Medienspiegel 6. Juli 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++THURGAU
Bischofszell: Der höchste bekannt gewordene Gewinn aus einem einzelnen Asylfall
Globalpauschalen für Asylsuchende: Das Verwaltungsgerichtsurteil lässt wenig Spielraum für einen besonderen Thurgauer Weg.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/frauenfeld/bischofszell-der-hoechste-bekannt-gewordene-gewinn-aus-einem-einzelnen-asylfall-ld.2160487


+++SCHWEIZ
Keine Corona-Zwangstests für Ausschaffungen
Um Ausschaffungen zu ermöglichen, sollen abgewiesene Asylsuchende künftig zu einem Covid-19-Test gezwungen werden können. Das sieht ein Gesetzesentwurf des Bundesrates vor. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) lehnt das Vorhaben ab. Zwangstests stellen einen unverhältnismässigen Eingriff dar und verletzen das Grundrecht auf körperliche Integrität. Ausserdem würde ein Testzwang zu einer Ungleichbehandlung mit dem Rest der Bevölkerung führen.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/medienmitteilungen/keine-corona-zwangstests-fuer-ausschaffungen
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/fluchtlingshilfe-gegen-covid-19-testpflicht-bei-ausschaffungen-65959870


+++ÖSTERREICH
Amnesty: Nehammers Schweigen nach Pushback-Urteil ist “schändlich”
Gericht sah den österreichischen Pushback von Migranten nach Slowenien als rechtswidrig an. Innenministerium verweist auf steirische Landespolizeidirektion
https://www.derstandard.at/story/2000127988482/amnesty-nehammers-schweigen-nach-pushback-urteil-ist-schaendlich?ref=rss


+++GROSSBRITANNIEN
Grossbritannien will Asylrecht deutlich verschärfen
Trotz Streit mit der EU will die konservative britische Regierung das Asylrecht verschärfen. Ein neuer Gesetzesentwurf sieht Haftstrafen für Schmuggler vor.
https://www.nau.ch/politik/international/grossbritannien-will-asylrecht-deutlich-verscharfen-65959753
-> https://www.derstandard.at/story/2000127992306/britische-innenministerin-patel-will-asylrecht-erneut-verschaerfen?ref=rss
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-07/migration-grossbritannien-asylrecht-abschiebungen-strafen


+++MITTELMEER
Seenotrettung im Mittelmeer: »Ocean Viking« sucht Hafen – mit fast 600 Menschen an Bord
Hunderte Geflüchtete rettete die »Ocean Viking« zuletzt von viel zu kleinen Booten vor Libyen und Malta. Nun ist das Schiff selbst überfüllt. Doch bislang darf es keinen Hafen anlaufen.
https://www.spiegel.de/ausland/mittelmeer-ocean-viking-sucht-sicheren-hafen-fast-600-menschen-an-bord-a-84bd0c87-3daa-4297-9f3e-9642ef58b3f3
-> https://www.nau.ch/news/europa/ocean-viking-sucht-sicheren-hafen-mit-rund-570-migranten-65959786
-> https://taz.de/Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5784299/
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/seenotrettung-mittelmeer-fluechtlinge-ocean-viking-eu
-> https://sosmediterranee.com/press/press-release-ocean-viking-572-survivors-need-to-disembark-in-a-place-of-safety-without-further-delay/
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/seenotrettung-mittelmeer-fluechtlinge-ocean-viking-eu


+++BELARUS
Lukaschenko schickt illegale Einwanderer über Litauen in die EU – Tagesschau
Der belarussische Machthaber Aleksander Lukaschenko antwortet mit unmissverständlichen Gegenmassnahmen auf die EU-Sanktionen. Er lässt Migrantinnen und Migranten in Scharen die Grenze zum Nachbarland Litauen passieren.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/lukaschenko-schickt-illegale-einwanderer-ueber-litauen-in-die-eu?urn=urn:srf:video:12471c70-7e61-40c4-8d8f-2e90ca97c7c1
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/lukaschenko-migranten-101.html


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Wohin mit ausländischen Fahrenden?
Sie stehen plötzlich da. Auf Wiesen oder auf Parkplätzen. Meistens unangemeldet und wenn doch, dann teilweise unter falschem Namen. Ausländische Fahrende stellen regelmässig die Nerven von Gemeinden und Landeigentümern auf die Probe. Lösungen müssen her. Es soll Platz haben für jene, die ihn brauchen, aber wo und wie ist die grosse Frage.
https://www.telebaern.tv/talktaeglich/wohin-mit-auslaendischen-fahrenden-142560364



bielertagblatt 06.07.2021

Politisches Ringen verhindert schnelle Lösung

Nach jahrelangem Stillstand im Fahrenden-Dossier haben sich die Gemeinden im Raum Biel geeinigt: Es braucht einen Transitplatz. Jetzt sind die Scheinwerfer auf Biel und Brügg gerichtet. Wer hat zuerst den Mut, sich im politisch heiklen Thema zu bewegen?

Interview: Lino Schaeren

Es ist ein groteskes Spiel: Sind die Fahrenden nach einer illegalen Landbesetzung wieder weg, beginnt das Verbarrikadieren. Grundstücke werden mit grossen Jurasteinen, Schranken, Pfosten oder Gräben vor weiteren unerwünschten «Gästen» geschützt. Das geht seit Jahren so. Abhalten lassen sich die Fahrenden dadurch nicht. Sie räumen die Absperrungen aus dem Weg oder suchen sich ein anderes Gelände. Und dann beginnt das Ganze von vorne. Solange die Fahrenden in der Region Arbeit finden, funktioniert die Taktik des Vergrämens nicht. Das haben mittlerweile auch die meisten Entscheidungstragenden bei den Gemeinden der Agglomeration Biel eingesehen. Sie sind deshalb übereingekommen, dass man dem Problem nur Herr werden kann, wenn endlich ein offizieller Halteplatz geschaffen wird. Schnell und für eine befristete Zeit, damit sich eine Eskalation wie in diesem Frühjahr mit mehr als 100 Wohnwagen auf besetzten Gelände bis zur Eröffnung des offiziellen Platzes in Wileroltigen nicht wiederholt. Aber nicht nur: Wie das BT weiss, sind sich die Politikerinnen und Politiker mittlerweile einig, dass alleine mit Wileroltigen die Fahrendenfrage für den Raum Biel nicht beantworten wird. Zu klein ist der Platz und vor allem zu weit weg. Wie es weitergeht, hängt vor allem von Biel und Brügg ab. Der Kanton Bern hat auf dem Territorium dieser Gemeinden je eine Parzelle in Autobahnnähe angeboten, um darauf kurzfristig zumindest eine Übergangslösung zu schaffen. Ob es beim grundlegenden Bekenntnis zur Platzlösung bleibt, oder ob tatsächlich Bewegung in die Sache kommt, liegt also vor allem an zwei Männern: Biels Sicherheitsdirektor Beat Feurer (SVP) und Brüggs Gemeindepräsident Marc Meichtry (Brügg for you).

