Gericht stoppt Abschiebung nach Afghanistan, Geflüchtete erreichen sicheren Hafen, Corona-Massnahmen-Gegner*innen verharmlosen Holocaust

  • Holocaust verharmlosende Plakate bei Anti-Corona-Massnahmen-Demo in Luzern
  • Grenze Belarus-Litauen: Machtspiele auf Kosten Geflüchteter Menschen
  • Nach einer Woche erreichen über 700 aus Seenot gerettete Menschen sicheren Hafen
  • Gerichshof für Menschenrechte stoppt Abschiebung nach Afghanistan
  • Petition «Armut ist kein Verbrechen» unterstützen
  • Solidaritätscamp für Menschen auf der Flucht

Was ist neu?

Holocaust verharmlosende Plakate bei Anti-Corona-Massnahmen-Demo in Luzern
Am Samstag, 31. Juli, versammelten sich rund viertausend Personen aus der verschwörungsmythischen und reaktionären Szene in Luzern, um gegen eine sogenannte Bevormundung durch den Bundesrat in der Covid-19 Pandemie zu protestieren. Mit dabei: Neonazis sowie antisemitische und den Holocaust verharmlosende Plakate.
 
Organisiert wurde die Demonstration vom Aktionsbündnis Urkantone. Präsent waren unter anderem die von Nicolas A. Rimoldi angeführte Gruppierung «Mass-Voll», die Freiheitstrychler mit ihrem Glocken-Geläute oder die selbsternannten Verfassungschützer*innen mit ihrer Organisation «Freunde der Verfassung». Auch der von Corona verharmlosenden Ärzt*innen gegründete Verein «Aletheia», die Plattform Corona Rebellen und der «Verband Freier KMU» riefen zum Protest auf.
 
Nach einer Demonstration durch die Stadt versammelten sich die Corona-Massnahmen-Gegner*innen hinter dem KKL auf dem Inseli. Dort wurden auf der Bühne Ansprachen gehalten, bei denen mal die Existenz von Corona geleugnet, mal dessen Bedeutung heruntergespielt wurde. Die Impfung wurde als wirkungslos abgetan, ein andermal als Instrument einer neuen Weltordnung bezeichnet. Die Motive der Massnahmengegner*innen erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich und diffus. Doch was ihnen gemeinsam ist: es fehlt an Abstand. Nicht bloss an Abstand zwischen den maskenverweigernden Demonstrant*innen, sondern an Abstand zu rechtem Gedankengut. Nach dem bereits an der Demo vom 12. Juni Coronaleugner*innen Hand in Hand mit Neonazis durch Luzern zogen, nahmen auch vorletzten Samstag erneut bekennende Faschisten an der Demonstration teil. Der durchmischte Haufen von Esoteriker*innen und rechten Verschwörungstheoretiker*innen verbündete sich so erneut mit Neonazis. Oder wie es in einer Rede an der Gegenkundgebung formuliert wurde: «Wer sich abends mit Verschwörungstheoretiker*innen ins Bett legt, wacht am Morgen mit Neonazis auf!»
 
An der Anti-Corona-Massnahmen-Demo zu sehen war auch ein riesiges Banner mit einem Bild von Anne Frank, dazu der Text: «Ihre Eltern haben die Grausamkeit der damaligen Politik unterschätzt». Der Vergleich zwischen der Politik des Bundesrates und des Nationalsozialismus ist schockierend. Er verleugnet die Geschichte und verspottet Anne-Frank und die Opfer des Holocaust. Die Jüdische Gemeinde Luzern (JGL) zeigt sich schockiert über den Vergleich: Es sei erschreckend, wie wenig diese Personen von der Geschichte lernen: «Noch mehr als das Plakat schockiert mich das Unwissen dieser Menschen», so Meir Shitrit, Vizepräsident der JGL. Problematisch war dabei auch die Berichterstattung von Medien wie zentralplus und 20Minuten. Bilder des Plakates wurden kommentarlos wiedergegeben, ohne den Antisemitismus zu benennen.
 
