Medienspiegel 17. April 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++ZÜRICH
Sans-Papiers – Angst macht krank
Mit einem Pilotprojekt möchte der Zürcher Stadtrat die Gesundheitsversorgung für Personen ohne Krankenversicherung sicherstellen. Ein wichtiger Bestandteil davon ist die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen.
https://daslamm.ch/sans-papiers-angst-macht-krank/


+++DEUTSCHLAND
Berliner Hilfsvereine geben Asylpolitik Schuld an Selbstmorden von Geflüchteten
Selbstmorde von Geflüchteten: Organisationen sehen unsichere Asylpolitik als Grund. Psychiatrische Gutachten etwa würden als Gefälligkeiten abgetan.
https://www.tagesspiegel.de/berlin/drei-suizide-in-einem-monat-berliner-hilfsvereine-geben-asylpolitik-schuld-an-selbstmorden-von-gefluechteten/27094968.html


+++ITALIEN
Prozess gegen Italiens Ex-Innenminister Matteo Salvini: Anklage wegen Freiheitsberaubung
Als Minister verweigerte er NGO-Schiffen mit Geflüchtete das Anlegen in italienischen Häfen. Jetzt steht Salvini wegen eines Falles in Sizilien vor Gericht.
https://taz.de/Prozess-gegen-Italiens-Ex-Innenminister-Matteo-Salvini/!5766893/


+++MITTELMEER
‘It’s a day off’: wiretaps show Mediterranean migrants were left to die
Exclusive: Transcripts of conversations between Italian officials and Libyan coastguard contained in leaked file
https://www.theguardian.com/world/2021/apr/16/wiretaps-migrant-boats-italy-libya-coastguard-mediterranean


+++GASSE
Not wird grösser: In Zürich stehen Corona-Verlierer mehrere Stunden für Essen an
In Zürich nimmt die soziale Not aufgrund der Corona-Krise zu. Immer mehr Leute holen sich die Fresspäckchen des Vereins «incontro» bei der Zürcher Europaallee. Viele von ihnen haben wegen Corona ihren Job verloren und haben Angst zum Sozialamt zu gehen, weil sie dadurch ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren könnten.
https://www.telezueri.ch/zuerinews/not-wird-groesser-in-zuerich-stehen-corona-verlierer-mehrere-stunden-fuer-essen-an-141574681


Hotel zur schönen Hoffnung – Genfer Hotel trotzt Corona mit Obdachlosen-Projekt
Ein Dreisternhotel in der Genfer Altstadt wagte früh in der Pandemie den Schritt und nahm Obdachlose auf – mit Erfolg.
https://www.srf.ch/news/schweiz/hotel-zur-schoenen-hoffnung-genfer-hotel-trotzt-corona-mit-obdachlosen-projekt



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Das mobile Gemeinschaftszentrum stellt sich vor…

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+++DEMO/AKTION/REPRESSION
2000 Menschen demonstrieren in aussergewöhnlicher Form gegen Syngenta
Am Samstag wurde in Basel zum siebten Mal der «March against Bayer & Syngenta» durchgeführt. Die Veranstaltung fand in Form einer Schnitzeljagd statt.
https://telebasel.ch/2021/04/17/2000-menschen-demonstrieren-in-aussergewoehnlicher-form-gegen-syngenta/?channel=105100


