Holocaustvergleich im SRF, Schutz für die ORS, Tote an den Grenzen

Zwei junge Migranten erreichen schwimmend den Strand der Enklave Ceuta.
Zwei junge Migranten erreichen schwimmend den Strand der Enklave Ceuta.

Themen

– Syrischer Geflüchteter auf Lesbos zu 52 Jahren Haft verurteilt
– Sea-Watch und Ocean Viking retten hunderte Menschen im zentralen Mittelmeer, mindestens 27 Menschen sterben auf maritimen Fluchtrouten
– #ShutDownORS: Berner Regierung stellt sich hinter die ORS
– Griechenland: keine Bildung für Kinder in Camps, Geld von Deutschland nur für Abgeschobene
– Moderne Versklavung in Süditalien
– Kurzes und knackiges Merkblatt zu Grund- und Menschenrechten in Asylcamps
– Weitere Vorwürfe gegen Frontex erhoben
– Kopf der Woche: Adolf Muschg
– Über 500 aufnahmebereite Städte in Europa bilden Gegengewicht zur Abschottungspolitik
– Erster Newsletter der Balkanbrücke
– Dem Frontex-Fotowettbewerb realistische Bilder der EU-Aussengrenzen entgegenstellen
– Kirchenasyl in Deutschland und der Schweiz
– Sans-Papiers Block an der 1. Mai-Demo in Basel

Printversion Antira_Wochenschau_03.05.21

 




Was ist neu?

Syrischer Geflüchteter auf Lesbos zu 52 Jahren Haft verurteilt
In einem unfairen Verfahren wurde ein Mann von den griechischen Behörden zu einer hohen Haftstrafe verurteilt, weil er ein Boot mit geflüchteten Menschen von der Türkei nach Griechenland gesteuert haben soll. Das Gericht verurteilt damit stellvertretend die Migration nach Europa im Allgemeinen.
 
K. S. war mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Syrien in die Türkei geflohen. Da er dort den Militäreinsatz für die Türkei verweigerte, wurde er inhaftiert und gefoltert, woraufhin er mit seiner Frau und drei Kindern weiter nach Griechenland floh. Die Familie erreichte im März 2020 die griechische Insel Chios. Zu dieser Zeit hatte Griechenland im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung mit der Türkei allen Ankommenden unrechtmässig das Recht verweigert, ein Asylgesuch zu stellen. Anstelle dessen wurden systematisch Strafanzeigen wegen „illegaler Einreise“ gegen ankommende Menschen gestellt. Zusätzlich zu diesem Vorwurf wurde K.S. nach seiner Ankunft zu Unrecht beschuldigt, das Boot, mit dem er und seine Familie ankamen, gesteuert zu haben, und wurde zusätzlich wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ angeklagt. Es gab weitere Anklagepunkte, von denen er jedoch freigesprochen wurde.  K.S. wurde in nur wenigen Stunden wegen „unerlaubter Einreise“ und „Beihilfe zur illegalen Einreise“ zu 52 Jahren Haft (10 Jahre plus ein Jahr für jede Person auf dem Boot) sowie zu einer Geldstrafe von 242‘000 Euro verurteilt. Der Prozess war von Unregelmässigkeiten, sowie von rassistischen und persönlichen Abwertungen durch das Gericht geprägt. Gegen das Urteil wurde Berufung eingereicht. Meist dauert es etwa ein Jahr, bis es zur Berufungsverhandlung kommt. Bis dahin muss K.S. in Haft und damit getrennt von seiner Familie bleiben.
Ein Prozessbeobachter erklärt zu den Hintergründen der Anklage: „Die Erhebung solcher Anklagen gegen auf den griechischen Inseln ankommenden Menschen, die angeblich als Bootsfahrer (ausschließlich männlich) identifiziert wurden, ist seit einigen Jahren ein systematisches Vorgehen des griechischen Staates. Sie beruht auf der absurden Vorstellung, dass jeder, der ein Schlauchboot mit Schutzsuchenden fährt, ein Schmuggler ist. Oft sind die Beschuldigten selbst Schutzsuchende und wurden zum Fahren des Bootes genötigt. In der Praxis bedeutet die Verfolgung von „Schmugglern“, dass jemand aus einem ankommenden Schlauchboot angeklagt wird, das Boot gefahren zu haben, ob er es nun war oder nicht. Betroffene werden ohne ausreichende Beweise meist noch vor Ort verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft verwahrt. Wenn ihr Fall schliesslich vor Gericht kommt, dauern ihre Prozesse im Durchschnitt nur 38 Minuten, und sie werden zu hohen Haftstrafen verurteilt, in einigen Fällen zu über 100 Jahren Gefängnis mit sehr hohen Geldstrafen.“
Borderline Europe, die sich seit Jahren intensiv mit der europäischen Grenzpolitik beschäftigen, sprechen von hunderten solcher Fälle, in denen Menschen in den griechischen Gefängnissen festgesetzt werden. Die Verfahren würden nicht fair und rechtsstaatlich ablaufen. Zuletzt wurden u.a. im vergangenen Jahr die beiden Geflüchteten Amir und Razouli im Rahmen eines solchen Verfahrens zu 50 Jahren Haft verurteilt (siehe Antira-Wochenschau vom 02.11.20).
Geflüchtete werden stigmatisiert und als Menschen zweiter Klasse mit weniger Rechten als Europäer*innen behandelt. Das Justizsystem baut Urteile auf unzureichenden Beweisen auf, im Fall von K.S. wurde er nicht einmal als die das Boot steuernde Person identifiziert. Für konservative und rechte Personengruppen bestätigen solche Urteile das Bild des „kriminellen Ausländers“ (auch hier aktiv in der männlichen Person, die stereotyp für flüchtende Menschen steht) und rechtfertigen wiederum eine harte europäische Abschottungspolitik. Ein System also, das sich selbst stützt.
 
