Leere Stühle als Zeichen gegen die Abschottungspolitik, Zeitung Republik gewinnt Rechtsstreit gegen Zürcher Sozialamt, Pilotprojekt gegen die medizinische Unterversorgung von Sans Papiers

– Bericht des Bundesrates über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik 2020
– Zürcher Sozialamt muss Einsicht in Millionenverträge im Asylbereich gewähren
– Pilotprojekt in der Stadt Zürich für bessere medizinische Versorgung von Sans Papiers
– Zehnjähriges Mädchen nach Push-Back hospitalisiert
– EU bekämpft Migration mit Hi-Tech an den Grenzen
– Lager in Griechenland: Die Lage bleibt katastrophal
– EU-Kommission darf Seenotrettung finanziell unterstützen
– 700 leere Stühle symbolisieren die Aufnahmebereitschaft der Schweizer Städte
– Neue Platzbesetzung in Paris

Was geht ab beim Staat?

Bericht des Bundesrates über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik 2020
Der Bericht des Bundesrates über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik von 2020 legt auf 14 Seiten die Schwerpunkte der Schweizer Migrationspolitik dar. Was mit Euphemismen und in schönen Sätzen beschrieben wird, erzählt eigentlich die Geschichte einer auf Eigeninteresse ausgerichteten Abschottungspolitik der Schweiz.
 
«Migrationsdialoge» – mehr Ausschaffungen ermöglichen
 
In seinem Bericht schreibt der Bundesrat: «Trotz der aufgrund von Covid-19 schwierigen Voraussetzungen ist es gelungen, Migrationsdialoge mit wichtigen Partnerländern wie Algerien, Marokko, Tunesien, Côte d’Ivoire, Iran, Kosovo und Sri Lanka durchzuführen. In verschiedenen Verhandlungen über Migrationsabkommen konnten auch substanzielle Fortschritte erzielt werden.» Das Ziel sogenannter «Migrationsdialoge» ist klar: In erster Linie geht es darum, geflüchtete Personen mit wenig oder keinen Aussichten auf Asyl möglichst schnell wieder loszuwerden. So hat in diesem Zusammenhang Karin Keller-Sutter erst kürzlich Nigeria und Algerien besucht, wie antira.org berichtete. (https://antira.org/2021/03/29/abschiebungen-aus-der-schweiz-gefaehrden-menschenrechte-unsichere-fluchtwege-kosten-menschenleben-britische-migrationsplaene-verzichten-auf-menschlichkeit/#more-8263). Dass bei Ausschaffungen oft Zwangsmassnahmen angewendet werden und brutal vorgegangen wird, dass dabei Menschen, welche aus berechtigten Gründen ein Land verlassen haben, gegen ihren Willen dorthin zurückgeschickt werden, wird im Bericht des Bundesrates nicht erwähnt.
 
«Solidarität mit Griechenland» – die Türen schliessen
 
Unter der Rubrik «Bilaterale Zusammenarbeit mit EU Mitgliedstaaten» gibt der Bundesrat die Unterstützung von Griechenland als Priorität an. Drauf folgt eine selbstdarstellerische Auflistung der geleisteten Unterstützung: Die Finanzierung von Aufnahmestrukturen speziell für Mädchen und Familien, an Hilfsorganisationen gesprochene Kredite sowie humanitäre Hilfe, welche vor Ort auf Lesbos geleistet wird. Dort unterstützt die Schweiz im neuen Lager den Aufbau der Wasserversorgung für 10’000 Personen.
Im Mai 2020 konnten 23 unbegleitete Minderjährige aus den griechischen Lagern in die Schweiz einreisen. Bis heute sind 66 dazugekommen. Minderjährige, welche die Schweiz mehrheitlich aufgrund von Familienzusammenführungen gesetzlich sowieso aufnehmen musste. Eine beschämend geringe Zahl im Wissen um die Möglichkeiten der Schweiz.
Was im Bericht als grosser Akt der Solidarität inszeniert wird, ist angesichts der Zustände in den griechischen Lagern ein Hohn. Auch in seinem Bericht redet der Bundesrat die Situation in Griechenland schön. Die geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln müssen und können durch Europa und die Schweiz evakuiert werden.
Wie die WOZ schreibt: «Jedes Kind, das sich auf Lesbos aus Verzweiflung die Haare ausreisst, ist ein Kind, das längst hier sein könnte. In einem Asylverfahren, in Schutz, mit einer Perspektive.»
 
