Medienspiegel 2. Mai 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Nationalrat kommt zu dreitägiger Sondersession zusammen
(…)
Am Dienstagnachmittag geht es um die Asylpolitik, konkret um einen Gesetzesentwurf, der von der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats (SPK-N) ausgearbeitet wurde. Demnach sollen die Behörden auf die Handy- und Laptopdaten von Asylsuchenden zugreifen dürfen, wenn diese ihre Identität nicht mit Ausweispapieren belegen können.
(…)
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2021/20210502093006380194158159038_bsd030.aspx
-> https://www.derbund.ch/diese-vorlagen-will-der-nationalrat-vorwaerts-bringen-294622678486


+++MITTELMEER
Sea-Watch Rettungseinsatz im Mittelmeer: Kein Hafen in Sicht
Das Rettungsboot Sea-Watch 4 hat bei mehreren Einsätzen 455 Menschen in Seenot gerettet. Das Schiff sucht weiterhin nach einer sicheren Anlegestelle.
https://taz.de/Sea-Watch-Rettungseinsatz-im-Mittelmeer/!5769325/


Mittelmeer: Mehr als 650 Menschen aus überfüllten Booten gerettet
Zwei private Hilfsschiffe haben Migranten im Mittelmeer aufgenommen. Ein Teil konnte in Sizilien an Land gehen, für 455 weitere Menschen wird noch ein Hafen gesucht.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-05/mittelmeer-seenotrettung-migration-sea-watch
-> https://www.jungewelt.de/artikel/401604.eu-grenzregime-sicherer-hafen-gesucht.html


+++EUROPA
NZZ am Sonntag 02.05.2021

Unter den Migranten befinden sich immer mehr Kinder. Sie haben bessere Chancen auf Asyl in Europa

Auf den Flüchtlingsrouten übers Mittelmeer sind zunehmend Minderjährige allein unterwegs.

Beat Stauffer, Mohamed, Larbi Mnassri, Tunis

Mit 236 Migranten an Bord ist die «Ocean Viking» am 1. Mai im Hafen von Augusta auf Sizilien eingelaufen. Als die Helfer der Nichtregierungsorganisation SOS Méditerranée wenige Tage zuvor die Flüchtlinge aus zwei Gummibooten weit vor der Küste Libyens aus dem Wasser zogen, waren sie überrascht: Fast die Hälfte der Schiffbrüchigen waren Minderjährige ohne Begleitung von Erwachsenen.

Noch vor wenigen Jahren unternahmen fast ausschliesslich Männer die gefährliche Reise übers Mittelmeer. So waren zum Beispiel vor dem Arabischen Frühling 2011 zeitweise 97 Prozent der tunesischen Migranten Männer zwischen 18 und 40 Jahren, wie Alaa Talbi von der tunesischen Nichtregierungsorganisation FTDES berichtet.

Der Trend hat sich nun geändert. Mehr als ein Fünftel der ankommenden Migranten in Italien in den ersten drei Monaten dieses Jahres waren nach Zahlen des Uno-Flüchtlingshilfswerks Kinder und minderjährige Jugendliche, viele von ihnen unbegleitet. Ähnliches zeigt sich bei den Zahlen der Ankommenden in Spanien.

Kinder für falsche Mütter

Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Die massive Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Tunesien sowie der Bürgerkrieg in Libyen sind der erste Faktor. Entsprechend sind unzählige Menschen in die Armut gerutscht und verzweifelt. Ein zweiter, wichtiger Faktor aber sind die bilateralen Abkommen, die Italien mit Tunesien und Spanien mit Marokko abgeschlossen haben.

Auf dieser Basis werden Migranten aus den beiden Maghrebstaaten ohne triftige Asylgründe häufig innert weniger Wochen abgeschoben. Unbegleitete Minderjährige und Frauen mit Kindern sowie Schwangere erhalten jedoch fast ausnahmslos eine Aufenthaltsbewilligung.

Dieser Umstand ist mittlerweile sowohl in den Maghrebstaaten wie auch in Westafrika und den Sahelstaaten bekannt. Entsprechend machen sich zunehmend auch Frauen mit Kindern auf die gefährliche Reise. Minderjährige werden von ihren Familien bewusst losgeschickt, weil diese überzeugt sind, dass ihre etwa 14- bis 16-jährigen Söhne auf diese Weise beste Chancen haben, in Europa Fuss zu fassen.

In Tunesien hat diese Entwicklung darüber hinaus zu einem anderen, höchst beunruhigenden Phänomen geführt: Mütter «leihen» einen Buben gegen einen einmaligen Geldbetrag oder eine monatliche Zahlung an eine dritte Person aus, die keine eigenen Kinder hat. Diese falsche Mutter macht sich mit dem Leihkind auf den Weg und verspricht sich dadurch mehr Chancen, in Italien Asyl zu erhalten.

Aisha*, eine Frau Mitte vierzig, von ihrem harten Leben gezeichnet, hat sich zu diesem schmerzvollen Schritt entschlossen. Wir treffen sie in ihrem Haus in Al-Khadra, einem schäbigen Vorort von Sidi Bouzid. Die fünfköpfige Familie lebt in äusserst bescheidenen Verhältnissen in dieser Provinzstadt im Landesinneren: Der Ehemann ist Taglöhner, während Aisha als Haushaltshilfe arbeitet und bei der Oliven- und Tomatenernte mithilft.

Die Armut, die elenden Verhältnisse und der Mangel an Perspektiven hätten sie dazu bewegt, ihren Buben wegzugeben, sagt Aisha der «NZZ am Sonntag». «Ich hatte keine andere Wahl.» Sie kenne zwar ihre Nachbarin Khadija gut und sei sich sicher, dass diese den fünfjährigen Ali* gut behandle. Dennoch habe sie die Trennung von ihrem Kind fast nicht verkraftet. Wegen einer Depression musste sie sich in ärztliche Behandlung begeben.

Khadija hatte sich im Frühherbst vergangenen Jahres einem Schlepper anvertraut. Die Überfahrt gelang. Nun lebt Khadija in der Nähe von Neapel und schickt Aisha Monat für Monat zwischen 100 und 200 Euro. Die richtige Mutter hofft, dass sie ihren Ali innert ein bis zwei Jahren wieder zurückerhält. Dann würde auch eine letzte Summe fällig, die ihr Khadija in Aussicht gestellt hat.

Verzweifelte Sudanesin

Auch die tunesische Organisation FTDES hat von derartigen «Deals» vernommen, ohne aber konkrete Fälle zu kennen. Insider in Tunesien berichten auch von Familien, die ein Kind aus Not gar direkt an Schleuser verkauft hätten. Diese würden die Kinder anschliessend an Frauen «vermitteln», die sich dann als alleinstehende Mütter ausgeben und die Fahrt übers Mittelmeer wagen.

