Angriff auf HDP-Parteizentrale, Schweizer Behörden im Sudan, IT-Projekt gegen geflüchtete Personen

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Themen:
– Türkei: HDP-Mitarbeiterin bei Angriff auf Parteizentrale getötet
– Parlamentsentscheid: kein Reiseverbot für «vorläufig Aufgenommene» und Lockerung bei Kantonswechsel
– Schweiz und Sudan wollen stärker zusammenarbeiten in der «Migrationsgouvernanz»
– SEM will mit absurdem IT-Projekt geflüchtete Menschen loswerden
– Stopp Isolation Demo am 25. Juni: Stoppt Eure Migrationspolitik!

Was ist neu?

Türkei: HDP-Mitarbeiterin bei Angriff auf Parteizentrale getötet

Am 17. Juni hat ein türkischer Faschist die Zentrale der kurdischen Partei HDP in Izmir angegriffen und dabei eine Frau getötet. Das Attentat war bewusst für diesen Tag geplant worden, an dem eine grosse Sitzung stattgefunden hätte.
Deniz Poyraz war eine Mitarbeiterin der kurdischen Partei HDP und befand sich am Donnerstag alleine im Büro, als ein bewaffneter Mann ins Parteigebäude eindrang und sie erschoss. Laut dem Tatortbefund wurde die 38-Jährige von sechs Kugeln getroffen. Der Täter hatte eine verschlossene Tür durch einen Schuss geöffnet und anschliessend mehrere Büroräume beschossen. Er hat ausserdem einen gezielten Schuss auf ein Bild von Sebahat Tuncel, eine inhaftierte kurdische Politikerin, abgegeben. Es soll ihm sogar gelungen sein, ein Foto von Deniz` Leiche als Statusmeldung auf sein WhatsApp-Profil zu stellen. Diese Tat spiegelt die Verachtung und den Hass wieder, die der Täter den kurdischen Politiker*innen entgegen bringt.
Zum Zeitpunkt des faschistischen Attentats hätten sich eigentlich 40 Politker*innen der HDP für eine grosse Sitzung im Gebäude aufgehalten, diese war jedoch kurzfristig verschoben worden. Bei einer Begehung des Tatortes wurde klar festgestellt, dass es ein Massaker hätte werden sollen. Der Täter hatte keine gezielten Schüsse abgegeben, sondern vielmehr mit Dauerbeschuss versucht, alle vermeintlich Anwesenden zu töten.
Die Halklarin Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker), kurz HDP, ist die erste mehrheitlich kurdische Partei, welche in der Türkei je ins Parlament gewählt wurde. Sie setzt sich für Minderheiten ein, vor allem für die kurdische Minderheit in der Türkei. Als Oppositionspartei steht die HDP in der Türkei unter massivem Druck und erfährt stetig Repression. Tausende Parteimitglieder sitzen in Haft und die Staatsanwaltschaft hat im März das Verbot der Partei beantragt. Die türkische Staatspartei AKP, Erdogan und die Staatsanwaltschaft werfen der HDP vor, mit der kurdischen Partei PKK, welche in der Türkei verboten ist, zusammen zu arbeiten. Der Staat hetzt immer wieder gegen die Partei und schürt so Hass bei der Bevölkerung. Aus polizeilichen Vernehmungen des Täters geht hervor, dass dieser schon seit längerer Zeit plante, PKK-Mitglieder*innen zu töten. In einer Stellungnahme via Twitter hat die HDP betont, dass ihr Bürogebäude rund um die Uhr von der Polizei überwacht wird. Dass ein solches Massaker trotz Polizei“schutz“ möglich war und diese auch während des Massakers viel zu spät reagierte, erstaunt nicht. „Diejenigen, die auf juristischem und politischem Weg nicht mit uns fertig werden, haben jetzt bewaffnete Mörder zum Einsatz gebracht“, sagt der HDP-Präsident Mithat Sancar. Die HDP erhält immer mehr Wähler*innenstimmen und Erdogan, der vielmehr ein Diktator als eine Präsident ist, ist damit kaum zufrieden. Mit der politischen Freundschaft und Unterstützung Erdogans macht sich die Schweiz mitverantwortlich an diesen faschistischen Attentaten.
Am Abend des Attentats und auch am Tag danach fanden in verschiedenen Städten Europas Demonstrationen zum Andenken an Deniz Poyraz und gegen das faschistische Regime der Türkei statt. So auch in Basel, Luzern und Zürich. Die Mutter der getöteten Deniz Poyraz sagte der Polizei am Tatort: „Ihr könnt eine Deniz töten, doch es werden noch viele Deniz mehr weiter kämpfen!“

https://anfdeutsch.com/aktuelles/sancar-in-izmir-sollte-ein-massaker-stattfinden-26808

Was geht ab beim Staat?