Beat Feurer, lange haben sich alle gewehrt, doch jetzt soll es also doch noch einen Platz für ausländische Fahrende im Raum Biel geben. Hatten Sie genug davon, die Augen vor der Realität zu verschliessen?

Beat Feurer: Die Frage ist, von welcher Realität Sie sprechen. Geht es darum, ob man mit den Fahrenden so weiterverfahren kann wie bisher, ohne ihnen eine Lösung anzubieten?

Man weiss längst: Die Fahrenden lösen sich nicht in Luft auf, wenn man sie fortjagt. Sie bleiben hier, weil sie hier Arbeit bekommen. Solange es keinen offiziellen Platz gibt, werden sie weiter Land illegal besetzen. Diese Erkenntnis ist auch in der Politik angekommen, nur spricht sie kaum jemand öffentlich aus. Auch Sie nicht. Liegt das daran, dass es auch eine weitere, eine politische Realität gibt?

Beat Feurer: Ja, es gibt auch eine politische Realität, die über die Jahre hinweg gewachsen ist. Ich glaube nicht, dass die Schweizerinnen und Schweizer schon immer prinzipiell gegen ausländische Fahrende gewesen sind. Die ablehnende Haltung hat sich in den letzten Jahren geformt. Das hat vor allem auch mit dem Verhalten der Fahrenden zu tun. Mit der Art und Weise, wie sie Gelände besetzen und insbesondere, in welchem Zustand sie diese dann zurücklassen. Damit haben sie das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit verspielt. Welcher Politiker stellt sich dann schon vor die Bevölkerung und fordert lautstark einen offiziellen Transitplatz für diese Leute? Gleichzeitig haben Sie recht: Die Fahrenden können sich nicht in Luft auflösen und sie können ihre Wagen auch nicht in der Luft parkieren. Es braucht Platz, wo sie Halt machen können. Die politische Herausforderung ist es jetzt, eine Brücke zu bauen zwischen diesen beiden Realitäten: Der Realität der Fahrenden und der Realität des fehlenden Vertrauens.

Marc Meichtry, ist es nicht gerade Aufgabe der gewählten Politikerinnen und Politiker, auch gegen Widerstände Lösungen in gesellschaftlichen Fragen zu finden?

Marc Meichtry: Natürlich. Als wir 2018 und 2019 in Brügg einen temporären Transitplatz zur Verfügung gestellt haben, haben wir das nicht getan, weil wir die Fahrenden so gerne hatten. Sondern weil ich die Schnauze voll hatte, dass sie jedes Jahr versucht haben uns zu diktieren, wie sie leben wollen. Indem wir einen Platz eröffneten, haben wir den Spiess umgedreht und unsere Regeln durchsetzen können. Ich bin ein Menschenfreund und sehr sozial. Aber es ist nichts anderes als normal, dass gewisse Spielregeln eingehalten werden müssen. Sonst wird man ausgenutzt. Dafür braucht es aber auch das nötige Spielfeld, für das Regeln festgelegt werden können. In diesem Fall ist das ein offizieller Platz. Die Bevölkerung hasst nichts mehr, als wenn nichts gemacht wird. Es ist unsere Aufgabe als Politiker, solche Probleme zu lösen. Wenn wir Jugendliche haben, die randalieren, unternehmen wir schliesslich auch etwas dagegen.

Beat Feurer: Einverstanden. Genau hier liegt aber die politische Herausforderung: Die Bevölkerung erwartet von uns Lösungen, gleichzeitig wissen wir, dass es massive Opposition gibt gegen solche offiziellen Transitplätze. Das macht es für Politikerinnen und Politiker schwieriger, diesen Weg trotzdem zu gehen.

Marc Meichtry: Das stimmt. Aber jetzt stell dir einmal vor, ihr hättet diesen Frühling, als in Biel 150 Gespanne Halt gemacht hatten, gesagt: Wir räumen konsequent auf, bieten aber ab sofort einen offiziellen Platz für 25 bis 30 Wohnwagen an, auf dem nach unseren Regeln gespielt wird. Da hätte niemand etwas dagegen gehabt. Stattdessen habt ihr gezögert und euch auf der Nase herumtanzen lassen. Dieses Verhalten wird als viel schlimmer wahrgenommen, als wenn eine Lösung präsentiert werden kann.

Sie, Beat Feurer, hatten ein Projekt für einen provisorischen Transitplatz beim Werkhofareal ausgearbeitet, der im Frühjahr 2021 hätte eröffnet werden können. Dann haben Sie aber die Notbremse gezogen, weil Sie merkten, dass in zwei Jahren keine andere Gemeinde freiwillig diese Last übernehmen würde. Sie fordern regionale Solidarität ein?

Beat Feurer: Alleine aus unserer Perspektive braucht es keinen Platz auf Bieler Boden: Wir haben die Kapazitäten und das Fachwissen in der Verwaltung, um den repressiven Weg weiterzugehen. Wenn wir Hand bieten, wollen wir helfen, das Problem für die gesamte Region zu lösen und ja, dafür braucht es eine regionale Solidarität. Beim von Ihnen angesprochenen Projekt kam zudem hinzu, dass das Terrain beim Werkhof weniger lange als erhofft zur Verfügung gestanden hätte. Es war also auch eine Frage von Aufwand und Ertrag – um einen solchen Platz bereitzustellen und zu betreiben, braucht es Infrastruktur und personelle Ressourcen. Jetzt stehen ja aber zwei andere Grundstücke in Aussicht, die der Kanton ins Spiel gebracht hat: Eines im Bözingenfeld und eines im Brüggmoos. Auch da geht es um eine temporäre Lösung bis maximal Ende 2024.

Wie realistisch ist es denn, dass im Bözingenfeld oder im Brüggmoos noch in diesem Sommer ein Transitplatz eröffnet wird?

Beat Feurer: Ich glaube nicht, dass das noch in diesem Jahr der Fall sein wird. Für eine regionale Lösung ist vorgängig das Gespräch unter den Gemeinden nötig. Oder wie siehst du das, Marc?

Marc Meichtry: Wir haben riesiges Glück, dass die Fahrenden jetzt in der Region Belp sind und wir Ruhe haben. Aber wenn sie zu uns zurückkommen, werden wir uns ärgern, in dieser Zeit untätig geblieben zu sein. Dann fängt das Ganze nämlich wieder von vorne an. Wir drehen uns im Kreis und das nervt mich. Ich verstehe nicht, wieso wir nicht endlich Gas geben statt ständig auszuweichen und auf Zeit zu spielen.

