Medienspiegel 7. August 2021

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+++BERN
bernerzeitung.ch 07.08.2021

«Eindeutig ein Härtefall»: Der verzweifelte Kampf der Freunde des Berner Ausschaffungshäftlings

Dem abgewiesenen Asylbewerber L. droht nach über sieben Jahren in der Schweiz die Ausschaffung. Seine Freundinnen und Freunde beharren auf dessen Bleiberecht.

Christoph Hämmann

Legales Unrecht. Auf diese kurze Formel komprimieren Lokis Freunde dessen Geschichte, wenn sie sonst alle Worte aufgebraucht haben, um das Schicksal des abgewiesenen Asylbewerbers und ihre Beziehung zu ihm zu schildern. Dessen Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und erfolgreiche Integration, die mit ihm geteilten Sorgen, die schlaflosen Nächte, die in den vergangenen Wochen alle quälten. Die einen daheim, Loki in Moutier im Ausschaffungsgefängnis.

Legales Unrecht: Zwei Worte fassen für die Menschen, für die Loki ein Freund oder gar ein Mitglied der Familie geworden ist, einen ganzen Aktenberg zusammen. Ende Juli zogen sie vor das Berner Amthaus und fragten auf einem grossen Banner: «Geschieht hier legales Unrecht?» Für ihre Antwort reichen zwei Buchstaben: Ja.

Zum ersten Gespräch mit dieser Zeitung kommen fünf der engsten Freundinnen und Freunde Lokis, die sich, wie sie sagen, «für das Bleiberecht eines Menschen einsetzen, den wir ins Herz geschlossen haben». Um dessen Odyssee zwischen den Rädern der hiesigen Asylmaschinerie zu strukturieren, haben sie auf zwei Flipchart-Blättern die wichtigsten Aspekte festgehalten. Treffpunkt ist die Schule Morillon im ehemaligen Zieglerspital, die der pensionierte Gymnasiallehrer Hans Peter Wenger als Mitglied des Vereins Ziegler Freiwillige aufgebaut hat.

Ein Missverständnis ganz zu Beginn

L., wie Loki als Behördenfall wohl heisst, stellte im Februar 2014, knapp 25-jährig, in der Schweiz ein Asylgesuch. Der Mann aus Bangladesh legte dar, dass er in seiner Heimat Studentendemonstrationen mitorganisiert habe. Danach sei er von der Polizei gesucht worden, seine Familie sei unter Druck gesetzt worden. Bei einer Rückkehr sei er an Leib und Leben bedroht.

Dass die Polizei in Bangladesh hochgradig korrupt sei, Regimekritiker plötzlich verschwänden und die Behörden Beweismittel fälschten, sei durch Menschenrechtsorganisationen dokumentiert, so Wenger. Er verweist auch auf die Reisehinweise des Aussendepartements, die ein eigentliches Schreckensbild zeichnen – was aber wie auch in anderen Fällen die Justiz nicht davon abhält, Menschen ins Land zurückzuschicken. «Und dann ist da noch die Gewissheit eines alten Lehrers, dass Loki glaubwürdig ist.»

«Seit fünf Jahren lernt Loki bei mir zwei- bis dreimal pro Woche Deutsch und hat durch sein beharrliches Engagement die Zertifikate A1, A2 und B1 erworben», sagt Wenger. Bei L.s Asylverfahren seien auf verschiedenen Ebenen Behördenfehler passiert, der erste ganz zu Beginn, als L. aufgrund eines längst geklärten Missverständnisses unterstellt wurde, er habe seine Identität verschleiern wollen – und sein Gesuch wohl auch deshalb abgelehnt worden sei. «Wenn das der Grund dafür ist, dass im ganzen Verfahren immer alles gegen Loki gelaufen ist, dann läuft etwas falsch in unserem System.»

Jobzusagen – und ein Arbeitsverbot

Eins der Flipchart-Blätter ist von oben bis unten mit einem dicken Strich zweigeteilt: auf der einen Seite Loki, der Mensch und seine Biografie, auf der anderen Seite der Fall L. Diese Seite zeigt, dass der Fall L. von Herbst 2017 bis Frühling 2020 behördenseitig ruhte, während sich auf der anderen Seite der Mensch Loki immer besser integrierte, einen Pfleger-Kurs besuchte, sein persönliches Netzwerk vergrösserte und vertiefte, intensiv Badminton trainierte und mit einer nationalen Lizenz an zahlreichen Turnieren teilnahm.

Im März 2020 konnte Loki bei einem Bekannten einziehen, der in seiner Wohnung ein freies Zimmer hatte, genehmigt vom Kanton dank Freunden, die dafür bürgten, dass er nicht untertauchen werde. Zweimal beantragten Gastrobetriebe beim Kanton, L. zu einem Vollpensum anstellen zu dürfen. Doch weil der Bund über L. ein Arbeitsverbot verhängt hatte, wurden die Gesuche vom Kanton abgewiesen. Im vergangenen Frühling, als L. ein Härtefallgesuch stellte, lagen diesem wieder zwei Jobzusagen bei – dazu über dreissig Briefe und mehr als zwanzig Solidaritätsbekundungen von Menschen aus seinem Umfeld, die damit ausdrückten, wie wichtig es ihnen ist, dass Loki in der Schweiz bleiben darf.