«strategische Verknüpfung» – Gelder dort einsetzten, wo sie Migration verhindern
 
Als Schwerpunkte der migrationsaussenpolitischen Aktivitäten werden das Horn von Afrika, Nord-, Zentral- und Westafrika, der Mittlere Osten, sowie der Westbalkan angegeben. Auffallend ist dabei, dass nebst der «Rückkehrzusammenarbeit» darauf abgezielt wird, «im Sinne der strategischen Verknüpfung und mit verschiedenen Instrumenten den Schutz und die Integration vor Ort zu verbessern und gleichzeitig längerfristig auf die vielschichtigen Ursachen irregulärer Migration und Flucht einzuwirken.»
Als eines der Beispiele wird die Unterstützung der Schweiz im Flüchtlingscamp Kakuma-Kalobeyei in Kenia genannt. Dort wird «die Anwendung digitaler Lösungen zur Stärkung von Berufskapazitäten in und um das Flüchtlingscamp» gefördert – ganz im Sinne dieser «strategischen Verknüpfung».
Die zunehmende Verknüpfung von finanzieller Unterstützung bzw. sog. ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ und Migration ist äusserst problematisch. Wie Erfahrungen zeigen, werden durch den Fokus auf Migration die Mittel oft nicht an den richtigen Orten eingesetzt. Zudem fehlt es Ländern, welche keine typischen Herkunftsländer sind, an Unterstützung. Auch hier zeigt sich, wie die Schweiz auf Kosten anderer konsequent ihre eigenen Interessen verfolgt. 
 
«Schutz der Aussengrenze» – Abschottungspolitik, die Leben kostet
 
Die Stärkung des «Aussengrenzmanagement» gibt der Bundesrat als wichtiges Ziel an. Bereits heute beteiligt sich die Schweiz «mit 1500 Einsatztagen an Frontex-Operationen, mehrheitlich an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei», so der Bericht. Kurz wird auch auf die an Frontex geäusserten und bestätigten Vorwürfe eingegangen: Frontex ist für zahlreiche Pusbacks – kollektive Abschiebungen von geflüchteten Personen, ohne deren Asylantrag zu prüfen – verantwortlich. Anstatt für sichere Fluchtrouten zu sorgen, steht Frontex für Grenzsicherung und Abschottung und ist mitverantwortlich dafür, dass das Mittelmeer noch immer als eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt gilt.
Die Antwort des Bundesrates auf diese Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen: ein*e sog. Expert*in wird an das Grundrechtsbüro von Frontex entsandt. Dieser Abschnitt des Berichtes zur «Herausforderungen beim Schutz der Aussengrenze» zeigt nochmals in aller Deutlichkeit, um was es hier eigentlich geht: um eine Schweiz, die die Türen und Augen schliesst. Um eine Abschottungspolitik, die Leben kostet.


Zürcher Sozialamt muss Einsicht in Millionenverträge im Asylbereich gewähren

Nach zweijährigem Rechtsstreit gibt das Bundesgericht der Zeitung ‚Republik‘ Recht. Das Sozialamt und die Sicherheitsdirektion unter Leitung von Mario Fehr wollten die Verträge bis zuletzt geheim halten.