Sie können ja das Angebot des Kantons annehmen und erneut in Brügg einen Transitplatz eröffnen.

Marc Meichtry: In Brügg wäre die Freude nicht gross, wenn ich jetzt vorschlagen würde, bereits wieder die Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig wären andere Gemeinden bereit, eine finanzielle Abgeltung an die Standortgemeinde zu entrichten. Das hat die letzte regionale Aussprache gezeigt. Das sehe ich als Chance. Brügg macht derzeit finanziell schwierige Zeiten durch. Ich sage: Wenn wir Geld bekommen, das wir in ein sinnvolles Projekt investieren können, machen wir es vielleicht noch einmal für zwei Jahre. Damit schaffe ich mir kurzfristig kaum Freunde, aber das muss ich jetzt auch nicht mehr (Meichtry tritt Ende 2021 als Gemeindepräsident von Brügg zurück, die Red.).

Beat Feurer: Auch die Stadt Biel könnte relativ schnell entscheiden, einen Platz zu eröffnen. Daran liegt es nicht. Genau das schwebt auch vielen Gemeinden vor: Wenn Biel etwas macht, sind sie aus dem Schneider. Wir wollen das Problem aber nicht für, sondern mit der Region in den Griff bekommen. Wenn wir das zumindest mittelfristig gemeinsam schaffen wollen, braucht es regionale Absprachen. Und solche Verhandlungen brauchen Zeit.

Dass sich der Grossteil der Gemeinden einfach vom Problem freikauft, ist für Sie also ein zu einfacher Weg?

Beat Feurer: Finanzielle Abgeltungen sind eine Möglichkeit. Aber wie hoch sind diese? Und welche Gemeinde zahlt wie viel? Die Frage, wie es nach zwei Jahren mit einem Platz in Biel oder Brügg weitergehen würde, wäre damit auch noch nicht beantwortet. Da müssen wir ehrlich genug sein: diese Diskussion ist noch nicht zu Ende geführt.

Der Kanton bietet nur Hand für eine temporäre Lösung. Er sieht seine Schuldigkeit getan, sobald der definitive Transitplatz in Wileroltigen eröffnet wird. Haben Sie jemals daran geglaubt, dass der Platz in Wileroltigen auch die Probleme mit den Fahrenden im Raum Biel lösen wird?

Marc Meichtry: Niemals!

Beat Feurer: Wir müssen die Entwicklung nach der Eröffnung 2025 abwarten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Situation bei uns dadurch nicht gelöst wird, ist aber gross. Heute sind sich die meisten Gemeinden einig, dass es im Raum Biel längerfristig eine Platzlösung braucht. Ein rein repressives Vorgehen bringt uns auf lange Sicht nicht weiter.

Marc Meichtry: Und der repressive Weg kostet auf Dauer mehr.

Beat Feurer: Das Vorgehen gegen illegale Landbesetzungen bindet auch Ressourcen, das stimmt. Wenn ich mir die Kosten für den Platz in Wileroltigen anschaue, bin ich mir aber nicht so sicher, ob der repressive Weg teurer ist (für die Erstellung des Platzes wurde vom kantonalen Stimmvolk ein Kredit von 3,3 Millionen Franken bewilligt, die Red.).

Marc Meichtry: Es ist ganz klar, dass wir bei uns einen kostengünstigeren Weg finden müssen als in Wileroltigen. In Brügg hatten wir den Platz mit dem Ziel betrieben, dass die Fahrenden mit der Platzmiete und der Gebühr für Strom und Wasser selber für die Kosten aufkommen. Die repressiven Massnahmen belasten die Steuerzahlenden viel mehr.

Beat Feurer: Auch da wäre ich mir nicht so sicher. Die Bussen, die wir bei Landbesetzungen ausstellen, bringen uns ziemlich viel Geld.

Die Bussen werden tatsächlich bezahlt?

Beat Feurer: Ja. Es ist eine oft gemachte, aber falsche Vermutung, dass diese Bussen sowieso nicht beglichen würden. Die Fahrenden kommen hier her, um zu arbeiten und Geld zu verdienen und können sich die Bussen leisten. Es ist zudem in ihrem Interesse, keine offene Schuld bei uns zu haben. Sie wollen ja schliesslich wiederkommen.

Die Gemeinden im Raum Biel sind sich also grundsätzlich einig, dass auch langfristig nur ein Transitplatz das Problem lösen kann. Die Junge SVP bringt sich deshalb schon wieder in Stellung: Sie will verhindern, dass im Kanton Bern nebst Wileroltigen ein zweiter solcher Platz gebaut wird. Wird das Thema komplett verpolitisiert?

Beat Feurer: Eine schwierige Frage. Ich denke, in manchen Themen kann eine gewisse populistische Haltung helfen, überhaupt eine Diskussion auszulösen. Hier geht es aber um Menschen. Da habe ich wenig Verständnis für ein solches Vorgehen. Leider sehe ich in den Fragen rund um die Fahrenden gerade in meiner Partei keine praxistauglichen Lösungen, die präsentiert werden. In diesem Thema fürchte ich, wird teils auch einfach politisiert, um den eigenen Namen in den Vordergrund zu rücken und nicht, um tatsächlich ernsthaft über ein Thema zu sprechen.

Sie, Marc Meichtry, haben sich 2018 trotz vergifteter Stimmung als erster getraut, eine temporären Platz anzubieten. Hatten Sie nie Angst, sich politisch am Fahrenden-Dossier die Finger zu verbrennen?

Marc Meichtry: Nein, nie. Das entspricht nicht meiner Art. Ich hatte ja auch nicht viel zu verlieren. Hätte es eine riesige Opposition gegeben, hätte ich halt etwas initiiert, das letztlich nicht geklappt hat. Das ist alles. Es braucht manchmal einfach etwas mehr Mut. Gleichzeitig sehe ich, dass es in einer Stadt wie Biel mit einem Parlament etwas komplizierter ist, zu politisieren.