Parlamentsentscheid: kein Reiseverbot für «vorläufig Aufgenommene» und Lockerung bei Kantonswechsel

In der letzten Sessionswoche hat der Nationalrat die Teilrevision des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) angenommen: In der Schweiz «vorläufig aufgenommene» Personen sollen innerhalb des Schengenraums reisen dürfen und ein Kantonswechsel soll neu nach sechs Monaten möglich sein – unter der Bedingung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses.
Mit der Teilrevision sollen neu Reisen für die Ausbildung, den Besuch von Familienangehörigen oder Sport- und Kulturanlässe für sogenannt vorläufig Aufgenommene möglich sein. «Vorläufig Aufgenommene» kommen oft aus Kriegs- und Konfliktgebieten, nichtsdestotrotz werden sie nicht als geflüchtete Personen anerkannt, sondern erhalten lediglich eine vorläufige Aufnahme. Sie erhalten einen negativen Asylentscheid mit einer Wegweisungsverfügung, wobei letztere zugunsten einer vorläufigen Aufnahme ausgesetzt wird. Dieses rechtliche Konstrukt ist mit zahlreichen zusätzlichen Diskriminierungen und Schwierigkeiten verbunden: zum Beispiel hält der vermeintlich nur vorläufige Aufenthalt potenzielle Arbeitgeber*innen davon ab, diese Menschen einzustellen.
Wie nicht anders zu erwarten, stellten sich SVP und Mitte gegen die Teilrevision. Mit Reisen im Schengenraum erhielten die Personen die Möglichkeit, trotz eines Verbots von einem anderen Flughafen aus in ihre Heimat zu fliegen. «Es ist schlicht stossend, wenn diese Personen in ihrem Heimatstaat Ferien machen». So offenbarten diese Parteien einmal mehr ­– hier mit den Worten von Gerhard Pfister (Mitte/ZG) – ihre Zweiklassenpolitik.
Der Nationalrat beschloss zudem, dass ein Kantonswechsel neu nach sechs Monaten möglich sein soll. Bedingung dafür ist ein Arbeitsverhältnis von mindestens sechs Monaten. Diese Änderung war im Rat weitgehend unbestritten – dient sie ja auch der «Arbeitsmarktintegration». Die Teilrevision des Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) geht nun weiter in den Ständerat.

https://www.srf.ch/news/schweiz/revision-des-asylrechts-kein-reiseverbot-fuer-vorlaeufig-aufgenommene?fbclid=IwAR2PvLtPAH33GRFTCyBVvsGr6XI2cxwAKwnz2KBkyq55IiQ8NHE3GjzDozEhttps://www.fluechtlingshilfe.ch/themen/asyl-in-der-schweiz/aufenthaltsstatus/die-vorlaeufige-aufnahme

Was ist aufgefallen?

Schweiz und Sudan wollen stärker zusammenarbeiten in der «Migrationsgouvernanz»

Vom 13. bis 14. Juni 2021 ist eine Gruppe aus dem Eidgenössischen Departement des Äusseren (EDA), dem Staatssekretariat für Migration (SEM) und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) nach Khartum, Hauptstadt des Sudans, gereist, um Gespräche mit der sudanischen Regierung zu führen. Sie sprachen über Entwicklungszusammenarbeit und «Migrationsgouvernanz». Also darum, wie Migration am besten staatlich kontrolliert und gesteuert werden kann. Der Sudan ist für die Migrationsrouten durch Afrika ein wichtiges Transit- und Zielland. Wie die an dem Treffen beschlossene verstärkte Zusammenarbeit der beiden Länder im Migrationsbereich aussehen wird, gibt das EDA nicht genau bekannt. Angedeutet wird aber, dass sich die Schweiz in Zukunft innerhalb der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds dafür einsetzen wird, dass die wirtschaftlichen Reformen inklusive einem Entschuldungsprozess für den Sudan unterstützt werden. Es ist möglich, dass dieser Einsatz der Schweiz als Gegenleistung für eine verschärften Migrationskontrolle und -Verhinderung im Sudan verstanden werden kann. Es würde sich dann um ein weiteres Puzzlestück handeln im Versuch, europäische Grenzen immer stärker zu externalisieren. Damit ist gemeint, dass Grenzen immer stärker durch Abkommen in andere Länder, beispielsweise in Nordafrika «ausgelagert» werden. Dadurch müssen sich europäische Länder viel weniger mit Migrant:innen beschäftigen. Die Geflüchteten hingegen sind oft starker Gewalt ausgesetzt und haben eine noch kleinere Chance, einen sicheren Lebensort zu finden. Die Refugee-Camps im Sudan sind beispielsweise in fürchterlichem Zustand und Migrant:innen der ständigen Gefahr von Kidnapping ausgesetzt.