Vergleichbare Fälle sind auch in Libyen dokumentiert. Da ist etwa die aus dem Sudan stammende Maryam. Der «NZZ am Sonntag» berichtet sie von der Ermordung ihres Mannes in einem kleinen Dorf in Darfur, der Flucht nach Libyen, dem Raub all ihrer Wertgegenstände durch Grenzbeamte und Milizionäre. In Bani Walid, einem Knotenpunkt der Flüchtlingsrouten, geriet sie schliesslich in ein Haftzentrum für Migranten. «Ich war völlig verzweifelt», sagt sie am Telefon zur «NZZ am Sonntag».

«Da kam eine Frau namens Jamila auf mich zu und schlug mir vor, meinen kleinen Buben einer anderen Migrantin zu übergeben.» Diese bezahlte die mittellose Maryam und machte ihr Hoffnung: Zumindest der Bub würde es so nach Italien schaffen. Und er würde dort zu einem Cousin ihres verstorbenen Mannes kommen, der bereits in Italien lebt. Eine schwache Hoffnung.

* Die Namen sind geändert und der Redaktion bekannt.
(https://nzzas.nzz.ch/international/unter-den-migranten-befinden-sich-immer-mehr-kinder-ld.1614910)


+++DROGENPOLITIK
NZZ am Sonntag 02.05.2021

Bund lanciert Debatte über straflosen Drogenkonsum in der Schweiz

Kaum abschreckend, aber hinderlich für die Prävention: Der Bundesrat prüft, ob das Verbot des Drogenkonsums fallen soll.

Daniel Friedli

In die Debatte um die Schweizer Drogenpolitik kommt neuer Schwung. Am Freitag, 30. April 2021 hat sich die Gesundheitskommission des Nationalrates knapp dafür ausgesprochen, den Konsum von Cannabis zu legalisieren und dafür einen geregelten Markt zu schaffen. Und schon zwei Tage zuvor hat der Bundesrat kommuniziert, dass er noch weiter denkt und generell die Strafbarkeit des Drogenkonsums auf den Prüfstand stellt. Er hat zuvor am Mittwoch beschlossen, «die Vor- und Nachteile einer Strafbefreiung des Betäubungsmittelkonsums» vertieft zu prüfen.

Hintergrund des Entscheids ist die Forderung des Parlaments, eine Perspektive für die schweizerische Drogenpolitik der nächsten zehn Jahre aufzuzeigen. In ihrem Bericht dazu kommt die Regierung nun zum Schluss, dass sich die bisherige Drogenpolitik zwar durchaus bewährt habe, aber eben auch Anpassungsbedarf bestehe.

Denn die Rezepte stammten noch aus den Zeiten der Heroinkrise und der offenen Drogenszene der achtziger Jahre. Mittlerweile stünden weniger schwerstabhängige Heroinkonsumenten im Fokus, sondern der mitunter exzessive Konsum von Freizeitdrogen wie Cannabis, Kokain oder Ecstasy, oft auch in Verbindung mit Alkohol.

Im Urteil des Bundesrates können diese Konsumformen zwar ebenso gefährlich sein wie eine schwere Abhängigkeit. Sie erforderten jedoch andere Ansätze. Denn Personen, die am Wochenende oder im Ausgang psychoaktive Substanzen konsumierten, wiesen in der Regel noch keine Abhängigkeit auf. Auch seien sie meist sozial integriert und würden den eigenen Konsum kaum als Problem einschätzen.

Im Vordergrund der politischen Antwort steht daher laut Bundesrat ein gezielter Fokus auf die Jugendlichen. Und wichtiger als die Suchtbehandlung würden Prävention, Früherkennung, Beratung und Schadensminderung. Dabei könne eine Bestrafung der Konsumenten aber hinderlich sein. «Strafmassnahmen haben kaum eine abschreckende Wirkung auf die Konsumentinnen und Konsumenten, stellen jedoch ein Hindernis für die Betreuung und Resozialisierung dar», schreibt der Bundesrat.

Trotzdem will die Regierung die Sache langsam angehen. Den grössten Handlungsbedarf sieht auch sie beim Cannabis. Sie will dort nun die Pilotversuche für kontrollierte Cannabisabgabe beobachten, die in einigen Tagen möglich werden, und danach über eine allfällige Reform in diesem Bereich befinden. Und sie will ganz generell prüfen, inwieweit die Bestrafung des Drogenkonsums noch sinnvoll ist.

Damit macht der Bundesrat aber auch klar, dass er nicht schon jetzt so weit gehen will, wie es seine Expertenkommission für Suchtfragen vorgeschlagen hatte. Diese hatte ihm unter anderem empfohlen, das Betäubungsmittelgesetz grundlegend zu reformieren und dabei das Drogenverbot ganz aufzuheben.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/bund-lanciert-debatte-ueber-straflosen-drogenkonsum-in-der-schweiz-ld.1614915)



Im Jahr 1994: Drogen fürs Schweizer Volk!
Emilie Lieberherr war eine unwahrscheinliche Vorkämpferin für eine liberale Drogenpolitik. Aber eine gute.
https://www.higgs.ch/drogen-fuers-schweizer-volk/41142/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
1. Mai seit 10 Jahren ohne grosse Krawalle in Zürich
Strassenschlachten, eingeschlagene Fenster und brennende Container: Solche Szenen gehören der Vergangenheit an. Seit einem Jahrzehnt hat es am Tag der Arbeit in der Stadt Zürich keine wüsten Ausschreitungen mehr gegeben. Auch gestern kesselte die Polizei illegale Demozüge sofort ein. Diese harte Taktik wird von den einen gelobt und von den anderen scharf kritisiert.
https://www.telezueri.ch/zuerinews/1-mai-seit-10-jahren-ohne-grosse-krawalle-in-zuerich-141751997


Rätsel und Verwüstung
Heute haben wir eine gute Nachricht : die Verwüstung vom Schlupfwinkel eines Haufens von Lauchköpfen. Weisst du von wem wir reden? Nein ? Okay, wir machen ein paar Andeutungen: Sie kippen jedes Jahr Tonnen von Blei in die Wildnis.
https://barrikade.info/article/4467


+++KNAST
tagesanzeiger.ch 02.05.2021

30 zusätzliche Stellen in Zürcher JVA: Mehr Aufseher und Sozialarbeiter in der Pöschwies

Das grösste Schweizer Gefängnis genügt den Qualitätsansprüchen nicht mehr. Nun schafft der Regierungsrat zusätzliche Stellen.