Die ‚Republik‘ hatte Anfang 2019 unter Berufung auf das kantonale Öffentlichkeitsgesetz Einsicht in die Verträge zwischen dem Kanton Zürich und den beiden Dienstleistern im Asylbereich ORS Service AG und Asyl-Organisation Zürich (AOZ) verlangt.
Die ORS AG erhielt im November 2018 vom Kanton den Zuschlag über 33,6 Millionen Franken für fünf Jahre, um die Betreuung von abgewiesenen Asylsuchenden zu gewährleisten. Die AOZ erhielt für den gleichen Zeitraum 83,26 Millionen Franken vom Zürcher Sozialamt, um die sogenannten Durchgangszentren sowie unbegleitete Minderjährige zu verwalten. Die beiden Organisationen stehen immer wieder in der Kritik: vor allem die gewinnorientierte ORS AG, die über verschiedene Holdings einer Firma in London gehört, welche ausserbörsliches Eigenkapital anlegt. Die ORS AG macht in der ganzen Schweiz rund 100 Millionen Franken Gewinn jährlich, die öffentlich-rechtliche AOZ unter Leitung des ehemaligen SP-Politikers Martin Waser setzt sogar 250 Millionen Franken um. Und das auf dem Rücken von Menschen, die in der Schweiz Asyl beantragen.
Obwohl der Kanton bereits seit zwanzig Jahren die Aufträge im Asylbereich an externe Firmen auslagert, gibt es erstaunlich wenig Transparenz über die Inhalte und Details dieser Aufträge. Das versuchte die ‚Republik‘ zu ändern, doch das Sozialamt unter Andrea Lübbenstedt stellte sich quer und hielt alle Verträge mit fadenscheinigen Ausreden unter Verschluss. Nachdem die ‚Republik‘ juristisch gegen diese Entschlüsse vorgegangen war und vom Zürcher Verwaltungsgericht im Mai 2020 Recht erhalten hatte, zog das Zürcher Sozialamt jedoch weiter vors Bundesgericht. Der notorisch rechte SP-Politiker und Leiter der Sicherheitsdirektion Mario Fehr erteilte Lübbenstedt eigenhändig die Befugnis vors Bundesgericht zu ziehen, welche sie ohne seine Ermächtigung nicht gehabt hätte. Warum liegen dem Zürcher Sozialamt und der Sicherheitsdirektion so viel daran, dass die Verträge nicht veröffentlicht werden? Das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe genau dieser Informationen (z.B. Betreuungsschlüssel, Pauschalen, Entschädigungen) sei schliesslich besonders hoch, hiess es im Urteil. Das werden wir erfahren, sobald sie auf Geheiss des Bundesgerichts und dank der Beharrlichkeit der ‚Republik‘ offen gelegt sind.

https://www.republik.ch/2021/03/31/republik-gewinnt-vor-bundesgericht
https://www.watson.ch/schweiz/migration/880824048-asylbereich-kanton-zuerich-muss-vertraege-offenlegen
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/asylbereich-kanton-zuerich-muss-vertraege-offenlegen-00155660/

Pilotprojekt in der Stadt Zürich für bessere medizinische Versorgung von Sans Papiers

Zürichs Regierungsrat hat ein Konzept für die bessere Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung entwickelt. Dies ist auch wegen der Corona-Pandemie längst überfällig. Der Zeitpunkt enthält aber gleichzeitig eine zynische Komponente.