+++RASSISMUS
572 Rassismus-Fälle in der Schweiz im Jahr 2020: «Meine Kinder trauen sich nicht mehr in den Garten»
572 Diskriminierungsfälle meldeten Beratungsstellen im Jahr 2020. Das zeigt ein noch unveröffentlichter Bericht des Bundes, der dem SonntagsBlick vorliegt. Betroffen ist auch Mohammed O.* und seine Familie.
https://www.blick.ch/schweiz/572-rassismus-faelle-in-der-schweiz-im-jahr-2020-meine-kinder-trauen-sich-nicht-mehr-in-den-garten-id16466549.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
Diepoldsauer wollen nichts mit Nazi-Symbolik zu tun haben
Unbekannte haben in Diepoldsau mehrere Verkehrsschilder mit Hakenkreuzen verunstaltet. Diese wurden wiederum überklebt. Die Polizei weist darauf hin, dass dieses Verhalten strafbar ist.
https://www.20min.ch/story/diepoldsauer-wollen-nichts-mit-nazi-symbolik-zu-tun-haben-355362548360
-> https://www.fm1today.ch/ostschweiz/ueber-nacht-tauchen-in-diepoldsau-hakenkreuze-auf-141547576
-> https://rheintaler.ch/artikel/diepoldsau-wehrt-sich-gegen-rechtsextremisten/76156
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/diepoldsau-nur-ein-bubenstreich-oder-mehr-unbekannte-haben-strassenschilder-mit-hakenkreuzen-verunstaltet-ld.2125723


Rap und Rücken
Hinter einem der erfolgreichster Rapper Deutschlands steht ein türkischer Rechtsextremer. Wie ist das möglich? Und was sagt das über das Geschäft mit dem Deutsch-Rap aus?
https://www.rbb-online.de/doku/s-t/schattenwelten-berlin/schattenwelten-berlin-wie-zweifelhafte-weltbilder-in-den-deutschen-hip-hop-kommen.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Coronavirus: Skeptiker demonstrieren in Schaffhausen trotz Verbot
Schaffhausen hat die für heute geplante Demo gegen die Massnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus verboten. Trotzdem haben sich viele Skeptiker versammelt.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-skeptiker-demonstrieren-in-schaffhausen-trotz-verbot-65908016
-> https://www.blick.ch/schweiz/unbewilligte-corona-demo-in-schaffhausen-gegen-500-corona-skeptiker-haben-sich-versammelt-id16466283.html
-> https://www.20min.ch/story/polizei-markiert-praesenz-in-der-stadt-825741872867
-> (13.59) https://www.srf.ch/news/schweiz/das-neueste-zur-coronakrise-nichteinhalten-von-lieferversprechen-kanton-bern-kritisiert-bag
-> https://twitter.com/__investigate__
-> https://twitter.com/FabianEberhard
-> https://www.swissinfo.ch/ger/schaffhauser-polizei—gegen-unvernunft-gibt-es-keine-mittel-/46542684
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/ohne-bewilligung-und-masken-knapp-1000-massnahmen-kritiker-demonstrieren-in-schaffhausen
-> https://www.20min.ch/video/die-polizei-zieht-nach-unbewilligter-demo-bilanz-897796267005
-> https://www.toponline.ch/news/schaffhausen/detail/news/trotz-verbot-hunderte-versammeln-sich-in-schaffhausen-zu-corona-demo-00156532/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/knapp-1000-gegner-der-corona-massnahmen-an-demo-in-schaffhausen?id=11969498
-> http://www.shpol.ch/News.84.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=5709&cHash=039acaa40471a0f815c38484736eb5af
-> https://www.aargauerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/ohne-masken-ueber-900-menschen-an-unbewilligter-coronademo-in-schaffhausen-ld.2126475


«Glaubensgemeinschaft» umgeht Maskenpflicht: Schwyzer Kinderparadies hüpft Polizei auf der Nase herum
Die Betreiberin eines Indoor-Spielplatzes im Kanton Schwyz ist verzweifelt. Ihr Lebenswerk soll geschlossen werden. Warum? Sie glaubt Massnahmen-Skeptikern und will weder Maskenpflicht noch Abstandsregeln.
https://www.blick.ch/schweiz/zentralschweiz/glaubensgemeinschaft-umgeht-maskenpflicht-schwyzer-kinderparadies-huepft-polizei-auf-der-nase-herum-id16466456.html


Was haben Coronaleugner und Verschwörungserzähler mit Sekten zu tun? Sehr viel
Die bunte Szene der Coronaskeptiker, Impfverweigerer und Esoteriker weist mehrere Sektenmerkmale auf.
https://www.watson.ch/blogs/sektenblog/851243954-was-haben-coronaleugner-mit-sekten-zu-tun-sehr-viel


