Medienspiegel 26. Mai 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Beitrag für Flüchtlinge auf Samos und in Athen
Die Stadt Bern unterstützt die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen zugunsten von Flüchtlingen in Griechenland im Rahmen der Not- und Katastrophenhilfe mit 16’500 Franken. Ärzte ohne Grenzen leistet im Lager Vathy auf Samos und in Athen medizinische und psychologische Hilfe für Geflüchtete, Asylsuchende sowie Migrantinnen und Migranten. Dies umfasst die Schaffung eines medizinischen Grundangebots, gesundheitsfördernde Massnahmen, sozio-rechtliche Unterstützung und kulturelle Mediation. Im stark überfüllten Lager Vathy stellt Ärzte ohne Grenzen zudem Trinkwasser bereit und sorgt für die Verfügbarkeit von Duschen und Toiletten.
Direktion für Finanzen, Personal und Informatik
https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/beitrag-fuer-fluechtlinge-auf-samos-und-in-athen


Unterbringung für den Asyl- und Flüchtlingsbereich: Temporäre Wiedereröffnung der Unterkunft «Hotel Kreuz» in Wilderswil
Das zurzeit ungenutzte «Hotel Kreuz» in Wilderswil wird voraussichtlich ab Juni 2021 vorübergehend wieder als Kollektivunterkunft für Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge genutzt. Das Hotel wurde bereits früher kurzzeitig zur Unterbringung von anerkannten Flüchtlingen genutzt. Es wird künftig im Auftrag des Amtes für Integration und Soziales durch den Verein Asyl Berner Oberland betrieben. Die Gemeinde Wilderswil steht der angekündigten Wiederinbetriebnahme des Zentrums offen gegenüber und ist für die zukünftige Zusammenarbeit positiv eingestellt.
https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.mm.html/portal/de/meldungen/mm/2021/05/20210525_1722_temporaere_wiedereroeffnungderunterkunfthotelkreuzinwilderswil
-> https://www.bernerzeitung.ch/ins-kreuz-ziehen-wieder-asylsuchende-ein-907309782033
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/zusaetzliche-asylunterkunft-im-berner-oberland?id=11990897
-> https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/kanton-bern/das-hotel-kreuz-wird-kurzfristig-zur-kollektivunterkunft
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/190640/


+++ST. GALLEN
Menschen erzählen von ihrer Flucht: «Die Schweiz war für mich wie ein anderer Planet»
Schülerinnen und Schüler tauschen sich mit Flüchtlingen aus. Dies war die Idee eines Projekttags an der Oberstufe Sonnenhof. Damit sollten Vorurteile abgebaut und gegenseitiges Verständnis geschaffen werden.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wil/wil-menschen-erzaehlen-von-ihrer-flucht-die-schweiz-war-fuer-mich-wie-ein-anderer-planet-ld.2141653


+++SCHWEIZ
Sommersession (31. Mai bis 18. Juni) – Menschenrechte im Parlament: Sommer 2021
Amnesty International schlägt Alarm und fordert ein Ende der Missbräuche in den Bundesasylzentren. In einem vielbeachten Bericht hat die Menschenrechtsorganisation vor schwerer Gewalt und Misshandlungen gegen Asylsuchende gewarnt. In Kürze wird die Staatspolitische Kommission des Nationalrates das Staatssekretariat für Migration in der Sache anhören.
https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/sessionen-des-parlaments/2021/sommersession


+++MITTELMEER
Boot mit Migranten gekentert: 2 Kinderleichen an Strand von Libyen gespült
Mitarbeitende einer Rettungsorganisation veröffentlichten Fotos von zwei Kinderleichen, die an die libysche Küste gespült worden waren. Sie sollen auf einem Schlauchboot gewesen sein, das einige Tage zuvor im Mittelmeer kenterte.
https://www.watson.ch/international/migration/954134730-fluechtlinge-im-mittelmeer-leichen-von-kindern-in-libyen-gefunden


+++EUROPA
Bootsflüchtlinge im Mittelmeer: UNO-Menschenrechtsbüro kritisiert EU-Migrationspolitik scharf
Die Europäische Union müsse dringend mehr legale Zuwanderungswege für Migranten schaffen und die Rettungsdienste neu aufstellen.
https://www.bernerzeitung.ch/uno-menschenrechtsbuero-kritisiert-eu-migrationspolitik-scharf-932293487034


Klage wirft Frontex vor, Flüchtende ausgeraubt und auf dem Meer ausgesetzt zu haben
Drei Organisationen werfen der EU-Grenzschutzagentur Menschenrechtsverletzungen vor. Diese wollte zunächst nicht darauf reagieren
https://www.derstandard.at/story/2000126918614/klage-wirft-frontex-vor-fluechtenden-ausgeraubt-und-auf-meer-ausgesetzt
-> https://www.derstandard.at/story/2000126927457/klage-und-scharfe-un-kritik-wegen-eu-migrationspolitik-im-mittelmeer
-> https://www.jungewelt.de/artikel/403121.eu-grenzregime-frontex-beim-eugh-verklagt.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1152455.eu-grenzschutzagentur-klage-gegen-frontex-eingereicht.html


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Fahrende halten sich temporär in Belp auf
Eine Gruppe von ausländischen Fahrenden befindet sich zurzeit auf dem Parkplatzareal Nr. P7 gegenüber dem Fussballfeld des FC Belp.
https://www.neo1.ch/news/news/newsansicht/datum/2021/05/26/fahrende-halten-sich-temporaer-in-belp-auf.html


+++FREIRÄUME
derbund.ch 26.05.2021

Lärmklagen in Berner Altstadt: Chun-Hee-Schliessung provoziert Kampagne für urbanes Leben

Wegen einer Lärmklage sieht sich das Restaurant Chun Hee genötigt zu schliessen. Nun formiert sich eine Bewegung für eine lebendige Altstadt – nach bekanntem Vorbild.

Maurin Baumann

Das Restaurant Chun Hee in der Berner Münstergasse schliesst seine Tore. Wegen einer Lärmklage müsste der Familienbetrieb auf einen grossen Teil seiner Aussenbestuhlung verzichten, was einen rentablen Betrieb verunmöglicht. Die Tatsache, dass mitten in der Altstadt der Betrieb eines Restaurants mit 40 Aussenplätzen nicht mehr möglich sein soll, macht viele Bernerinnen und Berner wütend.

Das Telefon von Martin Mühlethaler, der die beliebte Altstadtbeiz zusammen mit seiner Partnerin Eve Angst betreibt, klingelt momentan beinahe pausenlos: «Wir erhalten viele bestürzte und traurige Reaktionen aus der ganzen Schweiz», sagt Mühlethaler. Auch von den anderen Gewerbebetrieben in der Nachbarschaft habe er viele solidarische Reaktionen erhalten.

Erinnerungen an Frau Müller

Doch nicht nur das benachbarte Gewerbe solidarisiert sich mit dem beliebten Berner Restaurant. Unter dem Slogan «Schäm di, Herr Müller» wurde eine Facebook-Gruppe gegründet, die an eine Kampagne aus dem Jahr 2011 anknüpft. Damals hatte die Bar Sous-Soul an der Junkerngasse wegen Lärmklagen einer Nachbarin schliessen müssen. Eine Facebook-Kampagne von Verteidigern des Berner Nachlebens hatte sich die zugezogene Soziologin danach unter dem Motto «Figg di, Frau Müller» nicht eben auf die feine Art vorgeknöpft. Der Umgangston mit dem heutigen Herrn Müller ist nun gemässigter als damals, aber in der Sache nicht weniger konsequent.

Laut dem Chun-Hee-Wirt Mühlethaler sind zwei Nachbarn mittlerweile schon wieder ausgezogen. «Das ist doch absurd», sagt er. «Ziehen diese Leute dann zum nächsten Ort, um wieder wegen des Lärms zu klagen?»

Für die Betreiber der Facebook-Gruppe ist klar, dass das Chun Hee kein Einzelfall bleiben wird. Heute sei der «Stein des Anstosses» nicht mehr ein Club mit «dicken Beats», sondern ein «Restaurant mit gepflegtem Publikum», welches offenbar verhindere, dass die Nachbarn «bei offenem Fenster die ‹Tageschau›» um 19.30 Uhr schauen könnten. Die Gruppe befürchtet daher «ein Bern ohne Leben, wo der letzte Fleck Farbe die Schweizer Fähnchen beim Souvenirshop sind».

Die Schliessung der Beiz bedauert auch Max Reichen, Co-Präsident der Bar- und Clubkommision Bern. Es sei ein beliebter Familienbetrieb, der mit anderen Lokalen den Charme der Berner Altstadt ausmache. «Es ist eine Glücksfrage, wen es trifft», sagt Reichen. Die Ausgangslage sei für fast jede «Beiz» gleich.

Gemäss dem umstrittenen Entscheid des Berner Regierungsstatthalters, der das Wirtepaar zum Schliessungsentscheid bewegte, dürfte das Chun Hee ab 19 Uhr statt 40 neu nur noch 18 Aussenplätze betreiben. «Wenn dies geltendem Recht entspricht, ist das ein Problem», sagt Reichen. Öffentlicher Raum sei mehr als nur Strassen für Autos. «Jetzt muss die Stadt ihren Handlungsspielraum identifizieren und ausloten.»

Das findet auch Lena Allenspach, Co-Präsidentin der SP Stadt Bern. «Es darf nicht sein, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu solch einschneidenden und realitätsfremden Entscheiden führen», sagt sie. Um Fälle wie das Chun Hee künftig zu verhindern, will die SP deshalb politisch Druck aufsetzen. In einer Mitteilung vom Mittwoch verweist sie unter anderem auf die anstehende Revision der städtischen Bauordnung oder des Lärmreglements.

«Eine breite, öffentliche Debatte»

Für GFL-Stadtrat Manuel C. Widmer reicht das indessen noch nicht. Es brauche nun «eine breite, öffentliche Debatte darüber, was urbanes Leben bedeutet». Dabei müsse die Frage geklärt werden, «was ich als Stadtbewohner erwarten darf – und was ich ertragen muss». Leute, die mitten in der Stadt wohnten, sollten «sich fragen, ob ihr Ruhebedürfnis ab 19 Uhr an der Münstergasse wirklich konform ist mit dem urbanen Leben oder ob sie doch eher in ein Wohnquartier ziehen sollten», sagt Widmer.

Neben Kampagnen wie «Schäm di, Herr Müller» brauche es auch politische Vorstösse auf allen Ebenen, findet Widmer. Ob das Problem allein von der städtischen Politik gelöst werden könne, sei jedoch fraglich. Weil Lärmvorschriften auch auf Bundesebene, konkret im Umweltschutzgesetz, geregelt würden, «müsste an sich auf nationaler Ebene gehandelt werden».

Doch für das Chun Hee werden wohl all diese Bestrebungen zu spät sein. Ganz aufgeben wollen Mühlethaler und Angst aber noch nicht. Das Wirtepaar stellt in Aussicht, sich mit seinen Unterstützern zusammenzuschliessen und eine «öffentlichkeitswirksame Kampagne zu starten» mit dem Ziel, in diesem Sommer in der Münstergasse doch noch rentabel wirten zu können.
(https://www.derbund.ch/chun-hee-schliessung-provoziert-kampagne-fuer-urbanes-leben-685400968928)



Zwischennutzung im ehemaligen X-Project geplant
Seit das Jugendkulturhaus X-Project an den Rennweg gezogen ist, steht das Gebäude hinter dem Bieler Bahnhof leer. Nun will das Kollektiv Ensemble Stark temporär einziehen.
https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/zwischennutzung-im-ehemaligen-x-project-geplant


+++GASSE
Ausnützen des Sozialstaats oder Notfälle? Zahlreiche Bettlerinnen und Bettler aus Rumänien lassen sich im Universitären Zentrum für Zahnmedizin in Basel gratis behandeln (ab 05:47)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/1-35-milliarden-fuer-die-uni-basel?id=11991068



bernerzeitung.ch 26.05.2021

Berner Notschlafstelle: Endo Anaconda sammelt Spenden für den Sleeper

Schon zum zweiten Mal gerät die Berner Notschlafstelle Sleeper wegen Corona in Geldnot. Nun rufen Endo Anaconda und Mario Capitanio zum Spenden auf.

Edith Krähenbühl

Fünf vor zwölf zeigt die Uhr an, die die Vorderseite des Flyers ziert. Die Uhrzeit steht symbolisch für die finanzielle Situation des Sleepers an der Neubrückstrasse in Bern. Auf der Hinterseite des Flyers, der in den letzten Tagen in vielen Berner Briefkästen landete, ist zu lesen, dass der Notschlafstelle und Gassenküche wegen Corona Geld fehle.

Der Sleeper kommt seit über zwanzig Jahren ohne Subventionen aus und wurde vor der Pandemie durch den Club Dead End, der sich im gleichen Gebäude befindet, querfinanziert. Da nicht klar ist, wann das Dead End wieder öffnen kann, fehlen bis auf weiteres Einnahmen. «Die Nachfrage nach den günstigen Schlafplätzen und dem warmen Znacht ist jedoch während der Pandemie eher gestiegen», sagt Ueli Schürch vom Verein «Sleeper, Notschlafstelle und Gassenküche».

Schon vor einem Jahr hat der Verein mit einem Crowdfunding 50’000 Franken gesammelt. Zusammen mit den laufenden Spenden hätten diese bis jetzt gereicht, sagt Schürch. «Wir waren sehr sparsam, auch bei der Zusammenstellung der Menüs.» Doch nun sei die Institution dringend auf weitere Spenden angewiesen. Der Sleeper benötige mindestens 10’000 Franken pro Monat, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Prominente Unterstützung erhält der Verein von den Berner Musikern Endo Anaconda und Mario Capitanio. Die beiden haben ein Video gedreht, mit dem sie auf Facebook und Youtube dazu aufrufen, für den Sleeper zu spenden.
(https://www.bernerzeitung.ch/endo-anaconda-sammelt-spenden-fuer-den-sleeper-991384571507)



Video:
Gitarrist Mario Capitanio und Stiller-Haas-Sänger Endo Anaconda loben den Sleeper als «einzigartige Institution» und starten einen Spendenaufruf auf Social Media.
Quelle: Youtube/BerneStyle
https://youtu.be/6dlP2rS-_lU



bzbasel.ch 26.05.2021

Bettelverbot: Juristin der Uni Basel kritisiert eingeschlagenen «Basler Weg»

Raphaela Cueni sieht im Ratschlag der Regierung Punkte, die nicht vereinbar sind mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Nora Bader

Fünf Meter Abstand zu Geschäften, Restaurantterrassen oder Eingängen sowie Verbote in Parks oder vor Geldautomaten: Fast überall in der Stadt, wo es Passagierströme gibt, soll Betteln verboten werden. Ausserdem sind Ordnungsbussen vorgesehen. Diese Massnahmen sieht der Ratschlag für die neue Bettelordnung vor, den Sicherheits- und Justizdirektorin Stephanie Eymann vergangene Woche präsentiert hat.