Gegen diese rechte Hetze gab es verschiedene Formen des Widerstands. Beim Pavillion kamen mehrere hundert Menschen zur Kundgebung des Bündnisses «Luzern ist bunt» zusammen, um dort mit Reden und Musik ein Zeichen gegen rechte Hetze zu setzen. Direkt bei der Mobilisierung der Corona-Massnahmen-Gegner*innen hinter dem Bahnhof stellte sich eine kleine Gruppe Antifaschist*innen deren Aufmarsch entgegen. Vom Inseli aus kamen zeitgleich einige dutzend Antifas zusammen, um die Mobilisierung der Rechten auf der Strasse zu stören. Die gemeinsamen und vielfältigen Aktionen haben ein Zeichen der Solidarität und gegen den Aufmarsch faschistischer Kräfte gesetzt.
 
Holocaust verharmlosendes Plakat an der Anti-Corona-Massnahmen-Demo in Luzern.
Holocaust verharmlosendes Plakat an der Anti-Corona-Massnahmen-Demo in Luzern.
 

Was ist aufgefallen?

Grenze Belarus-Litauen: Machtspiele auf Kosten Geflüchteter Menschen
Belarus schliesst die Grenze zum EU-Land Litauen um die Rückführung von Migrant*innen zu verhindern. Belarus und die EU beschuldigen sich in einem absurden Machtspiel gegenseitig. Und an der Grenze kommt es zu einem ersten Todesfall.
 
Die Lage an der Grenze zwischen Belarus und Litauen spitzt sich zu. Als Antwort auf EU-Sanktionen öffnete die belarussische Regierung Anfang Juli die fast 680 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Litauen (die Wochenschau berichtete am 20. Juli, antira.org/2021/07/20). Mehr als 2000 geflüchtete Menschen, überwiegend aus dem Irak und afrikanischen Staaten stammend, überquerten letzten Monat die Grenze. Nun hat der belarussische Machthaber die Schliessung der Grenze angeordnet um zu verhindern, dass Litauen die Migrant*innen wieder zurückschickt.
 
Gleichzeitig nahmen belarussischen Behörden nach dem Tod eines irakischen Geflüchteten an der Grenze Ermittlungen auf. Nach belarussischen Angaben fanden Grenzbeamte den schwer misshandelten Mann unweit der Grenze. Er starb laut dem Präsidialamt «in den Armen der Grenzschützer». Der belarussische Grenzschutz erklärte zudem, dass etwa 40 in Litauen abgewiesene irakische Migrant*innen, darunter Frauen und Kinder, mit «körperlichen Verletzungen» (unter anderem Hundebisse) nach Belarus zurückgekehrt seien. Litauen wies die Anschuldigungen als «Propaganda eines feindlichen Regimes» zurück. Unabhängige Beobachtungen zum Vorfall liegen zurzeit nicht vor. Die Dreistigkeit, mit welcher Lukaschenkos Regime den Tod eines geflüchteten Menschen instrumentalisiert, nimmt aber erschreckende Ausmasse an.
 
Das offizielle Litauen zeigt sich mit der Situation derweil komplett überfordert. Dies ist insofern verständlich, da Litauen in der jüngeren Vergangenheit kaum mit Migration konfrontiert war. Im gesamten Jahr 2020 kam es zu lediglich 81 «illegalen» Grenzübertritten. Die EU sicherte Litauen weitere Unterstützung zu – was wie immer bedeutet, mehr Frontex-Soldat*innen zu stationieren und die Grenze aufzurüsten. Die ganze Konstellation hat sich zu einem reinen Machtspiel auf Kindergartenniveau entwickelt – schmeisst du mit Sand, schmeisse ich mit Sand. Nur, dass hier Menschen, welche vor Krieg, Verfolgung und Hunger geflohen sind, als Spielball benutzt werden. Dabei sinkt die Hemmschwelle zunehmend und es institutionalisieren sich Handlungsmuster, welche den nächsten Schritt der Gegenseite bereits fix einzuplanen scheinen. Aber ohne im Vorfeld irgendwelche Massnahmen zu unternehmen, um den Schutz geflüchteter Menschen zu gewährleisten.
 