Der Fall L. ist am übersichtlichsten im Entscheid des kantonalen Zwangsmassnahmengerichts vom 14. Juli 2021 dargelegt. Auf sieben Seiten listet das Papier auf, wie L. mit einer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht gegen sein abgelehntes Asylgesuch scheiterte, weil nicht darauf eingetreten wurde, wie er immer wieder zu Ausreisegesprächen vorgeladen wurde, wie auf ein Wiedererwägungsgesuch nicht eingetreten wurde und wie sich alles wiederholte, als er ein zweites Asylgesuch stellte.

«Nicht an die Hand genommen» wurde auch das Härtefallgesuch, wie der kantonale Migrationsdienst Anfang Juni mitteilte – und damit L.s letzte Hoffnung zerstörte, nach dem abgeschlossenen Asylverfahren doch noch um eine Ausschaffung aus der Schweiz herumzukommen.

Das Gesetz verlangt fünf, die Praxis zehn Jahre

«Das ist unbegreiflich und beschämend», sagt Markus Tröhler, heilpädagogischer Assistent und wie Hans Peter Wenger und der pensionierte SBB-Angestellte Mani Affolter einer der Wortführer der vielen Unterstützerinnen und Unterstützer Lokis. Dieser sei doch eindeutig ein Härtefall, sagt Tröhler und verweist auf den Bundesrat, der im vergangenen Dezember bekräftigte, dass in solchen Fällen «Ausnahmen vom Grundsatz der Ausschliesslichkeit des Asylverfahrens zulässig» seien.

Voraussetzung dafür: Die betroffene Person muss seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz sein, was L. mit seinen 7,5 Jahren erfüllt. Dennoch weigerte sich das Migrationsamt, das Härtefallgesuch ernsthaft zu prüfen, geschweige denn an das Staatssekretariat für Migration weiterzuleiten, da dieses «bei Einzelpersonen in der Praxis eine Aufenthaltsdauer von zehn Jahren ab Einreichung des Asylgesuchs verlange». Tröhler verzweifelt ob dieser Argumentation beinahe: «Wir sind überzeugt, dass im Sinne der offenen Haltung des Bundesrats sämtliche Bewilligungskriterien für eine Ausnahme erfüllt sind.» Aber natürlich sei ihm bewusst, dass es im Kanton Bern «politischen Druck gibt, Ausschaffungen zu produzieren».

Dieser Druck habe sich im März 2020 dramatisch verschärft, weil seither im Kanton Bern Personen mit einem negativen Asylentscheid mit dem Ziel der schnellen Ausreise in Rückkehrzentren untergebracht würden. «Damit wird auch Menschen wie Loki, die sich in der Schweiz schon lange integriert haben, jegliche Perspektive genommen», sagen Tröhler und seine Freunde. Für sie ist das «ein systemischer Fehler», und es verstärkt ihr Gefühl, einer Maschinerie gegenüberzustehen, in der Kantons- und Bundesbehörden gegenseitig aufeinander verweisen und einander die Verantwortung zuschieben – und sich hinter Gesetzesartikeln verstecken, während sie Unrecht produzieren. Legales Unrecht.

Permanenter Druck zur «freiwilligen» Ausreise

In diesen Tagen wäre es fast zur Ausschaffung von L. gekommen. Am Sonntag, dem 1. August, wurde ihm im Ausschaffungsgefängnis in Moutier mitgeteilt, dass er am nächsten Tag ins Zürcher Flughafengefängnis verfrachtet werde. Drei Wochen zuvor, am 12. Juli, war er in seiner privaten Unterkunft festgenommen und bald darauf in Moutier eingesperrt worden, für den 3. August buchten die Behörden einen Flug nach Bangladesh.

Nachdem Wenger, Tröhler, Affolter und dessen Partnerin Katharina Schober, ebenfalls eine pensionierte SBB-Angestellte, am 1. August von der bevorstehenden Ausschaffung erfahren hatten, trafen sie sich in ihrer Verzweiflung vor dem Migrationsdienst, wo am Sonntag natürlich niemand erreichbar war. Affolter telefonierte mit einem involvierten Polizisten, dessen Nummer er hat, und fragte nach dem weiteren Vorgehen. Dann telefonierte er mit dem Gefängnis in Moutier und fragte das Gleiche. «Ich werde den 1. August nie mehr feiern», sagte er dazwischen aufgebracht. «Dieses ehemals humanitäre Land funktioniert ja gar nicht ohne Ausländerinnen und Ausländer, und Loki würde seit Jahren Steuern zahlen, wenn man ihn liesse.»