Nun wird Kritik laut: «Der Ratschlag beinhaltet Punkte, die nicht vereinbar sind mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte», betont Raphaela Cueni, Juristin an der Universität Basel. Laut dem Urteil könne passives Betteln grundsätzlich nichtverboten werden. Die Pläne des Sicherheitsdepartements könnten aber darauf hinauslaufen. Im Ratschlag zitiert die Basler Regierung auch aus Cuenis Analyse vom April 2021 zum erwähnten Urteil vom Januar. Direkt involviert in die Ausarbeitung des Ratschlages war die Spezialistin für Grundrechtsfragen indes nicht, weshalb sie sich nun unabhängig äussern kann.

Zwar werde das geplante Verbot sehr detailliert beschrieben, was dafür spreche, dass eine präzise Regelung gesucht werde, so Cueni. Auch gebe der Vorschlag für ein neues Bettelverbot in Basel vor, die Vorgaben der Verfassung und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einzuhalten. Aber: «Faktisch wird Betteln in der Stadt, wo heute gebettelt wird und betteln Sinn macht, weitestgehend verboten.»

Das beisse sich mit den Grundrechten, sagt Cueni weiter. Denn gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sei Betteln ein geschütztes Grundrecht; Verbote seien deshalb nur zulässig, soweit sie ein öffentliches Interesse verfolgen und verhältnismässig seien.

Das strengere Bettelverbot wird im Ratschlag der Regierung unter anderem damit begründet, dass die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Ordnung gefährdet sei. Doch hier sieht die Juristin Grundrechte verletzt: «Jemand, der neben einem Geschäft auf dem Trottoir am Boden sitzt, ist aus meiner Sicht keine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung.» Auch wenn sie aus politischer Sicht verstehe, dass es eine Lösung brauche und sich ein Grossteil der Bevölkerung stören würde an den Bettelnden.

«Rechtlich kann man nicht verbieten, dass Menschen in der Innenstadt oder am Bahnhof mit Bettlerinnen und Bettlern konfrontiert werden, nur weil sie sich an der Konfrontation stören», so Cueni. «Wir haben nicht in der gesamten Fussgängerzone, Parks oder Unterführungen ein durch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gedecktes Interesse, Betteln zu verbieten.» Hingegen könne man rechtlich die Ausnutzung von Abhängigen und anderen Personen zum Betteln verbieten sowie das aggressive Betteln oder etwa das Betteln vor Bankomaten, betont Cueni.

Gutachten für «Die Mitte» kommt zu anderem Schluss

Zu einem anderen Schluss kommt Stefan Breitenmoser, Professor für Europarecht an der Uni Basel. Verschiedene Varianten des Bettelverbots seien mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar, lässt er sich in einer Mitteilung der Partei «Die Mitte» zitieren. Diese hatte einen Bericht bei ihm in Auftrag gegeben. Der Bericht ist nicht öffentlich einsehbar und liegt der bz trotz Anfrage nicht vor.

Wie «Die Mitte» Basel-Stadt schreibt, spreche sie sich für eine möglichst strenge Umsetzung eines Bettelverbots aus, das Ausnahmen vorsehe. Wer etwa keine andere Möglichkeit habe in der Not als zu Betteln, solle straflos bleiben.

Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement kann Kritik nicht nachvollziehen

Beim Justiz- und Sicherheitsdepartement heisst es auf Anfrage, man könne diese Kritik nicht nachvollziehen. «Betteln wird dort eingeschränkt, wo der Schutz der Passantinnen und Passanten sowie Gewerbetreibenden es erfordert (öffentliches Interesse). § 9, Absatz 2 enthält Aufzählungen von Bettelverboten an neuralgischen und besonders sensiblen Örtlichkeiten», erläutert Mediensprecher Martin Schütz. Diese würden sich dadurch auszeichnen, dass sie zum einen stark frequentiert seien und zum anderen beengte oder unübersichtliche Platzverhältnisse aufweisen würden. «Ebenfalls aufgeführt sind Zonen, wo Passantinnen oder Passanten nicht oder nur schlecht ausweichen können oder deren Sicherheitsbedürfnis besonders gross ist, weil mit Bargeld hantiert wird», so Schütz weiter.

Mit den weiteren örtlichen Bettelverboten werde zudem den berechtigten Interessen von Inhaberinnen und Inhabern von Ladengeschäften, Hotels und Restaurants an einem uneingeschränkten Zugang zu ihren Lokalitäten Rechnung getragen. Die Abstandsangabe von fünf Metern stellt laut Schütz sicher, dass die Bettelverbote genügend präzise formuliert seien und in ihrer Ausgestaltung nicht weitergehen, als es zum Erreichen der öffentlichen Interessen notwendig sei.

Basler Debatte ähnelt der in Genf und Salzburg

Raphaela Cueni befasst sich seit 2012 mit dem Thema. In Genf hat sie für ein Projekt der Universität die Situation ebenfalls rechtlich bearbeitet und schnell festgestellt: «Die Debatte dort ähnelte derjenigen in Basel sehr stark.» Die Basler Lösung erinnert sie auch an die Situation vor einigen Jahren in Salzburg: «Als der Verfassungsgerichthof in Österreich allgemeine, umfassende Bettelverbote aufhob, führte Salzburg ein örtlich beschränktes Verbot ein, das aber die gesamte Innenstadt umfasste», sagt sie.

Der Verfassungsgerichtshof hielt dann auch dieses beschränkte Verbot für unzulässig, weil es de facto wieder einem umfassenden Bettelverbot gleichkam. Das erscheine ihr ähnlich wie in Basel. «Und das ist mein juristisches Problem damit.»

Im Juni kommt das Geschäft in den Grossen Rat und könnte dann frühestens per August in Kraft treten. Wenn es hart auf hart kommt und die neue Bestimmung so in Kraft treten sollte, dann müsste wohl erneut das Bundesgericht über die Zulässigkeit eines Bettelverbots – nun eines weniger absolut gehaltenen Verbots aus Basel – entscheiden.
(https://www.bzbasel.ch/basel/bettelverbot-juristin-der-uni-basel-kritisiert-eingeschlagenen-basler-weg-ld.2141365)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
«Ich hatte nicht das Gefühl, etwas Illegales zu tun»
In Freiburg stehen seit dieser Woche zahlreiche Mitglieder von Extinction Rebellion vor Gericht. Sie müssen sich wegen einer Aktion am Black Friday 2019 verantworten.
https://www.20min.ch/story/ich-hatte-nicht-das-gefuehl-etwas-illegales-zu-tun-341618394081
-> https://www.20min.ch/fr/video/une-procession-accompagne-les-prevenus-617653590747


Alerte rouge chez Nestlé
A l’occasion de la Grève Pour l’Avenir du 21 mai 2021, la déco de l’entrée d’un Centre de Recherche Nestlé (CRN) a été refaite pour dénoncer le rôle de cette multinationale dans la crise climatique et sociale.
https://renverse.co/infos-locales/article/alerte-rouge-chez-nestle-3088


La Critical Mass reprend la rue
La Critical Mass reprend d’assaut la ville. Chaque dernier vendredi du mois, rendez-vous à la place des Grottes, 18h30, pour un défilé spontané, non-autorisé et festif dans les rues de Genève !
https://renverse.co/infos-locales/article/la-critical-mass-reprend-la-rue-3090


+++KNAST
Unzulänglichkeiten in den Gefängnissen
Rechtspflegekommission weist auf bauliche Mängel und personelle Unterdotierung hin
Die Rechtspflegekommission des Kantonsrates hat in den beiden Gefängnissen der Stadt St.Gallen (Amtshaus und Klosterhof) bei ihrer Überprüfung diverse Unzulänglichkeiten festgestellt. Die Infrastrukturen der Innenräume genügen auch gemäss Aussagen der Kantonspolizei den heutigen Anforderungen an die Arbeitsabläufe während der Untersuchungshaft nicht mehr.
https://www.st-galler-nachrichten.ch/st-gallen/detail/article/unzulaenglichkeiten-in-den-gefaengnissen-00199965/


+++ANTITERRORSTAAT
Antiterrorstrategie heute: Die Mär vom wehrlosen Staat
Das Polizeigesetz PMT solle eine «Lücke» schliessen, sagt der Bundesrat im Abstimmungskampf. Unser Autor jedoch zeigt: Schon heute kann allein eine Whatsapp-Nachricht als «Terrorunterstützung» gelten.
https://www.woz.ch/2121/antiterrorstrategie-heute/die-maer-vom-wehrlosen-staat


Nein zum Polizeigesetz: Auf verlogener Mission
Wenn es eine Wahrheit im Kampf gegen den Terror gibt, dann diese: Die Wahrheit selbst bleibt häufig als Erste auf der Strecke. Vor bald zwanzig Jahren sprach der damalige US-Aussenminister Colin Powell vor dem Uno-Sicherheitsrat von angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins – und rechtfertigte damit den Einmarsch im Irak. Heute wissen wir: Die Aussagen waren frei erfunden.
https://www.woz.ch/2121/nein-zum-polizeigesetz/auf-verlogener-mission


+++POLIZEI ZH
tagesanzeiger.ch 26.05.2021

Bodycams für Zürcher Stadtpolizei – Rykart: «Es wird keine Überwachung der Stadt Zürich geben»

Im Zürcher Stadtparlament zeichnet sich ein knappes Ja zu den Polizei-Kameras ab. «Besser Bodycams als Schlagstöcke», hiess es.

Martin Huber

Sollen sie nun filmen oder nicht? Seit rund vier Jahren streitet die Zürcher Politik um die Frage, ob Stadtpolizistinnen und -polizisten Uniformkameras einsetzen dürfen oder nicht. Das Sicherheitsdepartement führte 2017 einen Pilotversuch durch und möchte seither solche Bodycams anschaffen – als Mittel der Gewaltprävention und zur Beweissicherung. Doch politisch sind die Minikameras höchst umstritten.

Am Mittwochabend kam es im Stadtparlament zu einer mehrstündigen Grundsatzdebatte. Anlass dazu bot die rechtliche Grundlage zum Einsatz der Aufnahmegeräte. Laut der Verordnung des Stadtrats sollen Polizeiangehörige die Bodycams bei Kontrollen einschalten können – jedoch nur in Situationen, die zu eskalieren drohen oder bei denen sie angegriffen oder beschimpft werden. Polizistinnen und Polizisten mit Kamera sind mit einem «Video»-Schild gekennzeichnet und müssen ankündigen, wenn sie ihr Gerät einstellen. Auch kontrollierte Personen können das Anschalten der Kameras fordern. Gelöscht würden die Aufnahmen nach 100 Tagen. Die Anschaffungskosten für die Kameras betragen rund 45’000 Franken.

Diverse Einschränkungen

Die vorberatende Parlamentskommission hatte der Verordnung knapp zugestimmt – und sie in wesentlichen Punkten verschärft (lesen Sie hier mehr dazu). So sollen die Bodycams bei unbewilligten Demonstrationen oder Krawallen nicht zum Einsatz kommen – weil es laut der Stadtpolizei in solchen Fällen bessere Einsatzmittel gebe, etwa Kameras aus der «dritten Reihe». Weiter gibt es eine Ausstiegsklausel, wonach die Verordnung nach sechs Jahren überprüft und gegebenenfalls ausser Kraft gesetzt werden muss. Schliesslich soll der Bodycam-Einsatz wissenschaftlich begleitet werden.

FDP, GLP, EVP und eine Mehrheit der SP-Fraktion stellten sich hinter die Vorlage, während Grüne, AL, SVP und eine SP-Minderheit sie ablehnten.

Für die SP sei zentral, dass die Verordnung mit einer Ausstiegsklausel versehen und der Kameraeinsatz von einer unabhängigen wissenschaftlichen Studie begleitet wird, wie Sprecher Pascal Lamprecht sagte. Letztlich gehe es um einen «Spagat zwischen Überwachungsstaat und Gewalteindämmung». Zentral bei Polizeieinsätzen blieben Respekt und Augenmass – «nicht das elektronische Auge auf Brusthöhe».

Für FDP-Sprecher Andreas Egli geht es darum, «Verantwortung für unsere Polizisten zu übernehmen» und ihnen jene Mittel in die Hand zu geben, die sie brauchen, um ihre Arbeit effizient auszuführen und sich selbst zu schützen. «Besser, es kommen bei Kontrollen Bodycams zum Einsatz, als dass Polizisten mit dem Schlagstock wedeln müssen», sagte Egli.

Sven Sobernheim (GLP) begrüsste die «strenge gesetzliche Grundlage» und die maximale Anzahl Kameras, die sicherstelle, dass das jetzige Konzept nicht laufend ausgebaut werde. Peter Anderegg (EVP) stimmte ebenfalls zu, warnte aber, die Bodycams dürften nicht dazu verwendet werden, Polizeiangehörige bei ihrer Arbeit zu überwachen.

Linke warnen vor Eingriff in Grundrechte

Die Grünen lehnten die Vorlage aus dem Departement ihrer eigenen Stadträtin Karin Rykart ab. «Wir wollen in Zürich kein fragwürdiges Überwachungsexperiment auf Kosten der Grundrechte», erklärte Markus Knauss. Zudem sei nicht nachgewiesen, ob die Uniformkameras wirklich zur Verhinderung von Übergriffen auf Polizeikräfte beitragen. Die Kameras könnten sogar zu einer Eskalation beitragen. Knauss sieht in den Bodycams auch «ein gewisses Misstrauensvotum des Kommandos» gegenüber Polizisten auf der Strasse, denen man offenbar nicht zutraue, dass sie sich situativ richtig verhalten.