Das verwendete Vokabular wird dabei immer grotesker und die Doppelmoral muss gar nicht mehr verheimlicht werden, da sie von der Mehrheit ohnehin akzeptiert wird. So lies eine Sprecherin des deutschen Bundestages verlauten, dass Litauen auf die Unterstützung Deutschlands zählen könne, «besonders beim Schutz der EU-Aussengrenze». Eine «Anfrage zur Aufnahme von Flüchtlingen» läge aber nicht vor. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sagte bei ihrem Besuch in der litauischen Hauptstadt Vilnius, dass die EU es nicht in erster Linie mit einer «Migrationskrise», sondern einem «Akt der Aggression» zu tun habe. Natürlich haben wir es nicht mit einer «Migrationskrise» zu tun! Aber die Friedensnobelpreisträgerin EU schafft es ja nicht einmal, 2000 Menschen aufzunehmen und zu versorgen, ohne dass in diesem machtpolitischen Spiel jemand stirbt. Stattdessen wird der politische Gegner (mit welchem die EU-Staaten und auch die Schweiz ansonsten gerne wirtschaftliche Beziehungen unterhalten) zum Aggressor erklärt. Die Kommentarspalten in den Medien ziehen da grösstenteils mit: «Litauen soll abriegeln» des Users «Frontieri» auf nau.ch fasst die Stimmungslage von einem Grossteil der Kommentierenden gut zusammen.
 
Welches Schicksal den zurückdrängten Geflüchteten in Belarus droht, ist aktuell kaum abzusehen. Und es dürfte schwierig sein, gesicherte Informationen zu erhalten. Das Regime in Minsk geht seit Jahren hart gegen Oppositionelle vor. Letzten Dienstag wurde der belarussische Aktivist Witaly Schischow erhängt in einem Park in Kiew gefunden. Sein Umfeld vermutet eine gezielte Operation des belarussischen Geheimdienstes, die ukrainischen Behörden ermitteln wegen «als Selbstmord getarnten Mordes.» Schlagzeilen machte auch der Fall der belarussischen Olympia-Teilnehmerin Kristina Timanowskaja. Die Leichtathletin wurde nach Kritik am Verband vorzeitig von den Olympischen Spielen nach Hause beordert. Aus Angst vor Verfolgung verweigerte sie die Rückkehr und erhielt von Polen ein humanitäres Visum ausgestellt.
 
Letzter Fall und vor allem die mediale Berichterstattung ist ein weiteres Beispiel, wie die Machthabenden öffentlichkeitswirksam Imagepflege betreiben. Jedem Menschen soll nach unserer Überzeugung an jedem Ort auf der Welt Schutz vor autokratischen Regimes geboten werden. Dass sich die polnische Regierung nun aber von der Staatengemeinschaft für die Vergabe eines einzigen humanitären Visums feiern lässt, wirkt geradezu absurd. Denn die national-konservative Regierungspartei PiS verschärft seit Jahren den Kurs gegen kritische Journalist*innen, LBGTQ+ Menschen, Rom* und andere Minderheiten.
 
Weder von der EU noch von den Nationalstaaten ist in dieser Krise irgendeine Lösung zu erwarten. Diese kann einzig in grenzüberschreitender Solidarität und dem Widerstand gegen die rassistische europäische Politik erfolgen.
 
 
Der litauische Grenzschutz auf Patrouille an der Grenze zu Belarus.
Der litauische Grenzschutz auf Patrouille an der Grenze zu Belarus.
 