Beat Feurer: Die Kompetenz, einen Platz für Fahrende zu eröffnen, liegt auch in Biel beim Gemeinderat, nicht beim Parlament. Der Gemeinderat wird jetzt in einem nächsten Schritt einen Grundsatzentscheid fällen, ob er sich einen temporären Platz im Bözingenfeld vorstellen kann. Das Geschäft ist in Vorbereitung und wird nach den Sommerferien diskutiert. Gibt der Gemeinderat grünes Licht, können wir mit der Region die nötigen Diskussionen führen. Vielleicht kommt ja zumindest ein kleiner Turnus infrage, zwei Jahre in Biel und dann zwei Jahre in Brügg zum Beispiel. Aber das sind nur Gedankenspiele. Auch müssten wir sensibel vorgehen, was die Nachbarschaft betrifft: Ein Platz für Fahrende im Bözingenfeld direkt neben der Asylunterkunft würde sicher Reaktionen auslösen. Deshalb ist aus meiner Sicht eine Doppelnutzung des Terrains ausgeschlossen. Und: Wenn ich zu Beginn dieses Gesprächs von Vertrauen gesprochen habe, finde ich es auch wichtig, dass wir uns einmal mit Vertretenden von Fahrenden an einen Tisch setzen. Ich will mir auch ihre Sicht der Dinge anhören.

Sie haben Fahrende zum Gespräch eingeladen?

Beat Feurer: Noch nicht. Ich will zuerst den Gemeinderatsentscheid abwarten. Mir geht es darum, dass wir gegenseitig verstehen, was wir tun können, um das verlorene Vertrauen wieder aufzubauen.

Marc Meichtry, Sie sehen, in Biel stehen viele Diskussionen an, auch Grundsatzentscheide sind noch ausstehend. Wenn Sie tatsächlich noch in diesem Jahr eine Lösung wollen, werden Sie nicht darum herumkommen, noch einmal in Brügg einen Transitplatz zu eröffnen.

Marc Meichtry: Es gibt ausländische Fahrende, die sich nicht benehmen und eine absolute Schweinerei zurücklassen. Es gibt aber auch viele anständige, die eine gute Lösung verdient haben. Ihnen zuliebe packe ich es vielleicht wirklich noch einmal. Zuerst muss ich jetzt aber ein paar Tage ans Meer, um Energie zu tanken. Danach gehe ich es an. Wir müssen jetzt vorwärtsmachen.
(https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/politisches-ringen-verhindert-schnelle-loesung)


+++GASSE
Zaugg: «Die Graffitis in unserer Gemeinde sind Kunst»
Um weiteren Schmierereien und Vandalenakten entgegenzuwirken, realisierte die Gemeinde auf Initiative eines Sprayers ein Street-Art-Projekt. Seit dieses umgesetzt wurde, herrsche Ruhe. Die zuständigen Politiker sind begeistert, der Künstler hinter der Idee wünscht sich indes mehr Verständnis und Offenheit gegenüber Menschen, die sprayen.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/191777/


+++REPRESSION EU
Ausscheidender EU-Berater: Gilles de Kerchove erfindet „linksterroristische“ Gefahr
Eine Handvoll Sachschäden in Italien könnten dazu führen, dass linker Aktivismus in der gesamten EU stärker von Polizei und Geheimdiensten verfolgt wird. Die Initiative trägt die Handschrift des deutschen Verfassungsschutzes. Ein Maßnahmenpaket gegen „gewalttätigen Rechtsextremismus und -terrorismus“ ist indes versandet.
https://netzpolitik.org/2021/ausscheidender-eu-berater-gilles-de-kerchove-erfindet-linksterroristische-gefahr/


+++BIG BROTHER
Audacity: Audio-Schnittprogramm will Daten sammeln und mit Regierungen teilen
Die bekannte Open-Source-Software Audacity wurde aufgekauft, der neue Besitzer änderte kürzlich die Datenschutzbestimmungen. Kritiker:innen sagen, dass die Anwendung nun zum Ausspähen genutzt werden kann. Sie wollen das Programm nun unabhängig weiterentwickeln.
https://netzpolitik.org/2021/audacity-audio-schnittprogramm-will-daten-sammeln-und-mit-regierungen-teilen/


+++POLICE BE
13-Jährige in Herzogenbuchsee von 6 Polizisten in Handschellen abgeführt
Im Auftrag der KESB holten heute Morgen in Herzogenbuchsee ein halbes Dutzend Polizeibeamte ein Mädchen von Zuhause ab. Die Eltern und ihre Anwältin sind über den Polizeieinsatz entsetzt.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/13-jaehrige-in-herzogenbuchsee-von-6-polizisten-in-handschellen-abgefuehrt-142820266


+++POLIZEI CH
Wahl des neuen Generalsekretärs KKJPD
Florian Düblin tritt die Nachfolge von Roger Schneeberger an
Der Vorstand der KKJPD hat in seiner Sitzung vom 28. Juni 2021 Florian Düblin zum neuen Generalsekretär der KKJPD gewählt. Er löst den aktuellen Generalsekretär Roger Schneeberger ab, der das Amt seit 2005 bekleidet und Ende 2021 in den Ruhestand tritt.
https://www.kkjpd.ch/newsreader/wahl-des-neuen-generalsekret%C3%A4rs-kkjpd.html
-> https://www.kkjpd.ch/newsreader/wahl-des-neuen-generalsekret%C3%A4rs-kkjpd.html?file=files/Dokumente/News/2021/210706%20Medienmitteilung%20Generalsekret%C3%A4r%20KKJPD%20d.pdf


+++FRAUEN/QUEER
Basler Standes-Initiative fordert ein nationales Verbot von umstrittenen Umpolungstherapien für Homosexuelle (ab 01:52)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/zweiter-bau-fuer-die-neue-kuppel?id=12015762


+++RASSISMUS
antira-Wochenschau: Sans-Papiers im Hungerstreik wollen Regularisierung, offizielle Schweiz will Ausschaffungen nach Afghanistan, Griechenland will Gelder für Geflüchtete kürzen
https://antira.org/2021/07/06/sans-papiers-im-hungerstreik-wollen-regularisierung-offizielle-schweiz-will-ausschaffungen-nach-afghanistan-griechenland-will-gelder-fuer-gefluechtete-kuerzen/


+++RECHTSPOPULISMUS
Markus Somm, der Chefredaktor des «Nebelspalters», sieht sich mit einer hohen Geldforderung konfrontiert
Für geleistete Vorarbeiten verlangt der Online-Spezialist Peter Wälty 218’000 Franken von der Nebelspalter AG. Das Online-Portal, das im März seinen Betrieb aufnahm, hat einen verhaltenen Start hingelegt.
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/medien-markus-somm-der-chefredaktor-des-nebelspalters-sieht-sich-mit-einer-hohen-geldforderung-konfrontiert-ld.2160910


