Medienspiegel 27. März 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++GRIECHENLAND
Griechenland setzt Menschen auf dem Meer aus: Uno-Flüchtlingshilfswerk zählt Hunderte mutmaßliche Pushbacks
Das Uno-Flüchtlingshilfswerk hat den griechischen Behörden nach SPIEGEL-Informationen Hinweise auf »mehrere Hundert« mutmaßliche Pushbacks übergeben. Die Organisation warnt: Das Recht auf Asyl sei in Gefahr.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/uno-fluechtlingshilfswerk-zaehlt-hunderte-mutmassliche-pushbacks-a-01b3fb03-0af7-4643-aa48-e217729716eb


+++FLUCHT
Schmutzig ans rettende Ufer
Menschenschmuggel gilt als Verbrechen. Warum das in der Geschichte nicht immer so war. Und warum geschlossene, hochgerüstete Grenzen dagegen nicht helfen – im Gegenteil.
https://www.republik.ch/2021/03/27/schmutzig-ans-rettende-ufer


+++GASSE
Experte über Bettelnde: «Die Organisation erinnert an jene der Strassenprostitution»

Zsolt Temesvary hat im Rahmen eines Studiengangs Bettelnde interviewt. Der bz erzählt der Dozent der Fachhochschule Nordwestschweiz erstmals von den neusten Erkenntnissen seiner Forschungsgruppe.

Nora Bader

Sie sitzen vor Ladeneingängen, sprechen Tramreisende oder Menschen auf öffentlichen Plätzen an. Seit Basel das Bettelverbot gelockert hat, beschäftigen die Menschen aus Osteuropa die Stadt und die Politik. Die einen zeigen sich solidarisch mit ihnen, andere stören sich an den Szenen, die je länger, je mehr zum Stadtbild zu gehören scheinen.

«Die Bettelnden werden nicht mehr aus Basel verschwinden», sagt Zsolt Temesvary. Er ist derzeit Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und unter anderem spezialisiert auf Obdachlosigkeit bedürftiger Migranten aus Osteuropa. Was in Städten wie Amsterdam, Brüssel, London oder Hamburg längst völlig normal sei, komme in Basel jetzt einfach verspätet an, so Temesvary.

Der letzte Ausweg, um Geld zu verdienen

Seit 2018 lebt der gebürtige Ungar in Basel und hat die Situation in der Schweiz beobachtet und erforscht. Hier hat er, unterstützt von einem Bundesstipendium, eine Forschung unter osteuropäischen Obdachlosen in der Schweiz in Angriff genommen. Im Herbst des vergangenen Jahres habe er erstmals mit Studierenden Daten in Bezug auf die Bettelnden in Basel gesammelt, sprich etwa 20 Menschen auf der Strasse begleitet, sich ihre Geschichten angehört. Dies im Rahmen eines Moduls der FHNW und ohne Auftrag der hiesigen Behörden.

«Die Bettelnden stammen fast ausschliesslich aus Rumänien, einzelne aus der Slowakei oder aus Ungarn», so Temesvary. Es handle sich primär um Grossfamilien, die in ihrer Heimat von grosser Armut betroffen seien. Sie kämen nicht hierher, sähen sie darin nicht den letzten Ausweg, Geld zu verdienen. «Das ist eine rationale Entscheidung», so Temesvary.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen bandemässigen Bettelns

Anders sehen dies die Behörden. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt derzeit mehrere Verfahren wegen bandenmässigen Bettelns, wie es gestern auf Anfrage heisst. Mehr könne man derzeit nicht sagen, da die Verfahren noch laufen würden.

Zsolt Temesvary hingegen bezweifelt, dass kriminelle Machenschaften oder Schlepper hinter der Betteltätigkeit in Basel stecken. Jedenfalls konnte dieser Verdacht durch die vorhandenen Informationen der FHNW nicht erhärtet werden. Der Zwang komme nicht von sogenannten Bettelbossen, sondern wenn, dann aus den Familien selber. Denn: «Natürlich kann Kriminalität auch in Grossfamilien vorkommen», so Temesvary. Und die Oberhäupter der Familien seien gerade bei Roma oft die Frauen. Überhaupt beobachte er, dass immer mehr Frauen einreisen würden.

Interessant: Die Beobachtungen einer FHNW-Forschungsgruppe mit Forschenden aus Basel und Genf führen nach bisherigen Erkenntnissen zum Schluss, dass es bei der Organisation viele Ähnlichkeiten zur Strassenprostitution gibt. «Wir reden diesbezüglich von einem länger bekannten Phänomen: Viele osteuropäische Frauen tauchten plötzlich auf den Schweizer Strassenstrichen auf, man vermutete kriminelle Machenschaften im Hintergrund.» Trotz gross angelegter Aktionen der Polizei in Basel oder auch in Zürich seien die meisten Frauen geblieben, oder auf den Strassenstrich zurückgekehrt. «Weil es nämlich keinen Zwang gab, ausser den ihrer Familien, Geld nach Hause zu schicken.»

Die Zwangssituation kommt also oft aus der Familie. Es handle sich um sehr arme Menschen, hinter denen in der Heimat fünf bis sechs Personen stehen würden, die versorgt werden müssten und die sich auf die Einkünfte aus der Betteltätigkeit verlassen würden, so Temesvary. Betteln sei eine Strategie und den Menschen sei es egal, ob sie nun in London oder Basel auf der Strasse sitzen würden. «Es gab eine sogenannte Sommergruppe in Basel», berichtet Temesvary von den persönlichen Beobachtungen und Ergebnissen aus dem FHNW-Wahlmodul.

Diese Menschen seien nach Hause gereist und hätten erzählt, wie es in Basel laufe, dass sie «gut» verdienten. Darauf seien weitere Menschen aus armen osteuropäischen Ländern gefolgt. Darunter erfahrene Bettelnde, die dieser Tätigkeit teilweise seit über zehn Jahren nachgehen würden. «Es gab aber auch Menschen, die nach zwei Wochen wieder heimreisten, weil sie es zu unwürdig fanden, zu betteln», so Temesvary. Dass über Ostern Bettelnde nach Hause reisen würden, bezweifelt er. «Sie wollen nicht riskieren, nicht mehr zurückzukönnen.» Denn wegen Corona sind vielerorts die Grenzen geschlossen.