Querdenken: Die libertäre Verschwörungsmythologie des Geldes
Die Ideologen der Querdenker-Bewegung fabulieren vom “Weltsystemcrash” und einer Übermacht der Notenbanken. Das verbinden sie mit Verschwörungsmythen und Antisemitismus.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-04/querdenken-verschwoerer-mythologie-bargeld-antisemitismus-michael-blume/komplettansicht


Der Qanon-Mythos greift judenfeindliche Motive der christlichen US-Rechten auf
Endzeitstimmung greift um sich
Anhänger der Verschwörungstheorie Qanon kämpfen gegen Covid-19-Impfungen und greifen antisemitische Verschwörungstheorien der extremen christlichen Rechten auf.
https://jungle.world/artikel/2021/15/endzeitstimmung-greift-um-sich


+++BIG BROTHER
derbund.ch 17.04.2021

Umstrittene Technologie im Einsatz: So jagen Schweizer Polizisten mit Gesichtserkennung Verbrecher

Mehr Sicherheit oder Überwachungsstaat? Programme zur automatischen Identifizierung von Gesichtern sind umstritten. Die Kapo Aargau gibt als Einzige Einblick in die digitale Verbrecherjagd – während andere lieber schweigen.

Simone Luchetta

Die Frau hat langes, dunkelbraunes Haar, zu einem Rossschwanz gebunden, eine hohe Stirn und dunkle Augen. Viel mehr ist wegen der Hygienemaske nicht zu erkennen. Auf dem Fahndungsbild trägt sie einen beigen Mantel und Jeans. Sie wird verdächtigt, zwischen 2016 und 2021 in vier Kantonen Taschendiebstähle verübt zu haben, den letzten im vergangenen Februar in einem Kleidergeschäft in Aarau.

Nun konnte die Frau verhaftet werden. Auf die Spur gekommen war ihr die Kantonspolizei (Kapo) Aargau dank einer neuen Gesichtserkennungssoftware, mit der sie seit wenigen Wochen arbeitet. «Ohne diese Software hätten wir die Frau nicht identifizieren können», sagt Adjutant André Gloor, Leiter des Daten- und Analysezentrums der Kapo Aargau.

Wie verbreitet die Technologie ist

Gesichtserkennung? Videokameras? So wie in China? Dort scannen Überwachungskameras längst Strassen, Plätze und Verkehrsknotenpunkte flächendeckend. Menschen werden in Echtzeit beobachtet und verfolgt. Doch in Krisenzeiten ist das Sicherheitsbedürfnis gross, der Wunsch, die Pandemie dank besserer Technik zu meistern, stark. Zum Beispiel so: Wer sich nicht an den Mindestabstand hält oder keine Maske trägt, der bekommt automatisch eine Warn-SMS aufs Handy oder eine Busse nach Hause geschickt. Denn die Kameras wissen, wer wir sind. Und sie können unsere Gesichter lesen.

Aber das autoritäre China ist mit der Begeisterung für solche Kameras nicht allein. 109 Länder erlaubten 2019 Gesichtserkennungstechnologie zu Überwachungszwecken, wie Surfshark damals recherchierte, ein Anbieter von virtuellen privaten Netzwerken (VPN). Heute dürften es noch mehr sein. Der Markt wächst rasant, von einem weltweiten Umsatz von 4,2 Milliarden Franken im Jahr 2020 auf 9,4 Milliarden im Jahr 2025, schätzt das Marktforschungsinstitut Marketsandmarkets.

Die boomende Technologie soll auf Plätzen in Moskau Demonstrationen unterbinden, in spanischen Regionalbahnhöfen Schwarzfahrer ausmachen, die Stimmung der Passagiere und deren ethnische Herkunft erkennen, und in Österreich setzt sie die Polizei im Nachhinein zur Identifikation Demonstrierender ein.