Nach «Feuer frei!»-Aufruf: St.Galler Regierung stellt sich hinter Bildungschef Stefan Kölliker
Die SP-Fraktion hat sich in einem Vorstoss kritisch zu Bruno Dudlis Telegram-Chat-Eintrag geäussert. Darin hatte Dudli im Namen von Regierungsrat Stefan Kölliker dazu aufgefordert, gegen das BAG zu «schiessen». In ihrer Antwort nimmt die Regierung den Bildungschef nun in Schutz.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/affaere-dudli-koelliker-nach-feuer-frei-aufruf-stgaller-regierung-stellt-sich-hinter-bildungschef-stefan-koelliker-ld.2160580


Kommentar zum Angriff auf Tamedia-JournalistinDas ist eine Grenzüberschreitung
Wegen eines unliebsamen Interviews veröffentlichen Aktivisten der Berner Reitschule eine Karikatur, in der unsere Journalistin geköpft wird.
https://www.tagesanzeiger.ch/das-ist-eine-grenzueberschreitung-998041872470


Die Taliban von der Berner Reithalle: Die Zeitschrift Megafon publiziert ein Bild, auf dem eine Journalistin geköpft wird – weil sie die falsche Meinung vertritt
Linksextremisten hassen Michèle Binswanger. Denn die Tamedia-Journalistin schreibt immer wieder mal gegen die Cancel Culture an.
https://www.weltwoche-daily.ch/beitrag/die-taliban-von-der-reithalle-die-zeitschrift-megafon-publiziert-ein-bild-auf-dem-eine-journalistin-gekoepft-wird-weil-sie-die-falsche-meinung-vertritt


+++RECHTSEXTREMISMUS
Nazisymbol an Kornhausbrücke wirft heikle Fragen auf
Ende Juni hängten Rechtsextreme an der Kornhausbrücke ein Transparent mit einem Symbol auf, das der Neonazi-Szene zugeordnet wird. Die Polizei nahm ihre Personalien auf, konnte jedoch keinen Straftatbestand feststellen. Jetzt befürchtet die JUSO, dass rechtsextremes Gedankengut salonfähig wird.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/nazisymbol-an-kornhausbruecke-wirft-heikle-fragen-auf-142820294


Italien: Neurechte Nachwuchs-Terroristen verhaftet
In Mailand wurde vier rechtsextreme Nachwuchsterroristen aus der „Avanguardia Rivoluzionaria“ („Revolutionäre Avantgarde“) verhaftet. Verbindungen gibt es in den Rest Europas.
https://www.belltower.news/italien-neurechte-nachwuchs-terroristen-verhaftet-118043/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Video von Kundgebung geht viral: Zuger Polizei verteidigt Wegweisung von «Izzy»-Moderator an Corona-Demo
Ein Internetstar mit Spiderman-Maske jagt einen bekannten Verschwörungstheoretiker. Dieser sucht Zuflucht bei der Zuger Polizei. Mit Erfolg.
https://www.zentralplus.ch/zuger-polizei-verteidigt-wegweisung-von-izzy-moderator-an-corona-demo-2130731/


Komiker Marco Rima wettert über Corona-«Paranoia» – war selber krank
Komiker Marco Rima erkrankte schwer an Corona. Trotzdem nennt der Satiriker die Krise eine «Paranoia».
https://www.nau.ch/people/aus-der-schweiz/komiker-marco-rima-wettert-uber-corona-paranoia-war-selber-krank-65959102


«Verfahren würde ad absurdum geführt»: Darum verweigert Luzerner Gericht Maskengegnern den Zutritt
Wer keine Schutzmaske trägt, bleibt draussen. In Luzern werden Maskenkritiker von ihrer eigenen Verhandlung ausgeschlossen, wenn sie sich weigern, die Corona-Massnahmen einzuhalten. In einem Urteil kontert das Bezirksgericht Willisau die Kritik an dieser Praxis.
https://www.zentralplus.ch/darum-verweigert-das-bezirksgericht-willisau-maskengegner-den-zutritt-2131271/


Verstösse gegen Corona-Regeln – Gericht rüffelt Solothurner Behörden wegen Praxis-Schliessung
Ein Heilpraktiker musste seine Praxis schliessen, weil er nicht an Corona glaubt. Die Behörden gingen dabei zu weit, sagt das Verwaltungsgericht und heisst eine Beschwerde gut.
https://www.srf.ch/news/schweiz/verstoesse-gegen-corona-regeln-gericht-rueffelt-solothurner-behoerden-wegen-praxis-schliessung
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/verstoesse-gegen-corona-regeln-maskenpflicht-in-praxis-behoerden-haben-ueberreagiert
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/rueffel-fuer-solothurner-behoerden-wegen-praxis-schliessung?id=12015786


+++CRITICAL MASS
nzz.ch 06.07.2021

«Ich hoffe, dass wir den anarchischen Geist verteidigen können»: Die Critical Mass wächst rasant – das wird auch für die Velo-Aktivisten zum Problem

Wer steckt hinter der Bewegung, die Zürich wiederholt lahmgelegt hat?

Jan Hudec, Nils Pfändler

Ein stillgelegter Bahnhof ist ihr Zufluchtsort. Es ist Montagabend kurz vor 19 Uhr, der Himmel leuchtet grün und verdunkelt sich dann blauschwarz. Der Wind peitscht Regen durch die Strassen der Stadt, Hagelkörner prasseln nieder.

Unter dem Vordach des alten Bahnhofs Letten stehen kleine Grüppchen von jungen Frauen und Männern, sie drehen Zigaretten, packen Dosenbier aus oder essen im Schneidersitz am Boden einen mitgebrachten Salat. Ihre nassen Velos haben sie an die Wand gelehnt, aus dem Regen rollen weitere Leute heran. Etwa zwei Dutzend sind es, es sieht aus wie ein Treffen von Nerds in Funktionskleidung und linksalternativen Aktivisten. Einige unterhalten sich angeregt, prosten sich zu. Andere stehen verloren da und warten darauf, dass etwas passiert.

Sie alle sind hier für das «offene Treffen» der Critical Mass, jener Bewegung, die am Freitagabend davor halb Zürich lahmgelegt hat.

Mehrere tausend Velofahrerinnen und Velofahrer waren in einer riesigen Kolonne vom Bürkliplatz aus quer durch die Stadt gefahren, was laut Stadtpolizei zu «massiven Einschränkungen für den motorisierten Individualverkehr sowie den öffentlichen Verkehr» geführt hatte. Die Aktivisten feierten den Event auf Facebook als «episch».

Schon Ende Mai war ihnen ein solcher Grossaufmarsch gelungen. Aus der vor wenigen Jahren noch kleinen Aktion, bei der ein paar Dutzend eingefleischte Velofans durch die Stadt radelten, ist plötzlich eine Bewegung geworden, die Zürich nicht mehr ignorieren kann.