 
Sea-Watch und Ocean Viking retten hunderte Menschen im zentralen Mittelmeer, mindestens 27 Menschen sterben auf maritimen Fluchtrouten
Um die 800 Personen in Seenot konnten vergangene Woche gerettet werden, grösstenteils von zivilgesellschaftlichen Seenotrettungsorganisationen. Gleichzeitig hat die Abschottungspolitik Europas und das Fehlen jeglicher sicherer Fluchtwege erneut Tote zu verantworten.
 
Ende April konnte die «Sea-Watch 4» aus dem Hafen der spanischen Stadt Burriana auslaufen, nachdem sie zuvor von den Behörden der sizilianischen Stadt Palermo wegen eines Rechtsstreits festgehalten worden war. Nach nicht einmal 24 Stunden zurück in der Such- und Rettungszone traf die Sea-Watch im zentralen Mittelmeer auf ein Schlauchboot in Seenot mit mehr als 40 Personen. 5 weitere Rettungen folgten innerhalb von drei Tagen. Mit nun 455 geretteten Personen an Bord muss der Sea-Watch 4 sofort ein sicherer Hafen zugewiesen werden.
Die «Ocean Viking» der Hilfsorganisation SOS Méditerranée konnte vergangene Woche 236 Menschen – die Hälfte davon unbegleitete Minderjährige – aus zwei Schlauchbooten in internationalen Gewässern vor Libyen an Bord nehmen und ist inzwischen im Hafen von Augusta, Sizilien, an Land gegangen.
Auch die italienische Küstenwache konnte ein Schlauchboot mit über 100 in Seenot geratenen Menschen ausfindig machen und brachte sie in einen Hafen an der italienischen Südküste. Verschiedene Seenotrettungs-Organisationen kritisierten, die libyschen Behörden hätten von dem in Seenot geratenen Boot gewusst, jedoch die Hilfe verweigert. Seit Beginn des Jahres sind bereits über 650 flüchtende Personen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben.
Gleichzeitig haben die Abschottungspolitik Europas und das Fehlen jeglicher sicherer Fluchtwege auch vergangene Woche zu mehreren Toten geführt. Anfang letzter Woche fand die spanische Küstenwache 24 tote geflüchtete Personen auf einem Boot vor den Kanarischen Inseln. Vermutlich sind die 24 Personen an Durst und Hunger gestorben, als sie versuchten, die Kanarischen Inseln von der Westküste Afrikas aus zu erreichen. Nur drei Personen überlebten. Alle drei hatten starke Unterkühlung und wurden in ein Krankenhaus auf Teneriffa geflogen. Die Überlebenden gaben an, 22 Tage auf See verbracht zu haben.
Rund 100 flüchtende Personen versuchten vergangene Woche, aus dem benachbarten Marokko in die spanische Enklave Ceuta zu schwimmen. Mindestens zwei Personen kamen an einem Strand in Ceuta an, viele andere konnten von spanischen Rettungsbooten an Bord genommen werden, einige mussten wegen Unterkühlung ins Spital gebracht werden. Mindestens drei Personen sind bei dem Versuch, Ceuta über das Mittelmeer zu erreichen, gestorben. Diese Übergänge haben sich seit der Pandemie vervielfacht. Früher versteckten sich geflüchtete Personen in Anhängern oder Lastwagen, die nach Ceuta und Melilla fuhren. Diese beiden Städte an der marokkanischen Mittelmeerküste haben die einzigen Landesgrenzen der Europäischen Union zu Afrika und daher die einzige Möglichkeit, von Afrika aus in die EU einzureisen, ohne das Mittelmeer zu überqueren. Mit der Schliessung dieser Landesgrenze mussten die flüchtenden Personen nach neuen Wegen suchen, um in die Enklaven zu gelangen.