Der Osteuropa-Experte stellt fest, dass die Bettelnden mit Billigflugairlines reisen, während sie früher mit dem Flixbus oder per Zug in die Schweiz kamen. Das koste dann retour um die 100 Franken. In guten Zeiten würden Bettelnde 300 bis 400 Franken im Monat verdienen; mit Strassenmusik 800 bis 1000. In Zeiten der Pandemie sei es deutlich weniger, aber immer noch mehr als ein Minimallohn bei einem Job in ihrer Heimat.

Die Sozialpolitik hinkt hinterher

Es gebe zwei Ebenen der Problematik: «Die Politik hat das Gesetz gelockert, aber dabei die Sozialpolitik zu wenig bedacht», so Temesvary. Wo schlafen diese Menschen, wo essen sie? Auch das habe er in anderen europäischen Städten schon beobachtet. «Die Sozialpolitik kommt dann immer erst verspätet.» Aktuell befinde sich Basel im «Emergency Modus». Ob die Gesetzeslockerung eine Einladung gewesen sei, könne er nicht sagen.

Ein Problem seien die Bedingungen, an welche die Hilfeleistungen in Basel geknüpft seien. «Niederschwelligkeit funktioniert nicht so», sagt Zsolt. Deshalb setzte man auf NGOs wie den Schwarzen Peter oder die Gassenküche, wo «Niederschwelligkeit noch Niederschwelligkeit ist».

Was stört die Basler an den Bettelnden?

Was aber ist es, was die Baslerinnen und Basler so an diesem Bild der Bettelnden stört? «In erster Linie ist es, dass Obdachlosigkeit und Mittellosigkeit sichtbar werden», so Temesvary. Vorher sei die grosse Armut eher die verborgene Obdachlosigkeit gewesen. Die Sichtbarkeit sei für Schweizer etwas Neues, auch das Ausmass, dass wirklich viele hier seien durch die sogenannte Fluid Migration. «Schweizerinnen und Schweizer beginnen, am Wohlfahrtsstaat zu zweifeln. Der Glaube an die soziale Sicherheit wackelt, wenn man importierte soziale Probleme auf den Strassen sieht.»

Ob die Bettelnden irgendwann wirklich zu Basels Stadtbild gehören werden, wird sich zeigen. Aktuell liegt der Ball beim Regierungsrat, der einen Vorschlag für die Wiedereinführung des Bettelverbots zuhanden des Grossen Rates erarbeiten muss.
(https://www.bzbasel.ch/basel/fhnw-experte-ueber-bettelnde-die-organisation-erinnert-an-jene-der-strassenprostitution-ld.2119031)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Gummischrot und Festnahmen: Rund 250 Personen demonstrierten im Kreis 4 – weit kamen sie nicht
Etwa 250 Menschen protestierten für bessere Bedingungen in der Pflegebranche und eine gerechte Verteilung der Covid-19-Impfstoffe. Die Polizei war mit einem Grossaufgebot vor Ort.
https://www.tagesanzeiger.ch/demonstration-im-kreis-4-polizei-mit-grossaufgebot-vor-ort-876952742276
-> https://www.20min.ch/story/videos-zeigen-polizeieinsatz-in-zuerich-208612838284
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/verkehrsbehinderungen-in-zuerich-wegen-demonstration-von-corona-massnahmen-skeptikern-00155384
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/videos/zuerich-unbewilligte-demo-im-kreis-4-zwei-personen-festgenommen-ld.2119417
-> https://www.landbote.ch/polizei-loest-unbewilligte-corona-demonstration-im-kreis-vier-auf-304047726918
-> https://www.stadt-zuerich.ch/pd/de/index/stadtpolizei_zuerich/medien/medienmitteilungen/2021/maerz/demonstration_imkreis4.html
-> https://twitter.com/ajour_mag
-> https://twitter.com/__investigate__
-> https://twitter.com/MegahexF
-> https://twitter.com/sozialismus_ch
-> https://twitter.com/femstreikzh
-> Liveradio: https://www.megahex.fm/
-> https://barrikade.info/article/4336
-> Demo-Aufruf: https://barrikade.info/article/4224


Prozess gegen das Migrationsregime
Gegenprozess gegen das Migrationsregime – 10.4. 14.00 vor dem BGZ Zürich!Verfügung vom 18. März 2021 in Sachen Antikapitalistische Bewegung gegen Kapitalismus betreffend Mord an Sezgin Dağ infolge von Ausbeutung, Rassismus und Repression.
https://barrikade.info/article/4340


Genève : Charge à moto contre la Critical mass
Nouvel épisode de répression dans l’Absurdistan calviniste
https://renverse.co/infos-locales/article/geneve-charge-a-moto-contre-la-critical-mass-2998