Corsin Zander

Die Zürcher Justizdirektion beurteilt die Sicherheit der Gefangenen und Mitarbeitenden in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies als ungenügend. Es handelt sich dabei um das grösste Gefängnis der Schweiz. Darin können 400 straffällige Männer untergebracht werden, die eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr absitzen müssen. Seit der Eröffnung 1995 ist der Bestand an Betreuungsmitarbeitenden unverändert bei 210 geblieben. Damit erfülle es die Qualitätsansprüche eines Gefängnisbetriebs nicht mehr, schreibt der Zürcher Regierungsrat in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss.

Um die Betreuung zu verbessern und damit die Sicherheit für die Gefangenen und Mitarbeitenden zu erhöhen, sollen bis 2024 schrittweise 27 zusätzliche Stellen für Aufseherinnen und Aufseher sowie drei Sozialarbeitende geschaffen werden. Zudem wandelt die Regierung 2,8 Vollzeitstellen, die in den vergangenen Jahren bereits als befristete Stellen geschaffen worden sind, in unbefristete Stellen um. Es handelt sich dabei um die Stellen eines Aufsehers, einer juristischen Sekretärin sowie eines Handwerksmeisters in der Bäckerei. Über das zusätzliche Geld für die Stellen muss der Kantonsrat noch im Rahmen der Budgetdebatte befinden.

Bessere Betreuung soll Rückfallquote senken

Künftig sollen in der Pöschwies mindestens drei Mitarbeitende in einem Dreischichtbetrieb insgesamt 48 Gefangene beaufsichtigen. Eigentlich müsste der heutige Betrieb in drei Schichten während 24 Stunden aufrechterhalten werden, faktisch ist aber bloss ein Zweischichtbetrieb möglich, wie es im Regierungsratsbeschluss heisst. Durch eine individuellere Betreuung der Gefangenen und zusätzliche Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter möchte die Regierung die erfolgreiche Resozialisierung der Straftäter erhöhen und die Rückfallquote weiter senken.

Dabei stützt sich der Regierungsrat auf das Bundesamt für Justiz. Dieses empfiehlt in geschlossenen Anstalten möglichst viel Personal. Je mehr Zeit dieses habe, um «genau hinzusehen», desto eher könne man verhindern, dass im Gefängnis eine Subkultur entstehe. Sollte eine solche Subkultur entstehen, würden die Gefangenen eher wieder straffällig, wenn sie entlassen werden oder sogar noch während des Strafvollzugs.

Mehr Personal bleibt aber nicht die einzige Massnahme, um den Gefängnisalltag sicherer zu machen. So hat das zuständige Amt Justizvollzug und Wiedereingliederung jüngst etwa entschieden, das Bargeld aus dem Gefängnis zu verbannen. Künftig soll den Gefangenen der Tageslohn von 9 bis 31 Franken, den sie für die Arbeit erhalten, digital ausbezahlt werden.
(https://www.tagesanzeiger.ch/mehr-aufseher-und-sozialarbeiter-in-der-poeschwies-616075421420)


+++BIG BROTHER
Nationalrat kommt zu dreitägiger Sondersession zusammen
(…)
Tags darauf diskutiert die grosse Kammer über das DNA-Profil-Gesetz. Die sogenannte Phänotypisierung soll es den Strafverfolgungsbehörden künftig erlauben, mehr Informationen aus einer DNA-Spur vom Tatort herauszulesen.
(…)
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2021/20210502093006380194158159038_bsd030.aspx
-> https://www.derbund.ch/diese-vorlagen-will-der-nationalrat-vorwaerts-bringen-294622678486


+++RECHTSEXTREMISMUS
QAnon, Kinderschändung und die Geschichte des Kinderschutzes
Seit einigen Jahren verbreitet die QAnon-Bewegung rechtsextreme Verschwörungstheorien, die um den Missbrauch von Kindern kreisen. Diese Theorien sind abstrus. Historisch betrachtet bilden sie allerdings nur das gegenwärtige Ende einer langen Geschichte der rechten Instrumentalisierung von Kinderschutz und Missbraucherzählungen.
https://geschichtedergegenwart.ch/qanon-kinderschaendung-und-die-geschichte-des-kinderschutzes/


Frauenhass auf TikTok: Ohne Respekt, ohne Kultur
Junge Frauen erleben besonders viel Hass in sozialen Netzwerken wie TikTok. Antifeministen beleidigen systematisch alle, die ihr Weltbild bedrohen.
https://taz.de/Frauenhass-auf-TikTok/!5763547/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
NZZ am Sonntag 02.05.2021

So will die Polizei neue Corona-Proteste verhindern

Unbewilligt demonstrieren Gegner der Corona-Massnahmen fast wöchentlich – jetzt könnte das Regime bald strenger werden.

Samuel Tanner

An diesem Samstag, dem 1. Mai, zeigte sich auf den Strassen der Schweiz ein symbolhaftes Bild. In Bern demonstrierten einige hundert Leute gegen den Kapitalismus, ohne Bewilligung, ohne von der Polizei aufgehalten zu werden. In Zürich demonstrierten einige hundert Leute gegen den Kapitalismus, ohne Bewilligung, und wurden von der Polizei eingekesselt. Und in Lugano demonstrierten einige hundert Leute gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrats, ohne Bewilligung, ohne von der Polizei aufgehalten zu werden.

Wie soll der Staat umgehen mit den Demonstrationen, die nicht bewilligt sind, die aber inzwischen fast wöchentlich dennoch stattfinden?

Weil die Politik bisher keine Antworten hat, muss die Polizei sie geben. Dabei geht es meistens um Proteste gegen die Corona-Massnahmen. Eine schweizweite Diskussion entstand nach den Ereignissen von Rapperswil-Jona, die am Samstag vor einer Woche geschahen.

Ungefähr viertausend Leute formierten sich damals und zogen durch die Innenstadt. Die Kantonspolizei St. Gallen stand vor einem Dilemma, das inzwischen diverse Polizeikorps in der Schweiz kennen: Sie tolerierte Übertretungen, weil sie nicht die wüsten Bilder produzieren wollte, die die Auflösung einer Grossdemonstration auslösen würde.

«Mit verhältnismässigen Mitteln ist es nicht möglich, eine derart grosse Versammlung aufzulösen», sagt Fredy Fässler (sp.), St. Galler Sicherheitsdirektor und Präsident der kantonalen Sicherheitsdirektoren. «Wir haben derzeit eine Situation, die für einen Rechtsstaat ausserordentlich unbefriedigend ist. Es muss etwas geschehen.» Nur: Was?