Luca Maggi (Grüne) sprach von einem «eindeutig repressiven Einsatzmittel». Wer glaube, dass man damit Opfern von polizeilichen Übergriffen helfe, sitze einem Irrtum auf. Walter Angst (AL) zweifelte am Nutzen der Kameras und an deren deeskalierenden Wirkung.

Die SVP war aus ganz anderen Gründen dagegen – ihr waren die Rahmenbedinungen zu restriktiv. Sie kritisierte insbesondere, dass die Kameras nicht im unfriedlichen Ordnungsdienst zum Einsatz kommen sollen. «Ausgerechnet dort, wo es brennt», bemängelte Stephan Iten. Weiter wehrte er sich dagegen, dass der Bodycam-Einsatz nochmals wissenschaftlich begleitet werden soll – und zwar mit dem Fokus auf «Racial Profiling».

«Tendenziell deeskalierende Wirkung»

Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) mahnte zur Sachlichkeit. Die Bodycams seien mittlerweile zu einem Symbol emporstilisiert worden. Die Uniformkameras seien «kein Allheilmittel», es werde auch weiterhin zu Konflikten zwischen Polizeiangehörigen und Bürgerinnen und Bürgern kommen. Aber die Bodycams hätten «in der Tendenz eine deeskalierende Wirkung».

Laut Rykart sind sie «ein milderes Mittel als Pfefferspray oder der Mehrzweckstock» und sie hätten eine Kontroll- und Schutzfunktion. Deshalb sollen die Bodycams nun ins Sortiment der Einsatzmittel der Stadtpolizei aufgenommen werden. «Es wird keine Überwachung der Stadt Zürich geben», versicherte Rykart.

Definitiver Entscheid erst in ein paar Wochen

Zwar hat der Gemeinderat die Vorlage am Mittwochabend zu Ende beraten. Dennoch sie bleibt vorerst weiter in der Schwebe. Denn laut Ratsreglement findet die Schlussabstimmung erst in drei oder vier Wochen statt, nach der redaktionellen Bereinigung. Ein knappes Ja zeichnet sich allerdings ab. Weil praktisch alle Änderungsanträge der Kommission angenommen wurden, stimmt eine Mehrheit der SP-Fraktion dafür. Damit dürfte es laut Kommissionspräsident Pascal Lamprecht für eine Mehrheit reichen. Offen ist, ob es noch zu einer Volksabstimmung kommt. Ein Referendum gegen den Beschluss ist möglich.
(https://www.tagesanzeiger.ch/rykart-es-wird-keine-ueberwachung-der-stadt-zuerich-geben-798782273040)



nzz.ch 26.05.2021

Umstrittene Bodycams lösen im Zürcher Gemeinderat eine hitzige Debatte aus

Die Bodycam hatte einen jahrelangen Leidensweg. Ob sie die Zürcher Stadtpolizei definitiv einsetzen wird, ist allerdings noch unklar.

Florian Schoop

Eigentlich geht es nicht um viel, nur um 34 kleine Kameras, festgemacht an den Uniformen von Zürcher Stadtpolizisten. Dennoch sorgt der Plan des Stadtrats, seine Ordnungshüter mit solchen Bodycams auszurüsten, seit Jahren für emotionale Debatten. So auch am Mittwoch im Zürcher Stadtparlament.

«Ihr wollt euch als Bodycam-Heros hinstellen», ruft etwa Stephan Iten von der SVP in Richtung FDP. «Unseren Antrag habt ihr vor Jahren noch abgelehnt, und jetzt wollt ihr euch so aufplustern?» Der GLP-Parlamentarier Sven Sobernheim bedauert derweil, dass gewisse Ratsmitglieder es nur schafften, Nein zu sagen, ohne Alternativen anzubieten. Und Pascal Lamprecht betont, Studien hätten klar gezeigt, dass Bodycams deeskalierend wirkten.

Kein Einsatz bei krawallierenden Fussballfans

Der Rat muss über eine Vorlage befinden, die in der zuständigen Kommission bereits zweieinhalb Jahre lang kontrovers debattiert wurde. Herausgekommen ist eine abgespeckte Version. Die 34 Bodycams sollen nur maximal sechs Jahre lang eingesetzt werden. Und zwar in Situationen, wo es schnell brenzlig wird – am Wochenende etwa oder an Hotspots der Partygänger. Zudem sollen Forscherinnen und Forscher das Ganze wissenschaftlich begleiten.

Die Geräte würden aber nicht ständig eingeschaltet sein. Aufs Knöpfchen drückt die Polizei nur dann, wenn Kontrollen aus dem Ruder zu laufen drohen – nicht aber beim sogenannten unfriedlichen Ordnungsdienst, also bei krawallierenden Fussballfans oder unbewilligten Demonstrationen. Auch dürfen kontrollierte Personen eine Aufnahme verlangen, wenn sie ein unkorrektes Verhalten seitens der Polizei befürchten.

Diese einzelnen Punkte lösen eine stundenlange Debatte aus. Die SVP stört es, dass die Bodycams ausgerechnet beim unfriedlichen Ordnungsdienst nicht eingesetzt würden. Ihr Sprecher Stephan Iten wird derweil vom Kommissionskollegen Andreas Egli (fdp.) gerüffelt, er habe offensichtlich immer noch nicht verstanden, dass dieses Arbeitsgerät dazu gar nicht geeignet sei. Die grüne Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart bewirbt derweil die Kameras entgegen der Parteidoktrin als mildes Mittel – im Vergleich zu Pfefferspray und Schlagstock.

Sympathien für die Sunset-Klausel

Nach über dreistündiger Diskussion zeigten sich Annäherungen. Die eingeplante Sunset-Klausel etwa konnte bei einigen Parlamentariern Punkte sammeln, ein Instrument also, das die Verordnung nach sechs Jahren nichtig macht, sollte sie nicht verlängert werden. Ein Entscheid fällt am Mittwoch nicht. Der Rat leitet die Vorlage an die Redaktionskommission weiter, in einigen Wochen kommt es zur Schlussabstimmung im Parlament.
(https://www.nzz.ch/zuerich/bodycams-hitzige-debatte-im-zuercher-gemeinderat-ld.1627216)



Zürcher Stadtpolizei soll Bodycams vorerst sechs Jahre einsetzen
Einzelne Einsatzkräfte der Zürcher Stadtpolizei sollen für vorerst sechs Jahre mit Bodycams ausgerüstet werden. Das Stadtparlament hat am Mittwoch die Verordnung beraten, die deren Einsatz regeln soll. Nun liegt sie bei der Redaktionskommission.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zuercher-stadtpolizei-soll-bodycams-vorerst-sechs-jahre-einsetzen-00158917/


+++POLIZEI AT
Studie: Polizei in Österreich hält Schwarze überproportional oft an
EU-Grundrechtsagentur untersuchte Erfahrungen von Schwarzen und Roma mit der Polizei. So viele Anhaltungen wie in Österreich gibt es kaum wo
https://www.derstandard.at/story/2000126886206/studie-polizei-in-oesterreich-haelt-schwarze-ueberproportional-oft-an


+++RECHTSPOPULISMUS
Edgar Oehler – oder wie ich mir mein Leben schön schreiben lasse
Der Rheintaler Edgar Oehler war ein Tausendsassa in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit bald 80 hat er sich von einer fremden Feder sein Leben ins richtige Licht rücken lassen.
https://www.saiten.ch/edgar-oehler-oder-wie-ich-mir-mein-leben-schoen-schreiben-lasse/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Drei Jahre Freiheitsstrafe für Zürcher Neonazi-Rocker
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/ganz-links-ganz-maennlich-al-nominiert-walter-angst?id=11990663
-> https://www.swissjews.ch/de/news/sig-news/saenger-einer-neonaziband-verurteilt/
-> https://zueriost.ch/news/2021-05-26/kevin-g-muss-wegen-rassendiskriminierung-ins-gefaengnis



tagesanzeiger.ch 26.05.2021

Rassenhass und Aufruf zu Mord: Zürcher Neonazi Kevin G. wegen Hassliedern verurteilt

Ein Metzger muss für drei weitere Monate ins Gefängnis. Mit seiner Neonaziband Mordkommando hat er gegen Prominente wie Corine Mauch und Juden gehetzt.

Corsin Zander

Die Beweise waren für Kevin G. zuletzt zu erdrückend. Der bekannte Neonazi aus dem Zürcher Oberland gab in der Einvernahme im April 2021 zu, dass er der Leadsänger der Band Mordkommando ist. Dies bestätigte die Zürcher Staatsanwaltschaft der NZZ. Die Behörde hat den heute 33-Jährigen wegen Rassendiskriminierung sowie wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Dies geht aus dem rechtskräftigen Strafbefehl hervor, der dieser Zeitung vorliegt. Der Metzger gehört zu den einflussreichsten Schweizer Neonazis und sorgt seit Jahren immer wieder für Schlagzeilen.

In zwei Liedern mit den Titeln «Mordkommando-Bomben auf Zürich Wiedikon Kosher-City» und «Mordkommando Herbert Winter (2014)», die auf die Videoplattform Youtube gestellt wurden, hetzten Kevin G. und seine Band gegen den ehemaligen Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, Herbert Winter, gegen die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch und den TV-Moderator Kurt Aeschbacher. Die drei erstatteten bereits 2016 Strafanzeige gegen unbekannt, weil ihnen mit dem Tod gedroht wurde. Die Band beschrieb detailliert, wie die Prominenten gefoltert und getötet werden sollten. Ausserdem hetzte sie pauschal gegen Juden und verglich diese mit Tieren.

Die Staatsanwaltschaft musste 2018 ihre Ermittlungen aber einstellen, ohne eine einzige Person befragt zu haben. Sie hatte vergeblich von Youtube die Herausgabe von Angaben zu jenen Personen verlangt, welche die Lieder hochgeladen hatten. Szenekenner hatten damals schon vermutet, dass es Kevin G. ist, der die Hassreime ins Mikrofon schreit. Das amerikanische Department of Justice hatte ein Rechtshilfegesuch abgelehnt – es war der Meinung, die Herausgabe der Daten verstosse gegen die Redefreiheit («freedom of speech»).

Beweise auf beschlagnahmtem Handy

Im Februar 2019 führte ein Rechtshilfeersuchen aus dem thüringischen Gera die Zürcher Staatsanwaltschaft erneut zu Kevin G. (lesen Sie hier mehr dazu). Die Thüringer Behörden gingen davon aus, dass der Zürcher der Sänger von Erschiessungskommando ist. Die Neonaziband hatte der linken Landtagsabgeordneten Katharina König-Preuss mit Mord gedroht. In der Folge führte die Polizei im Kanton Zürich eine Hausdurchsuchung bei Kevin G. durch und stellte dabei ein Mobiltelefon sicher, ein schwarzes Samsung Galaxy S7. Darauf fand die Staatsanwaltschaft die entscheidenden Hinweise dafür, dass G. massgeblich an der Komposition der Lieder der Band Mordkommando beteiligt war. «Kevin G. (…) sang die erwähnten Songtexte an mindestens einem Szenekonzert an unbekannten Daten und Orten jeweils vor einer Vielzahl von Zuschauern», heisst es im Strafbefehl der Zürcher Staatsanwaltschaft.

Im Gegensatz zu den Zürcher Behörden gingen die Thüringer Ermittler leer aus. Sie mussten das Strafverfahren gegen Kevin G. inzwischen einstellen, wie sie der NZZ mitteilten.

Orthodoxen Juden in Wiedikon angespuckt

Die drei Monate, die der Zürcher Neonazi nun absitzen muss, sind eine Zusatzstrafe zu einem Urteil vom Februar 2019. Das Obergericht hatte Kevin G. damals zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Er hatte 2015 in Wiedikon einen orthodoxen Juden dreimal bespuckt, den Arm zum Hitlergruss erhoben und ihm unter anderem «Wir werden euch alle vergasen!» nachgerufen. Auch davor war G. mehrfach wegen Gewaltdelikten, einer Morddrohung und Rassendiskriminierung verurteilt worden (lesen Sie hier mehr dazu).

Kevin G., der ein Hakenkreuz auf dem Rücken, einen Nazischergen auf dem Arm und auf dem Bauch das Akronym «RaHoWa» (steht für «Racial Holy War») tätowiert hat, stritt die Taten vor Gericht stets ab. Er wohnt mittlerweile im Zürcher Unterland nahe der Grenze zu Deutschland und ist Vater geworden.

Entgegen seinen Beteuerungen spricht viel dafür, dass er weiterhin in der rechten Szene aktiv ist. Im Dezember 2019 veröffentlichte seine Band Amok unter dem Titel «Teeren und Federn» ein Album. Darin macht sich der Sänger über die Attacke in Wiedikon lustig. Der Israelitische Gemeindebund hatte deswegen Anzeige gegen unbekannt erstattet. In diesem Fall hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aber eingestellt. Laut NZZ hat er bei seiner Einvernahme Ende März dazu alle Aussagen verweigert. Und die Staatsanwaltschaft hatte in diesem Fall zu wenige Beweise gegen Kevin G.
(https://www.tagesanzeiger.ch/neonazi-kevin-g-wegen-hassliedern-von-mordkommando-verurteilt-756852573400)



nzz.ch 26.05.2021

Die Neonazi-Band Mordkommando drohte Schweizer Juden, Politikern und Prominenten mit Folter und Mord. Nun hat sich Kevin G. als Sänger bekannt

Der Rechtsextreme muss wegen Rassendiskriminierung ins Gefängnis. Auf die Spur brachte die Ermittler ein Handy.

Fabian Baumgartner, Florian Schoop (Text), Anja Lemcke (Illustration)

Die Songtexte der Neonazi-Band Mordkommando strotzen vor Hass, sie sind an Radikalität und Abscheulichkeit kaum zu überbieten. Der Leadsänger hetzt dabei gegen homosexuelle Prominente wie Michael von der Heide oder Kurt Aeschbacher genauso wie gegen die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch oder Juden («Bomben auf Wiedikon»).

In den Liedzeilen beschreibt der Sänger explizit, wie er die Betroffenen umbringen will. «Mordgedanken vernebeln den Verstand», heisst es etwa im Lied über Corine Mauch. Primitive Folter- und Tötungsgelüste, hasserfüllte, antisemitische Parolen – begleitet von harten Metal-Riffs. «Du fühlst dich sicher, doch du bist längst im Visier», brüllt der Sänger in einem der Lieder.