Schliesslich konnte Affolter mit Loki reden, der auf die Frage nach seinem Befinden keinen Ton herausbrachte. «Bleib stark», sagte Affolter immer wieder. «Bleib stark. Wir kämpfen für dich. Bleib stark.» Er dürfte es auch zu sich selber gesagt haben, der kräftige Mann, der wie Tröhler die Tränen nicht zurückhalten konnte. Dieser versicherte Loki schliesslich, dass sie am Dienstag, dem Tag des Flugs, nach Zürich fahren würden. «Verlier den Mut nicht ganz, wir werden versuchen, noch etwas zu erreichen.»

Wie ein Verbrecher sei L. in Handschellen und im «Jail-Train», dem Gefängniszug, auf einer fünfstündigen Holperfahrt nach Zürich transportiert worden. Im Flugzeug hatten die Behörden nur einen Sitz reserviert, Begleitung war nicht vorgesehen. Es war der Versuch, L. zu einer «freiwilligen» Rückkehr zu bewegen. Zu diesem Zweck hatte die zuständige Sachbearbeiterin des kantonalen Migrationsdienstes laut seinen Unterstützern in den Wochen davor immer wieder auf L. eingewirkt und unter anderem das Angebot für die Rückkehrhilfe, die man ihm mitgeben werde, in mehreren Schritten auf zuletzt 3000 Franken erhöht.

Appell an Philippe Müller und Karin Keller-Sutter

L. sagte den Polizisten im Flughafengefängnis das, was er auch der Sachbearbeiterin jedes Mal gesagt hatte: Er könne nicht freiwillig zurück in seine Heimat gehen, weil er dort bedroht sei, und daran könne keine Geldsumme etwas ändern. «Die Polizisten waren beeindruckt von der Ruhe und Entschlossenheit, die L. zeigte», sagt Tröhler, der zusammen mit Wenger zum Zürcher Flughafen fuhr, wo sie zwar nicht zu L. vordringen konnten, diesem aber hastig geschriebene Abschiedsbriefe zukommen lassen und später mit beteiligten Polizisten sprechen konnten.

Bis zwei Stunden vor dem Flug erhielt L. im Flughafen eine «allerletzte Bedenkzeit», dann wurde er nach Moutier zurückgeführt. Im Wettlauf gegen die Zeit, von dem seine Freundinnen und Freunde reden, haben sie wieder ein bisschen was herausschinden können. Was bleibt, ist dieser «unerträgliche Druck», wie ihn Markus Tröhler ausdrückt: «Er eingesperrt, wir ausgesperrt.»

Diesem Druck trotzen Lokis Unterstützer, indem sie der Ungewissheit und Ohnmacht ihre Hoffnung und ihr anhaltendes Engagement entgegenhalten. Mit einem offenen Brief haben sie sich an die involvierten Beamtinnen und Beamten gewandt, an die vielen Rädchen in der Maschinerie. Und mit einem Appell an den kantonalen Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) und die nationale Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) hieven sie den Fall L. auf die höchste politische Ebene mit dem Ziel, dass dessen Situation neu beurteilt wird. «Es geht nicht um den Fall L., wie er sich vor über sieben Jahren präsentiert haben mag. Es geht um unseren Freund Loki.»
(https://www.bernerzeitung.ch/der-verzweifelte-kampf-der-freunde-des-berner-ausschaffungshaeftlings-214828490867)


+++BASEL
„Die Menschen im #Bundesasyllager #Basel haben gerade erfahren, dass die Quarantäne um 10 Tage verlängert wird! Das SEM unternimmt nichts zum Schutz der Menschen, nimmt sich zurück und überlässt die Menschen sich selbst.“
(https://twitter.com/3rosen/status/1423979407904018440)


„Protest im #Bundesasyllager #Bässlergut #Camp50: Vor der heutigen Abendessenausgabe stimmen die Menschen Parolen an: „Freiheit, Freiheit!“ gegen die anhaltende Quarantäne aufgrund desaströser Hygienemassnahmen des @SEMIGRATION“
(https://twitter.com/3rosen/status/1424036463340097537)


+++SCHWEIZ
derbund.ch 07.08.2021

Flüchtlinge aus Afghanistan: Sie fürchten jeden Tag, zurück in den Krieg geschickt zu werden

Die Schweiz will trotz eskalierender Gewalt abgewiesene Asylsuchende nach Afghanistan ausschaffen. «Wir haben grosse Angst», sagen zwei Betroffene.

Raphaela Birrer

Schwierig. Kein anderes Wort benutzen Sakhi und Kazem häufiger, um ihr Leben zu beschreiben. Schwierig ist die Situation in ihrer Heimat. Schwierig ist ihr Alltag in der Schweiz. Schwierig auch ihre Zukunftsperspektive.

Sakhi und Kazem (Namen geändert), zwei junge Männer aus Afghanistan, befinden sich in einem rechtlosen Zustand. Ihre Asylgesuche wurden bereits vor mehreren Jahren abgelehnt. Seither leben sie in einer Notunterkunft. Von 8.50 Franken am Tag. Und in der ständigen Angst, morgens von der Polizei abgeholt zu werden. Diese Angst ist in den letzten Wochen grösser geworden. Denn das Staatssekretariat für Migration (SEM) will wieder Ausschaffungen nach Afghanistan durchführen. Zuletzt hat die Behörde wegen der Covid-Krise darauf verzichtet. Nun sollen 131 Personen in das Bürgerkriegsland am Hindukusch rückgeführt werden. Nähere Angaben zu den Betroffenen macht das SEM nicht. Gemäss Hilfsorganisationen handelt es sich dabei meist um junge, alleinstehende Männer.