Zwei junMigranten erreichen schwimmend den Strand der Enklave Ceuta
Zwei junge Migranten erreichen schwimmend den Strand der Enklave Ceuta.

Was geht ab beim Staat?

#ShutDownORS: Berner Regierung stellt sich hinter die ORS

Es ist eine Niederlage. Wiederholt machten geflüchtete und nicht-geflüchtete Aktivist*innen und solidarische Organisationen darauf aufmerksam, dass die ORS AG in den von ihr verwalteten Asylcamps Menschen einer Covid-Gefahr aussetzt. Die Petition #ShutDownORS wollte, dass der ORS AG Leistungsaufträge entzogen werden. Der Regierungsrat hat nun die Petition abgeschmettert.
Der Regierungsrat weist die Kritik zurück und lobt die ORS AG: „Nach einer umfassenden Auseinandersetzung mit den von Ihnen vorgebrachten Vorwürfen stützt und würdigt der Regierungsrat die Arbeit der ORS. (…) Der in den vergangenen Monaten zunehmend ideologisch getriebenen und inhaltlich nicht haltbaren Verunglimpfung der ORS (…) verwehrt sich der Regierungsrat klar.“
Den geforderten Auftragsentzug lehnt die Berner Regierung „in aller Deutlichkeit ab“. Ein wichtiger Vorwurf der in den Camps isolierten Personen der Gruppe „Stopp Isolation“, die die Petition zusammen mit dem Migrant Solidarity Network und den Demokratischen Jurist*innen Bern lanciert hatten, richtete sich gegen den Mangel an Einzelzimmern für die BAG-konforme Isolation bzw. Quarantäne von COVID-erkrankten Personen und jenen, die engen Kontakt zu Erkrankten hatten. Zudem wurde die dezentrale Unterbringung gefordert.
Inhaltlich äussert sich der Regierungsrat nicht hierzu. Es ist nicht ersichtlich, ob und wie der Regierungsrat die aufgeführten Punkte geprüft hat. Er schreibt nur: „Sich in Isolation oder Quarantäne befindende Zentrumsbewohnerinnen und -bewohner können separate Sanitäranlagen nutzen.“ Und: „Seit längerer Zeit existiert die Möglichkeit, dass Personen mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid bei Privatpersonen untergebracht werden. Die von Ihnen geforderte Möglichkeit der dezentralen Unterbringung besteht folglich bereits“. Dass diese auch eine erkämpfte Errungenschaft der betroffenen Menschen darstellt, wird mit keiner Silbe erwähnt.
Die Leichtigkeit und Dreistheit mit der die Regierung mit den Forderungen umgehen, zeigt beispielhaft, wie entrechtet Menschen mit negativem Asylentscheid in der Schweiz sind und wie sie politisch geschwächt werden.

https://www.rr.be.ch/etc/designs/gr/media.cdwsbinary.RRDOKUMENTE.acq/ec95aaa6cff8445182378ac3e57e19d7-332/14/PDF/2021.STA.307-RRB-DF-226938.pdf

Was ist aufgefallen?

Griechenland: keine Bildung für Kinder in Camps, Geld von Deutschland nur für Abgeschobene

In den griechischen Camps haben die Kinder keine Chance auf Bildung. Deutschland will nun die Lebensbedingungen von geflüchteten Menschen durch finanzielle Unterstützung verbessern, jedoch nur für jene, die von Deutschland nach Griechenland abgeschoben werden.