Das 2014 veröffentlichte Album, Kalaschnikow auf schwarzem Cover, ist nicht nur innerhalb der rechtsextremen Szene verbreitet worden. Zwei der Lieder wurden auch auf die Videoplattform Youtube hochgeladen – blanker brauner Hass, zugänglich für alle. Die Band selbst blieb jedoch ein Phantom: Es sind keine Auftritte öffentlich geworden, die Mitglieder blieben anonym.

Eine Strafanzeige gegen die Band blieb deshalb folgenlos. Die Zürcher Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren Ende 2018 ein. Es fanden sich zwar einige Hinweise darauf, wer hinter dem Projekt Mordkommando stecken könnte. Doch beweisen liess es sich nicht.

Bis jetzt. Bei einer Einvernahme der Staatsanwaltschaft hat Kevin G. zugegeben, Mitglied und Leadsänger der Neonazi-Band zu sein. Der Zürcher G. ist nicht nur innerhalb des Schweizer Rechtsextremen-Milieus eine bekannte Grösse. Auch seine vielfältigen Kontakte zu ausländischen Gesinnungsgenossen machen ihn zu einem wichtigen Bindeglied der Szene.

Kevin G. wuchs im Zürcher Oberland auf. Nach der Jahrtausendwende trat er erstmals mit seiner Band Amok in Erscheinung. Laut der Rechercheplattform Exif handelt es sich bei der Band um eine der einflussreichsten Musikgruppen der militanten Neonazi-Szene.

G. wurde schon länger auch mit dem Bandprojekt Mordkommando in Verbindung gebracht. Aufgrund des Geständnisses ist G. nun wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit sowie wegen Rassendiskriminierung verurteilt worden. Dies geht aus dem inzwischen rechtskräftig gewordenen Strafbefehl hervor, in den die NZZ Einsicht genommen hat.

Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat den 33-Jährigen mit einer dreimonatigen Freiheitsstrafe belegt. Kevin G. muss die Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe zu einem Urteil des Zürcher Obergerichts vom Februar 2019 absitzen. Der bereits mehrfach vorbestrafte Neonazi hatte im Juli 2014 einen orthodoxen Juden in Zürich Wiedikon auf offener Strasse als «Scheissjuden» beschimpft, ihn bespuckt und «Heil Hitler» gebrüllt, wofür ihn das Obergericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten wegen Rassendiskriminierung verurteilte.

Massgeblich an der Komposition der Lieder beteiligt

Zum Verhängnis geworden ist dem Rechtsextremen im Mordkommando-Verfahren sein Handy. Im Februar 2019 stellte die Staatsanwaltschaft im thüringischen Gera wegen Kevin G. ein Rechtshilfeersuchen in der Schweiz. Die deutschen Ermittler gingen nämlich davon aus, dass der Zürcher auch der Sänger von Erschiessungskommando ist. In einem 2016 erschienenen Album drohte die Band der Thüringer Landtagsabgeordneten Katharina König-Preuss mit Mord. Die linke Politikerin, die sich stark gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus einsetzt, reichte daraufhin Strafanzeige ein.

Gestützt auf das Rechtshilfebegehren führte die Polizei im Kanton Zürich schliesslich eine Hausdurchsuchung bei Kevin G. durch. Dabei wurde ein schwarzes Samsung-Handy beschlagnahmt. Und dieses brachte den Ermittlern schliesslich den entscheidenden Hinweis – nicht im Fall Erschiessungskommando, sondern bei der Band Mordkommando.

Ausgewertet wurde das Handy nicht nur durch die Ermittler in Gera, sondern auch von Ermittlern in Zürich. Bei einer Einvernahme im April 2021 durch den zuständigen Staatsanwalt Stephan Walder gab G. schliesslich zu, Sänger und Mitglied der Band Mordkommando zu sein. Walder, der stellvertretende Leitende Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft II und Leiter der Abteilung Cybercrime, ermittelte bereits seit Jahren gegen die Band.

Walder sagt: «Nur aufgrund des im deutschen Rechtshilfeverfahren sichergestellten Mobiltelefons konnten wir Indizien zur Identität des Sängers der Band Mordkommando gewinnen.» Kevin G. habe in der Einvernahme zugegeben, dass er massgeblich an der Komposition und der Entwicklung der Lieder beteiligt gewesen sei – und die Songtexte an mindestens einem Konzert der Neonazi-Szene auch aufgeführt habe.

Hetze als «freedom of speech» bezeichnet

Walder hatte das Verfahren gegen die Neonazi-Band bereits einmal geführt – und einstellen müssen. Denn die amerikanischen Behörden hatten ihm entscheidende Informationen verweigert. Um herauszufinden, wer die Lieder auf Youtube hochgeladen hatte, musste die Staatsanwaltschaft via Bundesamt für Justiz ein internationales Rechtshilfeersuchen an das amerikanische Department of Justice stellen. Die Amerikaner lehnten das Gesuch 2018 jedoch ab. Die Begründung: Die Texte seien durch das verfassungsmässige Recht auf Redefreiheit – «freedom of speech» genannt – als geschützt zu betrachten. Zudem gehe aus dem Ersuchen der Schweizer Strafverfolgungsbehörden nicht hervor, ob eine konkrete Gefahr für die in den Texten erwähnten Personen bestehe.

Walder zeigt sich nach wie vor befremdet darüber, dass das amerikanische Department of Justice 2018 ein Rechtshilfeersuchen in diesem Fall ablehnte. Er sagt: «Dass die krassen Aussagen von den Behörden in den USA für mit der Redefreiheit vereinbar gehalten werden, ist für mich nach wie vor nicht nachvollziehbar.» Und er fügt an: «Hätten die Amerikaner unserem Ersuchen entsprochen, hätten die Chancen gut gestanden, die Täter viel früher zu identifizieren.»

Am Anfang der ganzen Untersuchungen gegen die Mitglieder von Mordkommando steht Jonathan Kreutner. Im Oktober 2016, als das Album der Band einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird, reichen er und andere Strafanzeige gegen die Bandmitglieder ein. Kreutner, heute Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), sagt, es überrasche ihn nicht, dass sich Kevin G. als Sänger entpuppe. Doch: «Es ist gut, dass er es endlich zugegeben hat und er für die üble Hetze und die gravierenden Morddrohungen, die nun Jahre zurückliegen, auch zur Rechenschaft gezogen werden kann.»

Der Fall zeige auch, dass die Behörden antisemitische Taten sehr ernst nähmen. «Die Staatsanwaltschaft Zürich blieb hartnäckig und unternahm alles, um den Täter zu überführen.» Kreutner selbst glaubte nicht mehr daran, dass der Fall noch gelöst werden kann. Umso erleichterter sei er nun, dass er doch noch zum Abschluss gebracht werden konnte.

In einem anderen Fall war die Staatsanwaltschaft weniger erfolgreich. Sie musste ein zweites Verfahren gegen Kevin G. einstellen. Dabei geht es um die erwähnte Band Amok. Im Dezember 2019 hat diese ein neues Album veröffentlicht – unter dem Namen «Teeren und Federn». Darauf befindet sich ein Lied, das die Attacke auf den orthodoxen Juden in Zürich Wiedikon verherrlicht.

Im Song mit dem Titel «Nilpferd-Jäger» wird laut einem Bericht der Tamedia-Zeitungen jener Tag im Juni glorifiziert, als G. zusammen mit anderen Neonazis einen Polterabend feierte. Auf Tour waren die Männer in einem roten Bus. Es singt eine Stimme: «Sie haben es gewagt und das am helllichten Tag. Sie spuckten, schubsten, grüssten rum, beinahe brachten sie ihn um.» Auf dem Albumcover ist gemäss dem Bericht ein Nilpferd mit jüdischen Schläfenlocken und schwarzem Hut abgebildet – und ein roter Bus, der das Nilpferd jagt. Demnach ist auch Kevin G. auf verschiedenen Bildern im Booklet zu sehen.

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund hatte deswegen Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Jedoch ohne Erfolg. Die Staatsanwaltschaft Zürich hat die Ermittlungen in dem Fall eingestellt. Kevin G. verweigerte bei der Einvernahme zur Sache Ende März seine Aussage. Es bestanden zwar laut Einstellungsverfügung Hinweise auf die Täterschaft oder die Teilnahme des Amok-Sängers. Doch die Indizien reichten nicht aus für eine Anklage.

Dass die zweite Strafanzeige ohne Folgen bleibt, bedauert Kreutner zwar. Er sagt aber auch: «Wir müssen uns damit abfinden, dass nicht immer alle Fälle gelöst werden können.» Kevin G.s Anwalt möchte sich in Absprache mit seinem Mandanten nicht zu den Entscheiden äussern.

Staatsanwaltschaft Gera stellt Verfahren ein

Erfolglos blieben bisher auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Gera in Sachen Erschiessungskommando. Die Behörde teilt auf Anfrage der NZZ mit, man habe das Verfahren mittlerweile eingestellt. Zwar hat sie nach der Anzeige der Linken-Politikerin Katharina König-Preuss Ermittlungen gegen drei Beschuldigte aufgenommen – unter anderem gegen Kevin G. Ein hinreichender Tatverdacht gegen die Mitglieder der Band habe jedoch nicht erhärtet werden können.

Ob die Staatsanwaltschaft in Gera aufgrund des Zürcher Strafbefehls im Fall Mordkommando die Ermittlungen wieder aufnehmen wird, kann die Behörde noch nicht sagen. Die zuständigen Beamten würden dies nun prüfen.
(https://www.nzz.ch/zuerich/judenhass-auf-youtube-zuercher-neonazi-bekennt-sich-zu-mordaufruf-ld.1614854)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Solothurner Kantonspolizei bereitet sich auf illegale Corona-Demo vor (ab 04:03)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/aargauer-regierung-gibt-gruenes-licht-fuer-erstes-seewasserwerk?id=11990687
-> https://telebasel.ch/2021/05/26/stadt-solothurn-will-keine-corona-demo/?channel=105105


Falschinformationen hochgeladen: Youtube löscht “Querdenken”-Kanal
Wegen des mehrfachen Hochladens von Videos mit Falschinformationen, sind zwei “Querdenken”-Kanäle auf Youtube gesperrt worden.
https://www.heise.de/news/Falschinformationen-hochgeladen-Youtube-loescht-Querdenken-Kanal-6054661.html
-> https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/youtube-loescht-querdenken-kanal-100.html


Verharmlosen und hetzen: Corona-Leugner im Staatsdienst
Auf Querdenker-Demonstrationen treten regelmäßig auch Ärzte, Soldaten und Polizisten auf, die sich in einem bundesweiten Netzwerk organisieren. Sie leugnen die Gefahren der Pandemie und rufen zum Widerstand gegen die Corona-Schutzmaßnahmen auf.
https://www.zdf.de/politik/frontal-21/corona-leugner-im-staatsdienst-100.html


+++HISTORY
Remo Gysin, Jacques Picard: «Das Erinnern weist in die Gegenwart»
Das Schicksal von hunderten von Schweiz Opfern des Nationalsozialismus soll nicht vergessen gehen. Organisationen fordern nun vom Bundesrat ein Memorial. Der Historiker Jacques Picard und der Präsident der Auslandschweizer-Organisation Remo Gysin sind Gäste im Tagesgespräch.
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/remo-gysin-jacques-picard-das-erinnern-weist-in-die-gegenwart?id=11990765



bernerzeitung.ch 26.05.2021

Erinnerung an die Nazi-Opfer: In Bern soll ein besonderes Mahnmal entstehen

Die geplante Gedenkstätte soll an den Holocaust erinnern. Vor allem aber soll sie Junge für die Gefahren totalitärer Gedanken sensibilisieren.

Benjamin Bitoun

Niemals wieder.

Niemals vergessen – auch nicht in der Schweiz.

Aus diesem Grund ist dem Bundesrat am Dienstag ein Konzept überreicht worden, welches die Schaffung eines Mahnmals für die Opfer des Nationalsozialismus verlangt. Rund 50 Organisationen unterstützen das Anliegen, darunter der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Als idealen Standort fassten sie die Stadt Bern ins Auge.

Unter den Millionen Opfern des Nazi-Terrors befanden sich auch über 1000 Menschen mit engem Bezug zur Schweiz, die den Schrecken der nationalsozialistischen Konzentrationslager am eigenen Leibe erfahren mussten, schreiben die Initianten in einer Mitteilung. Neusten Forschungen zufolge seien über 200 von ihnen in den Konzentrationslagern getötet worden.

Gleichzeitig scheint Aufklärungsarbeit hierzulande dringend nötig: Hitlergrüsse an einer Demonstration in Bern gegen die Corona-Massnahmen des Bundes oder Berichte von Schweizer Juden über blanken Hass in den sozialen Medien haben im letzten Jahr in schockierender Weise offenbart, wie verbreitet Antisemitismus und Rechtsradikalismus auch in der Schweiz sind.

Das Projekt eines Schweizer Mahnmals sei deshalb der Versuch eines neuen Weges gegen das Vergessen, sagt Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Die Zeitzeugen des Holocausts würden immer weniger und könnten nicht mehr lange von ihrer Geschichte erzählen. «Mit dem Ort wollen wir die Vergangenheit vor dem Vergessen bewahren und an die Schweizer Opfer und Helfer, ans Versagen der schweizerischen Flüchtlingspolitik und alle Opfer des Nationalsozialismus erinnern.»

Wissensvermittlung im Zentrum

Das Mahnmal soll indes nicht bloss ein Gedenkort sein, sondern vor allem auch ein Ort der Vermittlung und des Vernetzens, sagt Ralph Lewin. Obwohl der Holocaust gerade einmal ein Menschenleben her ist, stelle er fest, dass besonders Jüngere bereits kaum mehr mit der Thematik vertraut seien. «Die Jungen müssen unbedingt wissen, was war. Aber genauso wichtig ist, ihnen zu vermitteln, was zum Holocaust geführt hat: Vorurteile, Ausgrenzung und unbeschreiblicher Hass.»

Deshalb sei es das Hauptanliegen des Projektes, eine Brücke von der Vergangenheit zu Gegenwart und Zukunft zu schlagen, so Lewin. «Wir wollen damit aufzeigen, wie fragil die zuweilen für sicher gehaltenen demokratischen Prinzipien und fundamentalen Werte wie etwa die der Gleichheit aller Menschen oder der Meinungsfreiheit sind.»