Die Alternative Liste (AL) hat 2017 eine Motion eingereicht, um Sans-Papiers einen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Der Stadtrat hat nun ein Pilotprojekt entworfen. Davon profitieren würden nicht nur die 10´000 in der Stadt Zürich lebenden Sans Papiers, sondern alle Menschen ohne Krankenversicherung (z.B. Sexarbeiter*innen oder obdachlose Menschen). Bestehende Angebote sollen erweitert und gestärkt werden. Ausserdem möchte der Stadtrat herausfinden, wer auf die entsprechenden Angebote genau angewiesen ist. Die dreijährige Testphase kostet die Stadt insgesamt 4,5 Millionen Franken.
Die SVP lehnt die Motion erwartungsgemäss ab, Gemeinderat Walter Anken sagt: «Wir stecken wegen Corona mitten in einer Wirtschaftskrise, deren Dauer wir nicht kennen, deshalb müssen wir uns bei den Ausgaben auf das wirklich Notwendige beschränken.» Dass Sans Papiers von der Pandemie und der Wirtschaftskrise besonders betroffen sind, scheint ihn nicht zu interessieren. Obwohl die meisten Sans Papiers einer Arbeit nachgehen, haben sie wegen ihrem Status keine Chance bei Erwerbsausfall von Lohnfortzahlung oder Corona Hilfsgeldern zu profitieren. Auch haben sie eine höhere Ansteckungsgefahr, da sie oft in Bereichen arbeiten, in denen sie mit vielen Menschen in Kontakt kommen. Auch die GLP lehnt den Vorstoss ab und schiebt die Verantwortung an Kanton und Bund weiter.
Dass die Motion nun behandelt wird, ist längst überfällig. Denn viele Sans Papiers verzichten wegen der Kosten und aus Angst vor einer Ausweisung auf den Gang ins Spital. Gleichzeitig birgt der Zeitpunkt auch eine gewisse Zynik. Denn solange die medizinsche Unterversorgung nur die Sans Papiers selber betraf, war dies der Mehrheit offensichtlich egal. Da sie nun aber auch ein Ansteckungsrisiko für andere Menschen darstellen, werden sie zum Problem der ganzen Gesellschaft. Hier gibt es Analogien beispielsweise zur HIV-Epidemie. Solange sich nur obdachlose Drogenabhängige untereinander ansteckten, wurde nichts unternommen. Erst als sich auch vermehrt Menschen aus der Oberschicht ansteckten, wurden Massnahmen wie Spritzenabgaben eingeführt. Ausserdem bleibt zu hoffen, dass sich das Projekt auf das Bereitstellen der medizinischen Angebote konzentriert. Eine genaue Bedarfsabklärung kann den betroffenen Menschen natürlich helfen, weil dadurch die passenden Angebote geschaffen werden. Sie könnte aber auch zu einer weiteren Stigmatisierung von Sans Papiers führen, wenn die erhobenen Daten nicht sicher und zweckorientiert verwaltet werden.
Denn wie wir u.a. in der Wochenschau vom 11.1.2021 gezeigt haben, eiert die Stadt Zürich beim Thema Regularisierung von Sans Papiers weiter nur rum (Stichwort Zürich-City-Card). Dass die einzig sinnvolle Lösung eine sofortige und vollständige Legalisierung aller Sans-Papiers sein kann, ist wenigstens auch bei einigen Politiker*innen angekommen. Der Zürcher Stadtrat Daniel Leupi (Grüne) sagt darum im Gemeinderat in Anlehnung an den berühmten Spruch von Cato dem Älteren, unabhängig vom eigentlichen Thema, am Ende jeder Wortmeldung: «Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Regierungsrat Sans-Papiers regularisieren soll.»

https://www.tagesanzeiger.ch/streit-um-medizinische-behandlung-von-sans-papiers-101677312867
https://www.gemeinderat-zuerich.ch/geschaefte/detailansicht-geschaeft?gId=245bb63c-4d04-4bae-b928-7a0ebed8c9a6
https://www.zuericitycard.ch/arzt-sans-papiers

Demonstration für die Legalisierung von Sans Papiers (Symbolbild)
Demonstration für die Legalisierung von Sans Papiers (Symbolbild)

Was ist aufgefallen?

Zehnjähriges Mädchen nach Push-Back hospitalisiert

Ein zehnjähriges Mädchen erlitt nach einem Push-Back durch die französische Polizei einen Post-Traumatischen Schock und musste hospitalisiert werden. Gemeinsam mit anderen afghanischen Migrant*innen versuchte die Familie die Grenze zu überqueren.