Männer wie Sakhi (32) und Kazem (27). Beide haben eigenen Angaben zufolge nach der Ausbildung in Afghanistan Militärdienst geleistet. Beide gehören der schiitischen Hazara-Minderheit an, die von den Taliban in genozidaler Absicht verfolgt werden. Sakhi ist in Ghazni im Osten des Landes aufgewachsen und hat in Kabul studiert. Kazem kommt aus Herat im Westen und hat dort die Schule absolviert.

Sie kochen für Bedürftige und unterrichten Deutsch

Ihr Einsatz im Militär und ihre Ethnie machten sie zur doppelten Zielscheibe der Extremisten. «Ich musste Afghanistan Hals über Kopf verlassen», sagt Kazem in gut verständlichem Hochdeutsch. Die Taliban hatten demnach seinen Eltern bei einem Hausbesuch gedroht, ihn umzubringen, wenn er aus dem Militär nach Hause zurückkehre. Kazem emigrierte zunächst in den Iran, wo er acht Monate arbeitete, um das Geld für die Flucht nach Europa zu beschaffen.

Auch Sakhi berichtet von zunehmenden Repressionen in der Heimat. «In so einer Welt konnte und wollte ich nicht mehr leben», sagt er. Anders als Kazem sammelte er das Geld für die Flucht in der Familie und reiste dann mit Schleppern direkt über die westliche Balkanroute in die Schweiz.

Doch in der Schweiz wurden ihre Asylgesuche abgelehnt. Die jungen Männer, die sich aus der Notunterkunft kennen, sind trotzdem mehrere Jahre geblieben, haben Deutsch gelernt und leisten heute gemeinnützige Arbeit bei der Heilsarmee; sie kochen für Bedürftige und unterrichten Deutsch. Bei der Heilsarmee erhalten sie Lebensmittel, um in der Notunterkunft zu kochen. Denn 8.50 Franken pro Tag «reichen ja nirgends hin», sagt Kazem, ohne zu klagen. Abends legen sie sich mit Beklemmung ins Bett. Es könnte ihr letzter Tag in der Schweiz gewesen sein.

Kazem und Sakhi – an der Situation der beiden jungen Männer lässt sich genau aufzeigen, wie die Schweiz mit afghanischen Asylsuchenden verfährt:

– Spitzenplatz in der Asylstatistik. Die beiden Afghanen sind in der Flüchtlingskrise 2015 geflohen. Damals stiegen die Asylgesuche in der Schweiz sprunghaft an. Allein aus Afghanistan waren es 7831 Personen (Vorjahr: 747). Heute führt das Land die Asylstatistik sogar an – noch vor Eritrea: Im laufenden Jahr wurden bereits 1338 Gesuche gestellt, 2020 waren es 1681. Insgesamt befinden sich aktuell über 12’000 Personen aus Afghanistan im Asylprozess. Das ist der mit Abstand höchste Wert aller Nationen.

– Hohe Schutzquote. 74 Prozent der afghanischen Gesuchsteller wird aktuell Asyl oder eine vorläufige Aufnahme gewährt. Letztes Jahr waren es sogar 84 Prozent. Das ist gemäss SEM der höchste Wert in Europa. Für eine Aufnahme reicht es nicht, dass im Herkunftsland Bürgerkrieg herrscht. Asylsuchende müssen individuell verfolgt worden sein. Kazem und Sakhi konnten das nicht ausreichend belegen.

– Rückführungen in drei Städte. Das SEM hält Rückführungen in die von der Regierung kontrollierten Städte Kabul, Herat und Mazar-i Sharif für zumutbar, sofern die Betroffenen dort ein «tragfähiges soziales Netz» haben, wie Sprecher Lukas Rieder sagt. Sakhi hat in Kabul studiert, Kazem kommt aus Herat. Auch damit hat das SEM die beiden ablehnenden Entscheide begründet.

– Neu wieder Zwangsausschaffungen. Dass Kazem und Sakhi bereits Jahre von der Nothilfe leben und nicht ausgeschafft worden sind, liegt an einer Blockade: Im September 2017 scheiterte eine von insgesamt elf Zwangsausschaffungen in jenem Jahr. Die afghanischen Behörden zwangen die Schweizer Polizisten am Flughafen Kabul, einen abgewiesenen Asylsuchenden wieder mitzunehmen. Danach setzte die Schweiz Wegweisungen bis zum März 2019 aus. Nach sechs Rückführungen verunmöglichte die Corona-Pandemie Ausschaffungen erneut. Jetzt will sie die Schweiz wieder aufnehmen – wann genau, gibt das SEM nicht bekannt. Demnächst sei keine konkrete Rückkehroperation geplant, sagt Rieder. Das SEM schliesse aber nicht aus, vereinzelt prioritäre Rückführungen, etwa von straffälligen Personen, in den kommenden Monaten durchzuführen.