Ratlose Politik

Die erste grosse Demonstration, am 20. März in Liestal im Kanton Baselland, wurde noch bewilligt. Die Veranstalter von Stiller Protest versicherten, die Leute würden eine Schutzmaske tragen. Weil sie dieses Versprechen nicht einhielten, blieben die darauffolgenden Demonstrationen unbewilligt: In Altdorf löste die Polizei eine Demonstration mit Tränengas auf, in Schaffhausen liess man sie gewähren, ebenso in Rapperswil-Jona.

Das war kein einsamer Entscheid der Polizei, Sicherheitsdirektor Fredy Fässler war involviert. Er sagt: «Es wäre auch möglich gewesen, Rapperswil grossräumig abzuriegeln: Strassensperren, Unterbruch des öffentlichen Verkehrs, Ausgangssperre. Das erachteten wir aber nicht als verhältnismässig.»

Die Politik blickt einigermassen ratlos auf das Phänomen: Auf den Strassen demonstriert eine sehr heterogene Gruppierung, Reihenhäuschenfamilien und Verschwörungstheoretiker, Hippies und Rechtsradikale. Was sie verbindet, ist ihr Widerstand gegen die Masken und die Massnahmen des Bundesrats.

Der Zweck der Proteste, so wirkt es, sind die Proteste selbst. Youtuber übertragen einen Livestream der Unübersichtlichkeit ins Internet. «Einen Teil der Bevölkerung haben wir verloren», sagt Fredy Fässler, «ein Patentrezept, um sie zurückzugewinnen, habe ich leider nicht.»

Die Proteste werden in jedem Kanton anders bewertet. Am Tag, als in Liestal die erste grosse Demonstration stattfand, unterband die Polizei in Bern eine Demonstration, bevor sie stattfand: mit einem massiven Aufgebot und sechshundert Anzeigen.

Demo-erfahrene Kantone wie Bern und Zürich haben früh in der Pandemie beschlossen, Demonstrationen mit mehr als fünfzehn Personen gar nicht erst zuzulassen. Andere Kantone waren liberaler – auch deshalb, weil sich niemand in Baselland vorstellen konnte, dass jemals in Liestal eine Demonstration mit achttausend Personen stattfinden würde.

Mark Burkhard ist Kommandant der Kantonspolizei Baselland und Präsident der kantonalen Polizeikommandanten, der höchste Polizist der Schweiz. Er sagt: «So wie in den vergangenen Wochen wird es wohl nicht weitergehen. Diverse Kantone überlegen sich derzeit, ob sie nicht strikter vorgehen müssten – dass die Polizei grosse Demonstrationen gar nicht erst zulässt.»

Am einfachsten sei das für die Polizei, sagt Burkhard, wenn sich eine Demonstration aufbaue: «Dann können wir Leute wegweisen.» Ab einer gewissen Grösse könne man eine Demonstration nur noch laufen lassen.

«Ohnmacht aushalten»

In mehreren Kantonen wird nun ein strikteres Vorgehen gegen die Demonstranten geprüft, wie Fredy Fässler bestätigt. Der Tessiner Sicherheitsdirektor Norman Gobbi (Lega), der auch im Vorstand der kantonalen Sicherheitsdirektoren sitzt, sagt: «Wenn sich schon tausend Leute formiert haben, ist es zu spät. Die Polizei muss künftig früher reagieren, um unbewilligte Demonstrationen zu verhindern.»

Wer mit Polizistinnen und Polizisten spricht, spürt die Unzufriedenheit über die derzeitige Situation. Johanna Bundi Ryser, die Präsidentin des Berufsverbands VSPB, sagt: «Die Politik bewilligt die Demonstrationen nicht, aber sie finden trotzdem statt. Ausbaden muss es die Polizei. Ich bin enttäuscht über die teils fehlende Unterstützung aus der Politik.»

Nachdem die St. Galler Kantonspolizei am Samstag, 24. April, in Rapperswil-Jona nicht einschritt, wurde sie heftig kritisiert. Fredy Fässler, der St. Galler Sicherheitsdirektor, stellt sich nun aber vor die Polizei. Er sagt: «Einen Schuldigen zu suchen, bringt nur eine scheinbare Entlastung. Es gibt Situationen im Leben, in denen man auch Ohnmacht aushalten muss.»

Es ist eine Botschaft an die Kritiker der Polizei, aber es könnte auch eine an die Demonstranten sein. Polizisten berichten von einer zunehmend angespannten Stimmung auf der Strasse.

Mark Burkhard sagt: «Das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Polizei leidet derzeit.» Der Präsident der kantonalen Polizeikommandanten fordert deshalb, dass die Polizei stärker in die politischen Prozesse eingebunden wird. «Am Ende sind es wir, die Massnahmen umsetzen müssen.» Er nennt ein Beispiel: Auf Terrassen dürfte die Maske derzeit nur abgenommen werden, wenn man gerade isst oder trinkt. «Wie soll die Polizei das umsetzen?»

Am Ende hofft auch die Polizei, dass sich die Lage parallel zum Impffortschritt beruhigt. Bis dahin dürfte ihr Vorgehen aber eher strikter als liberaler werden.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/so-wollen-die-kantone-neue-corona-proteste-verhindern-ld.1614931)


+++POLICE USA
NZZ am Sonntag 02.05.2021

Tod durch Hypnose: In der USA tobt ein Streit über heikle Befragungsmethoden der Polizei

In Texas hat die Polizei Zeugen von Verbrechen unter Hypnose gesetzt, deren Aussagen zu Todesurteilen führten. Die Fälle zeigen, wie flüchtig Erinnerungen sind und wie leicht manipulierbar. Die Technik ist nicht nur in den USA verbreitet.

Andreas Mink, New York

Es wird eng für Charles Don Flores. Seit 21 Jahren sitzt der 51-jährige Texaner im Dallas County Jail und kämpft gegen seine drohende Hinrichtung. Jüngst hat das Verfassungsgericht in Washington die Prüfung seines Urteils ohne Kommentar abgelehnt.

«Einen groben Justizirrtum» nennt seine Anwältin Gretchen Sween seinen Fall. Die Strafverteidigerin sitzt in ihrem Büro in Austin am Telefon und klingt manchmal verzweifelt, wenn sie Flores’ Geschichte erzählt. «Ein Polizeibeamter hat die einzige Augenzeugin unter Hypnose gesetzt und ihr suggeriert, sie habe Flores gesehen», sagt sie, «Junk Science» sei das, «unwissenschaftlicher Humbug». Prominente Psychologen unterstützen die Berufungsanträge der Anwältin. Was war passiert?