Nach einer Woche erreichen über 700 aus Seenot gerettete Menschen sicheren Hafen

Letztes Wochenende retteten die zivilen Seenotrettungsschiffe Ocean Viking und Sea-Watch 3 während mehrerer Rettungsaktionen über 700 Menschen aus Seenot. Eine Woche mussten diese danach auf offener See ausharren.

Es ist ein groteskes Spiel, das die maltesischen und italienischen Behörden auf dem Mittelmeer spielen. Ein Spiel mit der psychischen und physischen Gesundheit von Menschen, ein Spiel um Leben und Tod:

1. Dass es keine proaktive staatliche Seenotrettung auf dem Mittelmeer gibt und dieses Loch von zivilen Seenotrettungsschiffen gefüllt wird.
2. Dass die maltesische und italienische Küstenwache häufig stundenlang nicht reagieren, wenn NGOs sie auf Boote hinweisen, die in Seenot geraten sind.
3. Dass zivile Seenotrettungsschiffe mit geretteten Menschen an Bord oft über Tage daran gehindert werden, in einen Hafen einzufahren.
4. Und dass diese Schiffe dann unter fadenscheinigen Vorbehalten über Wochen in ebendiesen Häfen festgesetzt werden, um zivile Seenotrettung zu unterbinden.

Alle vier Mechanismen kamen im Lauf der letzten Woche zum Zug. Zuerst wurden letztes Wochenende in mehreren Rettungsaktionen auf dem zentralen Mittelmeer über siebenhundert Menschen an Bord der Ocean Viking, der Sea-Watch 3, sowie der Nadir von ResQship genommen. Bereits Freitags und Samstags hatte die Ocean Viking 200 Menschen aus Seenot geholt, die Sea-Watch 3 knapp 90 Menschen. In der Nacht auf Samstag waren beide Schiffe schliesslich gemeinsam mit ResQship an einer mehrstündigen Rettungsorganisation beteiligt, bei dem ein Holzboot mit ca. 400 Menschen an Bord voll Wasser gelaufen war. Es gebe keine Schwerverletzten unter ihnen, die NGOs teilten jedoch mit: “Wir können aber nicht sicher sein, dass niemand ertrunken ist, da im Laufe der Nacht viele Menschen im Wasser waren.”

Die Schiffe mit den über siebenhundert Menschen an Bord wurden nach Anfrage auf sichere Häfen schliesslich im Stand-Off auf dem Meer gehalten. Die Sprecherin der Ocean Viking liess verlauten, sie hätten „bei allen zuständigen Behörden angefragt: Malta, Tunesien, Libyen und heute Italien“. Malta habe abgelehnt, Tunesien und Libyen nicht reagiert. Einige Menschen hatten chemische Verbrennungen erlitten, als sich Benzin mit Seewasser mischte, andere wiederum Verbrennungen durch einen Brand an Bord eines der Boote. Einzig diese 15 Menschen sowie eine schwangere Frau in kritischer Kondition wurden von der italienischen Küstenwache zur medizinischen Versorgung aufs Festland gebracht.

Per Twitter machte ein Mitglied des medizinischen Teams an Bord der Ocean Viking die Situation deutlich: “Viele sind seekrank. Einige sind an Deck bewusstlos geworden wegen der Hitze und dem, was sie erlebt haben.“ Auch die Auswirkungen auf die Psyche der Menschen sei verheerend: “Ein Schiff kann nur ein Übergang aus einer Notsituation zu einem sicheren Ort an Land sein. Menschen, die nur knapp dem Tod auf See entkommen sind, tagelang warten zu lassen, bevor sie von Bord gehen, bedeutet, ihre körperliche und geistige Gesundheit zu gefährden. Die Ungewissheit fügt einer ohnehin schon schlimmen Situation unnötiges Leid zu. In den letzten drei Jahren hat es zu viele Patt-Situationen auf See gegeben, und ich habe die äusserst schwerwiegenden Folgen gesehen, bei denen die Überlebenden in akute psychische Not geraten sind“, so Luisa Albera, Such- und Rettungskoordinatorin an Bord der Ocean Viking.

