Themen
– Syrischer Geflüchteter auf Lesbos zu 52 Jahren Haft verurteilt
– Sea-Watch und Ocean Viking retten hunderte Menschen im zentralen Mittelmeer, mindestens 27 Menschen sterben auf maritimen Fluchtrouten
– #ShutDownORS: Berner Regierung stellt sich hinter die ORS
– Griechenland: keine Bildung für Kinder in Camps, Geld von Deutschland nur für Abgeschobene
– Moderne Versklavung in Süditalien
– Kurzes und knackiges Merkblatt zu Grund- und Menschenrechten in Asylcamps
– Weitere Vorwürfe gegen Frontex erhoben
– Kopf der Woche: Adolf Muschg
– Über 500 aufnahmebereite Städte in Europa bilden Gegengewicht zur Abschottungspolitik
– Erster Newsletter der Balkanbrücke
– Dem Frontex-Fotowettbewerb realistische Bilder der EU-Aussengrenzen entgegenstellen
– Kirchenasyl in Deutschland und der Schweiz
– Sans-Papiers Block an der 1. Mai-Demo in Basel
Printversion Antira_Wochenschau_03.05.21
Was ist neu?
Syrischer Geflüchteter auf Lesbos zu 52 Jahren Haft verurteilt
Sea-Watch und Ocean Viking retten hunderte Menschen im zentralen Mittelmeer, mindestens 27 Menschen sterben auf maritimen Fluchtrouten
https://www.infomigrants.net/en/post/31862/death-toll-in-canary-islands-boat-tragedy-rises-to-24
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-04/eu-aussengrenzen-fluechtlinge-kanaren-17-leichen-fluechtlingsboot
https://www.infomigrants.net/en/post/31804/some-100-migrants-try-to-swim-to-spain-s-ceuta-enclave
Was geht ab beim Staat?
#ShutDownORS: Berner Regierung stellt sich hinter die ORS
Es ist eine Niederlage. Wiederholt machten geflüchtete und nicht-geflüchtete Aktivist*innen und solidarische Organisationen darauf aufmerksam, dass die ORS AG in den von ihr verwalteten Asylcamps Menschen einer Covid-Gefahr aussetzt. Die Petition #ShutDownORS wollte, dass der ORS AG Leistungsaufträge entzogen werden. Der Regierungsrat hat nun die Petition abgeschmettert.
Der Regierungsrat weist die Kritik zurück und lobt die ORS AG: „Nach einer umfassenden Auseinandersetzung mit den von Ihnen vorgebrachten Vorwürfen stützt und würdigt der Regierungsrat die Arbeit der ORS. (…) Der in den vergangenen Monaten zunehmend ideologisch getriebenen und inhaltlich nicht haltbaren Verunglimpfung der ORS (…) verwehrt sich der Regierungsrat klar.“
Den geforderten Auftragsentzug lehnt die Berner Regierung „in aller Deutlichkeit ab“. Ein wichtiger Vorwurf der in den Camps isolierten Personen der Gruppe „Stopp Isolation“, die die Petition zusammen mit dem Migrant Solidarity Network und den Demokratischen Jurist*innen Bern lanciert hatten, richtete sich gegen den Mangel an Einzelzimmern für die BAG-konforme Isolation bzw. Quarantäne von COVID-erkrankten Personen und jenen, die engen Kontakt zu Erkrankten hatten. Zudem wurde die dezentrale Unterbringung gefordert.
Inhaltlich äussert sich der Regierungsrat nicht hierzu. Es ist nicht ersichtlich, ob und wie der Regierungsrat die aufgeführten Punkte geprüft hat. Er schreibt nur: „Sich in Isolation oder Quarantäne befindende Zentrumsbewohnerinnen und -bewohner können separate Sanitäranlagen nutzen.“ Und: „Seit längerer Zeit existiert die Möglichkeit, dass Personen mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid bei Privatpersonen untergebracht werden. Die von Ihnen geforderte Möglichkeit der dezentralen Unterbringung besteht folglich bereits“. Dass diese auch eine erkämpfte Errungenschaft der betroffenen Menschen darstellt, wird mit keiner Silbe erwähnt.
Die Leichtigkeit und Dreistheit mit der die Regierung mit den Forderungen umgehen, zeigt beispielhaft, wie entrechtet Menschen mit negativem Asylentscheid in der Schweiz sind und wie sie politisch geschwächt werden.
Antwort auf Petition: https://www.rr.be.ch/rr/de/index/rrbonline/rrbonline/suche_rrb/beschluesse-detailseite.gid-f5f7bb23f85e40ffbec3d24757c92f3f.html
https://www.derbund.ch/firma-ors-geniesst-volles-vertrauen-der-berner-regierung-928232847375
Was ist aufgefallen?