Am frühen Morgen des 26. März versuchte eine Gruppe afghanischer Migrant*innen durch das Susatal die italienisch-französische Grenze zu überqueren. Doch die französische Polizei entdeckte die Gruppe, kesselte sie ein und forderten sie schreiend zum Umkehren auf. Schliesslich mussten sich die Migrant*innen zurück nach Italien in eine Unterkunft des Roten Kreuzes begeben. Dort wurde bei einem zehnjährigen Mädchen ein schwerer Post-Traumatischer Schock festgestellt. Mit sieben Jahren erlitt das Mädchen während eines Bombenanschlags Kopfverletzungen. Der Push-Back mitten in der Nacht im dunklen Wald und die uniformierten, bewaffneten Polizist*innen haben das Mädchen schwer getriggert. Sie konnte sich weder bewegen noch konnte sie sprechen, die traumatischen Erinnerungen an Krieg und Terror in Afghanistan lähmten sie völlig. Ein Arzt des Roten Kreuzes überwies sie ins Regina Margherita Kinderspital in Turin, wo sie behandelt wurde. Der Spitalaufenthalt ist jedoch nur akute Symptombekämpfung. Was dieses Mädchen dringend braucht, ist ein sicheres Zuhause. Laut UNICEF sind 40% aller Migrant*innen minderjährig. Die Kindheit ist eine wichtige Zeit im Leben eines Menschen. Auf den Erlebnissen dieser Jahre baut sich die komplette Prägung des menschlichen Gehirns auf. Die Erfahrungen einer Flucht sind für jeden Menschen schwer traumatisch, doch besonders für Kinder sind sie verheerend. Kein Kind sollte inmitten von Krieg und Terror aufwachsen. Kein Kind sollte die Kindheit in Lagern oder auf Fluchtrouten verbringen.

Afghan girl hospitalized in shock after border pushback – InfoMigrants
 

EU bekämpft Migration mit Hi-Tech an den Grenzen

Drohnen, Wärmebildkameras, Herzschlag-Detektoren: Die EU-Länder und Frontex setzen immer mehr Technologie ein, um migrierende Menschen an den EU-Aussengrenzen zu stoppen. Diese Enthumanisierung befördert auch die physische Gewalt gegen Menschen auf der Flucht.

Ein ausführlicher Artikel des Guardian beleuchtet, mit welchen technologischen Instrumenten die EU und ihre Grenzschutzagentur Frontex gegen Menschen vorgeht, die versuchen die Grenzen in die EU zu überwinden. Seit 2015 haben viele osteuropäische Staaten wie Ungarn, Kroatien und Rumänien ihre technologischen Hilfsmittel massiv aufgerüstet. Durch den Einsatz von Drohnen können Menschen auf der Flucht vom Grenzschutz in einer Distanz von bis zu sechs Kilometern aufgespürt werden. Früher starteten viele asylsuchende Menschen the game (das Spiel) – wie sie den Versuch die Grenze in die EU zu überqueren selber nennen – im Schutz der Dunkelheit. Durch den Einsatz von Wärmebildkameras ist ein Erfolg bei Nacht aber fast unmöglich geworden. Schlimmer noch: Die Grenzbeamt*innen nutzen die Dunkelheit ihrerseits für gewalttätige Übergriffe auf Schutzsuchende und illegale Pushbacks. Mittlerweile werden sogar Herzschlag-Detektoren eingesetzt, um Grenzübertritte zu verhindern.
Ein aktueller Report von BVMN (Border Violence Monitoring Network) zeigt detailliert auf, welche Rolle der Einsatz von Techologie für illegale Puckbacks von Kroatien nach Bosnien-Herzogovina und Serbien spielen. Auf ihrer Website listen sie auch hunderte von Fällen auf, in denen teils schwerwiegend Gewalt gegen Migrant*innen eingesetzt wurde. Frontex verneint hingegen jeglichen Zusammenhang zwischen der technologischen Aufrüstung und gewalttätigen Pushbacks in der Balkanregion. Die Zunahme sog. illegaler Migration und die Verbreitung von Mobiltelefonen, welche es einfacher machen, Vorfälle aufzuzeichnen, seien die Ursache der steigenden Meldungen.
Petra Molnar, stellvertretende Direktorin des Refugee Law Lab, glaubt, dass die Überbetonung von Technologien Migrant*innen entfremden und entmenschlichen kann. «Es gibt diese verlockende Lösung für wirklich komplexe Probleme», sagt sie. «Es ist viel einfacher, einen Haufen Drohnen oder eine Menge automatisierter Technologie zu verkaufen, anstatt sich mit den Triebkräften zu beschäftigen, die Menschen zur Migration zwingen (…) oder den Prozess humaner zu gestalten.»
Die technologische Aufrüstung ist genau wie die Bewaffnung von Frontex-Grenzbeamt*innen ein weiterer Schritt, Europa in eine Festung zu verwandeln. Schutzsuchenden Menschen wird quasi der Krieg erklärt. Faschistoide Regime rüsten sich mit der Zustimmung aus Brüssel auf und befeuern rassistische Übergriffe gegen Migrant*innen. Diese Entwicklung muss mit allen Mitteln bekämpft werden.