TEENIE-RIOTS:
-> https://www.nzz.ch/panorama/corona-krawalle-in-st-gallen-zusammenstoesse-zwischen-partygaengern-und-der-polizei-ld.1608915
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/viele-alkoholisierte-dabei-corona-gewalt-in-der-stadt-stgallen-polizei-raeumt-roten-platz-junge-partygaenger-reagieren-mit-steinwuerfen-und-blinder-zerstoerungswut-ld.2119363
-> https://www.20min.ch/story/st-galler-polizei-loest-illegale-party-beim-roten-platz-auf-950826985344
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nach-illegaler-party-zusammenstoesse-zwischen-polizei-und-jugendlichen-in-st-gallen
-> https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/625863570-corona-schweiz-wueste-ausschreitungen-in-st-gallen
-> https://www.blick.ch/schweiz/corona-frust-bei-den-jungen-illegale-partys-in-der-ganzen-schweiz-id16424316.html
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/politiker-von-links-bis-rechts-schockiert-ueber-saubannerzug-in-stgaller-innenstadt-00155380
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/interview-stgaller-stadtpraesidentin-pappa-ueber-die-krawallnacht-diese-ausschreitungen-sind-inakzeptabel-ld.2119382
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kommentar-gewalt-ist-nie-eine-loesung-ld.2119388
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/polizei-loest-in-st-gallen-illegale-party-von-jugendlichen-auf-00155361
-> https://www.20min.ch/story/die-polizisten-waren-mit-der-situation-ueberfordert-127184736365
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kommentar-gewalt-ist-nie-eine-loesung-ld.2119388
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/nach-aufgeloester-party-junge-randalieren-in-st-gallen-141340445
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/zusammenstoesse-zwischen-polizei-und-jugendlichen-in-st–gallen?urn=urn:srf:video:fe15c20a-44d5-4a84-8306-c4de2559c130
-> https://www.telem1.ch/aktuell/krawallnacht-nach-illegaler-corona-party-wueteten-partygaenger-141340861
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/ausschreitungen-in-st-gallen-141341067
-> https://www.blick.ch/schweiz/ostschweiz/einer-warf-einen-briefkasten-gabriele-gattuso-war-an-der-chaosnacht-von-st-gallen-dabei-id16425424.html



tagblatt.ch 27.03.2021

Polizeisprecher nach den Ausschreitungen in St.Gallen: «Es gibt Indizien, dass Teilnehmer an einer der illegalen Partys von Anfang an auf Gewalt aus waren»

Die Aufarbeitung der Ausschreitungen in der Nacht von Freitag auf Samstag in der St.Galler Altstadt werden die Polizei mehrere Wochen beschäftigen. Ob und wie viele Strafanzeigen es geben wird, ist offen. Ein Teil der randalierenden Teilnehmer an einer illegalen Party im Bleicheli war offenbar von Anfang an auf Gewalt aus.

Reto Voneschen

Nach illegalen Partys auf Drei Weieren und im Bleicheli ist es in der St.Galler Innenstadt zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen meist jungen Partygängern und der Polizei gekommen. Dabei war offensichtlich viel Alkohol im Spiel, es kam zu chaotischen Szenen und Sachschaden von mehreren zehntausend Franken. Zwischen dem Oberen Graben und der Kirche St.Laurenzen wurde über ein Dutzend Schaufensterscheiben eingeschlagen. Die Lage beruhigte sich erst nach Mitternacht.

Neun vorübergehende Festnahmen und 60 Personenkontrollen

Die Polizei leistete in der Nacht von Freitag auf Samstag einen Grosseinsatz. Wie viele Angehörige der Stadtpolizei St.Gallen sowie der Kantonspolizeien St.Gallen und Appenzell Ausserrhoden im Einsatz standen, wird aus taktischen Gründen nicht offengelegt. Es sei ein Grosseinsatz gewesen, wird auf Nachfrage von Dionys Widmer, dem Sprecher der Stadtpolizei bestätigt.

Die Polizei nahm in der Nacht neun Personen vorübergehend fest. Sie seien nach einer Kontrolle und der Überprüfung der Identität auf dem Polizeiposten wieder auf freien Fuss gesetzt worden, sagt Dionys Widmer. «Weitere 60 Personen wurden im Zuge der Ausschreitungen in der Altstadt vor Ort kontrolliert. Bei allen Überprüften wird jetzt geklärt, ob sie für die eine oder andere Straftat infrage kommen.»

Aufarbeitung wird mehrere Wochen dauern

Die Aufarbeitung der Krawallnacht wird die Stadt- und Kantonspolizei mehrere Wochen beschäftigen. Zuerst müsse man alle Fakten zusammentragen, sagt Polizeisprecher Dionys Widmer. Dabei werde man auch klären müssen, welche Personen für welche Straftaten infrage kämen und was man wem dann auch tatsächlich nachweisen könne.

Unklar ist im Moment auch noch, welche Tatbestände genau verfolgt werden müssen. Dass es mit Sicherheit um den Tatbestand der Sachbeschädigung gehen werde, sehe man auf den Videos von den Ausschreitungen, sagt der Polizeisprecher. Was sonst noch dazu komme, sei Gegenstand der weiteren Abklärungen. Angesichts eines verletzten Polizisten denkbar sind Körperverletzung oder Gewalt und Drohung gegen Beamte.

Teilnehmer aus dem ganzen Einzugsgebiet der Partystadt

An der St.Galler Krawallnacht waren nach Schätzung der Polizei rund 200 Personen beteiligt. Das Durchschnittsalter liege wohl etwa bei 20 Jahren, doch habe es auch etliche Minderjährige darunter gehabt, schätzt Polizeisprecher Widmer. Viele dieser Personen sind ausserhalb der Stadt im Kanton St.Gallen wohnhaft und andere stammen aus dem Thurgau.

Der ganze weitere Einzugsbereich der Partystadt St.Gallen dürfte vertreten gewesen sein. Indiz dafür ist für die Polizei auch, dass die Ausschreitungen mit der Abfahrt der letzten, gut besetzten Züge abebbten. Die Partys auf Drei Weieren und im Bleicheli waren in den Sozialen Medien breit publik gemacht worden.

Hätte man die Ausschreitungen verhindern können?

Eine Frage, die sich nach einer Krawallnacht wie jener in St.Gallen immer stellt, ist, ob Ausschreitungen durch eine andere Polizeitaktik hätten verhindert werden können. Also ob man die jungen Leute nicht gescheiter auf Drei Weieren hätte weitab vom Stadtzentrum und örtlich begrenzt festen lassen sollen, obwohl das derzeit untersagt ist.

Dagegen, dass diese Strategie geklappt hätte, spricht bei näherer Betrachtung, dass gleichzeitig zu einer Party auf Drei Weieren und einer im Bleichli aufgerufen worden war. Zudem wurde nach Polizeiangaben in den Aufrufen zum Treffen auf dem roten Platz bereits mit Gewalt gegen die Polizei gedroht.