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-83981.html
Älterer über die Camps im Sudan von 2017: https://shabaka.org/escaping-sudans-prison-deciphering-the-realities-of-the-eu-sudan-migration-deal/

https://sudanreeves.org/wp-content/uploads/2018/09/image-994409-640_panofree-btxk-994409.jpg
Bildunterschrift: Die Internationale Organisation für Migration sieht den Sudan als Schlüsselstaat in der Migrationskontrolle

Was nun?

SEM will mit absurdem IT-Projekt geflüchtete Menschen loswerden

Die Schweizer Migrationsbehörden machen geflüchteten Menschen ohne Aufenthaltsrecht falsche Hoffnungen auf Schweizer IT-Jobs, falls sie «freiwillig» in ihren Herkunftsstaat zurückkehren. Doch der perfide Plan wurde durchschaut.

Es würde dem SEM gefallen, wenn die knapp 900 Menschen aus Eritrea und Äthiopien, welche in der Schweiz ohne Papiere in der Nothilfe leben, ausgeschafft würden. Im Falle von Eritrea können sie es nicht und nach Äthiopien nur selten, weil die eritreische und die äthiopische Regierung bei Zwangsausschaffungen nicht kooperieren. So suchen die Behörden andere Wege, um diese Menschen loszuwerden.
«Rückkehr in dein Heimatland mit Zusicherung von IT-Fernarbeit?» steht auf den in englischer Sprache geschriebenen Flyer, welche momentan von den Migrationsämtern hauptsächlich an Personen aus Eritrea und Äthiopien verteilt werden. Die Personen sollen «freiwillig» in ihr Herkunftsland zurückkehren, davor «mit einer IT-Ausbildung belohnt werden und von Ostafrika aus online während mindestens einem Jahr für eine Schweizer Firma arbeiten».
Die dreimonatige Ausbildung und die darauffolgende Jobvermittlung soll die Non-Profit-Organisation «Powercoders» durchführen. Powercoders versteht sich als «Integrationsprojekt»: Sie bieten Kursen an, in denen geflüchtete und vorläufig Aufgenommene Personen ihre IT-Kenntnisse vertiefen können. Nebst Spenden, Stiftungs- und öffentlichen Geldern erhielt die Organisation auch mehrere hunderttausend Franken vom SEM. Das Problem: Wer sich für das Projekt anmeldet, muss ein Dokument unterschreiben, in dem er*sie seine freiwillige Ausreise zusichert. Ob die Person nach ihrer Rückkehr aber den versprochenen Job erhält, ist nicht garantiert. Denn eine Stelle wird erst während der Ausbildung gesucht. Und nur wenn sich die Menschen gegenüber der Firma „bewährt“ haben, wird eine befristete Arbeitsstelle oder ein Praktikum ermöglicht. Gleichzeitig ist unklar, ob die Migrationsbehörden das unterschriebene Dokument nicht dazu benutzen werden, um Druchsetzungshaft oder weitere Repressionsmassnahmen gegen Geflüchtete einzusetzen, falls diese doch nicht zurückkehren können oder wollen.
Um was es in diesem Projekt wirklich geht, zeigt auch die folgende Einschätzung der Internationalen Telekommunikationsunion: In Eritrea gibt es gemäss den aktuellsten Zahlen drei Breitbandinternetanschlüsse pro 10’000 Einwohner*innen. Nur ein Prozent der Bevölkerung hat überhaupt Zugang zum Internet. „Dass bald aus Eritrea billige Fernarbeit für Schweizer Unternehmen geleistet wird, ist wohl technisch unmöglich,“ stellte die WOZ bereits im April in einem Artikel fest.  Solange das SEM aber die Möglichkeit sieht, geflüchtete Menschen loszuwerden, ist die Behörde bei jedem noch so absurden Projekt dabei.
Der Eritreische Medienbund Schweiz ist der Überzeugung, dass Menschen aus Eritrea nicht darauf hineinfallen werden. Denn die Angst vor Militärdienst, Gefängnis und Folter bei einer Rückkehr ist alles andere als unbegründet – das SEM ignoriert diese Tatsache aber weiterhin. Doch sein perfider Plan scheint nicht aufzugehen: Bis Anfang Juni waren noch gar keine offiziellen Anmeldungen für das Projekt erfolgt.
https://www.woz.ch/2124/was-weiter-geschah/falsche-jobversprechen
https://www.woz.ch/2117/rueckkehrhilfe/mit-einem-laptop-zurueck-in-die-diktatur
https://wo-unrecht-zu-recht-wird.ch/de/Aktuell