Erst am Samstag, nach einer Woche auf offenem Meer, wurde der Ocean Viking die Einfahrt in den Hafen von Pozzallo im Südosten Siziliens gewährt, der Sea Watch 3 in Trapani an der Westküste.
SOS Mediteranée, welche die Ocean Viking betreibt, fordert die EU-Mitgliedsstaaten dazu auf,
die Küstenstaaten bei der Koordinierung der Ausschiffungen zu unterstützen. Von Sizilien aus wurde unterdessen auch die Festsetzung der Geo Barents von der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) aufgehoben. Das Schiff war letzten Monat von der italienischen Küstenwache unter Berufung auf technische Unregelmäßigkeiten beschlagnahmt worden. MSF sagt indes, sie seien vielmehr festgehalten worden, um sie an der Durchführung ihrer Rettungseinsätze zu hindern.

Das perfide Vorgehen der Behörden ist durchtränkt von Rassismus. Die Vorstellung, weisse Europäer*innen würden die gleiche Behandlung erfahren, wenn sie auf dem zentralen Mittelmeer in Seenot gerieten, scheint unglaubwürdig. Aufgrund dieser rassistischen Machtverhältnisse sind dieses Jahr bereits über tausend Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen.

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155144.seenotrettung-hunderte-migranten-aus-dem-mittelmeer-gerettet.html
https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/ocean-viking-rettungsaktion-103.html
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-08/migration-fluechtlinge-mittelmeer-hilfsorganisation-rettung
https://www.migazin.de/2021/08/03/mittelmeer-ocean-viking-sea-watch3/
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-08/seenotrettung-ocean-viking-hafen-555-gefluechtete
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155179.seenotrettung-ueber-menschen-aus-dem-mittelmeer-gerettet.html
https://www.infomigrants.net/en/post/34101/italy-releases-geo-barents-rescue-ship
https://taz.de/Fluechtlinge-in-Seenot/!5790828/
https://sosmediterranee.com/press/press-release-ocean-viking-faces-a-new-standoff-at-sea-disembarkation-is-urgently-needed/

Zwei Boote mit geflüchteten Menschen treiben vor Lampedusa auf dem Mittelmeer.
Zwei Boote mit geflüchteten Menschen treiben vor Lampedusa auf dem Mittelmeer.

Was war eher gut?

Gerichtshof für Menschenrechte stoppt Abschiebung nach Afghanistan
Österreichische Behörden wollten einen Mann nach Kabul abschieben. Dieser wehrte sich vor Gericht. Nun gab ihm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Recht. Wenn wir nun nicht lockerlassen, könnten Abschiebungen nach Afghanistan allgemein gestoppt werden.
 

Der Global Peace Index stufte Afghanistan 2020 wie auch schon 2019 als das gefährlichste Land weltweit ein. Trotzdem wollten österreichische Behörden den Mann am 3. August zusammen mit anderen per Sonderflug nach Kabul abschieben. Die Maschine blieb am Boden, nachdem der EGMR sich zu einer sogenannten „Rule 39-Entscheidung“ durchrang, um die drohende und nicht wiedergutzumachende Menschenrechtsverletzung in letzter Minute zu verhindern. Bis dahin behaupteten die Behörden skrupellos, dass Abgeschobenen in Afghanistan keine Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Diese Haltung ist nur durch Rassismus erklärbar. So klingen z.B. Reiseempfehlungen für europäische Bürger*innen ganz anders und sogar die afghanische Regierung entschied sich dazu, aufgrund der Sicherheitslage keine Abschiebungen anzunehmen.