Auf Drei Weieren friedlich, im Bleicheli aggressiv gegen Dritte und Polizei

Auf Drei Weieren stellte sich die Frage nach Tolerierung des illegalen Fests gar nicht: Hier sei die Polizei stark präsent gewesen, habe den Zugang abgeriegelt und den Dialog gesucht. Ein Durchgreifen und Auflösen der Party sei aber gar nicht nötig gewesen, sagt Dionys Widmer. Die jungen Leute hätten hier das Feld freiwillig geräumt.

Auch auf dem roten Platz sei die Polizei von Anfang an präsent gewesen und habe die Situation beobachtet. Hier habe man ab dem Ende der Party auf Drei Weieren grossen Zulauf festgestellt, schildert Polizeisprecher Widmer. In der Folge sei von Teilen des Partyvolks der Verkehr blockiert worden. Zudem seien Gegenstände auf Autos Unbeteiligter wie auf die Polizei geworfen worden. Da habe diese durchgreifen müssen.

Polizei sucht Augenzeugen und Videos

Die St.Galler Stadtpolizei sucht weiterhin Personen, welche die Ausschreitungen gefilmt oder fotografiert haben. Zur Klärung verschiedener Tatbestände könnten Videos und Bilder von Augenzeugen Hinweise liefern. Weiter werden in einer Mitteilung Personen gebeten sich zu melden, die Aussagen zu den Sachbeschädigungen machen können. Hinweise werden unter 071’224’60’00 oder mailbox.polizei@stadt.sg.ch entgegengenommen.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/krawallnacht-nach-den-ausschreitungen-in-stgallen-es-gibt-indizien-dass-teilnehmer-an-einer-der-illegalen-partys-von-anfang-an-auf-gewalt-aus-waren-ld.2119387)



tagblatt.ch 27.03.2021

«Unglaublich, dass das bei uns passiert»: Am Morgen nach der Krawallnacht beseitigen Gewerbler in der St.Galler Altstadt die Spuren

Die Ausschreitungen junger Partygänger in der Nacht auf Samstag haben Spuren hinterlassen. Hinter den kaputten Schaufenstern sind Gewerbetreibende und Gastronomen am Morgen danach mit Aufräumen beschäftigt. Pro-City-Präsident Ralph Bleuer ist sprachlos.

Luca Ghiselli

So hatten sie sich ihr Wochenende nicht vorgestellt: Beatrice Niedermann Schärer und ihr Mann Stephan stehen vor den Schaufenstern ihres Antiquitätengeschäfts «Trudy & Vinz» an der Gallusstrasse. Oder besser: Sie stehen vor dem, was davon übriggeblieben ist nach den Ausschreitungen von Freitagnacht. Vier von fünf Fenstern sind zu Bruch gegangen, die Feuerwehr hat sie noch in der Nacht provisorisch mit Brettern verschlossen.

Niedermann Schärer zeigt auf eine abgebrochene Hälfte eines Sonnnenschirmständers aus Stein. «Den haben sie uns durchs Fenster geworfen.» Dabei ging so gut wie alles, was in den liebevoll gestalteten Auslagen ausgestellt war, in die Brüche.

Sie hätten am frühen Morgen von den Schäden erfahren, sagen die Betreiber von «Trudy & Vinz». Immerhin hätten sie gut geschlafen. Aber auf das böse Erwachen am Samstag hätten sie gerne verzichtet. Fünf Stunden haben sie bis Mittag bereits mit Aufräumen verbracht. «Ich habe kein Verständnis für diese blinde Zerstörungswut», sagt Beatrice Niedermann Schärer. Niemand habe Freude an den Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, alle würden sich die Normalität zurückwünschen. «Aber das ist einfach eine wehleidige Gesellschaft.»
Die Nachbarschaftshilfe funktioniert

Die Nachbarschaftshilfe am Gallusplatz spielt bestens an diesem Samstagmorgen. Inhaberinnen von benachbarten Geschäften sehen nach dem Rechten, drücken ihr Bedauern aus, bieten Unterstützung bei den Aufräumarbeiten an. Auch der Quartierpolizist dreht seine Runde. Jemand bringt eine Flasche Prosecco zum Trost vorbei. St.Gallen sei doch eigentlich eine heile Welt. «Unglaublich, dass das bei uns passiert.»

Wie gross der entstandene Sachschaden bei «Trudy & Vinz »ist, sei derzeit noch schwierig zu beziffern. Niedermann Schärer schätzt ihn auf einige tausend Franken. Trotz des Scherbenhaufens gibt sie nicht auf: «Keep buggering on», zitiert sie Winston Churchills Durchhalteparole. Mach einfach weiter.

Auch in der übrigen südlichen und mittleren Altstadt ist die Verwüstung am Samstagvormittag sichtbar: Zerbrochene Blumentöpfe; Erde, die auf der Gasse verstreut liegt, und dutzende Holzbretter vor den Schaufenstern.

Pro-City-Präsident ist schockiert

Ralph Bleuer, Präsident der Detailhandelsvereinigung Pro City St.Gallen, zeigt sich auf Anfrage über die Ausschreitungen in der Partynacht schockiert. «Die betroffenen Geschäfte leiden unter der aktuellen Situation ohnehin schon, und werden jetzt noch von diesen Chaoten geplagt.» Die Schäden seien zwar ein Fall für die Versicherung, aber: «Den Ärger und die Arbeit haben die Gewerbler und Gastronomen trotzdem.»