Die Politik streitet sich nun darüber, ob die Aktion als Demonstration eingestuft werden müsste. Aus Sicht der Teilnehmer ist das unnötig. Sie bezeichnen das Ganze als ein «spontanes, grosses Verkehrsaufkommen von Velos» und halten die Critical Mass deshalb auch nicht für bewilligungspflichtig.

Die jüngsten Erfolge haben die kühnsten Träume der Aktivisten überflügelt. Doch die Explosion der Teilnehmerzahlen hat Nebenwirkungen, die auch vielen in der Bewegung nicht ganz geheuer sind.

So bremste die Velokolonne nicht nur die in der Szene verhassten SUV aus, sondern auch Busse und Trams. Einige Velofahrer nutzten Trottoirs statt nur die Strasse und kamen damit den Fussgängern in die Quere. Und auch dass der ganze Tross auf der Hardbrücke einfach stehen blieb, entspricht nicht den Prinzipien der Bewegung. Auf der Facebook-Seite der Critical Mass kommentierte es ein Teilnehmer so: «Das lange Stehen auf der Brücke war zwar obergeil, aber ich finde, man sollte immer rollen. Hoffe, es ist nächstes Mal wieder besser.»

Aber wie soll das gelingen? Wie lässt sich eine Bewegung steuern, die per Selbstdefinition unorganisiert ist? Wächst die Sache den Aktivisten gerade über den Kopf?

Die Critical Mass ist seit den neunziger Jahren unterwegs

Um diese Fragen zu klären, muss man zunächst wissen, wie die Critical Mass funktioniert. Völlig spontan ist sie nicht, denn sie hat einen fixen Termin. Immer am letzten Freitag im Monat treffen sich die Velofahrer um 18 Uhr 45 am Bürkliplatz. Kommen genug Leute zusammen, fährt man los. Die Route wird vorher allerdings nicht festgelegt, sie wird vom vordersten Fahrer bestimmt.

Entstanden ist die Idee 1992 in San Francisco. Mittlerweile wurde sie in diversen Städten rund um den Globus kopiert. In Budapest sollen einmal 100 000 Personen teilgenommen haben. Der Grundgedanke ist, dass eine kritische Masse an Velos zusammenkommt, die gewissermassen ein einziges riesiges Fahrzeug bildet.

Daraus leiten sich dann auch die Regeln ab: So sollte der ganze Tross geschlossen fahren. Zwar hält der vorderste Fahrer an einem Rotlicht an, sobald aber der Zug bei Grün losgefahren ist, rollt er weiter, auch wenn die Ampel wieder auf Rot gewechselt hat. Damit keine Autos von Seitenstrassen in diesen Velobandwurm geraten, werden die Abzweigungen von Velos blockiert, die Aktivisten nennen es «Corken». Zudem darf der Tross weder die Gegenfahrbahn noch das Trottoir benutzen.

In Zürich hat die Critical Mass Ende der neunziger Jahre ihren Anfang genommen. Schon nach der zweiten Austragung mit rund 150 Teilnehmern wurde heiss über eine Bewilligungspflicht diskutiert. Der SP-Stadtrat Robert Neukomm verurteilte 1997 als oberster Ordnungshüter der Stadt das Vorgehen der Velofahrer scharf. Die Polizei zeigte sich gelassener. Es liege kein grosses Problem vor, sagte ein Sprecher gegenüber den Medien. Es sei gut möglich, dass das Phänomen mit dem Winter so verschwinden werde, wie es aufgetaucht sei. Er sollte sich täuschen.

Richtig gross geworden ist die Critical Mass in Zürich allerdings erst in den letzten zwei Jahren. Die Teilnehmerzahlen sind sprunghaft gestiegen. Im August 2019 sollen erstmals knapp tausend Personen dabei gewesen sein, im Mai und Juni dieses Jahres war bereits von mehreren tausend die Rede. Für die meisten dürfte es in erster Linie ein lustiges Happening sein, das am Ende in eine Party mündet, wie nach der letzten Austragung auf der Landiwiese.

Es gibt aber offensichtlich auch einen sehr aktiven Teil der Bewegung. So fuhr Ende Juni in der Velokolonne ein Abfallteam mit Besen an den Velokörben mit, während andere die Teilnehmer per Lautsprecher auf die Grundregeln der Bewegung aufmerksam machten. Einige Teilnehmer bauen im Vorfeld Anhängerwagen mit Musikboxen, politischen Botschaften oder ganzen Kunstwerken darauf.

Auch im digitalen Raum ist die Critical Mass engagiert. Nicht nur verfügt sie über Facebook-, Twitter- und Instagram-Accounts, sie hat auch eine eigene Website. Wer hinter diesen Kanälen steckt, ist nicht klar. Die Urheber geben sich nicht zu erkennen, veröffentlichen aber Posts im Namen der Bewegung. Zudem gibt es mehrere Telegram-Kanäle, über welche sich die Aktivisten austauschen.

Aus der Bewegung heraus ist zudem das Kollektiv xerosoph.in entstanden, das sich für die «Vernetzung der weltweiten Critical-Mass-Bewegung» einsetzen will, wie auf der Website zu erfahren ist. Auch der Verein Vélorution, der nach eigenen Angaben die Velokultur fördern will, ist mit der Critical Mass verbandelt. Er organisiert nicht nur Veloausflüge zu nachhaltigen Bauernhöfen und eine Critical Mass für Kinder («Kidical Mass»), sondern preist auch eine «Soliaktion» an, bei der mit dem Verkauf von Postern Geld für Bussen von Critical-Mass-Teilnehmern gesammelt wird. Zuständig für die rechtlichen Probleme der Aktivisten ist ein eigenes «Legal Team», das sich Kollektiv Antirep nennt und im Januar 2020 gegründet wurde.

Ein unorganisierter Haufen ist die Critical Mass also längst nicht mehr. Was aber fehlt, sind klar ersichtliche Hierarchien und Wortführer. Niemand drängt sich in den Vordergrund, was dazu führt, dass kein Einzelner die Richtung vorgibt – und auch niemand formell die Verantwortung übernimmt.

«Ich bin geflasht von der CM»

Zurück unter dem Vordach beim Bahnhof Letten. Hier wird jeweils am Montagabend nach der Critical Mass über die Bewegung gesprochen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des offenen Treffens sitzen auf dem Betonboden und haben sich zu einem Kreis formiert. Das Regenprasseln ist so leise geworden, dass man sich wieder versteht. Doch erst nach einer Weile traut sich jemand, das Wort zu ergreifen. Erster Diskussionspunkt: Dürfen die zwei NZZ-Journalisten mithören? Die Sache ist umstritten. Jeder, der seine Meinung kundtun will, streckt brav die Hand auf. Niemand wird beim Sprechen unterbrochen, es gibt keine Widerreden. Jeder äussert nur seine eigene Befindlichkeit.