Unter Hypnose identifiziert

Im Januar 1998 dringen zwei Männer im Morgengrauen am Rand von Dallas in das Haus einer Seniorin ein und erschiessen die Frau bei einem Handgemenge. Die einzige Zeugin ist die Nachbarin Jill Barganier. Sie berichtet den Ermittlern von «zwei schlanken Weissen mit langem Haar». Flores aber ist mächtig gebaut, als «Big Charlie» bekannt, trägt einen Stoppelhaarschnitt und stammt von Maya-Indios ab. Barganier identifiziert ihn nicht auf Fotos – zunächst zumindest. Bei einer ersten Hypnose konstruiert sie eine Zeichnung des Täters, die keinerlei Ähnlichkeit mit Flores aufweist.

Dieser ist mit dem anderen Angeklagten in Drogengeschäfte verwickelt, hat aber für die Tatzeit ein Alibi. Der zweite Mann gesteht den tödlichen Schuss und wird deshalb im Jahr 1999 zu einer langen Haftstrafe verurteilt, von der er 2017 vorzeitig freikommt. Die Suche nach dem zweiten Täter bleibt ergebnislos.

Also greift die Polizei ein Jahr nach der Tat erneut zur Hypnose. Zum Einsatz kommt der im Fall ermittelnde Offizier Alfredo Serna. Er hat die Technik in einem Schnellkurs erlernt und soll Hypnose nur in dieser einzigen Causa anwenden. Laut dem Verhörprotokoll stellt Serna der Zeugin Barganier suggestive Fragen: «War sein Haar kurz und sauber geschnitten?» Er prophezeit: «Du wirst dich später an den Mörder erinnern.»

Nachdem die Ermittler Barganier zweimal Fotos von Flores gezeigt haben, erkennt sie ihn schliesslich bei seinem Mordprozess im Gerichtssaal als den gesuchten Komplizen. Barganier wird zur «Superzeugin», beteuert die Schuld von Flores mit Leidenschaft und beeindruckt damit die Jury so sehr, dass sie Flores des Mordes für schuldig befindet und zum Tode verurteilt – aufgrund der Aussage einer einzigen Zeugin. Das Phänomen des Zementierens von Erinnerungen von «Superzeugen» ist inzwischen unter Richterinnen und Fachleuten bekannt.

Flores ist kein Einzelfall. Vor einem Jahr hat eine Serie der «Dallas Morning News» enthüllt, dass allein das Department of Public Safety (DPS) als Polizeibehörde für den gesamten Gliedstaat seit den 1980er Jahren bei rund 1800 Fällen Hypnose eingesetzt hat. Zwei Drittel davon wurden als «Erfolg» verbucht und führten zu Schuldsprüchen. Mindestens 54 Angeklagte wurden zu Haft verurteilt, 15 zum Tode. 11 wurden bereits hingerichtet. Drei weitere ringen wie Flores noch um ihr Leben.

How Texas law enforcement uses hypnosis
https://www.youtube.com/watch?v=Ql-KUxQV1kw&feature=emb_imp_woyt

Besonders eifrig beim Hypnotisieren waren am DPS die legendären Texas Rangers als Ermittlungseinheit für diffizile Fälle. Hinzu kommt eine kaum überschaubare Zahl von Anwendungen bei kommunalen Behörden in Millionenstädten wie Dallas oder Houston. Allein dort waren laut den «Dallas Morning News» mindestens 38 beziehungsweise 56 Beamte als Hypnotiseure aktiv. Jetzt ist eine politische Debatte um die Methode entbrannt. Sie soll abgeschafft werden.

Experimente aus dem Kalten Krieg

Die Praxis geht bei amerikanischen Polizeibehörden auf die 1970er Jahre zurück. Eine wichtige Inspiration war die Verwendung von Hypnose durch Spezialisten der CIA und des FBI, die im Kalten Krieg mit allerlei Verhörtechniken experimentierten, von Folter über Drogen bis zu psychologischen Tricks. 1976 konnte das FBI einem Zeugen bei einer Kindesentführung unter Hypnose eine wichtige Autonummer entlocken.

Dadurch wurden Beamte landesweit auf die Methode aufmerksam. Als Pionier der zivilen Anwendung gilt der erste Polizeipsychologe der USA Martin Reiser. Er gründete 1976 das Law Enforcement Hypnosis Institute, das über tausend Staatsanwälte, Richter und Polizisten ausbildete. Sein «Handbook of Investigative Hypnosis» wurde zur Bibel von Ermittlern.

In Kalifornien erteilte das höchste Gericht der Praxis aufgrund wissenschaftlicher Gutachten bereits 1982 eine klare Absage: Unter Hypnose gemachte Aussagen seien grundsätzlich «von vorneherein unzuverlässig». Viele Regionen haben den Einsatz dieser suggestiven Techniken anschliessend untersagt.

Polizeibeamte als Hypnotiseure

In Texas kam diese Skepsis jedoch nicht an. Der «Lone Star State» hat seit Ende der 1980er Jahre mindestens 900 Beamten ein Zertifikat als Hypnotiseur verliehen. Praktiker haben mit der Texas Association for Investigative Hypnosis sogar die einzige Standesorganisation dieser Art in den USA gegründet. Ein komplettes Bild konnten die «News»-Reporter nicht ermitteln.

Polizeiämter führten weder systematisch Buch über die Verwendung der Technik, noch veröffentlichten sie die Namen der Hypnotiseure. Anscheinend haben viele Beamte die Kurse besucht und ihre Kunst dann auch praktiziert, ohne jemals ein Zertifikat erworben zu haben. So dürfte die Dunkelziffer der Einsätze deutlich höher liegen.

Fest steht aber mit ziemlicher Sicherheit, dass die Hypnotiseure stets Polizeibeamte waren – nicht etwa unabhängige Gutachter. Bereits das stellt für Fachleute wie den pensionierten Kriminalbeamten Frank Jarvis und den Psychologen Stuart Vyse in Connecticut ein erhebliches Problem dar. Beamte seien naturgemäss auf Fahndungserfolge erpicht – und könnten dabei womöglich auf Abwege geraten und fragwürdige Methoden einsetzen.

In besonders umstrittenen Mordermittlungen griffen Reviere meist als letzte Rettung und nach dem Scheitern landläufiger Methoden zu Hypnose. Die «Dallas Morning News» breiten etliche Fälle aus, in denen Beamte zuvor bei der forensischen Beweisaufnahme gepfuscht oder gänzlich darauf verzichtet hatten.

Polizeiveteran übt Kritk

Ex-Ermittler Jarvis kann bei einer längeren Unterhaltung nur den Kopf schütteln über die Methoden der texanischen Polizei. Der kräftig gebaute Veteran arbeitete bis 2013 drei Jahrzehnte lang bei der Kriminalpolizei: «Ermittlern und Richtern war schon zu Beginn meiner Laufbahn klar, dass bereits Augenzeugenberichte höchst fragwürdig sind», sagt er. Heute gelten diese Aussagen als wichtigste Quelle für Fehlurteile.