Wie das Mahnmal letztlich aussehe, sei Sache des Bundes, hält Ralph Lewin fest. Für ihn sei aber zentral, dass junge Leute dort eine Umgebung vorfinden würden, wo sie selbst auch zu Handelnden werden könnten, sagt er. «Eine Idee ist, dass Schülerinnen und Schüler am Vermittlungsort in einem Rollenspiel beispielsweise in die Haut von Schweizer Grenzwächtern oder Flüchtlingshelfern schlüpfen und gemeinsam ergründen, welchen Handlungsspielraum diese Menschen besassen und welche Optionen sich generell in solchen Extremsituationen bieten.»

Unterstützung von links bis rechts

Wie das Mahnmal letztlich aussehen und wo genau in Bern es errichtet werden soll, ist noch offen, genau wie dessen Finanzierung. Letztere soll gemäss Konzept durch den Bund erfolgen – allenfalls mit Unterstützung der Kantone und der Stadt Bern.

Die Politik begegnet der Idee einer Gedenkstätte mit viel Wohlwollen: In einem breit unterstützten Vorstoss bat SP-Fraktionspräsidentin Katharina Altas am letzten Donnerstag im Berner Stadtrat den Gemeinderat darum, zu prüfen, wie die Stadt das Projekt genau unterstützen könne. Und in der Frühlingssession im Bundeshaus wurde eine entsprechende Motion des Zürcher SVP-Nationalrates Alfred Heer von über hundert Nationalrätinnen und Nationalräten unterschrieben. Ein gleich lautender Vorstoss wurde im Ständerat von Daniel Jositsch (SP) eingereicht.

Nun sei es Aufgabe des Bundesrats, das Projekt zu konkretisieren, sagt Hannah Einhaus von der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft Schweiz (CJA). Was den Standort anbelange, so müssten nicht zwingend sämtliche Teile des Mahnmals an ein und demselben Ort in der Stadt liegen. «Als Gedenkort könnten wir uns einen öffentlichen Platz vorstellen, Veranstaltungen und Workshops könnten aber durchaus in einem bereits bestehenden Museum stattfinden», so Einhaus. Klar sei einzig: «Aufgrund der Geschichte und der geografischen Lage macht die Stadt Bern als Standort am meisten Sinn.»

Das sieht auch der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) so. Er sagt: «Wir begrüssen die Idee eines Mahnmals in Bern.» Es sei klar, dass für eine solche Stätte nur ein symbolträchtiger Ort infrage komme. «Als Bundesstadt und Schweizer Politikzentrum ist Bern dafür der absolut richtige Ort.»

Von Graffenried ist zuversichtlich, dass in der Stadt ein passender Standort gefunden werden kann. «Besonders, weil es sich bei der Begegnungsstätte nach dem Willen der Initianten um einen Ort der Interaktion handeln soll und nicht bloss um ein Monument», so der Stadtpräsident. Letztere würden nicht in allen Teilen der Bevölkerung die gleiche Akzeptanz geniessen, wie unlängst auch die Debatten um Berner Denkmäler wie etwa dasjenige zu Ehren von Adrian von Bubenberg gezeigt hätten.
(https://www.bernerzeitung.ch/in-bern-soll-ein-besonderes-mahnmal-entstehen-765096934039)


+++KNAST
Uno-Sonderberichterstatter für Folter interveniert im Fall Brian
Heute Mittwoch beginnt der Berufungsprozess gegen den als «Carlos» bekannt gewordenen Straftäter und langjährigen Gefängnisinsassen Brian. Parallel dazu kommt es zu Interventionen auf internationaler Ebene: wegen der rigiden und langen Isolationshaft des 25-Jährigen.
https://www.republik.ch/2021/05/26/uno-sonder-berichterstatter-fuer-folter-interveniert-im-fall-brian


Berufungsprozess im Fall «Carlos» zu Therapieerlass – Schweiz aktuell
Brian alias «Carlos» und sein Anwalt versuchen vor dem Obergericht in Zürich die so genannte kleine Verwahrung aufzuheben. Diese Massnahme nützte nichts, so die Begründung. Mit Einschätzungen von SRF-Korrespondent Simon Hutmacher aus Zürich.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/berufungsprozess-im-fall-carlos-zu-therapieerlass?urn=urn:srf:video:9b6fba1b-0104-4326-bac1-9444c44c786f
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/fall-carlos-erneut-vor-gericht-brian-k-will-therapie-um-jeden-preis-verhindern-id16547177.html
-> https://www.blick.ch/news/drei-anwaelte-sollen-ihn-raushauen-brian-k-25-alias-carlos-kaempft-gegen-verwahrung-id16549673.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/zkb-ceo-martin-scholl-kuendigt-ruecktritt-an?id=11990843 (ab 00:31)
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/straftaeter-brian-wehrt-sich-vor-gericht-gegen-therapie?id=11991029 (ab 05:43)
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/brian-alias-carlos-erneut-vor-gericht-00158853/



tagesanzeiger.ch 26.05.2021

Prozess vor Zürcher Obergericht – Fall Brian: «Aufseher haben gelogen»

Muss der 25-jährige noch Jahre hinter Gitter bleiben und in die Therapie? Das entscheidet das Obergericht. Heute Mittwoch startete der Prozess.

Liliane Minor

Urteil frühestens in drei Wochen

Ein Urteil fällte das Gericht angesichts der fortgeschrittenen Zeit heute nicht mehr. Der vorsitzende Richter Prinz kündigte an, den Entscheid frühestens in drei Wochen mündlich zu eröffnen.

Grundsatzkritik am Massnahmesystem

Philip Stolkin übte in seinem Plädoyer scharfe Kritik am Massnahmensystem der Schweiz. Dieses mache es möglich, eine Gefängnisstrafe zu Gunsten einer zeitlich nicht limitierten Therapie aufzuschieben. «Das erlaubt ein nahezu beliebiges Aufschieben der Freiheitsstrafe», sagte Stolkin. Letztlich entscheide ein «allmächtiger Therapeut», ob jemand freikomme, egal wie lang die eigentliche Strafe sei. Für Stolkin verstösst das klar gegen die Menschenrechtskonvention.

Bernard Rambert äusserte auch Zweifel am Risikobeurteilungs-System Fotres des Psychiaters Frank Urbaniok. Dieses wird im Kanton Zürich routinemässig angewendet, um die Gefährlichkeit von Straftätern einzuschätzen. Bernard sagte, Fotres vermittle eine falsche Sicherheit, namhafte Experten würde es für Hokuspokus halten. Auch das Gutachten, das Brian eine hohe Rückfallgefahr attestiert, sei «nicht haltbar».

Aufseher sollen gelogen haben

Das schwerste Delikt, das die Anklageschrift Brian vorwirft, könne sich gar nicht wie beschrieben ereignet haben, sagte Verteidiger Häusermann. Er zerzauste die Aussagen der Zeugen – vor allem Mitarbeiter des Interventionsteams im Gefängnis – geradezu: «Sie haben gelogen.»

Gemäss Anklageschrift eröffnete der Leiter der Sicherheitsabteilung der Pöschwies Brian an jenem Tag, dass er zurück in die Sicherheitshaft müsse. Das zu seinem eigenen Schutz, weil sich Mithäftlinge gegen Brian verschworen hätten. Offenbar befürchteten die Verantwortlichen, Brian könnte deshalb ausrasten. Daher war ein weiterer Mitarbeiter im Raum; vor der Tür wartete ein mehrköpfiges Interventionsteam, um wenn nötig eingreifen zu können.

Prompt soll Brian durchgestartet sein. «Jetzt erkläre ich euch den Krieg», soll er gesagt haben. Dann soll er dem Pöschwies-Mitarbeiter über einen Tisch hinweg zwei heftige Faustschläge verpasst und einen Stuhl durch den Raum geworfen haben, über den Tisch geklettert sein und «wie von Sinnen» auf den Mitarbeiter eingeprügelt haben, der zu Boden gegangen sei.

«Das ist schon zeitlich schlicht nicht möglich», sagte Häusermann. Der ganze Vorgang, den er als «Gerangel» bezeichnete, habe höchstens ein paar Sekunden gedauert. Denn das Interventionsteam sei beim ersten Lärm in den Raum gestürzt. Bezeichnenderweise habe ausgerechnet der Mann, der die Tür geöffnet und das Geschehen als erster erblickt habe, ausgesagt: «Ich habe keine Schläge gesehen.» Es sei alles ganz schnell gegangen, «dann waren alle auf Brian drauf.»

Hinzu komme: Hätte sein Mandant wirklich so wuchtig zugeschlagen, wie das die Anklageschrift beschreibt, hätte der Geschädigte mit Sicherheit schwerere Verletzungen erlitten. «Aber er hatte nicht einmal ein blaues Auge», so der Verteidiger.

Das Bezirksgericht Dielsdorf habe die Aussagen ganz offensichtlich voreingenommen und ergebnisorientiert gewürdigt und das Prinzip «im Zweifel für den Angeklagten» verletzt.

Verteidiger verlangt Freispruch

Verteidiger Thomas Häusermann verlangte einen vollumfänglichen Freispruch und den Verzicht auf alle Massnahmen. Namhafte internationale Experten hätten festgestellt: «Was Brian widerfahren ist, ist Folter. Und können wir ihm strafrechtlich vorwerfen, wenn er sich gegen diese Folter wehrt?»

Brian sei von der dreimaligen monatelangen Isolationshaft im Kindesalter schwer traumatisiert – und dieser Film spiele sich in seinem Kopf immer wieder ab. Deshalb wehre er sich auch stärker als jemand, der eine andere Vorgeschichte hat, gegen alle Einschränkungen. «Das hat er sich nicht ausgesucht», sagte Häusermann. «Dieses Verhalten ist ihm nicht vorwerfbar. Es ist eine Überlebensreaktion.»

Das psychiatrische Gutachten, das die Verteidigung eingeholt hat, zeige vielmehr, dass der Widerstand gesund und begründet sei: «Ansonsten würde mein Mandant psychisch zerbrechen.» Indem er ausraste, hole er sich die Reize, welche sein Körper so dringend benötige, in der Isolation aber nicht bekomme.

Staatsanwalt verlangt Verwahrung

Nun geht es um die Sache selbst. Weil der Staatsanwalt als erster Berufung gegen das Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf eingelegt hatte, plädiert er als erster. Krättli verlangt eine deutlich höhere Strafe, als sie die Vorinstanz ausgesprochen hatte: Brian soll 7½ Jahre hinter Gitter (statt 4 Jahre und 9 Monate). Und vor allem will er, dass Brian verwahrt wird.

Grundsätzlich sei das Urteil des Bezirksgerichts «sehr sorgfältig», so Krättli, aber die Sanktion sei «deutlich zu tief». Und zwar nicht nur in Bezug auf das Hauptdelikt, den Angriff auf zwei Gefängnismitarbeiter.

Viel zu milde zeige sich das Bezirksgericht bei den Beschimpfungen. So habe Brian eine Aufseherin als «Schlampe» beschimpft und darüber phantasiert, wie er die Gefängnismitarbeiter verprügeln werde: «Ich liebe es, Kiefer und Knochen knacken zu hören.» So etwas gehe ganz einfach nicht, so Krättli.

Vor allem aber sei die vom Bezirksgericht angeordnete stationäre Therapie nicht zielführend und nicht durchführbar. Denn der Beschuldigte sei nicht ansatzweise therapiewillig. «Brian ist ein derartiger Extremfall an Renitenz und Gewaltbereitschaft», dass eine Verwahrung schlicht die einzige Möglichkeit sei.

Um die Sache geht es erst am Nachmittag

Noch ist das Gericht nicht zur eigentlichen Sache durchgedrungen: Jenen Vorfall, bei dem Brian auf zwei Mitarbeiter der Pöschwies losging. Erst nach der Mittagspause werden die Anwälte zur Tat selbst reden.

Zuvor reichte Verteidiger Thomas Häusermann neue Beweisanträge ein. Unter anderem verlangte er eine Rekonstruktion der fraglichen Tat. Diese könne sich gar nicht so abgespielt haben, wie dies die Anklageschrift schildert. Auch sollen Tagebucheinträge von Brian als Beweismittel zugelassen werden – diese zeigten, wie der junge Mann von seinen Aufsehern provoziert werde.

Das Gericht hat über die Beweisanträge noch nicht entschieden, vermutlich wird es dies erst dann tun, wenn es über das Urteil berät.

Eröffnet wird das Urteil ziemlich sicher nicht mehr heute; Brians Anwälte wollen mehrere Stunden zur Sache plädieren. Staatsanwalt Krättli will sich hingegen mit etwa 45 Minuten kurz halten.

Brian kommt vorerst nicht frei

Das Gericht hat das Gesuch um eine Haftentlassung abgewiesen. Gemäss einem Urteil des Bundesgerichts vom März dieses Jahres sei die Haft «noch menschenwürdig», daran habe sich nichts geändert, sagte der vorsitzende Richter Christian Prinz.

Staatsanwalt: Entlassung wäre zu gefährlich

Staatsanwalt Ulrich Krättli nahm zu den Ausführungen von Rambert und Stolkin nur kurz Stellung. Die Haft sei aufrecht zu erhalten, verlangte er: «Es ist keine mildere Massnahme ersichtlich, wie man der schweren Gefahr begegnen könnte, die vom Beschuldigten ausgeht.» Gemäss psychiatrischen Gutachten sei die Rückfallgefahr gross. Demnach sei die Haft verhältnismässig.

Wie der Staatsanwalt antönte, laufen aktuell zwei weitere Strafverfahren gegen Brian, ebenfalls wegen Vorfällen im Gefängnis. Diese seien aber noch lange nicht abgeschlossen.

Krättli kritisierte, die Verteidigung versuche, «den Justizvollzug auf die Anklagebank zu zerren. Das geht nicht an.» Der Justizvollzug sei in diesem Verfahren nicht vertreten und könne sich nicht verteidigen.

Das Gericht hat die Verhandlung nun unterbrochen, das Gremium berät über das Haftentlassungsgesuch.