Die Kinder von geflüchteten Menschen, welche sich in den Camps Griechenlands aufhalten, haben kaum Zugang zum Schulsystem. Während der Corona-Pandemie ist die Zahl der Kinder, welche keinen Zugang zu Bildung haben, drastisch gestiegen. Viele konnten während des letzten Jahres nicht am Unterricht teilnehmen, die meisten hatten jedoch gar nie die Chance, überhaupt bei einer Schule angemeldet zu werden. Die Organisation Refugee Support Aegean (RSA) hat zwischen Januar und Februar 2021 Befragungen durchgeführt und einen ausführlichen Bericht über die Situation verfasst. Darin beschreiben sie die Problematik der fehlenden Bildung sehr detailliert.
Das Recht auf Bildung ist «nur» eines von vielen Menschenrechten, dass in der Migrationspolitik und den Camps verletzt wird. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen lehnen deutsche Gerichte die Rückführung von geflüchteten Menschen nach Griechenland meist ab. Migrant*innen drohen dort Obdachlosigkeit und absolute Armut. Sie haben keine Chance auf ein würdiges Leben. Es gibt nicht einmal die Chance, ein Existenzminimum aufzubauen. Nun hat Deutschland Griechenland angeboten, für «die ordentliche Unterbringung und Versorgung zurückgeschickter Flüchtlinge» aufzukommen. Wie genau dies aussehen würde, ist noch unklar. Jedoch scheint es, als hätte Deutschland nicht das Ziel, die Lebensbedingungen für flüchtende Menschen im Allgemeinen zu verbessern. Die Tatsache, dass sie spezifisch die Unterbringung derjenigen verbessern wollen, die nach Griechenland abgeschoben wurden, zeigt, dass es nur darum geht, Abschiebungen nach Griechenland wieder zu ermöglichen und die Menschen somit aus Deutschland zu entfernen. Was dabei mit all den anderen Menschen in den Camps passiert, kümmert sie nicht. Es geht nicht um ernsthafte Unterstützung, sondern ist letztlich reine Heuchelei.

Der Ausschluss von geflüchteten Kindern aus dem griechischen Bildungssystem hat während der COVID-19-Pandemie ein Rekordniveau erreicht
Der Ausschluss von geflüchteten Kindern aus dem griechischen Bildungssystem hat während der COVID-19-Pandemie ein Rekordniveau erreicht.

https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/griechenland-athen-fluechtlinge-kostenuebernahme-asylbewerber-rueckfuehrung-bundesregierung
https://www.proasyl.de/news/kein-recht-auf-bildung-fluechtlingskinder-in-griechenland/

https://rsaegean.org/en/excluded-and-segregated-the-vanishing-education-of-refugee-children-in-greece

Moderne Versklavung in Süditalien

Die katastrophale Situation der schwarzen Erntehelfer*innen in Süditalien hat sich durch die Pandemie weiter verschlechtert.

In San Ferdinando, Kalabrien werden Schwarze Erntearbeiter*innen sich selber überlassen. Die staatliche Unterstützung wurde im März eingestellt, selbst Lebensmittellieferungen sind rar. Ca. 800 von ihnen leben in einer ‚Zeltstadt‘, die ursprünglich für 400 Menschen vorgesehen war. Es gibt vier Toiletten. Die Zelte teilen sie sich teilweise zu sechst oder zu acht, was auch ohne Pandemie unmenschliche Bedingungen wären. Aber nun erwischte es zusätzlich mit jeder Corona-Welle die Bewohner*innen von ‚tendopoli‘ und auch vom Barackenlager von Rosarno. Das Virus breitete sich schnell aus, Isolation war kaum möglich. Die Lager wurden unter Quarantäne gestellt, genauer: alle Menschen darin eingesperrt, auch die negativ getesteten. Nahrungsmittel wurden irgendwann von der Caritas gebracht, nachdem staatliche Behörden komplett versagt hatten. Die öffentliche, medizinische Versorgung befindet sich auch aufgrund der Unterwanderung von der Mafia in einem katastrophalen Zustand. So müssen Hilfsorganisationen einspringen, die kostenlose medizinische Dienste anbieten. Da es in der Gegend keinen ausgebauten öffentlichen Verkehr gibt, übernehmen Kleinbusse der Organisationen die Fahrten. Vor allem Rückenprobleme durch das Schleppen von zum Teil 50 Kilo schweren Orangenkisten und Magen-Darmerkrankungen durch das schlechte Essen seien verbreitete Beschwerden.
Die bis zu 3.000 migrantischen Arbeitskräfte in San Ferdinando und Rosarno befinden sich seit Jahren in Ausbeutungsverhältnissen moderner Versklavung. Bis zu 14 Stunden am Tag arbeiten sie für einen Stundenlohn à zwei Euro, obwohl der gesetzliche Mindestlohn 50 Euro täglich vorschreibt. Während der Pandemie hat sich die Lage noch verschlimmert: die Angst sich anzustecken ist gross, doch die Angst ein positives Testresultat zu erhalten und damit ihre Arbeit zu verlieren, ist grösser.