Diese Pläne stossen auf vehemente Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Afghanistan ist gemäss Weltfriedensindex das gefährlichste Land der Welt. Und zurzeit verschlechtert sich die Sicherheitslage täglich. Seit Beginn des westlichen Truppenabzugs am 1. Mai erobern die islamistischen Taliban Dutzende Bezirke und stossen zunehmend in die grossen Städte vor. Mit einem Anschlag auf den Verteidigungsminister in Kabul demonstrierten sie diese Woche ihren absoluten Machtanspruch.

«Es ist unverantwortlich, jetzt Menschen nach Afghanistan abzuschieben, wo Chaos und Gewalt herrschen», sagt Alice Giraudel von Amnesty International Schweiz. Offensichtlich wollten die Schweizer Behörden ein Zeitfenster nutzen, ehe die Lage vollends eskaliere. «Anders als das SEM behauptet, ist keine Region für Rückkehrende sicher, auch die Hauptstadt Kabul nicht», so Giraudel.

Afghanistan hat denn auch die Schweiz und andere europäische Länder Anfang Juli gebeten, Rückführungen von abgewiesenen Asylsuchenden wegen der Taliban-Eroberungen und der Corona-Krise während dreier Monate aufzuschieben. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Österreich diese Woche die Abschiebung eines Afghanen vorübergehend verboten.

Das SEM will dennoch, wie etwa Deutschland, an den Abschiebungen festhalten. Man beobachte die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan aufmerksam und sei sich der angespannten Lage bewusst, sagt Sprecher Rieder. Das Vorrücken der Taliban beschränke sich bisher auf ländliche Regionen. Eine Wegweisung werde stets individuell und sorgfältig geprüft. Das SEM könne nicht garantieren, dass einer Person im Einzelfall nichts zustosse, entgegnet Giraudel. Für die Betroffenen bestehe ein ernsthaftes Risiko von Folter und Menschenrechtsverletzungen.

Tatsächlich legt eine im Juni erschienene Studie der Universität Bern im Auftrag von Hilfsorganisationen nahe, dass abgeschobene Asylsuchende schon allein wegen ihres Aufenthalts in Europa in der Heimat bedroht sind. Demnach haben über 90 Prozent der rund 300 befragten, aus Deutschland zurückgekehrten Personen Gewalt erlebt. Die Gründe: Die Taliban verfolgen sie wegen ihrer angeblichen «Verwestlichung», Kreditgeber wegen noch unbezahlter Schulden für die Flucht, Kriminelle wegen ihres vermeintlichen Wohlstands als Europa-Rückkehrer. Deshalb flohen 69 Prozent der Befragten im Untersuchungszeitraum bereits wieder aus Afghanistan.

Dass die Schweiz trotzdem Rückschaffungen durchführen wolle, versetze abgewiesene Afghanen in Panik, sagt Hanna Gerig, Geschäftsleiterin des Vereins Solidaritätsnetz Zürich, einer Anlaufstelle für Flüchtlinge. «Manche schlafen deswegen sogar im Wald statt in der Notunterkunft.» Gerig spricht von «politischem Kalkül» der Migrationsbehörden, denn es sei in keiner Weise nachvollziehbar, weshalb ausgerechnet jetzt mehr Personen ausgeschafft werden sollten.

Sakhi und Kazem wissen, dass ihre Situation nahezu ausweglos ist. Aber sie setzen ihre Hoffnung auf ein Härtefallgesuch. Darauf, dass sich ihre guten Deutschkenntnisse, ihr Arbeits- und Integrationswille und ihre Referenzen begünstigend auswirken. Es ist diese vage Aussicht auf eine Aufenthaltsbewilligung, die sie antreibt. «Wir haben jetzt wertvolle Lebensjahre mit Warten verloren, aber alles ist besser als ein Leben in Afghanistan.»
(https://www.derbund.ch/sie-fuerchten-jeden-tag-zurueck-in-den-krieg-geschickt-zu-werden-253629477075)


+++MITTELMEER
«Ocean Viking» mit 550 Bootsmigranten darf in Sizilien anlegen
Die «Ocean Viking» hat derzeit rund 550 Bootsmigranten an Bord. Das Schiff erhielt nun Erlaubnis, in Sizilien an Land zu gehen.
https://www.nau.ch/news/europa/ocean-viking-mit-550-bootsmigranten-darf-in-sizilien-anlegen-65978427
-> https://www.derstandard.at/story/2000128766387/auch-ocean-viking-mit-550-migranten-darf-in-sizilien-anlegen?ref=rss
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-08/ocean-viking-sizilien-erlaubnis-anlegen-migration-fluechtlinge-seenotrettung-mittelmeer
-> https://www.tagesschau.de/ausland/seenotrettung-157.html


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Kampf um Plätze: Fahrende sind im Moment in St.Gallen
https://www.tvo-online.ch/aktuell/kampf-um-plaetze-fahrende-sind-im-moment-in-st-gallen-143291080