Da gibt es jene, die es eigentlich ganz gut finden, dass die Journalisten nicht nur vom Schreibtisch aus recherchieren, sondern den Aktivisten auch zuhören wollen. Andere haben Vorbehalte wegen der politischen Ausrichtung der NZZ: «Ich weiss, wer eure Aktionäre sind und wie der Artikel am Ende rauskommt.» Und wieder andere haben das Gefühl, sie könnten sich unter medialer Beobachtung nicht mehr frei äussern.

Irgendwann beginnt sich die Diskussion im Kreis zu drehen. Weil hier aber niemand das Sagen haben will, scheint es auch den Teilnehmern selbst nicht ganz klar zu sein, wie nun ein Entscheid gefällt werden soll. Es kristallisiert sich schliesslich heraus, dass man auf keinen Fall jene überstimmen will, die sich unwohl fühlen. Ihr Schutz geht vor. Kurz: Die NZZ muss weg.

Als Kompromiss wird aber vorgeschlagen, dass die Journalisten doch zumindest beim sogenannten Check-in dabei sein könnten, bei der Vorstellungsrunde, in der die Anwesenden sagen, warum sie am offenen Treffen teilnehmen und sich in der Critical Mass engagieren. Die Hände werden zustimmend in die Höhe gestreckt. Es geht los. Hier ein paar Stimmen von jenem Abend:

Ich bin heute Abend hier, weil ich von der CM geflasht bin. Es gibt mir einfach unglaublich viel Energie, wenn so viele Leute für eine gute Sache einstehen. Und ich will mich dafür einsetzen, dass die Bewegung ihren ursprünglichen Geist bewahrt, trotz allen Veränderungen und dem starken Wachstum.

Es macht Spass, mitgestalten zu können. Im Job oder in der Schule sind wir darauf getrimmt, immer für alles um Erlaubnis zu bitten. Aber hier hast du die Möglichkeit, einfach etwas umzusetzen, was dir durch den Kopf geht, wie die Idee mit dem Abfallteam. Ich glaube, das gibt den Leuten Mut und Selbstvertrauen.

Zusammen können wir zeigen, wie viele Velofahrer wir sind. Wenn man alleine durch die Stadt fährt, merkt man das gar nicht. Und wir können darauf aufmerksam machen, dass es gefährlich für uns ist auf der Strasse. Bei einem Unfall sind wir immer die Schwächeren.

Für mich stand bei der Critical Mass am Anfang der Spass im Vordergrund, es war der pure Hedonismus. Aber irgendwann habe ich mich entschieden, selbst einen Wagen zu bauen, und realisiert, dass das Ganze auch eine politische Dimension hat. Darum will ich mich jetzt hier auch aktiv einbringen. Die Bewegung ist so gross geworden, dass ich Angst habe, dass sie zu einem Bratwurstanlass verkommt wie die Street Parade. Ich hoffe, dass wir den anarchischen Geist verteidigen können. Denn es funktioniert vieles ja erstaunlich gut, auch ohne dass jemand an der Spitze steht.

Die Beweggründe, um bei der Critical Mass mitzufahren oder am Treffen teilzunehmen, sind genauso zahlreich wie die Teilnehmenden selbst. Das zeigen persönliche Gespräche, welche die NZZ nach dem Abend am alten Bahnhof Letten mit mehreren Personen aus der Szene geführt hat.

Der grösste gemeinsame Nenner ist die Kritik an der Zürcher Veloinfrastruktur. Ein langjähriger Teilnehmer drückt es so aus: «Die Critical Mass wäre nicht so gross geworden, wenn Zürich schon eine super Velostadt wäre.» Er betont aber auch: «Es gibt keine offiziellen Forderungen. Die Critical Mass ist keine Demo für bessere Velowege.» Vielen Teilnehmern geht es um ganz andere Dinge: das Gefühl, sich dank der Masse mit dem Velo sicher fortbewegen zu können, den Spass, die Gruppendynamik, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die selbstregulierende Organisationsform. Oder sie sind ganz einfach dabei, um Leute kennenzulernen.

Probleme wie die explodierenden Gruppengrössen, lange Staus oder Teilnehmer, die sich nicht an die Regeln halten, werden innerhalb der Szene kontrovers diskutiert. «Wie wäre es, wenn wir verschiedene Treffpunkte machen und dann mit verschiedenen Gruppen losfahren würden? Dadurch wäre das Problem mit der Gruppengrösse und der langen Wartezeit gelöst», schlug eine Person Ende Juni in einem Telegram-Kanal vor. Das kam nicht nur gut an: «Sorry, aber das hintergeht doch den ganzen CM-Gedanken», lautete eine Antwort.

Solche Diskussionen sind teilweise sehr ausschweifend, da alle Meinungen angehört werden und niemand ein Machtwort spricht. Alle sind Chefs. Und alles basiert auf der Überzeugung, dass sich am Ende die guten Ideen in der Masse durchsetzen.

Bürgerliche machen Druck auf den Stadtrat

Die Behörden treiben derweil ganz andere Sorgen um. Der Ruf nach einer Bewilligungspflicht wird immer lauter – wie schon nach den ersten Austragungen Ende der 1990er Jahre. Gerade die Bürgerlichen machen Druck auf den Stadtrat. Die SVP spricht von «egoistischen Veloposern», die Zürich schadeten. Der Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) wirft sie eine «Laisser-faire-Politik» vor.

Für die FDP steht ausser Frage, dass die Critical Mass nicht ohne Bewilligung stattfinden dürfe. Die Organisatoren müssten eine Bewilligung beantragen und gemeinsam mit der Polizei eine Route definieren, sagt Michael Schmid, der freisinnige Fraktionschef im Stadtparlament. Dadurch liesse sich ein Verkehrskollaps vermeiden.

Werde dies nicht gemacht, müssten die Ordnungshüter die Teilnehmer kontrollieren, verzeigen und wegweisen. Die FDP hat zur Sache auch ein Postulat eingereicht, das bald im Gemeinderat beraten werden soll, aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament chancenlos sein dürfte.

Trotzdem prüft nun auch die Stadt, wie die Critical Mass in geregelte Bahnen gelenkt werden kann. Mathias Ninck, Sprecher des Sicherheitsdepartements, sagt: «Die Velokolonne hat eine Grösse erreicht, die für die Stadt schwierig ist: Die Blockaden des Individualverkehrs und des öffentlichen Verkehrs dauern zu lang, und es kommt jedes Mal zu brenzligen Situationen, es ist gefährlich geworden.» Nicht nur für die Stadt, auch für die Velokolonne hätte es Vorteile, wenn die Critical Mass eine Bewilligung einholen würde. Man könnte eine Route vereinbaren und so den öV umleiten, die Polizei wiederum würde dafür sorgen, dass die Velokolonne auf der Route gut und sicher durchkäme.