Griechenland: keine Bildung für Kinder in Camps, Geld von Deutschland nur für Abgeschobene
In den griechischen Camps haben die Kinder keine Chance auf Bildung. Deutschland will nun die Lebensbedingungen von geflüchteten Menschen durch finanzielle Unterstützung verbessern, jedoch nur für jene, die von Deutschland nach Griechenland abgeschoben werden.
Die Kinder von geflüchteten Menschen, welche sich in den Camps Griechenlands aufhalten, haben kaum Zugang zum Schulsystem. Während der Corona-Pandemie ist die Zahl der Kinder, welche keinen Zugang zu Bildung haben, drastisch gestiegen. Viele konnten während des letzten Jahres nicht am Unterricht teilnehmen, die meisten hatten jedoch gar nie die Chance, überhaupt bei einer Schule angemeldet zu werden. Die Organisation Refugee Support Aegean (RSA) hat zwischen Januar und Februar 2021 Befragungen durchgeführt und einen ausführlichen Bericht über die Situation verfasst. Darin beschreiben sie die Problematik der fehlenden Bildung sehr detailliert.
Das Recht auf Bildung ist «nur» eines von vielen Menschenrechten, dass in der Migrationspolitik und den Camps verletzt wird. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen lehnen deutsche Gerichte die Rückführung von geflüchteten Menschen nach Griechenland meist ab. Migrant*innen drohen dort Obdachlosigkeit und absolute Armut. Sie haben keine Chance auf ein würdiges Leben. Es gibt nicht einmal die Chance, ein Existenzminimum aufzubauen. Nun hat Deutschland Griechenland angeboten, für «die ordentliche Unterbringung und Versorgung zurückgeschickter Flüchtlinge» aufzukommen. Wie genau dies aussehen würde, ist noch unklar. Jedoch scheint es, als hätte Deutschland nicht das Ziel, die Lebensbedingungen für flüchtende Menschen im Allgemeinen zu verbessern. Die Tatsache, dass sie spezifisch die Unterbringung derjenigen verbessern wollen, die nach Griechenland abgeschoben wurden, zeigt, dass es nur darum geht, Abschiebungen nach Griechenland wieder zu ermöglichen und die Menschen somit aus Deutschland zu entfernen. Was dabei mit all den anderen Menschen in den Camps passiert, kümmert sie nicht. Es geht nicht um ernsthafte Unterstützung, sondern ist letztlich reine Heuchelei.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/griechenland-athen-fluechtlinge-kostenuebernahme-asylbewerber-rueckfuehrung-bundesregierung
https://www.proasyl.de/news/kein-recht-auf-bildung-fluechtlingskinder-in-griechenland/
https://rsaegean.org/en/excluded-and-segregated-the-vanishing-education-of-refugee-children-in-greece
Moderne Versklavung in Süditalien
Die katastrophale Situation der schwarzen Erntehelfer*innen in Süditalien hat sich durch die Pandemie weiter verschlechtert.
In San Ferdinando, Kalabrien werden Schwarze Erntearbeiter*innen sich selber überlassen. Die staatliche Unterstützung wurde im März eingestellt, selbst Lebensmittellieferungen sind rar. Ca. 800 von ihnen leben in einer ‚Zeltstadt‘, die ursprünglich für 400 Menschen vorgesehen war. Es gibt vier Toiletten. Die Zelte teilen sie sich teilweise zu sechst oder zu acht, was auch ohne Pandemie unmenschliche Bedingungen wären. Aber nun erwischte es zusätzlich mit jeder Corona-Welle die Bewohner*innen von ‚tendopoli‘ und auch vom Barackenlager von Rosarno. Das Virus breitete sich schnell aus, Isolation war kaum möglich. Die Lager wurden unter Quarantäne gestellt, genauer: alle Menschen darin eingesperrt, auch die negativ getesteten. Nahrungsmittel wurden irgendwann von der Caritas gebracht, nachdem staatliche Behörden komplett versagt hatten. Die öffentliche, medizinische Versorgung befindet sich auch aufgrund der Unterwanderung von der Mafia in einem katastrophalen Zustand. So müssen Hilfsorganisationen einspringen, die kostenlose medizinische Dienste anbieten. Da es in der Gegend keinen ausgebauten öffentlichen Verkehr gibt, übernehmen Kleinbusse der Organisationen die Fahrten. Vor allem Rückenprobleme durch das Schleppen von zum Teil 50 Kilo schweren Orangenkisten und Magen-Darmerkrankungen durch das schlechte Essen seien verbreitete Beschwerden.