«So etwas ist bei uns reine Fiktion»

Und in der Schweiz? «So etwas ist bei uns reine Fiktion», sagt Polizist André Gloor. Den Beweis will er antreten, indem er dieser Zeitung ermöglicht, bei der digitalen Verbrecherjagd im Lage- und Analysezentrum der Aargauer Polizei dabei zu sein. Das Herzstück der datenbasierten Polizeiarbeit an der Tellistrasse in Aarau entpuppt sich als Grossraumbüro wie jedes andere. Wegen Corona ist es menschenleer.

Das Analysewerkzeug, mit dem die Polizei dort seit neuem arbeitet, heisst «Better Tomorrow» und wurde von der israelischen Firma Anyvision entwickelt. Es ist auf einem Computer installiert, der aus Sicherheitsgründen nicht ans Internet angeschlossen ist. In gewöhnlichen Zeiten arbeitet Analysespezialistin Janaïne Perlstain zwei- bis dreimal in der Woche mit der Software. Jetzt kommt es einmal im Monat vor, da sie von daheim aus keinen Zugriff auf den Rechner hat.

Die 27-jährige Perlstain studierte in Lausanne Kriminalistik und hat für Gloor während sechs Monaten Gesichtserkennungsprogramme evaluiert. Zwei Programme hat sie getestet – in Sachen Gesichtserkennung ist sie die unbestrittene Fachfrau im Kommando.

Für ein besseres Morgen?

Als solche speist sie Fahndungsbilder von mutmasslichen Täterinnen oder Tätern ins System ein. Meist handelt es sich um Standbilder aus dem mehr oder weniger verpixelten Videomaterial einer Überwachungskamera des Geschädigten, wie im Fall der Taschendiebin vom Aarauer Kleiderladen. Dann lässt Perlstain das Programm durch die Datenbank mit Fotos bekannter Straftäter aus dem Aargauer Polizeisystem und der Fall-Datenbank Picar rattern – 46’000 Bilder insgesamt, darunter gemäss Gloor keine potenziellen «Gefährder». Innert Sekunden spuckt «Better Tomorrow» mögliche Treffer aus.

«Die Software bedeutet für uns primär eine enorme Zeitersparnis», sagt Gloor. Sie erleichtere der Polizei die Arbeit. Zumal immer mehr Bildmaterial zur Durchsicht anfalle, weil sowohl Geschäfte und Betriebe wie auch Privatpersonen immer mehr Videokameras installierten. Wie viele Gigabytes es pro Woche sind, kann Gloor indes nicht beziffern, aber er hätte nicht genügend Leute, um die Bildermassen vernünftig von Auge durchzusehen.

Im Fall der mutmasslichen Ladendiebin gibt das Programm drei mögliche Treffer aus, obschon die Maske einen grossen Teil des Gesichts verdeckt und die Haarfarbe variiert. Einer erinnert die Analystin an einen Fall vom letzten Sommer, den die Polizei nicht weiterverfolgte, weil die Identität nicht zuverlässig festgestellt werden konnte. Dieser neue Treffer gibt nun den entscheidenden Hinweis, und Perlstain gelingt es schliesslich, neun andere Fälle mit dem Diebstahl zu verbinden. Perlstain: «Ich selbst hätte die Frau hinter der Maske zu diesem Zeitpunkt nie identifiziert.»

André Gloor, ihr Chef, sagt: «Sie sehen, es ist immer ein Mensch da, der die Trefferauswahl der Software kontrolliert.»

Zusammenspiel von Mensch und Maschine

Das Zusammenspiel von Mensch und Maschine ist entscheidend. Warum? Dazu muss man wissen, wie Gesichtserkennung funktioniert. In einem ersten Schritt muss ein Programm heute ein Gesicht als Gesicht erkennen. Dazu wird ein Algorithmus trainiert. So wie ein Kind lernt, was ein Elefant ist, indem man ihm immer wieder Elefanten zeigt und dazu «Elefant» sagt, speist man dem Programm Fotos von Gesichtern ein, fotografiert aus verschiedenen Blickwinkeln, mit unterschiedlicher Hautfarbe und Alter.