Seit dem Truppenabzug der USA aus Afghanistan erobern die Taliban in einer brutalen Gewaltoffensive Gebiete im ganzen Lande. Die Zahl der kontrollierten Bezirke hat sich bereits von 73 auf 221 mehr als verdreifacht. Finnland, Schweden, Norwegen und die EU-Grenzschutzagentur-Frontex haben ihrerseits Abschiebungen nach Afghanistan gestoppt. In der Schweiz hält das SEM offiziell weiterhin daran fest, dass Abschiebungen nach Afghanistan problemlos seien, wenn die Abgeschobenen in Masar-I-Sharif, Kabul oder Herat Menschen kennen würden. In der Praxis haben die Behörden in den letzten vier Jahren einmal sechs Personen in einem Sonderflug abgeschoben. Mehr als überstürztes Untertauchen sind heute Aktionen gefragt, die das SEM dazu bewegen, offiziell von Abschiebungen nach Afghanistan abzusehen und sich bei den Betroffenen, die aktuell in Unsicherheit Leben müssen, zu entschuldigen.

Die SEM-Beamt*innen, die über Asylgesuche betreffend Afghanistan entscheiden, haben in der ersten Hälfte des Jahres 2021 nur gerade 14% der Asylsuchenden aus Afghanistan als „politische Flüchtlinge“ anerkannt. Das ist nur jede siebte Person, der sowohl die Flucht wie auch die lange, gefährliche und teure Reise – über Iran, Türkei, Griechenland, Balkanroute und einzelne Dublinstaaten – bis in die Schweiz gelingen. 86 Prozent dieser Personen lehnten die Behörden kalt ab. Zwei Drittel erhielten eine vorläufige Aufnahme (Ausweis F). Ein Drittel soll abgeschoben werden. Einer neueren Studie zufolge drohen den Abgeschobenen in Afghanistan Gefahren für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung. Die Flucht nach Europa wird ihnen von Aggressor*innen wie den Taliban als Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen und bestraft. Bis auf einen Betroffenen haben alle bekannten Abgeschobenen das Land wieder verlassen oder planen dies. Zwei von ihnen haben Suizid begangen.

https://deserteursberatung.at/index.php/2021/08/03/der-europaeische-gerichtshof-fuer-menschenrechte-egmr-stoppt-abschiebung-nach-afghanistan/
https://www.longwarjournal.org/archives/2021/07/nearly-half-of-afghanistans-provincial-capitals-under-threat-from-taliban.php

https://www.diakonie.de/pressemeldungen/neue-studie-zu-abgeschobenen-afghanen-diakonie-deutschland-brot-fuer-die-welt-und-diakonie-hessen-fordern-sofortigen-abschiebestopp
https://daslamm.ch/kein-plan-fuer-afghanistan-auch-die-schweiz-schickt-menschen-zurueck-in-den-buergerkrieg/
https://www.republik.ch/2021/07/22/wieso-die-schweiz-das-gefaehrlichste-land-der-welt-fuer-sicher-erklaert
https://www.migazin.de/2021/08/04/wahlkampf-bundesregierung-fuehrt-weiter-abschiebungen-nach-afghanistan-durch/
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/egmr-stoppt-rueckfuehrung-nach-afghanistan
https://beobachtungsstelle.ch/news/keine-rueckfuehrungen-nach-afghanistan/
 
Und diese Umgebung soll für Rückkehrer*innen sicher sein?
Und diese Umgebung soll für Rückkehrer*innen sicher sein?

Was nun?

Petition «Armut ist kein Verbrechen» unterstützen

Aus dem Petitionstext: «Armut kann uns alle treffen. Gerade die Coronakrise hat das eindrücklich gezeigt. Das Recht auf Unterstützung in Not ist ein Grundrecht, das in unserer Verfassung verankert ist und für alle gilt. Wirklich? Über zwei Millionen Menschen ohne Schweizer Pass wohnen und arbeiten hier und bezahlen Steuern, viele von ihnen sind hier geboren oder als Kind in die Schweiz gekommen. Beziehen sie unverschuldet Sozialhilfe, können sie selbst nach vielen Jahren aus der Schweiz weggewiesen werden.»