+++FREIRÄUME
Wenn eine ganze Stadt in ein Stadion passt
Aus dem ehemaligen Fussballstadion «Gurzelen» machen kreative Köpfe eine einzigartige Mischung aus Bandraum, Garten, Ateliers, Skate- und Tennisplatz.
https://www.srf.ch/radio-srf-3/srf-3-musiksommer-wenn-eine-ganze-stadt-in-ein-stadion-passt


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Stadträtin zahlt der Stadt Schadensersatz
Die Klage der Stadt wegen der Nacht- und Nebel-Aktion mit den rosaroten Streifen auf der Bahnhofbrücke endet vor Gericht mit einem Vergleich. Alice Kropf muss den Schaden bezahlen; vom Vorwurf der Verkehrsregelverletzung wurde die SP-Parlamentarierin freigesprochen.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/192484/


+++POLIZEI LU
Wird’s brenzlig, wird gefilmt: Berner Polizei testet Bodycam – und weckt Luzerns Neugier
Kommt es zu einer Straftat, können Polizisten im Kanton Bern neuerdings eine am Körper getragene Kamera einschalten. Der Pilotversuch mit den Bodycams wird auch in Luzern und Zug interessiert beobachtet.
https://www.zentralplus.ch/berner-polizei-testet-bodycam-das-weckt-luzerns-neugier-2157377/


+++POLIZEI DE
Früherer Polizeichef über Fehlerkultur: „…dann ist das Racial Profiling“
Lutz Müller wollte als Polizeichef Diversität, Transparenz und eine Fehlerkultur etablieren. Ein Gespräch über seine Amtszeit, Polarisierung und Korpsgeist.
https://taz.de/Frueherer-Polizeichef-ueber-Fehlerkultur/!5789096/


Bundeszentrale für politische Bildung: Erneut eingegriffen
Wieder hat das Innenministerium in der Bundeszentrale für politische Bildung interveniert. Diesmal bei einem Buch, das Probleme der Polizei thematisiert.
https://taz.de/Bundeszentrale-fuer-politische-Bildung/!5786742/


+++VERSCHWÖRUNBGSIDEOLOGIEN
«Freunde der Verfassung», «Mass-Voll» & Co.: Sie schuften, die SVP sahnt ab
Lange schien die SVP keinen Tritt zu finden. Nun ist sie wieder im Aufwind – und profitiert vom Auftauchen neuer, staatskritischer Bewegungen.
https://www.blick.ch/politik/freunde-der-verfassung-mass-voll-co-sie-schuften-die-svp-sahnt-ab-id16735193.html


Coronavirus: Skeptiker ziehen durch Thun BE
Heute versammeln sich hunderte Skeptiker in Thun BE zu einer Demo gegen die Massnahmen zum Coronavirus. Die Kundgebung ist unbewilligt.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-skeptiker-ziehen-durch-thun-be-65976958
-> https://twitter.com/__investigate__


Auf allen Kanälen: Falsche Ausgewogenheit
Wer extremen Minderheitenmeinungen immer wieder ein mediales Forum bietet, opfert wissenschaftlichen Konsens auf dem Altar von hirnrissigen Debatten.
https://www.woz.ch/2131/auf-allen-kanaelen/falsche-ausgewogenheit



nzz.ch 07.08.2021

 «20 Minuten» und die Nazi-Vergleiche

Die Medienkritik.

Felix E. Müller

Auf «20 Minuten» haben sich in letzter Zeit die Impfgegner in vielen Kommentaren ausgetobt und dabei auch mit Nazi-Vergleichen operiert – sie seien Opfer eines Holocaust, hiess es etwa. Nun nahm Chefredaktor Gaudenz Looser dazu Stellung. Zwar verurteilte er solche Äusserungen klar, versuchte dann aber zu erklären, weshalb man diese bis anhin geduldet habe. Das ging gründlich schief.

Er stellte die Kommentarspalte als demokratiepolitisch relevante Institution dar, weil sie ein Seismograf für die Stimmung in der Bevölkerung sei. Diese vermöge so, ihre Ansichten sofort und ungefiltert auszudrücken. Doch es ist nicht die Durchschnittsbevölkerung, die sich hier äussert, sondern vorwiegend das rechte politische Lager. Und «ungefiltert» kann in diesem Zusammenhang keine positive Qualität sein, weil sich die Kommentare häufig durch Ressentiments auszeichnen.

Solche an die Öffentlichkeit zu tragen, stellt keinen Dienst an der Demokratie dar. Deswegen trifft auch die zweite Behauptung nicht zu, die Kommentarspalten würden einen «echten Dialog» fördern. Wer den politischen Gegner beschimpft, hört ihm nicht zu, was durch die Anonymität, die in diesen Spalten garantiert ist, zusätzlich erleichtert wird.

Schliesslich meinte Looser, die Impfgegner hätten sich wohl nicht mehr anders als mit solch schrillen Nazi-Vergleichen gegen das Gefühl einer totalitären Ausgrenzung auflehnen und Gehör verschaffen können. Damit entschuldigt er das, was er vorher gerügt hat.