Im Zeltlager in San Ferdinando vergessen die italienischen behörden teilweise sogar auf die wenigen Lebensmittellieferungen
Im Zeltlager in San Ferdinando vergessen die italienischen behörden teilweise sogar auf die wenigen Lebensmittellieferungen.

https://www.derstandard.at/story/2000126233036/italiens-erntehelfer-lager-als-tickende-corona-zeitbomben

Kurzes und knackiges Merkblatt zu Grund- und Menschenrechten in Asylcamps

Angesichts der Gewalt, denen Menschen in Asylcamps ausgesetzt sind, erinnern wir hier daran, dass die Menschen- und Grundrechte theoretisch auch dort gelten. Die Behörden und die privaten Unternehmen wie ORS, Securitas oder Protectas, die diese Gewalt organisieren und ausüben, wären an sich verpflichtet, die Rechte auf Grundversorgung, Privat- und Familienleben, Bewegungsfreiheit, Gesundheit, Religionsfreiheit, Zugang zu Rechtsberatung, Rechtsgleichheit sowie zu spezifischeren Rechten von Kindern, Frauen, LGBTIQ-Personen oder Opfern von Menschenhandel zu garantieren. Kritische Jurist*innen schreiben in einer neuen Broschüre, was gelten sollte: „Der Staat darf die Grund-und Menschenrechte von Individuen nicht aktiv verletzen. (…) Der Staat muss Menschen auch vor Übergriffen durch andere Privatpersonen (z.B. Unternehmen) schützen. (…) Der Staat kann auch verpflichtet sein, bestimmte Leistungen zu erbringen, um die Realisierung von Grund- und Menschenrechten zu gewährleisten.“ Dass der Staat dies nicht tut, wissen alle, die in Camps leben oder den betroffenen Menschen zuhören. Im Merkblatt finden sich juristische Argumente, Prinzipien und Gesetzesartikel, die im Widerstand gegen diese Zustände nützlich sein können.

https://www.plattform-ziab.ch/wp-content/uploads/2021/04/Handout_AustauschtreffenZiAB_2021_DE.pdf

Weitere Vorwürfe gegen Frontex erhoben

Frontex verzögert Rettungsaktionen, um die Koordinaten direkt an die sog. libysche Küstenwache weiterleiten zu können.

Der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex wird seit Monaten die Beteiligung an illegalen Push-Backs von flüchtenden Menschen in der Ägäis vorgeworfen. Nun zieht der Skandal weitere Kreise. Frontex’ Praxis, vor allem Flugzeuge und nicht Schiffe einzusetzen, entstand, um Boote orten, aber die Menschen an Bord nicht retten zu müssen. So kontrolliert Frontex die Flucht- und Migrationswege, aber gibt daraufhin anderen Akteur*innen die Aufgabe, diese Menschen aus Seenot zu holen. Am liebsten gibt Frontex die Koordinaten von Booten an die sog. libysche Küstenwache weiter und lässt diese die Arbeit erledigen. Denn für europäische Behörden wäre es illegal, Menschen zurück in das Bürgerkriegsland Libyen zu bringen. In einer Recherche von mehreren Medienpartner*innen wurde anhand Gesprächen mit libyschen Grenz-Offizieren deutlich, dass diese WhatsApp-Nachrichten mit Koordinaten von Booten erhalten, die sie daraufhin nach Libyen zurückschleppen. Während der Recherche wurden Flugrouten der Frontex-Flugzeuge mit den Rückführungen der sog. libyschen Küstenwache und den Daten von Handelsschiffen in unmittelbarer Nähe verglichen. Hierbei wurde deutlich, dass die Handelsschiffe nicht über die Boote in Seenot informiert wurden, obwohl sie Menschen an Bord hätten nehmen können. Am 14. März 2020 z.B. geschah genau dies: ein Boot mit 50 Menschen an Bord gerät in der maltesischen Such- und Rettungszone auf dem zentralen Mittelmeer in Seenot, ein Flugzeug von Frontex sichtet das, die Seenotleitstellen in Italien und Malta sind informiert, Handelsschiffe in der Nähe, doch erst nach zehn Stunden taucht die sog. libysche Küstenwache auf, um die Menschen zurückzuschleppen. Und dies geschah seit Januar 2020 in mindestens zwanzig Fällen. Bei diesem von der EU eingerichteten System der Verzögerung starben bereits über neunzig Menschen. Und über 4500 Menschen wurden so im Jahr 2021 in das Elend und die Folterlager Libyens zurückgebracht – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Frontex muss endlich Folgen tragen für sein (unterlassenes) Handeln!