https://www.theguardian.com/global-development/2021/mar/26/eu-borders-migrants-hitech-surveillance-asylum-seekers
https://www.borderviolence.eu/ohchr-submission-the-role-of-technology-in-illegal-push-backs-from-croatia-to-bosnia-herzegovina-and-serbia/

Eine ungarische Patrouille an der mit Stacheldraht gesicherten Grenze zu Serbien.
Eine ungarische Patrouille an der mit Stacheldraht gesicherten Grenze zu Serbien.
Lager in Griechenland: Die Lage bleibt katastrophal
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson besuchte letztens die griechische Insel Lesbos und beschönigte anschliessend die katastrophale Lage vor Ort. Seit dem Brand in Moria hat sich Lage ür die geflüchteten Menschen weiter verschlechtert.
 
Der Osterappell von #evakuierenJETZT aus dem letzten Jahr, in dem acht schweizerische Städte, 132 Organisationen und knapp 50’000 Menschen gefordert hatten, Menschen aus den Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen, wurde dieses Jahr erneuert. In mehreren Städten gab es Aktionen von Aktivist*innen (siehe „Wo Gab’s Widerstand?“). Mittlerweile haben sich 16 Städte und Gemeinden zu dem Bündnis «Städte und Gemeinden für die Aufnahme von Flüchtlingen» zusammengeschlossen und wiederholt beim Bund ihre Forderungen vorgetragen. Doch die Regierung, allen voran Migrationschef Mario Gattiker und FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter, lassen diese an sich abperlen, wiederholen die Floskeln der ‚Hilfe vor Ort’ und nahmen symbolisch einige Dutzend Kinder aus Moria auf, welche ohnehin einen Schweizbezug haben. Und von den 1’600 Personen, die unabhängig davon im Rahmen des sogenannten Resettlement-Programms in die Schweiz hätten aufgenommen werden müssen, sind gerade einmal 330 Personen angekommen. Dabei wäre dringendes Handeln erforderlich.
Nach dem Brand in Moria im September 2020 haben sich die Umstände noch verschlechtert. Das neue Lager Kara Tepe kann nicht einmal grundlegende Menschenrechte einhalten. Die Bewohner*innen des Lagers sind der Bleiverseuchung des Bodens, den Wetterverhältnissen, physischen und sexualisierten Übergriffen ausgeliefert, die sanitären Bedingungen im Lager sind nach wie vor katastrophal, die Versorgung mit Elektrizität ist nicht gewährleistet, es gibt ungenügende medizinische Versorgung, kaum psychologische Betreuung und keine Zelte für Schulunterricht. Diese Forderungen zur Grundversorgung waren zu Weihnachten im Dezember von Bewohner*innen des Lagers in einem offenen Brief vorgetragen worden. Es gab jedoch keine Reaktionen der griechischen Regierung oder der europäischen Verantwortlichen mit dem Verweis darauf, dass Kara Tepe nur ein Übergangscamp sei, auf das im September geschlossene Camps folgen sollen. Diese geschlossenen Camps sollen hauptsächlich von EU-Geldern finanziert werden, welche jedoch rechtlich nur dafür benutzt werden dürfen, ‚offene‘ Camps zu bauen.