Das passiert mehrere Millionen Mal, wobei sich das System laufend verbessert. Trainingsdaten zirkulieren seit einigen Jahren dank sozialer Medien en masse im Netz und brauchen nur noch abgeschöpft zu werden, wie der Fall Clearview vor einem Jahr demonstrierte. Die Software Deepface etwa aus dem Forschungslabor von Facebook wurde mit vier Millionen Porträts von 4000 Menschen trainiert.

In einem zweiten Schritt muss der Computer Ähnlichkeiten zwischen Gesichtern erkennen. Dafür gleichen heute komplexe Algorithmen helle und dunkle Pixelmuster in den Bilddateien ab und berechnen Übereinstimmungsraten. Das Ziel dieser Abgleichung ist die Identifikation mittels einer Datenbank bekannter Porträts. Dabei – und das ist wesentlich – kann Gesichtserkennung immer nur Wahrscheinlichkeiten liefern, nie Sicherheiten schaffen.

Kann sich ein Computer irren?

Dazu kommt: Die Technologie macht Fehler, nicht nur wegen schlechter Lichtverhältnisse oder weil der Aufnahmewinkel schwierig ist. Sie ist auch aus strukturellen Gründen fehlerhaft. Sie verschärft bestehende Diskriminierungen und Ungleichheiten. Das System erkennt beispielsweise Gesichter von Schwarzen, Alten oder Frauen weniger zuverlässig als diejenigen von Weissen, weil der Anteil Letzterer im Trainingsmaterial gemeinhin grösser ist. Die Trainingsdaten sind immer ein Abbild unserer Bildkultur.

«Wenn sich die automatisierte Gesichtserkennung aber irrt, kann das dramatische Konsequenzen haben», sagt Martin Steiger, Anwalt für Recht im digitalen Raum. Es führe dazu, dass unbescholtene Menschen in die absurde Situation kommen könnten, beweisen zu müssen, dass sie nicht die Personen seien, für die sie die Maschine halte. Dass solches vorkommt, demonstriert der erste offiziell bestätigte und von der «New York Times» aufgegriffene Fall von Robert Williams in Detroit, USA. Der Dunkelhäutige wurde im Januar 2020 irrtümlich verhaftet, weil der Polizeicomputer einen falschen Hinweis gegeben hatte – und darauf basierend eine Reihe von Menschen Fehlentscheide gefällt hatten.

Solche Nebenwirkungen technischer Fehlschläge konnten den Siegeszug der automatischen Gesichtserkennung bisher nicht aufhalten. Auch im Aargau ist die Polizei von ihrem Nutzen überzeugt. Durch den Einsatz des Programms konnten laut André Gloor in der Testphase zehn bis fünfzehn Prozent mehr mögliche Täterhinweise generiert werden.

Weil alle Übereinstimmungen von einem Menschen nochmals geprüft werden, sieht er in möglichen falschen Treffern auch kein Problem: Die Resultate sollen wegen der Überprüfung genauso verlässlich sein, wie wenn ein Polizist Fotos von Hand abgleicht.

Wie hoch ist die Fehlerquote seiner Software?

«Das lässt sich nicht eruieren», sagt Gloor von der Kapo Aargau. Weil sein Team die Ergebnisse «an die Front» weitergibt und dann nicht systematisch eine Rückmeldung erhält, ob der Tipp richtig war oder nicht.

Geht die Polizei im Aargau in Sachen Gesichtserkennung also nicht den chinesischen Weg? Im Analysezentrum gibt es tatsächlich keine Bildschirmwand mit Livebildern aus Überwachungskameras, und Janaïne Perlstain versichert, keine Bewegtbilder zu scannen. «Wir machen das nicht», sagt André Gloor. Zum einen, weil noch keine Software zuverlässige Resultate liefern könne. Die Kamerahersteller behaupten natürlich das Gegenteil.

Der Hauptgrund aber, weshalb Gesichtserkennung auf Bewegtbildern in der Schweiz Science-Fiction sei, ist der Datenschutz: «Anders als in China setzt bei uns der Datenschutz enge Grenzen», sagt der Mann in Uniform. Das heisst, die Polizei darf von Rechts wegen nicht weitergehen, selbst wenn sie das wollte. Allerdings fehlen Kontrollen.