Bewilligungen und geregelte Bahnen entsprechen allerdings so gar nicht der Idee eines «monatlich organisierten Zufalls», wie die Critical Mass im «Massifesto» aus dem Jahr 1994 auch genannt wird. Selbst ein Verbot würde manche Aktivisten nicht vor einem weiteren Velozug durch die Stadt abschrecken. Einer sagt: «Die Critical Mass lässt sich nicht abschaffen. Es wird immer Leute geben, die am letzten Freitag des Monats mit ihrem Fahrrad auf die Strasse gehen.»

Das Wachstum gibt der Bewegung offensichtlich Selbstvertrauen. Einige Teilnehmer wollen nun mehr. So hat ein Kollektiv unlängst eine Petition lanciert, die fordert, dass in Zürich jeweils am letzten Freitag im Monat die Autos gleich ganz von den Strassen verbannt werden. Oder, wie es in der Petitionsschrift heisst: «Für ein friedliches Nebeneinander von öV, Fussgänger*innen und Velofahrenden.»
(https://www.nzz.ch/zuerich/critical-mass-zuerich-wachstum-wird-fuer-aktivisten-zum-problem-ld.1633353)



nzz.ch 06.07.2021

Kommentar

Es ist nicht zu viel verlangt, dass sich die Veloaktivisten in Zürich um eine Bewilligung für ihre «Critical Mass» bemühen

Die Veranstalter der Velogrossdemos in der Stadt Zürich verstecken sich in einer anonymen Masse. Es ist Zeit, dass ihnen die Behörden klare Grenzen aufzeigen.

Daniel Fritzsche

Immerhin. Nachdem Tausende Velofahrer die Stadt Zürich unter dem Banner der weltweiten «Critical Mass»-Bewegung zum zweiten Mal innert zwei Monaten lahmgelegt haben, reagiert das zuständige Sicherheitsdepartement. Allerdings bloss verbal. Die Velokolonne habe eine Grösse erreicht, die für die Stadt «schwierig» sei, sagt ein Sprecher gegenüber der NZZ.

Tatsächlich verursachte die Velolawine auf der Hardbrücke und andernorts stundenlange Einschränkungen für Autos, Trams und Busse. Für die demonstrierenden Velofahrer mag das spassig gewesen sein. Für all die Leute, die an den Freitagabenden unnötig im Stau steckten, weniger. Es kam zu Hupkonzerten und Handgreiflichkeiten.

Gefragt wären jetzt Taten des Sicherheitsdepartements unter der grünen Vorsteherin Karin Rykart. Doch welche konkreten Folgen das veranstaltete Chaos für die künftige Austragung der Velodemo haben wird, lässt es offen. Für Ende Juli rufen die Aktivisten bereits zum nächsten Schlag auf. Den Organisatoren rät man lediglich, diesmal eine Bewilligung einzuholen. Bei anderen Demonstrationen – etwa dem «Marsch fürs Läbe» von Abtreibungsgegnern – zeigte sich das Sicherheitsdepartement wesentlich resoluter. Den Vorwurf der Willkür, den die SVP aufgebracht hat, muss sich Stadträtin Rykart gefallen lassen.

Seltsames Rätselraten

Spätestens seit den Erfahrungen der letzten beiden Male müsste es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Stadt ultimativ auf eine Bewilligung für die «Critical Mass» pocht. So können eine Route und ein Zeitplan vereinbart werden, um die negativen Auswirkungen auf andere Verkehrsmittel zu verringern und die Sicherheit zu erhöhen. Falls sich die Veranstalter verweigern, hat die Stadtpolizei die Mittel, um Teilnehmer zu verzeigen oder wegzuweisen. Das sollte die Stadt ihnen klar vermitteln.

Dass momentan noch ernsthaft gerätselt wird, ob es sich bei der «Critical Mass» um eine organisierte Aktion oder doch eher um «ein spontanes, grosses Verkehrsaufkommen von Velos» handelt, ist bezeichnend für die Machtverhältnisse in der rot-grünen Stadt Zürich, die sich in den letzten Jahren noch einmal deutlich nach links verschoben haben.

2006 war die Lage für den Stadtrat klar; schon damals rollte die «Critical Mass» (CM). Im Parlament antwortete er auf eine Anfrage der Alternativen Liste eindeutig: «Sobald das CM eine so grosse Teilnehmerzahl erreicht, dass mit einer Einschränkung der übrigen Verkehrsteilnehmenden zu rechnen ist, ist ohne Weiteres von gesteigertem Gemeingebrauch und damit von einer Bewilligungspflicht auszugehen.» Für künftige CM habe daher zu gelten: «Es ist in jedem Fall eine Bewilligung einzuholen.»

Neben erheblichen Verkehrsbehinderungen würden auch die Regeln des Strassenverkehrsgesetzes «in nicht geringfügiger Weise» verletzt. Wenn das schon für 2006 gegolten hat, dann gilt es ganz bestimmt für 2021. Damals waren einige hundert Velofahrer unterwegs, heute sind es Tausende, die Rotlichter ignorieren und Seitenstrassen blockieren.

Es gibt durchaus Strukturen

Doch heute fühlen sich die Veloaktivisten offensichtlich unantastbar, moralisch überlegen und von höchster politischer Warte gestützt. Dabei verstecken sie sich ganz bewusst in der anonymen Masse – in der «Critical Mass» eben. Für das Verkehrschaos, das sie produzieren, will niemand geradestehen.

Wie sich zeigt, gibt es aber durchaus Strukturen. Die Verantwortlichen treffen sich regelmässig, nicht nur auf diversen Kanälen im digitalen Raum, sondern auch physisch. Die Bewegung hat eine Website und politische Ziele, an den Umzügen radeln Abfallteams mit, über Lautsprecher werden Anweisungen erteilt. Zudem haben sich die Behörden in der Vergangenheit mehrfach mit Vertretern getroffen und ausgetauscht.

Die «Critical Mass» soll für ihre Anliegen demonstrieren dürfen. Aber sie soll dafür mit Namen hinstehen und eine Bewilligung einholen. Sonst bewegt sie sich auf Pfaden von Gruppierungen wie dem Schwarzen Block, die den Rechtsstaat verachten. Das kann nicht in ihrem Interesse liegen.
(https://www.nzz.ch/meinung/critical-mass-in-zuerich-bewilligung-ist-nicht-zu-viel-verlangt-ld.1634009)