Mit dem Inkrafttreten des neuen Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) im Januar 2019 gilt dies sogar für Menschen, die seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz leben. Zwar hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Weisung herausgegeben, dass Sozialhilfebezug wegen der Coronasituation nicht gemäss AIG bestraft werden soll. Doch die Auslegung der Weisung liegt bei den Kantonen. Und einige haben diese Weisung bereits missachtet. Dieser Umstand führt auch dazu, dass viele Menschen aus Angst vor einer Abschiebung sich trotz einer unverschuldeten Notsituation, nicht bei den Behörden melden. Was wiederum schwerwiegende Folgen für die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen und deren Familien haben kann.

Unterstützt die Petition und macht euer Umfeld auf die Lage aufmerksam.

https://poverty-is-not-a-crime.ch
https://www.caferevolution.ch/mudza

Was steht an?

27.08.21 – 29.08.21 in Wil (SG): Solidaritätscamp für Menschen auf der Flucht

Wir wollen nicht mehr zu Hause sitzen und die schreckliche Situation der Geflüchteten in Europa mittragen. Wir wollen, dass die Menschen bei uns menschenwürdig aufgenommen werden. Denn wir haben genug Platz in der Schweiz und der gesamten EU.

Im April 2021 hat eine Gruppe ein öffentliches Camp in St.Gallen durchgeführt. Aus Solidarität, um unwissenden Menschen diese Situation vor Augen zu führen und um die Regierungen zum Handeln zu bewegen.
Das nächste Solidaritätscamp soll im Spätsommer in Wil stattfinden, selbstverständlich wieder unter Einhaltung der Covid-19-Schutzmassnahmen.
 
Lust an dieser Aktion mitzuwirken? Jede Person ist willkommen sich bei uns zu beteiligen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten:
– Zum einen seid ihr herzlich eingeladen vorbeizukommen, mit uns ein paar befreite Stunden zu verbringen und unseren Forderungen zur Evakuation aller Lager Nachdruck zu verleihen! 
– Weiter sind wir auch immer auf der Suche nach Menschen, welche sich dazu bereit fühlen, ihre Geschichte rund um die Flucht in die Schweiz zu erzählen und somit allen Besucher*innen des Camps einen ehrlichen Eindruck zu ermöglichen. 
– Falls ihr noch weitere Ideen habt oder euch vielleicht sogar in die Organisation einbringen möchtet, meldet euch gerne bei uns! 

 

Kollektiv «Solidaritätscamp Ostschweiz» 
solicamp4moria@riseup.net | +41 77 480 79 66

https://www.instagram.com/solicamp4moria/?hl=de

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Schweigen über die Kolonialgeschichte: Bilder von Zuckerinseln
Literatur ist manchmal ein Zeugnis der Verdrängung. Unsere Autorin sucht nach Spuren der Sklaverei in der Karibik – in historischen Romanen.
https://taz.de/Schweigen-ueber-die-Kolonialgeschichte/!5784555/
 
Geflüchteten-Lager in der Schweiz als Dumping-Arbeitsmarkt

Erfahrungsbericht eines geflüchteten Menschen, der seit zwei Jahren in verschiedenen Asylcamps in der Schweiz lebt.
https://www.ajourmag.ch/gefluechteten-lager-als-dumping-arbeitsmarkt/
 

Malta and the El Hiblu 3
The story of how three teenage refugees ended up being accused of terrorism in Malta.
https://www.bbc.co.uk/sounds/play/w3ct1gxn

“Es bleibt die tödlichste Fluchtroute”
Seenotrettung im Mittelmeer: Schiff »Ocean Viking« mit mehr als 500 Menschen an Bord auf sich allein gestellt. Ein Gespräch mit Petra Krischok.
https://www.jungewelt.de/artikel/407782.eu-abschottung-es-bleibt-die-t%C3%B6dlichste-fluchtroute.html