Das Gehirn funktioniere keineswegs wie eine Art Kamera, die sämtliche Eindrücke im Lauf eines turbulenten und häufig von allen möglichen Belastungen geprägten Tages festhalte. Schon bei einer Befragung, der erst nach gründlicher Vorbereitung ein eigentliches Verhör auf der Wache folge, seien Beobachter einer Straftat bemüht, Erinnerungslücken mit Erfindungen zu schliessen: «Manche tun das aus Unsicherheit Beamten gegenüber – Polizisten gelten als Respektspersonen.» Andere wollten Nachbarn und Bekannten gegenüber Eindruck schinden: «Ich habe der Polizei geholfen!»

Tatsache sei aber, dass selbst Aussagen zu simplen Details wie Grösse und Kleidung von Personen häufig weit auseinandergingen: «Wir sieben dann aus möglichst vielen Vernehmungen beispielsweise heraus, dass ein Täter rund 1,80 Meter gross war und dunkle Kleidung getragen hat.» Deshalb werde Ermittlern bei der Ausbildung eingebleut, keine Suggestivfragen zu stellen, also Antworten nicht durch die Formulierung einer Erkundigung aufzugleisen.

Eben darin sehen Wissenschafter eine der vier Fallgruben von Hypnose als Ermittlungswerkzeug: Neben der Suggestion sind dies das ebenfalls von Jarvis beschriebene Schliessen von Gedächtnislücken mit Erfindungen sowie der Verlust kritischen Denkens und ein Phänomen, dass Experten als «Zementierung von Erinnerungen» beschreiben: Unter Hypnose produzierte Aussagen graben sich derart fest ins Bewusstsein ein, dass Zeugen jeden Zweifel daran verlieren.

Um diese Fallgruben zu vermeiden, kann Jarvis nur empfehlen: «Ermittler müssen ihre Hausaufgaben machen, sämtliche verfügbaren Beweise überprüfen und dann Zeugen und Verdächtige mehrfach und nach allen Regeln der Kunst befragen.» Doch selbst dann brauche es jahrelange Erfahrung, um ein breites Register von Verhörmethoden wie die Veränderung der Stimmlage, subtile Einschüchterung durch ein körperliches Naherücken oder strategisches Schweigen zu entwickeln: «Das lockert auch hartgesottenen Leuten die Zunge.» Selbst falsche Geständnisse hat er mehrere erlebt. Sie wirken erleichternd.

Der Psychologe Stuart Vyse von der University of Rhode Island stimmt den Aussagen von Jarvis zu. Die den Erinnerungen zugrunde liegenden physiologischen Prozesse im Gehirn seien noch nicht ganz geklärt, das Gedächtnis funktioniere aber keineswegs wie eine Art Rekorder, der jederzeit abrufbare, klare Eindrücke von Geschehnissen festhalte und speichere. Vielmehr erforsche die Wissenschaft komplexe Prozesse der Kodierung und Abrufung von Erinnerungen.

Aus der Flut täglicher Eindrücke und Emotionen werde nur eine geringe Zahl im Gedächtnis kodiert – also überhaupt als Gedächtnisinhalt festgehalten und im Hippocampus des Gehirns abgelegt. Auch beim Abrufen von Erinnerungen gebe es noch Fragen. Vyse verweist auf die bahnbrechende Arbeit der amerikanischen Erinnerungsforscherin Elizabeth Loftus.

Diese hat die Manipulierbarkeit von Erinnerungen bereits in den 1970er Jahren mit simplen Beispielen demonstriert: Wurden Zeugen von Verkehrsunfällen gefragt, wie schnell ein Auto in ein anderes «hineingekracht» sei, brachte diese deutlich höhere Geschwindigkeitsschätzungen hervor als bei der Frage nach «Kontakten» zwischen den Fahrzeugen: «Hier wurde klar, dass ‹Erinnerungen› erst durch Worte Form annehmen», sagt Vyse.

Er charakterisiert Hypnose gerade bei wiederholten Sitzungen als effektive Methode, um Menschen Erinnerungen einzupflanzen. Die Frage etwa, ob ein Verdächtiger einen Hut getragen habe, kann zu der entsprechenden Einbildung führen. Jarvis hat in seiner langen Praxis wiederholt Fälle von Selbstbezichtigungen ohne jede Basis in der Realität erlebt.

Ihm und Vyse fällt die Hysterie der 1980er und 1990er Jahre um eine angebliche Welle von krassem Kindesmissbrauch an amerikanischen Schulen und Tagesstätten ein. Dafür wurde teilweise ein Satanistenkult verantwortlich gemacht. Die entsprechenden Anschuldigungen entpuppten sich später als reines Ergebnis suggestiver Fragen.

Vyse hat dieses Massenphänomen jüngst in einer Fachzeitschrift mit QAnon in Verbindung gebracht. Auch dieser Kult beruht auf der Imagination weit verbreiteten Kindesmissbrauchs durch Satanisten, nur eben im elitären «Sumpf» von Washington. Daneben kritisiert der Psychologe weitere Polizeimethoden als «Pseudowissenschaft». Tatsächlich sind Richter inzwischen etwa bei Lügendetektoren misstrauisch.

Reformen kommen zu spät

Flores’ Fall wurde erst 2016 in der Öffentlichkeit bekannt. So lange hatte es gedauert, bis die texanische Justiz ein Hinrichtungsdatum für ihn angesetzt hatte. Flores, seine Anwältin und die auf Justizirrtümer spezialisierte Stiftung Innocence Project legten Berufung ein. Die Richter in dem Verfahren bezeichneten Hypnose zwar ebenfalls als völlig unzuverlässig, liessen das Todesurteil jedoch selbst dann bestehen, als ein Verhörbeamter Zweifel an der Aussage der Belastungszeugin geäussert hatte. Der demokratische Staatssenator Juan Hinojosa brachte 2018 ein Gesetz zum Verbot der Praxis in Texas ein. Doch es brauchte die «News»-Serie, um im erzkonservativen Texas Politiker beider Parteien zu mobilisieren.