Die bis zu 3.000 migrantischen Arbeitskräfte in San Ferdinando und Rosarno befinden sich seit Jahren in Ausbeutungsverhältnissen moderner Versklavung. Bis zu 14 Stunden am Tag arbeiten sie für einen Stundenlohn à zwei Euro, obwohl der gesetzliche Mindestlohn 50 Euro täglich vorschreibt. Während der Pandemie hat sich die Lage noch verschlimmert: die Angst sich anzustecken ist gross, doch die Angst ein positives Testresultat zu erhalten und damit ihre Arbeit zu verlieren, ist grösser.
Kurzes und knackiges Merkblatt zu Grund- und Menschenrechten in Asylcamps
Angesichts der Gewalt, denen Menschen in Asylcamps ausgesetzt sind, erinnern wir hier daran, dass die Menschen- und Grundrechte theoretisch auch dort gelten. Die Behörden und die privaten Unternehmen wie ORS, Securitas oder Protectas, die diese Gewalt organisieren und ausüben, wären an sich verpflichtet, die Rechte auf Grundversorgung, Privat- und Familienleben, Bewegungsfreiheit, Gesundheit, Religionsfreiheit, Zugang zu Rechtsberatung, Rechtsgleichheit sowie zu spezifischeren Rechten von Kindern, Frauen, LGBTIQ-Personen oder Opfern von Menschenhandel zu garantieren. Kritische Jurist*innen schreiben in einer neuen Broschüre, was gelten sollte: „Der Staat darf die Grund-und Menschenrechte von Individuen nicht aktiv verletzen. (…) Der Staat muss Menschen auch vor Übergriffen durch andere Privatpersonen (z.B. Unternehmen) schützen. (…) Der Staat kann auch verpflichtet sein, bestimmte Leistungen zu erbringen, um die Realisierung von Grund- und Menschenrechten zu gewährleisten.“ Dass der Staat dies nicht tut, wissen alle, die in Camps leben oder den betroffenen Menschen zuhören. Im Merkblatt finden sich juristische Argumente, Prinzipien und Gesetzesartikel, die im Widerstand gegen diese Zustände nützlich sein können.
https://www.plattform-ziab.ch/wp-content/uploads/2021/04/Handout_AustauschtreffenZiAB_2021_DE.pdf
Weitere Vorwürfe gegen Frontex erhoben
Frontex verzögert Rettungsaktionen, um die Koordinaten direkt an die sog. libysche Küstenwache weiterleiten zu können.
Der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex wird seit Monaten die Beteiligung an illegalen Push-Backs von flüchtenden Menschen in der Ägäis vorgeworfen. Nun zieht der Skandal weitere Kreise. Frontex’ Praxis, vor allem Flugzeuge und nicht Schiffe einzusetzen, entstand, um Boote orten, aber die Menschen an Bord nicht retten zu müssen. So kontrolliert Frontex die Flucht- und Migrationswege, aber gibt daraufhin anderen Akteur*innen die Aufgabe, diese Menschen aus Seenot zu holen. Am liebsten gibt Frontex die Koordinaten von Booten an die sog. libysche Küstenwache weiter und lässt diese die Arbeit erledigen. Denn für europäische Behörden wäre es illegal, Menschen zurück in das Bürgerkriegsland Libyen zu bringen. In einer Recherche von mehreren Medienpartner*innen wurde anhand Gesprächen mit libyschen Grenz-Offizieren deutlich, dass diese WhatsApp-Nachrichten mit Koordinaten von Booten erhalten, die sie daraufhin nach Libyen zurückschleppen. Während der Recherche wurden Flugrouten der Frontex-Flugzeuge mit den Rückführungen der sog. libyschen Küstenwache und den Daten von Handelsschiffen in unmittelbarer Nähe verglichen. Hierbei wurde deutlich, dass die Handelsschiffe nicht über die Boote in Seenot informiert wurden, obwohl sie Menschen an Bord hätten nehmen können. Am 14. März 2020 z.B. geschah genau dies: ein Boot mit 50 Menschen an Bord gerät in der maltesischen Such- und Rettungszone auf dem zentralen Mittelmeer in Seenot, ein Flugzeug von Frontex sichtet das, die Seenotleitstellen in Italien und Malta sind informiert, Handelsschiffe in der Nähe, doch erst nach zehn Stunden taucht die sog. libysche Küstenwache auf, um die Menschen zurückzuschleppen. Und dies geschah seit Januar 2020 in mindestens zwanzig Fällen. Bei diesem von der EU eingerichteten System der Verzögerung starben bereits über neunzig Menschen. Und über 4500 Menschen wurden so im Jahr 2021 in das Elend und die Folterlager Libyens zurückgebracht – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Frontex muss endlich Folgen tragen für sein (unterlassenes) Handeln!