Wer kontrolliert die Polizei?

Schon die Anschaffung automatisierter Gesichtserkennung geschieht weitgehend unreguliert. Weil sie, wie andere Software auch, als Hilfsmittel gilt, muss die Polizei darüber keine Rechenschaft ablegen. Die Jahreslizenz kostet gut 10’000 Franken. Im Aargau entscheidet der gelernte Metallbauschlosser André Gloor allein über den Einsatz solch mächtiger Technologie.

Und so breitet sich Gesichtserkennung in der Schweizer Ermittlungsarbeit unbemerkt aus. Neben dem Aargau greifen auch die Polizisten in Schaffhausen und St. Gallen auf so ein Werkzeug zurück. Alle anderen Korps haben bisher keine Tests durchgeführt, verfolgen die Entwicklungen auf dem Gebiet aber genau, wie sie dieser Zeitung gegenüber bekannt gaben.

Die Stadtpolizei Winterthur dagegen setzt lieber auf «Super Recognizer», also auf eigene Leute, die besonders gut Gesichter wiedererkennen können. Nicht in die Karten schauen lässt sich als einziges Korps Appenzell Innerrhoden, und «kein Thema» ist Gesichtserkennung laut Mediensprecher Marc Besson bei der Kantonspolizei Zürich. Das erstaunt, ist doch seit letztem November Serdar Günal Rütsche der neue Chef der Zürcher Ermittlungsabteilung Cybercrime – just jener Mann, der zuvor bei der Kapo St. Gallen den Einsatz von Gesichtserkennung vorantrieb.

Die Ressourcen der Datenschützerinnen

Ebenso kaum kontrolliert wird, in welchen Bereichen die Erkennungssoftware tatsächlich eingesetzt wird. Aufsichtsbehörde ist in erster Linie die oder der kantonale Datenschutzbeauftragte. «Die verfügen allerdings meist nicht über genügend Ressourcen, um eine wirksame Aufsichtstätigkeit zu entwickeln», sagt der Zürcher Anwalt Martin Steiger.

Das heisst: Man muss der Polizei einfach glauben.

Die Datenschützerinnen scheint die automatische Gesichtserkennung in der Polizeiarbeit nicht besonders zu beschäftigen. Gunhilt Kersten vom Datenschutz im Aargau lässt die Frage unbeantwortet, ob sie den Einsatz von Gesichtserkennung durch die Polizei abklären werde. Corinne Suter Hellstern, ihr Pendant in der Ostschweiz, will das immerhin untersuchen, kann nach einem Monat aber noch keine Ergebnisse vorweisen.

Dass indes keines der drei Polizeikorps sein Tool den kantonalen Datenschutzstellen zur rechtlichen Prüfung vorgelegt hat, wie das laut Steiger zu erwarten wäre, schürt das Vertrauen in die neue Technologie nicht. Der Standpunkt der Polizei: Der Datenschutz wird durch die neue Software nicht tangiert. Denn die Bilder, die in der Datenbank verwendet werden, sind ausschliesslich rechtmässig erlangt worden.

Rechtsanwalt Steiger sieht das etwas anders: «Der Datenschutz ist immer tangiert, wenn die Daten von Personen bearbeitet werden. Auch bei Bildern, die bereits vorhanden sind, muss das Datenschutzrecht eingehalten werden.»

Das Überwachungsprogramm der St. Galler Kapo

Dass weder die Kapo Schaffhausen noch jene in St. Gallen den Namen ihrer Gesichtserkennungen preisgeben, weckt zusätzlich Misstrauen. Anwalt Steiger: «Wenn die Verwendung solcher Software mit einer eindeutigen Rechtsgrundlage erfolgt, sollte es ohne weiteres möglich sein, Transparenz herzustellen». Fehlende Transparenz hänge normalerweise damit zusammen, dass die Korps Kritik fürchteten. Wenn man die Software kennt, kann man beurteilen, was möglich ist: «Dabei zeigt die Erfahrung, dass früher oder später bei Software alle Funktionen, die möglich sind, genutzt werden.»