Uno-Sonderberichterstatter will Haft untersuchen

Wie Menschenrechts-Experte Philip Stolkin sagte, wird der Fall Brian ein Fall für die Uno. Sonderberichterstatter Nils Melzer werde bei Aussenminister Ignazio Cassis intervenieren und weitere Abklärungen fordern.

Die Anwälte haben ein Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll in Auftrag gegeben. Das ist die international anerkannte Vorgehensweise, wenn der Verdacht auf Folter besteht. Das Gutachten kommt gemäss Stolkin klar zum Schluss: Die Haft entspreche «in hohem Mass der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe.» Seine Isolation müsse sofort beendet werden.

Brian drohen gemäss dem Gutachten schwerste psychische und körperliche Schäden. Bereits jetzt berichte der junge Mann über Symptome wie Schlafstörungen und Selbstgespräche, Schmerzen und Hautausschläge. Stolkin sagte es so: «Wir quälen diesen jungen Mann jeden Tag. Stunde für Stunde.»

Das sagt Brians Anwalt

Anwalt Bernard Rambert beschreibt Brians Haftbedingungen. Er sei mindestens 23 Stunden pro Tag allein in einer rund elf Quadratmeter grossen Zelle, manchmal auch rund um die Uhr. Kontakte zu Mithäftlingen seien ihm nicht erlaubt. Zeitweise leide er unter starken Schmerzen.

In den ersten Monaten durfte Brian ausser dem Koran nichts lesen, er hatte kein Schreibzeug zur Verfügung, das Fenster war mit einer blickdichten Folie abgedeckt. Damit seien sämtliche Sinnesreize auf ein Minimum reduziert. «Die Reize, die wir von Natur aus wahrnehmen und die notwendig sind für die Gesundheit, sind fast gänzlich abgeschirmt», so Rambert, «selbst Geräusche sind – mit Ausnahme des monotonen Rauschens der Lüftung – keine hörbar.»

Die verheerenden Folgen einer solchen Haft seien längst wissenschaftlich belegt: Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen, Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, Artikulationsprobleme, körperliche Beschwerden wie Bluthochdruck, Hauterkrankungen oder Wallungen sowie psychische Erkrankungen wie Depressionen und starken Stimmungsschwankungen.

Gemäss einem Gutachten des Psychiaters Ralf Binswanger ist das unangepasste Verhalten und die Gegenwehr Brians eine logische Folge dieser Haftbedingungen und «durchaus rational». Seine Gewaltausbrüche seien Brians einzige Möglichkeit, zu den dringend benötigten körperlichen Reizen zu kommen.

Brian ist dispensiert, hat aber drei Anwälte

Weil es ihm aufgrund der Haftbedingungen nicht gut geht, hat das Obergericht den 25-jährigen Brian von der Teilnahme an der Verhandlung dispensiert. Es stehe jedem Beschuldigten frei, die Aussage zu verweigern, begründete der Richter den Dispens. Im Übrigen sei Brian durchaus kompetent vertreten: Mit Verteidiger Thomas Häusermann sowie den Anwälten Bernard Rambert und dem Menschenrechts-Spezialisten Philip Stolkin wollen sich gleich drei Rechtsvertreter zur Sache äussern. Rambert und Stolkin tun das übrigens ohne Honorar; Häusermann wird regulär als Pflichtverteidiger bezahlt.

Für Brians Anwalt Bernard Rambert erfüllen die Haftbedingungen «den Tatbestand der Folter». Das zeige ein Gutachten, das die Verteidigung eingeholt habe. Brian sitzt seit 2017 nahezu durchgehend in Einzelhaft. Rambert verlangte die sofortige Haftentlassung.

Er erinnerte daran, dass der Kanton den jungen Mann schon als Teenager drei Mal monatelang in Isolationshaft gesteckt hatte, häufig im Erwachsenen-Strafvollzug. Schon mit zehn und zwölf Jahren sei der Bub insgesamt fast ein Jahr hinter Gittern gesessen – ohne dass er eine Straftat begangen hätte. «Der hyperaktive Brian war sicherlich kein einfaches Kind», sagte Rambert, «aber das rechtfertigt nicht, was ihm angetan wurde.»

Die Ausgangslage

Zu beurteilen hat das Zürcher Obergericht einen Vorfall, der sich im Juni 2017 in der Strafanstalt Pöschwies abspielte. Damals soll Brian ausgerastet sein, nachdem ihm eröffnet wurde, dass er zurück in die Sicherheitshaft müsse. Die Ankündigung kam für den damals 22-jährigen überraschend, er empfand sie als unfair. «Jetzt erkläre ich euch den Krieg», soll er gerufen haben, bevor er sich auf die Aufseher stürzte.

Nach Ansicht des Bezirksgerichts Dielsdorf hat sich Brian damit der versuchten schweren Körperverletzung schuldig gemacht. Im November 2019 verurteilte ihn das Gericht zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis, aufgeschoben zu Gunsten einer stationären Therapie (im Volksmund «kleine Verwahrung» genannt).

Schuldig sprach das Gericht den jungen Mann, der im Jahr 2013 unter dem Pseudonym «Carlos» medial bekannt geworden war, zudem wegen zahlreicher kleinerer, im Gefängnis begangener Delikte. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Beschimpfungen, Sachbeschädigungen, Gewalt und Drohung gegen Beamte und dergleichen.

Gegen das Urteil des Bezirksgerichts legten sowohl Brian als auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Brians Verteidiger sagte vor Bezirksgericht, der Vorfall sei höchstens «ein Gerangel» gewesen, das ein paar Sekunden gedauert habe. Eine Strafe von einem Jahr reiche vollauf.

Der Staatsanwalt verlangte hingegen eine Strafe von 7½ Jahren mit anschliessender Verwahrung. Es sei reines Glück, dass bei jenem Vorfall in der Pöschwies niemand ernsthaft verletzt worden sei.

Brian alias Carlos: Die Chronik

27. August 2013

Unter dem Titel «Sozial-Wahn!» schreibt der «Blick» erstmals über einen jugendlichen Straftäter mit dem Pseudonym Carlos. Das Boulevardblatt skandalisiert damit einen zwei Tage vorher ausgestrahlten Dok-Film des Schweizer Fernsehens, der zeigt, wie Jugendanwalt Hansueli Gürber einen 17-Jährigen behandelt, den vorher keine Institution bändigen konnte. Der Jugendliche, der eigentlich Brian heisst, wohnt mit einer Sozialarbeiterin zusammen, hat einen Privatlehrer und besucht Thaibox-Kurse.

30. August 2013

Die Behörden knicken nach einem Sturm der Entrüstung ein. Brian wird von einem achtköpfigen Einsatzkommando auf offener Strasse verhaftet. Die Behörden teilen mit, Brian sei zu seiner eigenen Sicherheit ins Gefängnis gebracht worden.

18. Februar 2014

Das Bundesgericht beurteilt die Verhaftung – anders als vor ihm die Zürcher Instanzen – als unrechtmässig und kritisiert den Kanton ungewohnt harsch. Die Justizdirektion, der damals Martin Graf (Grüne) vorsteht, sieht sich gezwungen, eine neue Einzelbehandlung auf die Beine zu stellen.

19. Juni 2014

Das neue Sonderprogramm wird bereits wieder beendet. Brian sei austherapiert, teilen die Behörden mit.

28. August 2015

Brian muss sich vor Gericht verantworten, weil er einen Kontrahenten mit einem Messer bedroht haben soll. Das Verfahren endet mit einem Freispruch: Bilder einer Überwachungskamera zeigen, dass es kein Messer gab. Die Behörden müssen Brian für sechs Monate Untersuchungshaft entschädigen.

6. März 2017

Brian steht erneut vor Gericht. Dieses Mal wird er zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einem anderen einen heftigen Kinnhaken verpasste. Sein Verteidiger erhebt in der Verhandlung schwere Vorwürfe: Brian sei im Gefängnis Pfäffikon unmenschlich behandelt worden, habe unter anderem tagelang auf dem Boden schlafen müssen.

3. Juli 2017

Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) räumt Fehler im Umgang mit Brian ein. Der zuständige Gefängnisleiter sei mit dem äusserst renitenten Gefangenen überfordert gewesen: «Wir haben es hier mit einer neuen Dimension der Gewalt zu tun.»

6. November 2019

Weil er im Juni 2017 Aufseher angegriffen hat, verurteilt das Bezirksgericht Dielsdorf Brian zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis. Die Strafe wird zu Gunsten einer stationären Therapie (kleine Verwahrung) aufgehoben.

24. April 2020

Das Bezirksgericht Zürich kommt zum Schluss, im Gefängnis Pfäffikon sei Brians Menschenwürde verletzt worden. Bei einem schwierigen Gefangenen greife die Fürsorgepflicht des Staates «umso mehr».
(https://www.tagesanzeiger.ch/der-staatsanwalt-will-brian-verwahren-452932755577)



nzz.ch 26.05.2021

Fall Brian vor Gericht: Der Staatsanwalt fordert eine Verwahrung, der Verteidiger einen vollumfänglichen Freispruch

Am Mittwoch hat die Verhandlung gegen Brian alias «Carlos» begonnen. Brians Anwälte erheben schwere Vorwürfe gegen die Justiz. Die wichtigsten Antworten zum Prozess.

Florian Schoop, Fabian Baumgartner

Worum geht es?

Die Staatsanwaltschaft wirft Brian in ihrer Anklageschrift insgesamt 29 Delikte vor. Es geht unter anderem um versuchte schwere Körperverletzung, einfache Körperverletzung, Sachbeschädigungen sowie Drohungen und Beschimpfungen. Speziell an dem Fall ist, dass die angeklagten Straftaten allesamt hinter Gefängnismauern stattfanden.

Brian wurde im November 2019 wegen dieser Vorwürfen vor Bezirksgericht bereits verurteilt, zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten, aufgeschoben zugunsten einer «kleinen Verwahrung». Gegen das Urteil erhoben sowohl der Staatsanwalt als auch die Verteidigung Berufung. Deshalb findet heute der Prozess vor Obergericht statt.

Laut Anklageschrift soll der als «Carlos» bekannt gewordene Häftling Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Pöschwies unter anderem als «Hurensöhne», «Schwuchteln» und «Schlappschwänze» beschimpft und sie teilweise mit dem Tod bedroht haben. Zudem soll er auch Mithäftlinge angegangen haben. Der schwerste Vorfall ereignete sich im Gesprächszimmer des Gefängnisses. Als ihm dort eröffnet worden sei, er werde wieder in die Sicherheitsabteilung verlegt, soll Brian gesagt haben: «Jetzt haben sie es also geschafft. Jetzt erkläre ich euch den Krieg.»

Bei der anschliessenden Auseinandersetzung mit Aufsehern erlitt ein Gefängnismitarbeiter im Juni 2017 ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma und Prellungen, Brian trug ein blaues Auge davon. Der Staatsanwalt wertet den Vorfall als versuchte schwere Körperverletzung, Brian hingegen spricht von einer harmlosen Rangelei.

Die Anklage deckt den Zeitraum von Januar 2017 bis Oktober 2018 ab. Auch danach kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Insassen. Wegen insgesamt 30 weiterer Vorfälle ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft gegen den 25-Jährigen. Das Verfahren ist pendent, genauso wie zwei Untersuchungen gegen Aufseher der Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Gegen sie wird wegen Übergriffen gegen Brian ermittelt.

Wird Brian vor Gericht aussagen?

Nein. Vor dem Zürcher Obergericht will sich der 25-Jährige nicht erklären. Sein Anwalt Thomas Häusermann hat ein Dispensationsgesuch gestellt, das nun bewilligt worden ist. Häusermann sagt auf Anfrage, Brian sei aufgrund der jahrelangen Isolationshaft nicht in der Lage, vor Gericht zu erscheinen. Das mediale Aufsehen würde ihn überfordern. Brian selbst erklärt gegenüber der NZZ: «Ich habe dem Richter geschrieben und meinen Standpunkt dargelegt.» Bereits während der Verhandlung vor Bezirksgericht 2019 war der junge Mann abwesend. Damals hatte der Richter gar versucht, Brian in seiner Zelle in der Pöschwies von einem Erscheinen zu überzeugen. Vergeblich.

Warum werfen Brians Anwälte der Justiz Folter vor?

Brian selbst ist zwar nicht vor Ort, dafür vertreten ihn vor Obergericht gleich drei Anwälte: Thomas Häusermann, Philip Stolkin und Bernard Rambert. Bereits zu Beginn des Prozesses verlangen sie die sofortige Freilassung des 25-Jährigen. Rambert begründet dies so: «Brians Haftbedingungen erfüllen den Tatbestand der Folter und sind deshalb menschenrechtswidrig.» Die Zürcher Justizbehörden seien nicht bereit, von den Haftbedingungen auch nur ein Jota abzuweichen – trotz diversen Eingaben der Verteidigung. Das Amt sei damit nicht in der Lage, eines der elementarsten Rechte – das Verbot der Folter – zu beachten. Die Verteidiger fordern deshalb die sofortige Freilassung des jungen Mannes.

Rambert bezieht sich bei seinen Ausführungen auf ein von der Verteidigung eingeholtes Gutachten. Das auf Akten basierenden Gutachten kommt zum Schluss, dass solche Haftbedingungen verheerende Konsequenzen auf die Gesundheit eines Menschen haben. Laut Rambert komme der Gutachter Ralf Binswanger zum Schluss, dass die Gegenwehr von Brian gegen die Haftbedingungen deshalb rational begründet und sowohl ethisch als auch rechtlich vertretbar ist. Rambert sagt: «Die Haftbedingungen können nur mit dem Willen der zuständigen Behörde erklärt werden, die Persönlichkeit von Brian zu brechen».

Anwalt Philip Stolkin führte aus, der Fall bewege nicht nur die Schweiz, sondern habe nun auch eine internationale Dimension. Auch die Uno setze sich mit den Haftbedingungen auseinander. Sonderberichterstatter Nils Melzer werde bei Aussenminister Ignazio Cassis intervenieren und weitere Abklärungen fordern.

Die Anwälte haben ein Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll in Auftrag gegeben. Dieses kommt laut Stolkin zu einem eindeutigen Schluss: Die Haft entspreche in hohem Mass der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe. Seine Isolation müsse sofort beendet werden.