Auch einige Insel-Bewohner*innen fordern, dass die flüchtenden Menschen unter humaneren Bedingungen untergebracht und verteilt werden müssen. Es könne keine Lösung sein, Lesbos und Chios weiter als Auffangs- und Abschottungsort zu benutzen und Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen in geschlossenen Camps einzupferchen. Der Plan, die geschlossenen Camps zu bauen, ist ohnehin weit im Verzug. Das Grundstück für das Lager auf Lesbos, welches nur einige Kilometer neben einer Mülldeponie gebaut werden soll, ist nach wie vor unberührt. Bis Dezember hätte der Bau ausgeschrieben, bis Januar ein Finanzierungsantrag bei der EU geschrieben, bis März ein*e Campmanager*in ernannt werden müssen. All das ist nicht geschehen. Und so droht den knapp 7’000 Menschen im Lager ein weiterer Winter im dafür nicht ausgestatteten Kara Tepe.
Nicht, dass antira.org den Bau dieser geschlossenen Camps befürwortet, im Gegenteil. Aber wenn die momentanen Zustände mit Verweis auf diesen Bau nicht verändert werden, verläuft alles ins Leere. Die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson besuchte Lesbos jüngst und beschreibt auf ihrem Blog-Eintrag in hübschen Worten, der Frühling sei die richtige Zeit, um sich auf den Winter vorzubereiten. Dass sie jedoch weder mit Personen sprach, die gezwungen sind, in Kara Tepe zu leben noch sich mit migrantischen Selbst-Organisatioen in Verbindung setzte, zeigt einmal mehr, dass sich Johansson nicht wirklich für flüchtende Menschen interessiert.
 
https://evakuieren-jetzt.ch
https://www.woz.ch/2113/aufnahme-von-gefluechteten/keller-sutter-das-steuer-entreissen
https://www.spiegel.de/politik/ausland/lesbos-neues-fluechtlingslager-auf-lesbos-wird-nicht-rechtzeitig-fertig-a-84116738-f80a-4608-8ec3-61f09d89f56c
https://seebruecke.ch/event/die-schweiz-hat-platz-jetzt-gefluechtete-aus-lesbos-aufnehmen/
https://www.facebook.com/MoriaWhiteHelmets/posts/292135582429508
https://ec.europa.eu/commission/commissioners/2019-2024/johansson/blog/spring-best-time-prepare-winter-why-i-am-visiting-lesvos-now_en
ht
https://www.bernerzeitung.ch/bern-wiederholt-angebot-zur-aufnahme-von-fluechtlingen-128815678306
 https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2021/der-bundesrat-muss-handeln
https://www.srf.ch/news/schweiz/appell-an-den-bund-staedte-wiederholen-angebot-fuer-aufnahme-von-fluechtlingen
https://www.zentralplus.ch/diese-20-stuehle-sind-fuer-fluechtlinge-in-luzern-reserviert-2046209
EU-Kommission darf Seenotrettung finanziell unterstützen
Für das Massensterben im Mittelmeer ist die EU mit ihrer Abschottungspolitik verantwortlich. Für Seenotrettung hingegen nicht, behauptet zumindest die Europäische Kommission. Diese sei Aufgabe der Anrainerstaaten. Eine Studie zu den Pflichten und Kompetenzen der Europäischen Union kommt nun zu folgendem Schluss: “Nach aktueller Rechtslage ist gemäß Art. 214 Abs. 3 AEUV i.V.m. der Verordnung über die humanitäre Hilfe (Verordnung (EG) Nr. 1257/96) insbesondere eine finanzielle Hilfe an nichtstaatliche Organisationen und internationale Einrichtungen möglich, die sich für die Rettung von in Seenot geratenen Flüchtenden einsetzen.” Die EU-Kommission könnte also ohne Weiteres nichtstaatliche Organisationen finanziell unterstützen und so eine zivile Europäische Seenotrettungsmission aufbauen. Sie benötigt dazu die Zustimmung der Mitgliedstaaten nicht. Hoffen wir, dass diese Studie trotz Veröffentlichungsdatum kein Aprilscherz ist und sie bei den Herrschenden Gehör findet. Aktuell wählen die Schiffe der EU-Mission Irini bewusst Routen auf dem Mittelmeer, auf der sie keine Migrant*innen treffen.