Was steht an?

Stopp Isolation Demo am 25. Juni, 13:15 Uhr

Stoppt Eure Migrationspolitik!

„Vor knapp einem Jahr waren wir, „Stopp Isolation“, eine Gruppe von geflüchteten Migrant*innen mit einem Negativentscheid, bereits vor dem SEM. Wir sind aus den Rückkehrzentren und Asylcamps schweizweit. Seither haben wir vor kantonalen Behörden und Parlamenten, in den Camps, vor dem Bundeshaus protestiert.
Die Situation in den Rückkehrzentren hat sich nicht geändert: Die Gewalt gegen uns, die Respektlosigkeit und die Isolation bestimmen immer noch unseren Alltag. Was wir schon lange über die Gewalt in den Zentren sagen, wird in der Öffentlichkeit nun vermehrt diskutiert. Das SEM hat aber bisher immer bestritten, dass es in den Asylzentren ein Gewaltproblem gibt.Deshalb sind wir erneut vor dem SEM und kämpfen gegen das unmenschliche Leben in den Rückkehrzentren und für Respekt und Würde. Deshalb wollen wir Arbeiten können und wenn wir einen Job haben auch das Recht zu bleiben.“

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Was steht an?

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Wo die Freiheit wächst(1/4): Jugendlicher Widerstand gegen Nazis
WDR 3 Hörspiel. Teil 1 von 4. 14.06.2021. 30:07 Min.. Verfügbar bis 14.06.2022. WDR 3.
•Geschichtsserie• Köln im Frühjahr 1942. Der Bombenkrieg zermürbt die Menschen, an der Ostfront wendet sich das Blatt. In der sechszehnjährigen Lene wachsen die Zweifel, dass die Sache mit Führer, Volk und Vaterland ihre Richtigkeit hat. Als sie den Edelweißpiraten Erich kennenlernt, wendet sich ihr Leben.
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-hoerspiel/audio-wo-die-freiheit-waechst-jugendlicher-widerstand-gegen-nazis-100.html

«Jetzt verliere ich meine Kinder nicht mehr aus den Augen»
Nach einer schwierigen Flucht und acht bangen Jahren voller Angst und Ungewissheit über das Verbleiben ihrer Familie, findet eine Flüchtlingsfrau endlich ihre drei Kinder wieder. Sie möchte sie rasch möglichst zu sich in die Schweiz holen – doch als vorläufig Aufgenommene sind die Hürden dafür sehr hoch.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/damit-gefluechtete-mit-ihren-familien-zusammenleben-koennen

18’000 vermisste geflüchtete Kinder in Europa
RaBe-Info vom 14.06.2021
Wer als Kind in der Schweiz einen Asylantrag stellt, wird von den Behörden registriert. Doch nicht selten kommt es vor, dass mancheKinder plötzlich nicht mehr gefunden werden können. Nicht nur in der Schweiz verschwinden unbegleitete Kinder auf der Flucht, eine neue Studie zeigt, dass in Europa über 18’000 geflüchtete Kinder vermisst werden. Gründe gibt es verschiedene, entweder sie sind weitergerest, ohne dass eine Ausreise registriert wurde, sie sind untergetaucht und leben illegal in der Schweiz oder sie sind verschleppt worden.
https://rabe.ch/2021/06/14/faire-renten-fuer-alle/