Und das in Zeiten, die ohnehin schon schwer genug seien. Er könne den Frust der jungen Partygänger bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen, sagt Bleuer. «Aber es ist einfach nichts anderes als fies, jene zu bestrafen, die mindestens so sehr leiden wie sie selbst.» Denn an kleinen Geschäften und Gastronomiebetrieben, die in der Nacht auf Samstag beschädigt wurden, hingen Existenzen, sagt Bleuer. Und: «Das macht mich einfach sprachlos.»
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/ausschreitungen-unglaublich-dass-das-bei-uns-passiert-am-morgen-nach-der-krawallnacht-beseitigen-gewerbler-in-der-altstadt-die-spuren-ld.2119392)



derbund.ch 27.03.2021

Bei den Zadisten in der Romandie: Sie wollen bleiben bis zuletzt

Klimaaktivisten besetzen seit Oktober einen Hügel in der Waadt und demonstrieren gegen die Ausweitung des Kalkabbaus. Nun droht die Räumung. Die jungen Leute aber leisten Widerstand.

Salome Müller, La Sarraz

Eine Sirene heult, ein Knall ertönt. Die Erde bebt. Im Steinbruch auf dem Hügel Mormont im Kanton Waadt wird Gestein aus dem Felsen gesprengt. Jay fasst sich an die Brust, als fühle sie einen Schmerz. Sie sagt: «Ich bin mit der Erde verbunden. Wenn sie verwundet wird, werde auch ich verwundet.»

Jay ist eine der Klimaaktivistinnen, die seit Mitte Oktober auf dem Mormont leben. Der Hügel, 605 Meter hoch, liegt zwischen den Gemeinden Eclépens und La Sarraz, oberhalb von Lausanne. Das Gelände gehört dem internationalen Konzern LafargeHolcim, es wird von den zwanzig, dreissig Aktivisten illegal besetzt. Auf Luftaufnahmen sieht der Hügel aus wie ein Kopf, bei dem sich Geheimratsecken bilden – hinten dicht bewachsen, vorne abgetragen.

Jay und die anderen Aktivisten behalten ihren richtigen Namen für sich und bleiben bei ihrer persönlichen Geschichte vage. Sie wollen ihre Identität schützen. Sie kommen aus der Romandie, der Deutschschweiz, dem Ausland. Mit Brettern, Ästen und farbigen Fahnen haben sie auf dem Hügel eine Sperrzone errichtet, eine «Zone à défendre» (ZAD). Die Grenze wird wie ein Militärareal bewacht, ein junger Mann sitzt als Wächter hinter den Holzlatten.

Die Zadisten, so nennen sich die Aktivisten, wollen die Natur vor der Ausweitung des Steinbruchs schützen. LafargeHolcim, der grösste Zementproduzent der Welt, trägt hier seit Jahrzehnten Kalkstein ab. In Eclépens produziert der Schweizer Ableger jedes Jahr 800’000 Tonnen Zement. Und verursacht damit 400’000 Tonnen CO₂.

Konkrete Antwort auf globale Frage

Holcim will mit der Erweiterung des Steinbruchs sicherstellen, dass bis im Jahr 2035 Kalk gewonnen werden kann. Ein Sprecher schreibt: «Das Werk deckt die starke Baunachfrage in der Romandie ab und ist für die Versorgung der Region unerlässlich.» Die Zadisten jedoch fragen: Wie könnten Menschen leben, ohne die Natur auszubeuten?

Die Aktivisten haben sich auf dem Mormont auch niedergelassen, um an einem konkreten Ort eine konkrete Antwort auf diese globale Frage zu bekommen.

Jay glaubt, Menschen könnten allein mit einer Stirnlampe und einer Wasserflasche leben. Die Lampe hängt um ihren Hals, die Flasche an ihrem Hosenbund. Jay steigt auf einem Trampelpfad den Hügel hinauf. Auf einem Holzschild steht in drei Sprachen: «Dieser Ort ist reich an biologischer Vielfalt. Bitte geh auf dem Fussweg und lasse keinen Abfall liegen.»

Rote Fähnchen auf der Wiese markieren, wo wilde Orchideen wachsen. Die jungen Menschen haben Zelte errichtet, Baumhütten mit Glasfenstern gezimmert, einen Pizzaofen gebaut. Sympathisantinnen spendierten Säcke voller Kleider, ein Arzt brachte Covid-Selbsttests vorbei. In einem heruntergekommenen Haus wird veganes Essen zubereitet, gekocht wird mit gesammeltem Regenwasser.

Die Aktivisten besprechen sich täglich in der Gruppe. Sie bilden Teams, um Trinkwasser zu beschaffen, sich bei der Bewachung der Zone abzuwechseln. Unbekannte hätten versucht, ins Camp einzudringen. Jay sagt, das Ziel sei, dass jeder und jede gehört werde. Und dass allen wohl sei. Es gibt ein Careteam, das sich um die Leute kümmert. Wenn jemand Neues zur Gruppe stosse, sei die erste Frage: Mit welchem Pronomen fühlst du dich angesprochen? Mit «er», «sie», weder – noch? Jay sagt: «Wir leben nach dem Prinzip des Konsenses.»

Die Aktivisten haben sich mit der Schutzzone eine Utopie erschaffen.

Die Utopie gibt es seit fünf Monaten. Auf Boden, der anderen gehört. Die Zadisten sagen: Der Mormont sollte allen gehören.

Bald wird die Utopie enden. Holcim hat rechtliche Schritte gegen die Besetzerinnen und Besetzer eingeleitet. Ein Gericht verordnete, dass sie den Hügel bis Ende März verlassen müssen. Drohnen kreisen über dem Mormont. Jay glaubt, sie würden von der Polizei überwacht. Unten beim Dorf wurde die Zufahrt gesperrt. Noch fünf Tage bis zum 31. März.

Die Aktivisten bereiten sich auf das Ende vor. Sie mobilisieren auf Facebook, Twitter, Telegram. Gleichgesinnte sollen sich «in der wichtigsten Woche» solidarisieren. Sie sollen zu ihnen auf den Hügel Mormont kommen, Material für die Verteidigung mitbringen: Kletterhaken, Draht, Nägel, Ketten. Die Zadisten sagen nicht, was sie damit vorhaben, sie planen einen «kreativen, wunderschönen Widerstand». Jay sagt, dass die Gruppe Gewalt ablehne. «Gewalt ist, unsere Natur zu zerstören.»

