weiter, im Leben der Pauline Schmid, die nach der Scheidung wieder Schwarz heisst. Sie lernt neue Männer kennen, heiratet sie. Vor allem hofft Pauline, mit einem Ernährer an ihrer Seite ihre Kinder zurückzubekommen. «Erst wenn ein neuer Mann gefunden ist, bewegt sich die Welt wieder in die richtige Richtung», schreibt Herger. «Mit einer Heirat bekommt sie einen neuen Namen, wird eine neue Bürgerin mit neuem Heimatort, erlöschen alte Vormundschaften und werden mit neuen Köpfen besetzt.» Die Heirat, sie ist für eine Dienstmagd wie Pauline ein Fluchtort in der patriarchal organisierten Welt der Schweizer Nachkriegszeit.

Nach Schmid heisst sie, die geborene Schwarz, erst Zuber, dann Brugger, dann Benz, dann Birrer. Bis zu ihrem 41. Lebensjahr kommen drei weitere Kinder dazu, insgesamt fünf sind es schliesslich. Nur das letzte, Paula, geboren 1959, darf Pauline behalten. Mithilfe eines engagierten Anwalts und ihres letzten – endlich loyalen – Ehemannes gelingt es ihr, den angedrohten Entzug des alleinigen Sorgerechts aufzuheben.

Endlich ein Mann, der nicht trinkt. Endlich einer, der sie nicht schlägt. Endlich einer, der sie liebt. Und sie liebt ihn. Später wird er Paulines Tochter Paula adoptieren.

Paulines erfolgreicher Kampf um ihr fünftes und letztes Kind ist ihr erster Erfolg in einer Reihe von Beschwerden gegen richterliche oder behördliche Entscheide. «Bin keine Trinkerin nicht Debil und nicht Geisteskrank und führe kein Ehebrecherinleben», hatte sie schriftlich argumentiert. «Sondern arbeite auf dem grossen Hof von früh bis spät sorge für mein Kind aus voller Liebe einer Mutter. Lassen Sie bitte Ihr Herz reden und nicht die Paragrafen.» Sie bekommt recht – und kann Paula behalten.

Was für eine Genugtuung für sie, die kaum je in ihrem Leben gehört und angehört wurde, recht bekam. Dessen war sich Pauline sehr wohl bewusst. So schrieb sie Anfang 1951 ihrem damaligen Ehemann aus der aargauischen Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden, wo sie erneut psychiatrisch begutachtet wurde:

«Bestimmt will ich ein liebes Mutti sein und nie mehr so etwas machen, wieviel musste ich ja ungerecht verbüssen aber man glaubt nur andern, es ist klar wenn man etwas gebost hat und mit dem Gesetz in Konflikt ist, bist wehrlos. Aber warum ich so geworden bin, frägt man nie, sondern zieht nur das böse hervor.»

Pauline bleibt die Fremde

Mit ihrem fünften und letzten Mann, Werner Birrer, den sie 1965 im Alter von 47 trifft, findet sie schliesslich doch noch das Glück. Doch auch jetzt lebt die kleine Familie abgeschieden, zurückgezogen, auf einem Bauernhof im Napfgebiet. Pauline bleibt die Fremde, die man argwöhnisch begutachtet, eine Geschiedene, die angeblich im Gefängnis war.

Sie muss mit Feindseligkeiten leben. Die kleinen Diebstähle und Betrügereien, mit denen sie sich durch Leben mogelte, lassen sie auch hier nicht los. Bis dahin hat sie, die Widerspenstige, immer und immer wieder geflunkert, nur gerade neun Jahre, drei davon in Verwahrung, war sie deliktfrei, zwischen 1951 und 1960. Sie hat versucht, zu überleben, etwas Wohlstand zu erreichen. Sie findet ihn – im finanziell bescheidenen Rahmen – auf dem Napf.

Bösartige Gerüchte im Dorf

Doch am Vortag des Silvesters 1969, Pauline ist mittlerweile 51 Jahre alt, ihr fünftes Kind Paula zehn und von Stiefvater Werner Birrer längst adoptiert worden, brennt ein Feuer das Wohnhaus und die Scheune der kleinen Familie Birrer nieder. Sie kann gerade noch das Vieh und etwas Hausrat retten.

Pauline habe den Brand absichtlich gelegt, um Versicherungsgelder zu kassieren, heisst es danach im Dorf. Das Gerücht, von der Polizei nie bestätigt, beschäftigt die einstige Straftäterin sehr. Vermuten sie und ihr Mann doch ebenfalls Brandstiftung – durch missgünstige Nachbarn. Doch Pauline verbittert nicht, sie nimmt einen jungen Burschen auf dem Hof auf, lädt Handwerker zum Essen ein, zeigt sich überhaupt gesellig.

Nur ihre vier anderen Kinder, sie sind verloren. «Sie finden nicht zu Pauline», schreibt Lisbeth Herger. «Aber sie, die Mutter, hat ihre eigenen Bilder, die sie bei sich im Kopf ablegt. Die meisten sind veraltet. Überholt. Fragmentiert.» Aber vergessen hat Pauline sie nie. Weder ihre Buben Jakob und Ueli noch ihre Mädchen Rita und Ruth, die beiden von fremden Müttern Adoptierten. Der Verlust nagt an ihr, für immer.

Wie der spärliche Kontakt zu den Söhnen abbrach, dazu fehlen die Quellen. Um ihre Töchter aber hat Pauline gekämpft. Hat ihnen immer wieder geschrieben oder es zumindest versucht: Ein grosser Teil ihrer Briefe landete ungelesen im Papierkorb. Zu viel war geschehen, auch aus Sicht der Töchter.

Immerhin finden sie beide zusammen, als sie längst erwachsen sind, 40 und 50 Jahre alt. Ihr erstes Treffen Anfang der 1990er-Jahre – im «Fressbalken» in Würenlos – ist ein voller Erfolg. Es folgen Besuche, gemeinsame Ferien auf Gran Canaria und Djerba, schliesslich zieht Rita, von ihrem Mann verlassen, zu Ruth. Bis heute leben die Schwestern zusammen.

Von Mutter Pauline ist ein letzter langer Brief an ihre älteste Tochter Rita erhalten geblieben. Sie schrieb ihn knapp zwei Jahre vor ihrem Tod im Jahr 1982:

«In all den Jahren dachte ich stets an dich (…) Ich habe dich auch öfters in Adliswil angerufen. Ich wollte einfach deine Stimme hören, hatte nie den Mut, Dir noch einige nette Worte zu sagen (…) Mein Leben verlief eben nicht so, wie ich es gerne gehabt hätte (…) Ich konnte dich nicht vergessen.»

Lisbeth Herger: «moralisch defekt» – Pauline Schwarz zwischen Psychiatrie und Gefängnis. Hier und Jetzt, Zürich 2020. 247 S., 39 Fr.
(https://www.derbund.ch/eine-solche-frau-galt-als-moralisch-defekt-228563952597)



Verdrängte Einwohner
In Berlin werden am Sonntag Stolpersteine für zwei Schwarze Holocaust-Opfer verlegt
Die Afrodeutschen Ferdinand Allen und Martha Ndumbe wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Am Sonntag werden in Berlin Stolpersteine für sie verlegt. Damit wird an die Leben der beiden erinnert – und an die verheerenden Auswirkungen der NS-Herrschaft auf die Schwarze Community.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1156016.nationalsozialismus-verdraengte-einwohner.html