Vergangene Woche hat der Staatssenat in Austin einstimmig ein Gesetz verabschiedet, das die Zulassung von unter Hypnose gemachten Aussagen von Opfern oder Augenzeugen bei Strafverfahren untersagt. Die texanische Justizbehörde hat ihr seit 1980 betriebenes Hypnoseprogramm eingestellt. Auch die Texas Rangers und die Polizei in Dallas und Houston haben den lebensgefährlichen Humbug aufgegeben. In der Hälfte der US-Gliedstaaten sind unter Hypnose herbeigeführte Aussagen jedoch weiterhin zugelassen. Rätselhaft bleibt die Haltung von CIA und FBI zum Einsatz von Hypnose. Die Sicherheitsbehörden verweigern auf Fragen dazu von jeher jegliche Antwort.

Für Todeskandidaten wie Charles Don Flores kommen alle Reformen zu spät. Das neue Gesetz soll nicht rückwirkend gelten. Wieder klingt seine Anwältin verzweifelt, wenn sie sagt: «Wir haben gerade noch einmal umfangreiche Schriftsätze beim zuständigen Gericht in Texas eingereicht, um Flores doch noch vor dem Tod zu bewahren.» Die Justiz von Texas will bald einen Termin für seine Hinrichtung ansetzen. Dann wird Flores sterben.



Forensische Hypnose: Auch bei Schweizer Behörden ein Thema

Von Rafaela Roth

An die grosse Glocke hängt das niemand, doch forensische Hypnose ist auch bei Strafverfolgungsbehörden im deutschsprachigen Raum ein Thema. Gegenüber der «Süddeutschen Zeitung» teilte das Bayerische Landeskriminalamt kürzlich mit, dass der Einsatz von Hypnosetechniken nur bei schwerwiegenden Straftaten und als Ultima Ratio in Betracht komme. Und auch in der Schweiz erhofft sich die Polizei manchmal neue Hinweise durch Hypnose.

Ein in der Region Zürich tätiger Hypnosetherapeut erklärt gegenüber der «NZZ am Sonntag», er werde zwischen ein und fünf Mal pro Jahr von Schweizer Strafverfolgungsbehörden für forensische Hypnosen engagiert. Die Behörden würden in Fällen, die seit langem stecken bleiben, Opfer oder Zeugen einer Straftat für eine Sitzung zu ihm schicken. «Die Präzision der Erinnerung ist in Trance eine andere», sagt der Therapeut mit kriminalpsychologischer Weiterbildung. Die Polizei erhoffe sich durch seine Arbeit neue Hinweise oder eine Neubewertung der Spurenlage. Die Polizei sei in den Sitzungen nicht anwesend, die Erkenntnisse daraus flössen ausschliesslich in die Ermittlungen ein und könnten vor Gericht nicht verwendet werden, sagt er. Suggestion sei nicht erlaubt.

Die Zürcher Staatsanwaltschaft und die Kantonspolizei erklären auf Anfrage, keine Kenntnis von Fällen zu haben, in denen Hypnose angewendet wurde. Es sei aber nicht auszuschliessen, dass sich mögliche Opfer aus eigenem Antrieb in Behandlung eines Hypnosetherapeuten begäben, um allfällige Blockaden zu lösen, sagt ein Sprecher der Kantonspolizei. Auch Michael Liebrenz vom Forensisch-Psychiatrischen Dienst der Universität Bern hat keine Kenntnis von aktuellen Fällen.

Liebrenz beschäftigt sich mit allen möglichen Befragungstechniken. «Obwohl nicht alle Untersuchungen einheitliche Ergebnisse erzielt haben, konnte mehrfach gezeigt werden, dass gelegentlich sogar eine Zunahme von falschen Erinnerungen nach einer Hypnose beobachtet wird», sagt er. Das bringe Bedenken in Hinblick auf die Anwendung in Strafverfahren mit sich. Eine Anwendung in alten Fällen kann er nicht ausschliessen.
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/hypnose-bei-polizei-befragung-in-usa-aber-auch-in-der-schweiz-ld.1614898)


+++HISTORY
aargauerzeitung.ch 02.05.2021

Umstrittenes Jubiläum: Napoleon erfand die moderne Schweiz – doch an seinem 200. Todestag wird er mit Rassismusvorwürfen eingedeckt

Er war eine der prägendsten Figuren der Geschichte. Napoleon wurde schon immer kontrovers beurteilt – von den einen als Freiheitskämpfer verehrt, von den anderen als Despot verdammt. Jetzt kommt ein bisher kaum beachteter Teil seines Wirkens ans Licht.

Stefan Brändle aus Paris

Dass auf Schweizer Strassen heute Rechtsverkehr herrscht, verdanken wir Napoleon Bonaparte. Ebenso das CH-Schild am Auto. Oder das gesamte Zivilrecht. Kantone wie der Aargau oder die Waadt, nach Expertenmeinung sogar die ganze Schweiz gäbe es nicht ohne den korsischen Feldherrn, der 1798 die Helvetische Republik und 1803 die Mediationsakte schuf. Historiker Thomas Maissen nennt ihn schlicht den «Erfinder der modernen Schweiz».

Bloss hatte der illusterste aller Franzosen auch seine Schattenseiten. An der Beresina verheizte er 1812 mehr als tausend Schweizer Soldaten, um die letzten Reste seiner Grande Armée über den weiss­russischen Fluss zu retten. «Ogre», Menschenfresser, nennen ihn einige in Frankreich, wo im Verlauf der Napoleonischen Kriege mehr als eine Million Soldaten das Leben liessen.

Eher nostalgische Landsleute sehen in ihm dagegen den Schöpfer der «Grande Nation». Die Debatte wogt seit seinem Tod am 5. Mai 1821, und sie schwächt sich kaum ab. Im französischen Volk bleibt Napoleon I. so populär wie anno 1815, als er aus seiner ersten Verbannung auf der Insel Elba zurückkehrte und im Triumph nach Paris zog, bevor er sein sprichwörtliches Waterloo erlebte. Die Illustrierte «Paris-Match» formuliert die gemischten Gefühle der Franzosen in Zeiten der Covid-19-Krise: «Napoleon war ein Tyrann. Aber er hätte uns binnen eines Monats geimpft.»

Jetzt, zu Napoleons 200. Todestag, rückt ein brandaktueller Aspekt in den Vordergrund: Die Wiedereinführung der Sklaverei in den französischen Kolonien durch Bonaparte, wie er damals noch hiess. Louis-Georges Tin, Ehrenpräsident des Dachverbandes schwarzer Organisationen in Frankreich (CRAN), erklärte unlängst, im Lebenswerk des nachmaligen Kaisers klaffe «nicht nur ein Makel oder ein Irrtum, sondern ein Verbrechen».

Die aus Haiti stammende Historikerin Marlene L. Daut schreibt in der «New York Times», Napoleon habe keinerlei Gedenkfeier verdient. Mit Bezug auf die US-Bewegung «Black Lives Matter» führt sie aus, für Napoleon hätten «schwarze Leben weniger gezählt» als seine Eroberungen und zivilen Errungenschaften.