Die Zadisten werden mehr. Es gibt Gerüchte, dass sich auf dem Mormont Randständige und Drogensüchtige aufhalten. Jay sagt: «Mit solchen Aussagen will man uns schlechtmachen.» An diesem Nachmittag kommen junge Menschen vom Bahnhof La Sarraz hoch zum Hügel, mit Trekkingrucksäcken und Kanistern voll Wasser. Carola Rackete, die deutsche Kapitänin und Aktivistin, hat sich auf Twitter angekündigt.

Aber wird das reichen für eine Veränderung – wenigstens im Kleinen?

Offener Brief an die Kantonsregierung

Die Sorge um den Mormont hat eine Vorgeschichte. 2013 haben Anwohnerinnen den Verein «Association pour la Sauvegarde du Mormont» gegründet. Der Verein hat gegen den Ausbau des Steinbruchs Einsprache erhoben, mit Unterstützung von Pro Natura und WWF.

Im vergangenen Frühling hat das Kantonsgericht die Beschwerde abgelehnt. Der Verein zog den Fall an das Bundesgericht weiter, der Entscheid hätte im Winter eintreffen sollen. Er steht noch aus. Die Zadisten sind im Herbst auf den Mormont gezogen, um den Druck zu erhöhen.

Vor zwei Wochen haben 130 Parlamentarier und Parlamentarierinnen die Regierung in einem offenen Brief gebeten, den Aktivisten entgegenzukommen. Sie schrieben, dass sie in der Besetzung eine «bürgerliche Legitimität» erkennen. Die Behörden sollen sich vor der Räumung mit den Aktivisten treffen und «konstruktive, ökologische und demokratische Lösungen vorschlagen». Die Grünen beantragten im kantonalen Parlament, den Schutz des Mormonts in die Verfassung zu schreiben.

Jay sagt, sie hätten mit Politikern Gespräche geführt. Mit Daniel Develey, dem freisinnigen Gemeindepräsidenten von La Sarraz, und auch mit Béatrice Métraux, der grünen Departementsvorsteherin für Umwelt und Sicherheit.

Daniel Develey habe die «Zone à défendre» als «Zone déchets» bezeichnet, als Müllkippe. Develey sagt auf Nachfrage, dies stimme nicht. «Aber die Unhöflichkeit und die Schäden, die von bestimmten Bewohnern verursacht wurden, zeigen, dass die Schutzzone ein gesetzloser Raum ist.» Develey meint die illegale Besetzung, das unerlaubte Campieren, die errichteten Grenzen. Der Dialog sei leider schnell unmöglich geworden.

Jay sagt, Béatrice Métraux habe versprochen, sich für den Schutz des Hügels einzusetzen. «Aber wann soll dies geschehen?» Es müsse sich jetzt etwas ändern, nicht irgendwann in der Zukunft.

Béatrice Métraux sagt, mit den Zadisten sei vereinbart, keine Angaben zum Inhalt des Gesprächs zu machen. Die Aktivisten würden gesellschaftliche Fragen aufwerfen, die Regierung arbeite daran. «Aber solche Fragen können nicht innerhalb weniger Tage beantwortet werden.» Métraux plädiert dafür, dass die Aktivisten das Gelände freiwillig, friedlich und gewaltfrei verlassen.
Über dem Hügel Mormont kreist ein Helikopter der waadtländischen Polizei.

Jay fürchtet sich vor der Räumung durch die Polizei. Wenn diese kommt, müssen die Zadisten den Hügel Mormont wieder Holcim überlassen. Sie verlieren auch ihren «safe space». Den Ort, an dem sie die Gesellschaft neu denken wollten.

Es werde trotzdem Veränderungen geben, sagt Jay. Die Menschen würden von der Aktion auf dem Hügel Mormont hören, darüber reden. Sie würden sich bewusst werden, dass vieles falsch laufe. Und einsehen, dass sich nur etwas ändert, wenn die Menschen sich ändern.



Solidarität mit der ZAD

Am Freitag fanden verschiedene Aktionen statt, in denen sich Klimaaktivisten mit den Zadisten auf dem Hügel Mormont solidarisiert haben. Menschen demonstrierten am Abend auf der Place du Château in Lausanne, gemäss den Veranstaltern waren es mehrere hundert Leute. Eine Gruppe von Aktivisten hat am Morgen ein Kieswerk von Holcim in Niederweimar bei Marburg in Deutschland besetzt. (slm)
(https://www.derbund.ch/sie-wollen-bleiben-bis-zuletzt-282950557997)



Klima-Aktivisten besetzten Holcim-Zementgrube – jetzt spitzt sich der Konflikt zu
Im Waadtland halten Aktivisten seit Monaten ein Gelände besetzt, um den Ausbau eines Steinbruchs zu verhindern. Bald erwarten sie die Räumung durch die Polizei – und wollen Widerstand leisten.
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/eclepens-vd-klima-aktivisten-besetzten-holcim-zementgrube-jetzt-spitzt-sich-der-konflikt-zu-ld.2119237


+++BIG BROTHER
KI-Expertin: „Der Mensch wird auf steuerbaren Datenhaufen reduziert“
In China zeige sich, was auch für Europa bald gelten könnte, warnt die deutsche KI-Expertin Yvonne Hofstetter: Die Bürger könnten von ihren eigenen Daten entmündigt werden
https://www.derstandard.at/story/2000125002202/ki-expertin-der-mensch-wird-auf-steuerbaren-datenhaufen-reduziert?ref=rss