Wo gabs Widerstand?

700 leere Stühle symbolisieren die Aufnahmebereitschaft der Schweizer Städte
Das Bündnis EvakuierenJETZT beging das einjährige Jubiläum des Schweizer Nichtstuns. 700 leere Stühle stehen auf dem Bundesplatz in Bern als Symbol für 7000 Menschen, die allein im neuen Camp Moria auf Lesbos festsitzen. 9 rote Stühle repräsentieren die kleine Zahl von circa 90 Minderjährigen, die als Familiennachzug im letzten Jahr in die Schweiz kommen durften. Mit einer Pressekonferenz und dieser medienwirksamen Aktion wird ein starkes Zeichen gesetzt, dass es in der Schweiz zahlreiche Gegenstimmen gegen die betriebene Politik der Abschottung gibt. Über 30 Städte und Gemeinden sind bereit, geflüchtete Menschen von den griechischen Inseln aufzunehmen. Auch in Lausanne, Luzern, Buchs und Genf fanden Aktionen statt. #WirhabenPlatz
 
700 leere Stühle vor dem Bundeshaus in Bern.
700 leere Stühle vor dem Bundeshaus in Bern.
Neue Platzbesetzung in Paris
Fast 500 obdachlose Geflüchtete haben am letzten Dienstag den Place de la République während mehrerer Stunden besetzt. Der Verein Utopia 56 unterstützte die Aktion und gab an, dass „Die Regierung […] sich nicht bewusst zu sein [scheint], dass sie die verwundbarsten unter uns während der Pandemie druassen schlafen lässt.“ Nach mehreren Stunden Verhandlungen mit den Behörden haben diese für die anwesendenden Menschen Unterkünfte organisiert. Die Aktion endete friedlich, anders als im letzten November, als eine ähnliche Platzbesetzung in Paris mit massiver Polizeigewalt geräumt wurde.
 
 

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Oot now: Alarm Phone Aegean Archive
Dear friends,

During the last weeks we have put a lot of effort into a new publication about the ongoing bordercrimes in the Aegean. Today we published an interactive map and an extensive report on https://aeg.bordercrimes.net/
Twitter-thread: https://twitter.com/alarm_phone/status/1377164125852246028
Help us sharing these stories with the world so that nobody can one day say „we did not know“ and let’s continue the fight against the border regime until freedom of movement becomes a right for everyone!
https://aeg.bordercrimes.net/

Decision-Making under Uncertainty: African Migrants in the Spotlight
This thematic issue examines questions of decision-making under limited (and contradictory) information, focusing on migration decisions. Migrants are far from a homogenous population, but they commonly use narratives as heuristics. We observe much agency among migrants to pursue migration plans, with migration decisions best understood as chains of multiple decisions rather than simple push-pull or two-step models.
https://www.cogitatiopress.com/socialinclusion/issue/viewIssue/227/PDF227

The Violent Hellenic Police
Post by Andriani Fili, Managing Editor and Associate Director at Border Criminologies. Her PhD at Lancaster University explores the immigration detention system in Greece and records resistance against it. https://www.law.ox.ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2021/03/violent-hellenic