Nein, es ist selbstverständlich möglich, Kritik an der offiziellen Corona-Politik zu äussern, ohne Metaphern und Bilder zu benutzen, die letztlich im deutschen Rechtsextremismus wurzeln und antisemitisch kontaminiert sind. Und es kann nicht Aufgabe von «20 Minuten» sein, solches Denken in der Schweiz salonfähig zu machen.

Felix E. Müller ist Senior Advisor des SEF und daneben publizistisch tätig.
(https://nzzas.nzz.ch/meinungen/20-minuten-und-die-nazi-vergleiche-ld.1639405)



„Querdenker“-Bewegung radikalisiert sich: Eskalation als Zeichen der Schwäche
Die „Querdenker“-Bewegung ist nicht so stark, wie es im Chaos am 1. August für viele den Anschein hatte. Die nächste Großdemonstration ist abgesagt.
https://taz.de/Querdenker-Bewegung-radikalisiert-sich/!5789338/
-> https://www.tagesspiegel.de/berlin/verschwoerungsideologen-bekriegen-sich-gegenseitig-so-kaputt-ist-die-querdenken-bewegung/27493124.html



aargauerzeitung.ch 07.08.2021

Corona-Impfungen – «Violette Zonen» gegen Diskriminierung: Das Netzwerk der Impfskeptiker macht mobil

Der Druck für eine Zertifikatspflicht wird immer grösser. Nun reagieren die Kritiker der Coronamassnahmen: Sie schaffen «Violette Zonen» gegen Diskriminierungen. Ihr Netzwerk hat viel Mobilisierungspotenzial.

Othmar von Matt

Binja Betschart, medizinische Masseurin, hat eines. Genauso wie Susanne Brandenberger und Luis Kröss von Brandenberger Reisen. Eines der Schilder mit der Aufschrift «Violette Zone». Sie besagen: «Hier sind alle willkommen, mit oder ohne Covid-Zertifikat.»

Violett ist die Farbe der Jugendbewegung «Mass-Voll». Sie hat die Aktion gestartet, 50 Geschäfte und Unternehmen machen bereits mit, nun werden tausend A4-Kartonschilder gedruckt.

Die «Violette Zone» ist eine Anspielung auf die grünen, orangen und roten Zonen, die Gesundheitsminister Alain Berset im Mai für das Covid-Zertifikat ausgerufen hat. An grünen Orten wie im ÖV oder in Schulen braucht es kein Zertifikat. An orangen Orten wie in Restaurants oder an Veranstaltungen ist möglicherweise eines nötig. Und an roten Orten wie an Grossveranstaltungen ist es unabdingbar.

Die Zertifikatspflicht erhält zurzeit massiv Aufwind. In New York und Italien kann man nicht mehr ohne Zertifikat ins Restaurant, in Frankreich nicht mehr in die Fernzüge. Auch in der Schweiz werden Forderungen nach einer Pflicht immer lauter. Die medizinische Fakultät der Uni Bern etwa prüft, nur noch Geimpfte und Genesene in die Hörsäle lassen. Damit würde aus 3-G (Geimpft, Genesen, Getestet) 2-G.

«Ich behandle jeden, ob er geimpft ist oder nicht»

Doch auch die Gegenseite rüstet auf. Mass-Voll bekämpft diese Zulassungsbeschränkungen. «Das Zertifikat ist der Motor für die Spaltung unserer Gesellschaft», sagt Nicolas A. Rimoldi, Gründer und Co-Präsident der Bewegung. «Wir wehren uns mit aller Kraft gegen diese Diskriminierung.»

Es sei «das grundlegende Recht jedes Einzelnen zu entscheiden, ob er sich impfen lassen will oder nicht», sagt Binja Betschart, Inhaberin einer Praxis für medizinische Massagen und Therapien in Nesslau (SG). «Ich behandle jeden, ob er geimpft ist oder nicht.» Sie hat eine «Violette Zone». Genauso wie Susanne Brandenberger, Inhaberin von Brandenberger Reisen. «Wir nehmen auf unseren Carreisen jeden mit, wie er ist», sagt sie. «Mit Maske oder ohne Maske. Mit Impfung oder ohne Impfung. Wir leben die Menschheitsfamilie und die Menschenrechte.» Brandenberger setzt auf Eigenverantwortung: «Man geht nur dann unter die Leute, wenn man gesund ist.»

Betschart und Brandenberger gehören dem neuen Verband Freie KMU an. Er wurde im Januar gegründet und umfasst 171 Unternehmen. «Viele Coiffeure, Wirte und Ladenbesitzer waren überhaupt nicht glücklich, wie sie von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden vertreten wurden», sagt Co-Präsident Patrick Jetzer.

Er ist kein Unbekannter. Der ehemalige Aussendienstmitarbeiter des Pharmaunternehmens Pfizer ist Autor des Buches «Corona Fakten Check», das in dritter Auflage erscheint. Er organisiert Kundgebungen von Massnahmen-Skeptikern. Pfizer stellte den gelernten Chemielaboranten und Pharmaspezialisten mit eidgenössischem Fachausweis deswegen frei. Jetzer ist nun mit Zurich Gold im Edelmetallhandel tätig – und hat eine «Violette Zone».