+++POLICE BE
Bern: Frau auf Flucht gestürzt und verstorben
In der Nacht auf Samstag haben nach einer Meldung zu Sprayereien beim Bahnhof Bümpliz Nord mehrere Personen die Flucht ergriffen, als sie die Polizei sahen. Eine Frau stürzte und musste in kritischem Zustand ins Spital gebracht werden, wo sie später ihren Verletzungen erlag.
https://www.police.be.ch/de/start.html?newsID=bc77fce5-df7e-4076-a217-e6712a33c12c
-> https://www.derbund.ch/junge-frau-stuerzt-auf-der-flucht-und-verletzt-sich-toedlich-193264208677
-> https://www.bernerzeitung.ch/29-jaehrige-sprayerin-stirbt-nach-flucht-vor-polizei-847453182896
-> https://www.20min.ch/story/sprayerin-29-stuerzt-am-bahnhof-buempliz-in-bern-und-stirbt-190589600038
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/am-bahnhof-buempliz-sprayerin-29-fluechtet-vor-polizei-stuerzt-und-stirbt-id16425017.html
-> https://www.nau.ch/news/polizeimeldungen/bumpliz-sprayerin-sturzt-auf-der-flucht-vor-polizisten-und-stirbt-65895991


«Hey Freunde». Dann kommen Handschellen und Leibesvisitation
Ein betrunkener junger Mann fährt am frühen Sonntagmorgen mit dem Velo nachhause – und landet in Handschellen auf der Polizeistation. Ein Lehrstück, wie sich eine Bagatelle in eine grobe Sache eskalieren lässt.
http://www.journal-b.ch/de/082013/alltag/3862/%C2%ABHey-Freunde%C2%BB-Dann-kommen-Handschellen-und-Leibesvisitation.htm


+++RECHTSPOPULISMUS
Delegiertenversammlung der SVP – Parteichef Chiesa kritisiert «Krisenmanagement from hell»
Marco Chiesa geisselt an der Online-Delegiertenversammlung der SVP die Corona-Politik des Bundesrats und linke Initiativen. Laut Ueli Maurer kostet die Corona-Krise bis Ende Jahr 70 Milliarden Franken.
https://www.derbund.ch/parteichef-chiesa-kritisiert-krisenmanagement-from-hell-781964759669
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/delegiertenversammlung-svp-beschliesst-stimmfreigabe-zum-covid-19-gesetz
-> https://www.blick.ch/politik/svp-chiesa-schiesst-scharf-gegen-bundesrat-holzhammerpolitik-zerstoert-unsere-wirtschaft-id16424785.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/play/radio/echo-der-zeit/audio/svp-beim-covid-19-gesetz-im-dilemma?id=0168847a-4808-4164-b397-f96dbe62ec65
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/delegiertenversammlung-svp-stimmfreigabe-zum-covid-19-gesetz?urn=urn:srf:video:2e68a978-741e-460c-a76c-ab90bd78f42c
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/svp-fasst-zum-covid-19-gesetz-keine-offizielle-parole-141341037
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/delegiertenversammlung-der-svp-diskutiert-das-covid19-gesetz-141340917


Tessiner Rechtspartei – 30 Jahre Lega dei Ticinesi: Aufbruch ins Abseits
Tabubrecher, Brüsselfeinde, Gebührengegner. Über eine Partei, die das Tessin spaltet.
https://www.srf.ch/news/schweiz/tessiner-rechtspartei-30-jahre-lega-dei-ticinesi-aufbruch-ins-abseits


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Jugendbewegung mit Luzerner Wurzeln:  «Mass-Voll ist eine Einstiegsdroge, die zum Realitätsverlust führt»
Mass-Voll ist nicht ungefährlich: Wer sich der Jugendbewegung anschliesst, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit auch mit rechtspopulistischem und verschwörerischem Gedankengut in Kontakt geraten. Eine Einschätzung von Dario Veréb und Raimond Lüppken.
https://www.zentralplus.ch/mass-voll-ist-eine-einstiegsdroge-die-zum-realitaetsverlust-fuehrt-2044119/

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Limmattalerzeitung 27.03.2021

Ein rechter Provokateur, eine vegane Bachelor-Kandidatin und eine Linke: So divers sind die Corona-Rebellen von «Mass-Voll»

Ein Verein mobilisiert junge Menschen mit Instagram-Ästhetik an Corona-Demos. Ein Wissenschafter spricht von «Instrumentalisierung».

Pascal Ritter

Die Empörung über die Coronademonstration in Liestal vor einer Woche entlud sich in den sozialen Medien. Tagelang waren Protestbilder mit dem Schlagwort «No Liestal» präsent.

Unter den mehreren tausend Teilnehmern, von denen sich am vergangenen Samstag viele nicht an Hygienemassnahmen oder Behördenauflagen hielten, stach eine Gruppe heraus. Es waren junge, heitere Leute, die so gar nicht zu den älteren Semestern mit zum Teil skurrilen Verkleidungen passen wollten. Sie schwenkten violette Fahnen mit dem Logo der Gruppe «Mass-Voll», posierten für Gruppenfotos und teilten sie auf Instagram.

Auf der Website der Gruppe lachen Gesichter auf professionell wirkenden Fotos. Es sieht ein bisschen aus wie bei «Operation Libero», den liberalen SVP-Gegnern: jung und divers.

«Mass-Voll» ist gerade dabei, den Protest gegen die Coronamassnahmen aus den schmuddligen Tiefen von Telegram-Kanälen auf das ästhetische Niveau von Instagram zu hieven. Wer sind diese Menschen?

Wie massvoll ist die Gruppe wirklich?

Initiiert wurde die Gruppe vor wenigen Wochen vom Luzerner Jungfreisinnigen und AUNS-Mitglied Nicolas A. Rimoldi. «Mass-Voll», so sagt der 26-Jährige, bedeute nicht nur, dass den Aktivisten «wegen der ‹Zwangsmassnahmen› quasi der Kragen platze», sondern stehe auch für das massvolle Vorgehen der Organisation.

Er selbst fiel bisher allerdings nicht mit gemässigter Rhetorik auf. In den sozialen Medien provoziert Rimoldi gerne. Ein Bericht über ein Gefängnis für notorische Massnahmenverweigerer kommentiert er etwa mit: «In Deutschland bauen sie wieder Lager.» Darauf angesprochen, relativiert er. Er habe keinen historischen Vergleich anstellen wollen. Hört man sich bei Politikern um, die ihn kennen, heisst es, das sei typisch Rimoldi: zuerst provozieren, dann runtertemperieren. Ein anderes Mitglied von «Mass-Voll» warnte auch schon vor einem «Bevölkerungsaustausch», ein Begriff, den rechtsradikale Verschwörungstheoretiker verwenden. Von einem Missverständnis war dann gegenüber «20 Minuten» die Rede.