https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/frontex-rueckfuehrungen-libyen-101.html
https://www.derstandard.at/story/2000126274622/berichte-werfen-frontex-direkte-absprachen-mit-libyscher-kuestenwache-vor?ref=rss

Kopf der Woche

Adolf Muschg
Am 25. April war der schweizer Schriftsteller Adolf Muschg im SRF bei der Sternstunde Philosophie zum Thema „Wie geht Lebenskunst?“ eingeladen. Im Gespräch mit dem Moderator Yves Bossart antwortete er diesem auf die Frage: „Würden Sie sagen, uns fehlt heute, in der heutigen Gesellschaft, diese Ambiguitätstoleranz, wie man so schön sagt, also dieser Sinn für Widersprüche, für Inkonsequenz?“: „Die Canceling-Culture, die wir heute haben, dass man also bei bestimmten Zeichen, die man setzt, die man von sich gibt, abgeschrieben wird. Da bist du draussen, aus der Gemeinschaft der Zivilisierten. Das ist bei feministischen Diskursen, bei rassistischen Diskursen und so weiter. Ein falsches Wort und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz. Man stempelt Leute ab, und von da an kommen sie als Gesprächspartner nicht in Frage. […] Man will Leute disqualifizieren, die Schwarze disqualifizieren, das ist sehr ehrenwert, aber diese Disqualifikation gerät ins genau gleiche faschistoide Fahrwasser des Auschliessens der Anderen, nur sind jetzt andere die Anderen.“
Der Moderator Yves Brossart antwortete zwar auf den zweiten Teil seiner Intervention: „Ja, die Gegenseite würde natürlich sagen, dahinter stecken Jahrhunderte, Jahrtausende Leidensgeschichten, jetzt der schwarzen Bevölkerung, der Frauen auch, und es ist nichts als anständig, da irgendwie hinzustehen und für Anstand zu sorgen, und die Leute auch zu Rechenschaft zu ziehen.“, doch auf den Auschwitzvergleich reagierte er nicht.
Muschgs Auschwitzvergleich mit der sogenannte Cancel-Culture ist problematisch: Das Judenexterminisierungsprojekt mit dem, was er als Gesprächsverweigerungskultur phantasiert, gleichzusetzen, ist absurd, falsch und banalisiert den Holocaust. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) warnte schon letzten November davor, dass derzeit „in der Schweiz in der politischen und gesellschaftlichen Debatte unangebrachte Vergleiche zum nationalsozialistischen Regime und zur Verfolgung und Ermordung der Juden während des Holocausts“ zunehmen.
Der SIG bezog sich dabei zwar auf holocaustbanalisierende Kritiken und Proteste „gegen die vom Bundesrat und den Kantonsregierungen erlassenen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“, doch im Falle Muschgs beruft sich der Auschwitzvergleich auf dieselbe libertäre Rhetorik wie die Coronaskeptiker*innenbewegung: Jegliche Infragestellung des individuellen Benehmens wird als faschistoid und freiheitsbedrohend dargestellt, und kann aus ihrer Sicht damit mit Auschwitz verglichen werden. Dass Muschg sich auch nach der Sendung für seine Aussagen nicht entschuldigen wollte und mit dem „man-kann-heute-nichts-mehr-sagen“-Argument kam, passt perfekt in dieses Schema, in dem sich Unterdrücker*innen als Unterdrückte darstellen.
Ganz im Gegenteil zu dem, wie sich Coronaskeptiker*innen oder Muschg selbst beschreiben, ist diese Rhetorik nicht systemkritisch oder progressiv, sondern bestärkt dominante Gesellschaftsstrukturen.
 