In einer Medienmitteilung schreibt das Anwaltskollektiv, Brian sitze seit nahezu drei Jahren in Isolationshaft. Und dies ohne Verurteilung. Die Haftbedingungen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies entsprächen Folter der übelsten Art. Brian verbringe 23 Stunden in der zwölf Quadratmeter grossen Zelle, der einstündige Hofgang sei ihm oftmals verwehrt worden – teilweise gar über Wochen.

Zudem müsse der Häftling beim Hofgang enge Hand- und Fussfesseln tragen, obwohl dies die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter scharf kritisiert habe. Deshalb kämpfen die Anwälte laut Communiqué nicht nur gegen die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft. Sie wollen dem Gericht auch aufzeigen, dass das Haftregime Brians der Folter entspreche. «Heute sitzt also auch die Zürcher Justiz auf der Anklagebank.»

Staatsanwalt Ulrich Krättli erklärte in einer kurzen Stellungnahme, das Vorgehen der Verteidigung gehe nicht an. «Es wurde über angebliche Folter gesprochen, die Brian erlitt. Weder das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung noch ihre Mitarbeiter können sich hier verteidigen.» Zudem habe das Bundesgericht kürzlich eine Beschwerde von Brian gegen die Unterbringung in der Pöschwies abgewiesen.

Krättli bezeichnete die Haftbedingungen auch als verhältnismässig. «Es ist keine mildere Massnahme ersichtlich aufgrund der grossen Gefahr, die vom Beschuldigten ausgeht. Alle Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Sicherheitshaft sind gegeben.»

Beim Obergericht finden Brians Anwälte kein Gehör. Es weist den Antrag auf sofortige Haftentlassung ab. Das Bundesgericht habe sich im Rahmen der Prüfung von Brians Beschwerde bereits mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Haftbedingungen mit der Menschenwürde vereinbar seien, so die Begründung. Entsprechend lehne man das Gesuch der Anwälte ab.

Was fordert die Staatsanwaltschaft?

Der Staatsanwalt Ulrich Krättli fordert aufgrund der vorgeworfenen Taten eine Freiheitsstrafe von 7,5 Jahren, eine Geldstrafe von 70 Tagessätzen à 10 Franken sowie die Anordnung einer Verwahrung gemäss Artikel 64 des Strafgesetzbuches.

Krättli sieht in der Verwahrung die einzige Möglichkeit, um der Gewalt und Gefährlichkeit Brians gerecht zu werden. Die Vorinstanz hatte eine sogenannte «kleine Verwahrung» angeordnet. Für Krättli ist eine solche Massnahme jedoch kein gangbarer Weg. «Der Beschuldigte wird sich niemals und unter keinen Umständen auf eine Therapie einlassen. Er manifestiert das täglich», sagt Krättli. Brian sehe sich als Märtyrer, der niemals jemanden an sich heranlasse. Für den Staatsanwalt ist klar: «Ohne Gewaltverzicht kann eine Therapie nicht vollzogen werden». Sie mit einer Zwangsmedikamentation zu erzwingen wäre laut dem Staatsanwalt nicht verhältnismässig.

Für Krättli ist deshalb klar: «Der Tunnel, in den sich der Beschuldigte begeben hat, ist nicht nur rabenschwarz sondern auch unendlich lange». Kein Therapeut, nur Brian selbst könne den Ausweg daraus schaffen – und vielleicht irgendwann wieder auf freien Fuss kommen. «Für so einen Extremfall, renitent, aggressiv und gewaltbereit, bleibt nur die Verwahrung übrig.»

Was fordert die Verteidigung?

Brians Verteidiger Thomas Häusermann fordert einen vollumfänglichen Freispruch sowie den Verzicht auf jegliche Massnahmen. Es sei nicht weniger als erschütternd, dass die Staatsanwaltschaft überhaupt eine Verwahrung fordere. Es mangle bereits an den Voraussetzungen für eine Massnahme.

Häusermann begründet dies so: Das Amt für Justizvollzug und die JVA Pöschwies seien Brian von Beginn weg mit maximaler Härte, Repression und Unterdrückung begegnet. Die Haftbedingungen seien nichts anderes als Folter. Häusermann beruft sich dabei auf ein Gutachten des Psychologen Ralf Binswanger sowie Berichte und Einschätzungen von Fachpersonen.

Häusermann fordert das Gericht auf, einen neuen Kurs einzuschlagen und «der jahrelangen Folter von Brian ein Ende zu setzen». Dem jungen Mann sei eine neue Chance zu geben, um zeigen zu können, dass er sich wohl verhalten könne, wenn er nicht gegen unmenschliche Haftbedingungen ankämpfen müsse. «Können wir jemandem, der seit Kindesbeinen immer wieder, und seit langem ununterbrochen unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt ist, strafrechtlich vorwerfen, wenn er schimpft, wenn er an die Türen und Fenster schlägt, wenn er seine Zelle unter Wasser setzt, wenn er droht und spuckt, wenn er einen Stuhl durch die Gegend wirft?», fragt Häusermann rhetorisch. Gegen unmenschliche Behandlung dürfe man sich wehren, so der Anwalt. Mit dieser «Vernichtungshaft» sei das angeklagte Verhalten Brians als «gesund und rational zu werten».

Zum Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung im Gesprächszimmer, erklärte Häusermann, an den Aussagen der Aufseher bestünden erhebliche Zweifel. Sein Mandant habe zwar einen Stuhl durch den Raum geworfen, nachdem man ihm mitgeteilt hatte, er werde wieder in Sicherheitshaft verlegt. Danach habe es auch ein Gerangel gegeben. Von harten und gezielten Schlägen wie ihn die Anklage schildere, könne jedoch keine Rede sein.

Wie hat die Vorinstanz geurteilt?

Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte Brian am 6. November 2019 zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten sowie zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen à 10 Franken. Die Freiheitsstrafe soll laut Urteil zugunsten einer stationären Massnahme aufgeschoben werden. Diese Therapie wird im Volksmund «kleine Verwahrung» genannt. Auf die Anordnung einer ordentlichen Verwahrung verzichtete der Richter jedoch. Sowohl Brians Anwalt Thomas Häusermann als auch der Staatsanwalt Ulrich Krättli erhoben gegen das Urteil Berufung.

Was würde eine Verwahrung bedeuten?

Brian wäre einer der jüngsten Täter, die in der Schweiz je ordentlich verwahrt wurden. Doch was bedeutet die «ordentliche» Verwahrung genau? Geregelt ist sie in Artikel 64 des Strafgesetzbuches. Wesentlich ist, dass es sich bei einer Verwahrung um eine Massnahme und nicht um eine Strafe handelt.

Anders als die Strafe dient die Massnahme nicht der Sühne für eine begangene Tat, sondern ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Wird ein verurteilter Straftäter verwahrt, heisst das, er wird über den Vollzug seiner Freiheitsstrafe hinaus dauerhaft inhaftiert. Ausgesprochen werden Verwahrungen denn auch nur für besonders gefährliche Straftäter.

Für ihre Anordnung müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Zunächst muss der Straftäter eine sogenannte Katalogtat begangen haben, also eine Straftat, die im entsprechenden Artikel 64 aufgelistet ist. Darunter fallen beispielsweise Mord oder vorsätzliche Tötung, aber auch eine schwere Körperverletzung stellt eine Katalogtat dar. Für den Staatsanwalt ist dies mit der Auseinandersetzung im Gesprächszimmer der JVA Pöschwies erfüllt. Er fordert dafür eine Verurteilung wegen versuchter schwerer Körperverletzung.

Für eine Verwahrung muss neben einer solchen Tat davon ausgegangen werden, dass ein Täter weitere ähnlich gelagerte Taten begeht – sei es aufgrund seiner Persönlichkeitsmerkmale, der Tat- oder Lebensumstände oder aber aufgrund einer anhaltenden oder lang dauernden psychischen Störung von erheblicher Schwere, die mit der Tat in Zusammenhang steht. Darüber hinaus muss Einigkeit darüber bestehen, dass ein milderes Mittel wie etwa eine stationäre therapeutische Massnahme erfolglos verliefe.
(https://www.nzz.ch/zuerich/verwahrung-oder-freiheit-fall-carlos-vor-obergericht-zuerich-ld.1626589)



nzz.ch 26.05.2021

Seit über zweieinhalb Jahren befindet sich der junge Straftäter Brian isoliert in einer Spezialzelle. Einblick in die Tagebücher eines Ausnahmefalls

Er ist erst 25 Jahre alt. Und ihm droht bereits die Verwahrung. So sieht der Alltag des bekanntesten Häftlings der Schweiz aus.

Fabian Baumgartner, Florian Schoop (Text), Anja Lemcke (Illustrationen)

Von der Freiheit sieht der Straftäter Brian nur ein paar Bäume. Wenn er durch den kleinen Hof der Justizvollzugsanstalt Pöschwies im zürcherischen Regensdorf spaziert – ein paar wenige Schritte vor, ein paar wenige Schritte zurück –, dann kann er durch eine Scheibe den angrenzenden Wald erkennen. Mehr Aussenwelt dringt nicht in den tristen Alltag des bekanntesten Gefängnisinsassen der Schweiz.

Am Mittwoch startet vor dem Zürcher Obergericht der Prozess gegen Brian, der über das Schicksal des 25-Jährigen entscheidet (hier geht es zur aktuellen Berichterstattung). Es geht um Freiheit. Oder Verwahrung. Verdient dieser Mann eine weitere Chance? Oder ist er tatsächlich so unbelehrbar und gefährlich, wie ihn die Behörden darstellen? Und hat ihn erst die Behandlung durch Justiz zu dem gemacht, was er nun ist?

Brian, unter dem Pseudonym «Carlos» bekannt geworden, hat über neun Jahre seines Lebens bereits hinter Gittern verbracht. Und seit mehr als zweieinhalb Jahren lebt er in der Pöschwies in Sicherheitshaft, also in fast totaler Isolation. Seit einigen Wochen verbringt er seine Zeit in einer neuen Spezialzelle, gebaut eigens für Häftlinge wie ihn. Häftlinge, die als Querulanten gelten. Damit kann er eine Stunde pro Tag im Hof spazieren, ohne auf Aufseher zu treffen, ganz allein.

Die übrigen 23 Stunden sitzt er in der Zelle. Er liegt auf einem gemauerten Bett oder sitzt auf einem gemauerten Stuhl an einem gemauerten Tisch. Für ihn gibt es keine Arbeit, keine Freizeitgestaltung. Nur viel Langeweile. Viel Zeit und nichts zu tun: eine toxische Kombination. Vor allem für einen, der sich im Kampf gegen das System sieht.

Was macht diese lange Isolation mit ihm?

Antworten darauf geben Tagebucheinträge des jungen Mannes. Antworten geben aber auch Führungsberichte der JVA Pöschwies. Sie liefern Einblick in einen Ausnahmefall, in eine Pattsituation – zwischen Justiz und Häftling.

Ein Tag voller Gehässigkeiten

Es ist der 20. Juli 2020, der dritte Montag eines Monats voller Konflikte zwischen Brian und den Gefängnisaufsehern, und gleichzeitig einer der Tiefpunkte eines permanenten Ausnahmezustands. An diesem Tag beginnen die Gehässigkeiten bereits am frühen Morgen. Brian nutzt die Gegensprechanlage der Zelle. Die folgenden Aussagen stammen aus dem Führungsbericht der JVA Pöschwies, rapportiert vom Gefängnispersonal.

0 Uhr 37: «Fickt euch, ihr dreckigen Hurensöhne, ich bring euch um.» – Ruf gesperrt.

1 Uhr 37: «Fick dich, du Hurensohn. Ich werde euch vernichten.» – Ruf gesperrt.

2 Uhr 10: «Ich werde euch vernichten, Kakerlaken, zerstören, ihr Wichser.» – Ruf gesperrt.

3 Uhr 31: «Ihr werdet vernichtet, Kakerlaken, Pissnelken, wer ist der Boss, du nicht, du Hurensohn.» – Ruf gesperrt.

In der Einführung des Journals schreibt der Gefängnisdirektor Andreas Naegeli, die «aggressiven Beleidigungen und Ausfälligkeiten» seien der Normalzustand, genauso wie «massive Todesdrohungen mit blutrünstigen Detailschilderungen» gegenüber dem Personal. Anfang Juli habe sich die Situation verschlimmert, als Brian Mitarbeiter unvermittelt angegriffen habe, trotz Fuss- und Handfesseln. «Seither erfolgten beinahe bei jeder Türöffnung der Zelle erneute Angriffsversuche.»

Das «hochproblematische und aggressive Verhalten» habe es unmöglich gemacht, Brian in den ordentlichen Trakt der Sicherheitsabteilung zu versetzen – «zu unserem Bedauern».

Die Provokationen halten laut Führungsbericht auch an diesem 20. Juli an. Sie führen zu einer Auseinandersetzung. Laut JVA zieht sich dabei ein Aufseher leichte Verletzungen zu. Aber auch Brian hat danach Blessuren. Auf Fotos sieht man den jungen Mann mit geschwollener Nase. Im Journal ist jedoch nur von Rötungen die Rede.

9 Uhr 35: Bei der Rückverschiebung vom Besuchertrakt in den Arrest griff B. die Aufseher im Gang an und musste zurückgetragen werden. Ein Aufseher wurde dabei leicht verletzt.

10 Uhr 58: Lösen der Hand- und Fussfesseln verlief problemlos. B. wird gefragt, ob er irgendwelche Verletzungen davongetragen habe und einen Arzt benötige. B. möchte eine Visite des Arztes in Anspruch nehmen. Abgabe des Mittagessens und Öffnen der Duschleitung.

11 Uhr 32: Telefonat mit dem Anwalt.

12 Uhr 30: Kleidung gewechselt.

14 Uhr 02: Arztvisite. Arzt macht Fotos von geröteten Körperstellen des Gefangenen und tastet ihm die Nase ab. Sonst verläuft alles sehr ruhig.

14 Uhr 43: Gefangener meldet sich per Gegensprechanlage. Er möchte, dass seine Nase auf jeden Fall geröntgt wird. Meldung wird weitergeleitet.

14 Uhr 58: Anruf von Arzt, nach Rücksprache mit der Direktion wurde entschieden, dass die Nase nicht geröntgt wird.

15 Uhr 46: Abgabe des Abendessens und der Medikamente, ausserdem wurde dem Gefangenen die Anhörung zum Rapport des Vorfalls vorgelesen.