https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/frontex-rueckfuehrungen-libyen-101.html
https://www.derstandard.at/story/2000126274622/berichte-werfen-frontex-direkte-absprachen-mit-libyscher-kuestenwache-vor?ref=rss
Kopf der Woche
Adolf Muschg
Der Moderator Yves Brossart antwortete zwar auf den zweiten Teil seiner Intervention: „Ja, die Gegenseite würde natürlich sagen, dahinter stecken Jahrhunderte, Jahrtausende Leidensgeschichten, jetzt der schwarzen Bevölkerung, der Frauen auch, und es ist nichts als anständig, da irgendwie hinzustehen und für Anstand zu sorgen, und die Leute auch zu Rechenschaft zu ziehen.“, doch auf den Auschwitzvergleich reagierte er nicht.
Muschgs Auschwitzvergleich mit der sogenannte Cancel-Culture ist problematisch: Das Judenexterminisierungsprojekt mit dem, was er als Gesprächsverweigerungskultur phantasiert, gleichzusetzen, ist absurd, falsch und banalisiert den Holocaust. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) warnte schon letzten November davor, dass derzeit „in der Schweiz in der politischen und gesellschaftlichen Debatte unangebrachte Vergleiche zum nationalsozialistischen Regime und zur Verfolgung und Ermordung der Juden während des Holocausts“ zunehmen.
Der SIG bezog sich dabei zwar auf holocaustbanalisierende Kritiken und Proteste „gegen die vom Bundesrat und den Kantonsregierungen erlassenen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“, doch im Falle Muschgs beruft sich der Auschwitzvergleich auf dieselbe libertäre Rhetorik wie die Coronaskeptiker*innenbewegung: Jegliche Infragestellung des individuellen Benehmens wird als faschistoid und freiheitsbedrohend dargestellt, und kann aus ihrer Sicht damit mit Auschwitz verglichen werden. Dass Muschg sich auch nach der Sendung für seine Aussagen nicht entschuldigen wollte und mit dem „man-kann-heute-nichts-mehr-sagen“-Argument kam, passt perfekt in dieses Schema, in dem sich Unterdrücker*innen als Unterdrückte darstellen.
Ganz im Gegenteil zu dem, wie sich Coronaskeptiker*innen oder Muschg selbst beschreiben, ist diese Rhetorik nicht systemkritisch oder progressiv, sondern bestärkt dominante Gesellschaftsstrukturen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/umstrittene-aussage-des-autors-muschg-kommt-seiner-rolle-als-intellektuelle-stimme-nicht-nach
https://www.swissjews.ch/de/news/sig-news/aufruf-zum-verzicht-auf-holocaustvergleiche/?fbclid=IwAR2lJ5YuesGotX5YBKIusFItei1kzWuWrzFFeunWc7CA-2HXUnzfTYx-6Yc
Was war eher gut?
Über 500 aufnahmebereite Städte in Europa bilden Gegengewicht zur Abschottungspolitik
Was nun?
Erster Newsletter der Balkanbrücke
https://cloud.balkanbruecke.org/s/MrgqCcCMZDpMTtH?dir=undefined&openfile=73504
Dem Frontex-Fotowettbewerb realistische Bilder der EU-Aussengrenzen entgegenstellen
Wo gabs Widerstand?
Kirchenasyl in Deutschland und der Schweiz
Sans-Papiers Block an der 1. Mai-Demo in Basel
Was steht an?
NO WEF Frühligsquartier
Dieses Jahr findet, statt des No-WEF-Winterquartiers, ein Frühlingsquartier statt. Es gibt Online-Veranstaltungen über politische Bewegungen (z.B Seebrücke, Basel Nazifrei…). Gleichzeitig findet (im Freien) eine Ausstellung mit aufgezeichneten Interviews von Genoss*innen über laufende internationale Kämpfe statt. Es wird also spannend! Zeigen wir in Zeiten der Pandemie unsere Solidarität & setzen so ein Zeichen für die, die im Moment Widerstand leisten! Weitere Informationen gibt es bald auf winterquartier-bern.ch.
Lesens -/Hörens -/Sehenswert
Aktivistin über Tote im Mittelmeer: „Das war kein Bootsunglück“
Lara Dade von Alarmphone war in Kontakt mit 130 vor Libyen ertrunkenen Flüchtlingen. Obwohl EU und Küstenwachen informiert waren, halfen sie nicht.
https://taz.de/Aktivistin-ueber-Tote-im-Mittelmeer/!5768995/