Adolf Muschg in der SRF-Sendung Sternstunde Philosophie
Adolf Muschg in der SRF-Sendung Sternstunde Philosophie.

Was war eher gut?

Über 500 aufnahmebereite Städte in Europa bilden Gegengewicht zur Abschottungspolitik
Erstmals fasst eine gesamteuropäische Karte die Städte zusammen, die sich zu Sicheren Häfen und Zufluchtsstädten erklärt haben. Sie sind bereit, mehr Menschen aufzunehmen, als es die jeweilige nationale Politik vorsieht. Unzählige Menschen in Europa tragen die Migrations- und Abschottungspolitik nicht mit. Sie motivieren ihre Städte und Gemeinden zu öffentlichen Solidaritätsbekundungen. Das kannst du auch: Sprich deine Stadt an und mache sie zum Sicheren Hafen.
„Europe Welcomes“ ist eine Kampagne der parlamentarische Fraktion Grüne/EFA im Europaparlament.  Sie soll Willkommens-Initiativen abbilden und geflüchteten Menschen, NGOs und zivilen Initiativen eine Stimme geben und deren Konzept der freiwilligen Aufnahmekapazitäten in den EU-Migrationspakt einbringen. Zudem fordert sie die EU auf, finanzielle Anreize für Kommunen und Regionen zu schafft, die asylsuchende Menschen aufnehmen.
 

Was nun?

Erster Newsletter der Balkanbrücke 
Wer sich für migrationspolitische Entwicklungen auf der sogenannten Balkanroute interessiert oder sich über die Aktivitäten der Balkanbrücke informieren will, kann sich den neuen Newletter abonnieren. Die erste Ausgabe ist vielversprechend. Sie bietet einen Überblick über die Länder auf der Balkanroute, ordnet die aktuellen Entwicklungen ein und stellt Vernetzungsmöglichkeiten her zu Gruppen und Initiativen, welche vor Ort direkte Solidarität mit Menschen auf der Flucht organisieren.
https://cloud.balkanbruecke.org/s/MrgqCcCMZDpMTtH?dir=undefined&openfile=73504
 
Dem Frontex-Fotowettbewerb realistische Bilder der EU-Aussengrenzen entgegenstellen
Wenn wir denken, niveauloser geht’s nicht, legt Frontex einen drauf: die europäische Grenzschutzagentur ruft seine Mitarbeiter*innen dazu auf, an einem Fotowettbewerb teilzunehmen. Folgende drei Kategorien stehen zur Auswahl: 1. Kooperation mit nationalen Autoritäten, 2. Grenzlandschaften und 3. Eine helfende Hand an der Grenze.
Am 09.05., dem „Europe Day“, veröffentlicht Frontex das Sieger*innenbild. Stellen wir dem unsere Bilder der europäischen Aussengrenzen gegenüber. Die Realität dort ist menschenverachtend und gewaltvoll. Es gibt keine schönen Bilder von EU-Aussengrenzen!
Der Frontex Wettbewerb ist blanker Hohn allen Menschen gegenüber, die in Grenzregionen leben und das Leid täglich vor Augen haben, und ganz besonders denjenigen gegenüber, die auf der Suche nach Schutz Opfer von systematischer Grenzgewalt werden.
 
#contestofshame
#contestofshame

Wo gabs Widerstand?

Kirchenasyl in Deutschland und der Schweiz
Ein Gericht in Deutschland entschloss sich gegen die Kriminalisierung von Solidarität. Mit dem Freispruch eines Mönchs, der einer geflüchteten Person Kirchenasyl gewährte, entsendet das Gericht ein positives Signal. Auch in der Schweiz kam es in der Vergangenheit zu Kirchenasyl und Kirchenbesetzungen, die Kirche in der Schweiz zeigt sich jedoch zurückhaltender.
 