Der Vorfall hat juristische Folgen. Einerseits zeigte die Anstaltsleitung Brian an. Andererseits hat auch Brian selbst Anzeige erstattet – gegen zwei Angestellte der Pöschwies, die nach wie vor für den Häftling zuständig sind. Es ist eines von zwei Verfahren, die wegen gewaltsamer Übergriffe derzeit gegen Mitarbeiter der JVA laufen. Gegen Brian wiederum laufen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft – wegen 30 Vorfällen, die sich seit November 2018 ereignet haben sollen. Ein riesiger Aktenberg, der ständig weiterwächst.

Auch mit dem Vorfall vom 20. Juli. Dieser Tag endet schliesslich, wie er begonnen hat: mit Provokationen und Drohungen via Gegensprechanlage.

18 Uhr 36: «Ich bring euch um.» – Rufunterdrückung.

19 Uhr 16: «Ihr werdet vernichtet.» – Rufunterdrückung.

19 Uhr 56: Rülpst. – Rufunterdrückung.

20 Uhr 33: «Ich werde euch vernichten.» – Rufunterdrückung.

21 Uhr 08: Singt. – Rufunterdrückung.

22 Uhr 08: «Pöschwies wird gebumselet.» – Rufunterdrückung.

23 Uhr 28: «Ihr seid alles Hurensöhne.» – Rufunterdrückung.

0 Uhr 05: «Ich werde euch vernichten.» – Rufunterdrückung.

0 Uhr 38: «Ich werde euch zerstören.» – Rufunterdrückung.

2 Uhr: Rülpst. – Rufunterdrückung.

2 Uhr 51: «Pöschwies, ihr werdet vernichtet.» – Rufunterdrückung.

«Wärter sagen, auf mich sollte man vier Rottweiler loslassen»

Der Führungsbericht der JVA Pöschwies zeigt: Die Anstaltsleitung sieht in dem jungen Straftäter eine wandelnde Zeitbombe, die nur noch mit einschneidenden Massnahmen unter Kontrolle zu halten ist. Brian selbst aber hat auf den Gefängnisalltag eine ganz andere Sicht. In seinem Tagebuch notiert er zum 20. Juli 2020:

«Heute hat mir ein Aufseher auf die Nase, auf die Schläfe und gegen den Kopf gehauen. Auf die Nase so heftig, dass sie extrem geschwollen ist und ich kaum Luft bekomme. Die Wärter sagten mir oft in Gesprächen, ich sollte doch nach Sibirien ins Gefängnis. Oder auf mich sollte man vier Rottweiler loslassen. Ein anderer Aufseher sagt oft, ich solle zurück in das Land, wo ich herkomme. Zurück nach Afrika. Dies, obwohl ich keine andere Nationalität als die schweizerische besitze – ich bin Schweizer. ‹Schau doch mal auf deine Haare, du bist kein Schweizer›, sagt der Aufseher. Dies sind tiefe Rassisten. Oder einmal sagte einer: Wenn Hitler noch leben würde, dann gäbe es keinen Dreck wie mich. Krass.»

In seinem Tagebuch schildert Brian weitere solcher Vorfälle. Immer wieder schreibt er von seinem Essen, davon, dass man ihm als Muslim Schweinefleisch unterjubeln wolle: «Heute habe ich wieder Schinken in meinem Essen gefunden, obwohl ich Vegetarisch bestellt habe», steht etwa. Oder: «Man gab mir wieder Cervelat zum Mittagessen.» Ein Aufseher habe ihn «ein Stück Scheisse» genannt, «eine Schande für den Islam», der gleiche Pöschwies-Angestellte mache Faxen hinter der Scheibe, «als wäre ich ein Affe».

Auch andere provozierten ihn, täten so, als hätten sie ihm ins Essen gespuckt – «sie wünschen mir einen Guten und lachen höhnisch». Manchmal müsse er nach dem Duschen stundenlang nackt auf neue Kleidung warten. Und seit Jahren schlafe er auf einer Matte, die eigentlich für Turnübungen gedacht sei.

Eine andere Schilderung ist so detailreich, dass es schwerfällt, zu glauben, sie sei erfunden. Es geht um eine neue Zahnbürste, die Brian bestellt hat. «Packung aufgerissen und komischer Geruch», rapportiert er in sein Tagebuch. «Als ich sie wusch, löste sich eine Flüssigkeit von der Zahnbürste, das fühlte sich glitschig-gelig an.» Sein Fazit: «Man will mich einfach provozieren.»

Wo genau die Wahrheit in den Darstellungen liegt, bleibt unklar. Weil Aussage gegen Aussage steht, weil alles hinter Gefängnismauern verborgen bleibt.

Das Zürcher Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung antwortet auf Fragen der NZZ mit einem allgemein gehaltenen Statement. Man diskutiere den komplexen Fall mit Fachleuten und suche ständig nach neuen Lösungen. Diverse Berichte von Fachgremien sowie zwei Urteile des Bundesgerichts attestierten der Pöschwies «eine korrekte und professionelle Arbeit».

Das Amt kritisiert aber auch die mediale Berichterstattung. Die öffentliche Diskussion helfe nicht bei der Lösungsfindung. Mit demselben Argument versuchte das Amt für Justizvollzug, im Vorfeld der Verhandlung vor Obergericht Besuche von Journalisten bei Brian zu unterbinden. Die Berichterstattung zu seinem Fall verhindere, dass der 25-Jährige an sich arbeite und sich zu einem selbstverantwortlichen jungen Mann entwickle, so die Begründung. Das Obergericht wies die Forderung jedoch ab.

«Ich habe Insassen weinen gehört im Bunker»

Insgesamt drei Mal besuchen wir Brian im Gefängnis. Ein Mitarbeiter führt uns jeweils in ein winziges Zimmer – Besucherraum Nummer zwei. Der bullige Insasse sitzt bereits auf seinem Stuhl – an Händen und Füssen gefesselt, die schwere blaue Stahltüre hinter ihm geschlossen. Als wir ihn fragen, wie es ihm gehe, antwortet er: «Muss, muss.»

Er habe momentan keine Kraft, sagt Brian beim letzten Besuch im April, «wegen Ramadan». Der 25-Jährige konvertierte vor einigen Jahren zum Islam. Er steht auf und macht in der Besuchskabine ein paar Boxbewegungen. Ulkig sieht es aus, wegen der Fesselung an Händen und Füssen. Brian muss lachen. Doch als er über seine Situation hinter Gittern zu reden beginnt, wird er rasch wieder ernst. Er erzählt:

«Die Isolation in der Einzelhaft, sie schadet jedem. Sie ist viel effektiver, als jemanden zu schlagen. Sie frisst dich von innen auf. Man hat so viel Zeit, um über Dinge nachzudenken. Das macht dich verrückt. Ich habe Panikattacken und Wutanfälle. Doch anderen ergeht es schlechter als mir. Ich habe Insassen weinen gehört im Bunker. Und das waren gestandene Männer. Doch ich werde nicht aufgeben. Ich will bei diesem Spiel nicht mitmachen. Die Wut gibt mir die Kraft, mich zu wehren. Kraft gibt mir auch das Schattenboxen in der Zelle: Es ist für mich ein Quell der Freude. Auch im Spazierhof trainiere ich, und ich jogge ein wenig. Das ist wichtig für die psychische Gesundheit. Und um Stress abzubauen.»

Aber was hat es mit den Drohungen und Beschimpfungen über den Zellenruf auf sich? Diese seien für ihn ein Ventil, um auf die Spielchen der Aufseher zu reagieren, sagt Brian. Ernst gemeint seien die Sprüche jedoch nicht.

Sicherheitshaft – Isolation, kein Kontakt zu anderen Häftlingen, nur eine karg eingerichtete Zelle. Bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens solle sie fortgeführt werden. So entschieden es die Zürcher Gerichte. Brians Verteidiger Thomas Häusermann kann darüber nur den Kopf schütteln. Er wehrt sich seit Jahren auf juristischem Weg gegen die Behandlung seines Mandanten.

Das Vorgehen der Behörden bezeichnet Häusermann als skandalös. «Die Haftbedingungen sind unhaltbar. Es wird alles unternommen, um Brian zu dämonisieren und ihn zum Monster zu machen. Man behandelt ihn wie einen massiven Schwerverbrecher. Doch das ist er nicht.» Eigentlich habe der Staat auch im Umgang mit schwierigen Häftlingen eine Fürsorgepflicht. Aber in diesem Fall gelte dies alles offenbar nicht. Zudem sei Brian schlicht am falschen Ort, sagt der Anwalt. «Er hat noch immer täglich mit Aufsehern zu tun, die als Belastungszeugen im laufenden Verfahren gegen ihn aussagen. Eine neutrale Behandlung ist so nicht möglich.»

Von langer Dauer darf Brians Aufenthalt in der Isolation nicht mehr sein. Darauf hat das Bundesgericht kürzlich in einem Entscheid hingewiesen. Seine Unterbringung sei zwar «zurzeit noch gerechtfertigt». Gleichzeitig hielten die Richter deutlich fest, dass er «sehr restriktiven Haftbedingungen» unterstehe. Bleibe das Haftregime auf Dauer unverändert, stelle sich womöglich die Frage «eines menschenwürdigen Haftvollzugs».

Ab welchem Zeitpunkt dies der Fall ist, sagt das Bundesgericht indes nicht. Es hält nur fest: Sollte es bei einem längeren Freiheitsentzug bleiben, müssten die Behörden alle möglichen Anstrengungen unternehmen, um die Haftbedingungen anzupassen und grundsätzlich zunehmend zu lockern. «Der Rechtsstaat darf sich dieser Herausforderung und Verantwortung nicht entziehen», schreibt das Bundesgericht.

Dasselbe Gericht hat aber in einem anderen Entscheid auch festgehalten, Brian habe sich selbst zuzuschreiben, dass ihm der eigentlich garantierte Hofgang immer wieder verwehrt wurde. Brian habe – nachdem man ihm eine separate Zelle mit Zugang zum Spazierhof gebaut hatte – diese kurz nach seiner Ankunft derart schwer beschädigt, dass er wieder in die alte Zelle zurückverlegt werden musste. Brian sagt dazu: «Das Recht auf Spaziergänge gilt bei allen. Nur bei mir soll es anders sein?»

Alte Zelle, neue Zelle, Spaziergänge ja oder nein: Am Ende geht es darum, wie lange Brian überhaupt noch weggesperrt bleiben soll. Bei einer Verwahrung wäre er dies auf unbestimmte Zeit. Wie sieht er diese drohende Massnahme? «Sie wäre unmenschlich», sagt der 25-Jährige, «doch mittlerweile ist es mir egal, was sie mit mir machen. Ich stelle mir die Frage gar nicht mehr.» Im Gefängnis zu sein, sei kein grosses Problem für ihn. Er hält fest: «Sie werden mich nicht brechen.» Für seine Familie aber tue es ihm leid, für sie sei es schlimm.

Brian selbst schöpfe nebst der Familie aus zwei Dingen Kraft: «Rappen und Boxen: Für diese beiden Träume lebe ich.» Die Boxkämpfe schaue er sich manchmal im Fernsehen an, und er lese alles, was er zu dem Thema in die Finger bekommen könne. «Mike Tyson ist ein Vorbild – mit seinem aggressiven Boxstil.» Dasselbe gelte bei der Musik, für Rapper wie Xatar oder Capital Bra. Ihm gefielen die «asozialen Lieder, die asozialen Sachen». Brian lacht. «Aber die Jungs aus Frankreich sind noch eine Liga besser. Es sind Leute, die keine Aussicht auf Erfolg hatten», sagt er. «Sie mussten kämpfen für ihren Erfolg.»

Das Weltgeschehen versucht der Häftling im Fernseher zu verfolgen, ein Gerät, auf das er lange Zeit nur im Stehen und durch die Gitter seiner Zelle sehen konnte. Das Schicksal der Uiguren in China interessiert ihn. Oder Dokumentationen über Polizeigewalt in den USA. Und laut JVA-Führungsbericht auch Bücher über «die Kunst des Krieges», «die weltberühmtesten Psychopathen» oder «die grössten Despoten und Tyrannen». Doch viele der Bücher werden ihm von der Gefängnisleitung verwehrt.

«Ich bin Brian the Lion»

Aus Sicht der Behörden hat Brian sein Schicksal selbst in der Hand. Würde er sich begutachten lassen, eine Therapie zulassen, wäre dies aus ihrer Sicht der erste Schritt zur Besserung. Doch der junge Mann weigert sich. «Ich habe das schon einmal erlebt. Auch wenn ich mich korrekt benehme, gibt es keine Verbesserung. Ich will nicht, dass sich einer mit mir profilieren kann.»

Brian solle eine Chance erhalten, sagt Rechtsanwalt Häusermann. «Man sperrt ihn weg, um ihn zu brechen und zu zeigen, dass die Zürcher Strafjustiz nicht zum Kuscheln da ist. Dabei hat Brian sich immer bewährt, wenn er eine ehrliche Chance bekommen hat.» Für Brian selbst ist Aufgeben keine Option. Er wehrt sich gegen die Haftbedingungen und hat eine Botschaft an den Justizvollzug: «Ich bin nicht das Opferlamm der Justiz. Ich bin Brian the Lion. Entweder ich gewinne, oder ich sterbe.»

Vor Obergericht will sich der 25-Jährige nicht erklären. Wie schon 2019 vor Bezirksgericht. Damals hatte der Richter sogar versucht, Brian in seiner Zelle von einem Erscheinen zu überzeugen. Vergeblich. Auch dieses Mal sieht der junge Mann keinen Sinn an einem Kommen. «Ich habe dem Richter geschrieben und meinen Standpunkt dargelegt», sagt er.

Und der Anwalt Thomas Häusermann sagt: «Aufgrund der jahrelangen Isolationshaft sieht Brian sich nicht in der Lage, vor Gericht zu erscheinen. Das mediale Aufsehen würde ihn überfordern.» Häusermann hat deshalb ein Dispensationsgesuch gestellt. Das Obergericht hat das Gesuch inzwischen bewilligt. Nun entscheiden die Richter über Brians Schicksal. In seiner Abwesenheit.
(https://www.nzz.ch/zuerich/fall-carlos-die-gefaengnis-tagebuecher-des-brian-ld.1626499)