Fakten schafft schliesslich ein Einsichtsgesuch dieser Zeitung gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz: Die Ermittlungsplattform der St. Galler stammt von der schwedischen Firma Griffeye und heisst «Analyze DI Pro». Über 4000 Polizeibehörden weltweit analysieren damit Bilder und Videos. Das Programm erkennt neben Gesichtern auch Objekte und labelt sie automatisch. Die jährliche Lizenzgebühr beträgt 1400 Franken.

Die Aargauer sind transparent – als Einzige

Von Anfang an transparent dagegen zeigte sich der Leiter des Aargauer Analysezentrums und passionierte Höhlentaucher André Gloor. Er träumt von einem Real Time Crime Center. Im geplanten RTCC sollen einst alle relevanten Daten in Echtzeit zusammenfliessen und den Polizistinnen jederzeit auf dem Handy zur Verfügung stehen. Agieren statt reagieren, dem Verbrechen voraus zu sein, ist das Ziel. In den USA sei das schon lange Realität. Auch, dass die Polizei private Überwachungskameras anzapfen könne.

Anders im Aargau. Der Austausch von Daten macht an den Kantonsgrenzen Halt. Aus Datenschutzgründen. Für Gloor ein Ärger: «Der Kantönligeist ist einfach nicht zielführend bei der Bekämpfung von Kriminalität.» Die Kantone beginnen nun, Informationen regional auszutauschen, die rechtlichen Grundlagen dazu wurden kürzlich geschaffen. Der Aargau betreibt gemeinsam mit Baselland die Analyse-Datenbank Picar.

Dort war die Taschendiebin aus dem Kleiderladen neunmal aufgeführt. Am 15. Februar gelang es dank Perlstains Hinweis, die Frau anzuhalten. Sie wurde einem anderen Kanton übergeben, wo sie die Polizei wegen der Verbüssung einer Haftstrafe suchte. Ob sie auch schuldig gesprochen wurde, weiss Gloor nicht. Rückmeldungen aus anderen Kantonen gibt es nicht.



Clearview lässt EDöB auflaufen

Wie leicht unsere Fotos im Netz als Trainingsmaterial verwendet werden können, führte vor einem Jahr der Fall des amerikanischen Start-ups Clearview AI vor Augen. Wie die «New York Times» aufdeckte, hat der Anbieter von Gesichtserkennungssoftware Milliarden von Porträts auf Portalen sozialer Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram abgeschöpft und ohne Wissen derjenigen, die die Fotos hochgeladen hatten, gespeichert. Ihren Kunden verspricht die Firma, dank dieses Datenschatzes und ihres Algorithmus jedes Gesicht in Sekundenschnelle identifizieren zu können. Eine ähnliche Dienstleistung bietet das polnische Start-up Pimeyes mit einer Datenbank von 900 Millionen Gesichtern im Netz – gratis und völlig unbehelligt.

Der Eidgenössische Datenschützer (EDöB) Adrian Lobsiger hat stellvertretend für die betroffenen Personen in der Schweiz bei Clearview AI ein Auskunfts- und Löschgesuch gestellt, aber bis heute keine Antwort erhalten. Eine Anfrage dieser Zeitung blieb ebenfalls unbeantwortet. «Wir nutzen nun internationale Kontakte für die weiteren Abklärungen», sagt der EDöB. Auch Sicherheitsbehörden aus der Schweiz haben auf die Technologie von Clearview zurückgegriffen, wie ein Hack der Kundenliste zutage brachte. Wer genau zu den Kunden gehörte, bleibt im Dunkeln. Alle angefragten Polizeien verneinen, die Software zu verwenden oder getestet zu haben, inklusive Fedpol, Eidg. Zollverwaltung (EZV) und Nachrichtendienst (NDB). (luc)
(https://www.derbund.ch/so-jagen-schweizer-polizisten-mit-gesichtserkennung-verbrecher-608167461846)