Die deutschen Behörden wollten einen Mann gemäss der Dubliner Übereinkommen nach Rumänien abschieben. Der angeklagte Mönch hatte als Koordinator der Flüchtlingshilfe der Abtei den Mann aus dem Gazastreifen geschützt, indem er ihm einen Wohnraum geboten hat. Die Staatsanwaltschaft hat den Mönch deshalb wegen »Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel« verklagt. Der Mönch setzte sich vor Gericht erfolgreich durch, indem er mit seiner, im Grundgesetz verankerten, Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit argumentierte. Eine eher gute Meldung in diesen Zeiten, wo es meist gegenteilig läuft.
Auch in der Schweiz wurde in den vergangenen Jahren flüchtenden Personen ab und zu Kirchenasyl gewährt: Ende 2019 hat der Luzerner Pfarrer Ruedi Beck einer Frau aus Tschetschenien und ihrer Tochter Kirchenasyl gewährt. Nichtsdestotrotz wurden die beiden gewaltsam nach Belgien ausgeschafft. Die Zürcher Pfarrei Liebfrauen stellte einer an Krebs erkrankten geflüchteten Frau* von 2011 bis 2018 eine Notwohnung der Pfarrei zur Verfügung. 2019 wurde der Pfarrer wegen «Erleichterung des rechtswidrigen Aufenthalts» schuldig gesprochen.
Auch kam es in der Vergangenheit zu einigen Kirchenbesetzungen, wie beispielsweise an Weihnachten im Jahr 2008, als rund 150 Personen die Predigerkirche in Zürich besetzten. Auf der Seite sans-papiers.ch steht: «Sans-Papiers können kaum politisch aktiv werden und mit den üblichen Mitteln auf ihre legitimen Anliegen aufmerksam machen: Sie könnten ja jeden Moment verhaftet und ausgeschafft werden. Durch die Kirchenbesetzungen […] wurde das Thema Sans-Papiers zum ersten Mal in der Schweiz überhaupt breiter diskutiert.»
In Kirchenkreisen selbst ist das Kirchenasyl umstritten: Einige meinen, es brauche kein Kirchenasyl, denn «der Rechtsstaat macht seine Sache gut». Andere fordern einen «zivilen Ungehorsam», wenn der Rechtsstaat ungerecht entscheide. Und in einem Grundsatzpapier des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds SEK steht, dass Kirchen kein rechtsfreier Raum seien und deshalb im Kirchenasyl keine geflüchteten Personen versteckt werden dürfen. Es könne jedoch als Mittel verwendet werden, um die Behörden dazu zu bewegen, in einem konkreten Fall ihre Entscheidung nochmals zu überprüfen: «Kirchenasyl ist eine Ultima Ratio. Es bleibt somit eine Ausnahme und darf nicht durch leichtfertige Anwendung seiner Wirkung beraubt werden.»
Während hier in der Schweiz über das Kirchenasyl debattiert wird, findet es in Deutschland verbreitet Anwendung, wie zuletzt der Freispruch des Benediktinermönchs zeigte.
 
Sans-Papiers Block an der 1. Mai-Demo in Basel
In Basel folgten Sans-Papiers und andere Aktivist*innen dem Aufruf des Sans-Papiers-Kollektivs Basel: Gegen Krise und Diskriminierung – Gemeinsam solidarisch kämpfen! „Alleine schaffen wir das nicht. Schliessen wir uns zusammen,“ lautete eine der Kernbotschaften derjenigen, die durch das Migrationsregime illegalisiert wurden.
 
Sans-Papiers Block mit Transparenten an der 1. Mai-Demo in Basel
Sans-Papiers Block mit Transparenten an der 1. Mai-Demo in Basel.

Was steht an?

NO WEF Frühligsquartier
08.-09.05.21 I online und vor Ort am Schwyzerstärnweg 18, Bern
 

Dieses Jahr findet, statt des No-WEF-Winterquartiers, ein Frühlingsquartier statt. Es gibt Online-Veranstaltungen über politische Bewegungen (z.B Seebrücke, Basel Nazifrei…). Gleichzeitig findet (im Freien) eine Ausstellung mit aufgezeichneten Interviews von Genoss*innen über laufende internationale Kämpfe statt. Es wird also spannend! Zeigen wir in Zeiten der Pandemie unsere Solidarität & setzen so ein Zeichen für die, die im Moment Widerstand leisten! Weitere Informationen gibt es bald auf winterquartier-bern.ch.

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Aktivistin über Tote im Mittelmeer: „Das war kein Bootsunglück“

Lara Dade von Alarmphone war in Kontakt mit 130 vor Libyen ertrunkenen Flüchtlingen. Obwohl EU und Küstenwachen informiert waren, halfen sie nicht.
https://taz.de/Aktivistin-ueber-Tote-im-Mittelmeer/!5768995/