War Napoleon ein Kolonialist, Rassist, ja ein Sklaventreiber? Auf jeden Fall ein Kind seiner Zeit. «Ganz einfach, ich bin für die Weissen, weil ich weiss bin», sagte er, um zu höhnen, die Afrikaner seien so unzivilisiert, dass sie nicht einmal wüssten, «was Frankreich ist».

Die Bonapartisten geben zu bedenken, ihr Idol habe in seinen Armeen auch Dunkelhäutige bis in den Generalsrang befördert, etwa den Vater des Schriftstellers Alexandre Dumas. Doch das wiegt wenig im Vergleich zur Wiedereinführung der Sklaverei im Jahr 1802. Die Französische Revolution hatte sie erst acht Jahre zuvor abgeschafft und damit Hunderttausenden von Geknechteten auf der ganzen Welt Hoffnung, wenn nicht die Freiheit gegeben. Bonaparte verschärfte aber sogar den furchtbaren «Code Noir» (Schwarzes Gesetz), der die importierten Sklaven Möbelstücken gleichstellte.

Napoleon bestrafte sich damit selbst. Er unterschätzte die Wirkung seiner Anordnung völlig. In Haiti und anderen französischen Besitzungen der Antillen waren 1794 zahllose afrikanische Sklaven freigekommen. Es war die schönste, sichtbarste und effektivste Umsetzung des Gleichheitsgebotes der Französischen Revolution. Zu deren Folgen kommen wir später.

Dass Napoleon die Ketten in den Ko­lonien wieder hervorholen liess, hatte ­handfeste wirtschaftliche und geostrate­gische Gründe. Saint-Domingue – heute Haiti – galt als Juwel des französischen Kolonialreichs; es produzierte fast die Hälfte der Weltproduktion an Baumwolle, Kaffee und Zucker.

Genauer gesagt die 450 000 Sklaven von Saint-Domingue. Diese Inselhälfte in den Antillen war der Hauptsklavenmarkt Amerikas, genährt durch un­menschliche Bedingungen – wegen Todesfällen mussten jedes Jahr etwa 36000 Afrikaner herbei­geschifft werden. Allem voran wegen des rentablen Zuckerrohrs verfügten die Pflanzerdynastien – denen auch Bonapartes Gattin Joséphine de Beauharnais entstammte – in Paris über eine mächtige Lobby.

Die Sklaven organisierten den Aufstand

Der nachmalige Kaiser hatte auch ein persönliches Motiv, die Sklaverei wieder zuzulassen. Haiti bildete den Mittelpunkt seiner Amerika-Pläne, die er nach dem Scheitern seines Ägypten-Feldzugs wälzte.

So wollte er den gesamten Golf von Mexiko in einen «lac français», einen französischen See, verwandeln. Dazu gehörten das prosperierende Haiti, weitere Karibikinseln wie Guadeloupe und Martinique, aber auch die französische Gründung La Nouvelle-Orléans, heute New Orleans. Die Stadt galt den Franzosen als Tor zum endlosen Mississippi-Einzugsgebiet im Norden.

Aber eben: Vom revolutionären Freiheitsatem erfasst, liessen sich die Sklaven von Saint-Domingue nicht länger unterjochen. Trotz furchtbarer Strafdrohungen organisierten sie den Aufstand. Bonaparte schickte dagegen über 20 000 Mann auf die Karibikinsel. Sie massakrierten die Rebellen, hetzten Bluthunde auf sie, entwickelten in den Schiffsbäuchen sogar eigentliche Gaskammern, in denen Gefangene mit Schwefeldioxid umgebracht wurden.

Mit einem Verrat gelang es Bonapartes Offizieren, den schwarzen General François-Dominique Toussaint Louverture festzunehmen. Der Freiheitsheld wurde nach Frankreich abtransportiert und starb ein Jahr später in einem Verliess im Jura. In Haiti rieb das Gelbfieber derweil die französischen Truppen auf. In der Schlacht von Vertières im Norden der Insel gab ihnen eine schlecht ausgerüstete Sklavenarmee den Rest. Die letzten Franzosen segelten nach Hause.

Napoleon interessierte sich zu wenig für Amerika

In den Chroniken der Napoleonischen Kriege findet diese Schlacht jeweils kaum Erwähnung. Dabei hatte sie gewaltige, ja globale Folgen. Nach dem ersten erfolgreichen Sklavenaufstand der Neuzeit wurde Haiti 1804 unabhängig, und von Brasilien bis in die USA begehrten Sklaven auf.

Napoleon wiederum brach sein Nordamerika-Abenteuer ab: Er verkaufte La Nouvelle-Orléans und ganz «Louisiane» – das einem Gebiet von 14 US-Staaten bis an die kanadische Grenze entspricht – für den lächerlichen Betrag von 15 Millionen Dollar an die jungen USA.

Mit dem Geld im heutigen Gegenwert von 250 Millionen Dollar wollte der rast­lose Franzose seine nächsten Feldzüge in Europa finanzieren. Aus der eurozentrierten Sicht jener Zeit war das vielleicht nachvollziehbar. Doch man stelle sich vor, Napoleon hätte sich in Kontinentaleuropa mit dem Erreichten zufriedengegeben und dafür das riesige Territorium westlich des Mississippi gesichert und entwickelt. Einige Cowboys würden heute Französisch sprechen …

Der Franzose hatte seinen amerikanischen Traum wenig durchdacht. Indem er die Sklaverei 1802 wieder einführte und die Geknechteten in die Revolte trieb, verlor er am Ende nicht nur eine strategische Kolonie, sondern auch das zwei Millionen Quadratkilometer grosse «Louisiane». Nicht gerade ein Ruhmesblatt. Von einem Sklavenheer besiegt, nachdem er Ägypten und dann Nordamerika verloren hatte, liess aber Bonaparte in Paris gar nicht erst Kritik aufkommen: 1804, ein Jahr nach dem «Louisiana Purchase», dem Verkauf der nordamerikanischen Besitzungen, krönte sich der kleine Korse in Paris selber zum Kaiser.

In den folgenden Jahren verlor er auch seine europäischen Eroberungen; 1821 starb er auf Sankt Helena. Zu seinem Vermächtnis gehört, dass die Sklaverei in Frankreich erst ein Vierteljahrhundert später definitiv abgeschafft wurde.
(https://www.aargauerzeitung.ch/leben/umstrittenes-jubilaeum-napoleon-erfand-die-moderne-schweiz-doch-an-seinem-200-todestag-wird-er-mit-rassismusvorwuerfen-eingedeckt-ld.2131377)