Mass-Voll und der Verband freie KMU sind Teil eines Netzwerkes, das eine Art Parallelwelt zu den bestehenden politischen Strukturen ist. Es lehnt die Coronamassnahmen ab, pocht auf Freiheit, Grundrechte, Menschenrechte und Verfassung. Jetzer sieht den Verband Freie KMU als Bürgerrechtsverein, weil er die UNO-Menschenrechtscharta von 1948 verteidigt. Jeder habe das Recht auf freies Wirtschaften, stehe dort. «Die Corona-Zwangsmassnahmen beschneiden dieses Recht aber.»

Auch bei Mass-Voll denkt man so. «Die Corona-Zwangsmassnahmen richten weitaus mehr Schaden als das Virus an», heisst es auf ihrer Website. Rimoldi sagt: «Wir fordern die bedingungslose und sofortige Wiederherstellung der Grundrechte.»

Das Netzwerk hat eine grosse Reichweite. Das zeigt eine Analyse der Auftritte der sechs wichtigsten Organisationen auf Social Media (siehe Grafik). Der Messengerdienst Telegram ist intern ein wichtiger Kanal, weshalb die Abonnentenzahlen einen Eindruck geben über die Mobilisierungskraft. Etwa zehn Prozent der Abonnenten müssen abgerechnet werden – es sind Journalisten und weitere Beobachter.

Die Bewegungen Freunde der Verfassung (13218 Telegram-Abonnenten) und Mass-Voll (8289), der Verein Stiller Protest (5412), das medizinisch-wissenschaftliche Netzwerk Aletheia (4287) und das Aktionsbündnis Urkantone (2175) kommen auf etwa 30000 Sympathisanten. Das Aktionsbündnis Ostschweiz, nicht auf Telegram, zählt 5113 Sympathisanten.

Dem losen Verbund gehören weitere Organisationen an wie die Aktionsbündnisse Aargau-Zürich und Oberland, das Netzwerk Impfentscheid, die Freiheitliche Bewegung Schweiz, SOS Gesundheitsberufe und die Freiheitstrychler. Damit kommt die Bewegung auf ein Mobilisierungspotenzial von über 40000 Personen, in etwa die Grösse des Kantons Nidwalden.

SOS Gesundheitsberufe wurde erst vor kurzem gegründet. Die Organisation vernetzt Fachleute in allen Gesundheitsbereichen. Mehrere hundert Mitglieder gehörten ihr an, schreibt Kassierin Cécile Schmutz. Die Tendenz sei stark steigend. «Im Frühjahr 2020 wurde für uns geklatscht», schreibt Schmutz. Und jetzt werde öffentlich von Test- und Impfobligatorium im Gesundheitswesen gesprochen. «Wir sollen noch stärker diskriminiert und ausgegrenzt werden.» Für SOS Gesundheitsberufe ist die Impffrage zentral. Die Mitglieder liessen sich nicht impfen, heisst es auf einem ihrer Flyer: «Wir an der Front entscheiden uns bewusst gegen diese Gen-Therapie.»

Die Skepsis gegenüber der Covid-Impfung ist gross im Netzwerk. Die meisten vertrauen ihr nicht, weil die mRNA-Technologie neu ist und der Impfstoff schnell entwickelt wurde. Generelle Impfgegner sind selten. Es gibt sie nur beim Netzwerk Impfentscheid.

«Erstmals hat eine Impfung eine politische und moralische Note»

«Selbstverständlich bin ich nicht geimpft mit dem genbasierten Covid-Impfstoff und werde das auch nicht tun», sagt Ex-Pfizer-Mitarbeiter Jetzer. Mass-Voll-Gründer Rimoldi, der im Oktober infiziert war, betont: «Ich bin gegen alles geimpft, aber nicht gegen Covid. Denn erstmals hat eine Impfung eine politische und moralische Note. Das ist gefährlich. Mass-Voll ist gegen Zwang, nicht gegen die Impfung.»

Das versuchte Rimoldi dem Gesundheitsminister persönlich mitzuteilen. Mass-Voll war mit zwölf Personen in Gruyères (FR) präsent, als Alain Berset seine 1.-August-Rede hielt. Für den Eintritt war ein Covid-Zertifikat notwendig. «Wir standen hinter Gittern, weggesperrt wie Vieh», sagt Rimoldi. Berset habe davon gesprochen, dass direkte Debatten wichtig seien. «Doch als ich ihm zurief ‹Herr Berset, ich habe eine Frage›, schaute er weg – arrogant und abschätzig.»

Berset bekam nach der Rede einen langen, herzlichen Applaus. Die Mass-Voll-Leute hingegen buhten ihn aus. Darauf reagierte die Bevölkerung postwendend – mit «Alain-Alain»-Rufen.

Es waren die Stimmen der Mehrheitsgesellschaft, die sich in Gruyères lautstark bemerkbar machten.
(https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/die-parallelwelt-der-covid-impfskeptiker-ld.2171546)