Marko Kovic ist Sozialwissenschaftler und beobachtet die Organisation kritisch. Er sagt: «Durch den ästhetischen und betont massvollen Auftritt werden Menschen, die persönlich unter den Folgen der Coronakrise leiden, instrumentalisiert und mit einer radikalen Ideologie in Verbindung gebracht.»

Es werde ihnen vorgegaukelt, dass ihre realen Probleme nicht mit dem Virus, sondern mit den Massnahmen zu tun hätten, was jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehre.

Rimoldi löschte Hasskommentare gegen Alain Berset

Der 26-jährige Rimoldi, der sich selber als «klassisch liberal» bezeichnet, weist solche Kritik weit von sich. Es gehe in der Gruppe nur um die gemeinsam aufgestellten Forderungen. In deren Telegram-Kanal wende er sich gegen Verschwörungstheorien: «Ich löschte schon Mythen über Bill Gates und Hasskommentare gegen Alain Berset.»

Rimoldi ist bekannt dafür, dass er keine Abgrenzungsbedürfnisse hat, weder nach rechts noch nach links. So kämpfte er mit Linken gegen E-Voting oder Sozialdetektive.

«Mass-Voll» gelingt es, neue Kreise für den Coronaprotest zu mobilisieren. Das zeigen die Beispiele von Ramona Walker und Manuela Alava.

Das Glückserlebnis der «Bachelor»-Teilnehmerin

Walker ist 24 Jahre alt und arbeitet als Fachangestellte Gesundheit in einem Pflegeheim im Kanton Luzern. Sie begegnete «Mass-Voll» zum ersten Mal vor zweieinhalb Wochen bei Instagram. Walker fühlte sich von ihrem Umfeld missverstanden. «Ich war als Einzige kritisch», sagt sie. Ihre Kritik richtet sich gegen die Maskenpflicht und allgemein gegen die grosse Bedeutung, die Corona beigemessen werde. Bei «Mass-Voll» fand sie dann Gleichgesinnte. Auf ihr Angebot, beim Videoschneiden mitzuhelfen, erhielt sie sofort eine Einladung zur Sitzung.

Filmerfahrungen sammelte Walker 2018 auf dem Set des «Bachelor». In der Fernsehsendung werben Frauen um die Gunst eines Junggesellen. Walker fiel wegen ihrer veganen Ernährung und Kussübungen mit einer Mitbewerberin auf. Gegen Online-Mobbing wehrte sie sich einst in der «Schweizer Illustrierten». Dass Menschen, die keine Maske tragen, in ihren Augen stigmatisiert und gemobbt werden, ist auch ein Grund für ihr Engagement. In Liestal war Walker zum ersten Mal an einer Demonstration. «Es war ein riesiges Glückserlebnis», sagt sie.

Von der Demonstration gibt es verschiedene Bilder von ihr. Auf einigen trägt sie Maske, auf anderen nicht – obwohl sie gerade mit jemandem für ein Foto eng zusammensteht. Sie habe die Maske während der Anreise im Zug und immer dann getragen, wenn ihr unbekannte Personen zu nahe gekommen seien, sagt sie. Walker, die nun für Multimedia und Grafik verantwortlich ist, hat nicht grundsätzlich etwas gegen Masken, aber gegen eine Maskenpflicht. In geschlossenen Räumen seien Masken teilweise sinnvoll. Es gebe aber auch Situationen, in denen es reiche, Abstand zu halten. Doch was, wenn sie das Virus an einer Demons­tration einfängt und mit ins Pflegeheim bringt? Sie sagt: «Ich schütze mich und andere im Heim mit der Maske und Hygienemassnahmen, also ist die Gefahr klein, dass etwas passiert.»

Auf die Frage, welche Politiker sie gut findet, erwähnt sie Roger Köppel. Eines seiner Youtube-Videos hat sie beeindruckt. Auf Köppels Linie ist sie aber nur zum Teil. Sie störte sich auch schon an SVP-Plakaten, stimmte gegen das Burkaverbot und war enttäuscht, als das Parlament die Pflegeinitiative ablehnte.

Manuela Alava wählt links und demonstriert mit Mass-Voll

Manuela Alava wohnt in Basel und arbeitet als Biologielaborantin. Dass sie bei «Mass-Voll» mitmacht, hat viel mit ihrer persönlichen Erfahrung zu tun. Früh habe sie am Arbeitsplatz Maske getragen und dies auch akzeptiert. Aufgrund ihrer Hochsensibilität habe ihr die Maske, die sie bis zu zehn Stunden trug, aber grosse Mühe bereitet. Als Hochsensible sei der Alltag ohnehin schon eine Herausforderung. Sie sagt: «Mir fehlen die Filter. Ich nehme alles intensiver wahr.»

Die Reibung der Maske auf dem Gesicht habe grössten Stress ausgelöst, mit psychosomatischen Folgen. Trotzdem habe sie die Maske weiter getragen. «Aus Solidarität», sagt sie. Im Herbst hielt sie es nicht mehr aus, liess sich krankschreiben und bemühte sich um eine Masken-Dispens. Dass es schwierig war, eine solche zu bekommen, und die Erfahrung, dass sie sich eine Zeit lang nicht mehr aus dem Haus traute, liess sie an der Coronapolitik zweifeln. «Offenbar ist meine Gesundheit nicht so wichtig», sagt sie und kritisiert den Umgang mit Leuten, die aus gesundheitlichen Gründen keine Maske tragen könnten.

Mit ihren 32 Jahren ist Alava eigentlich zu alt für «Mass-Voll». Die Organisation richtet sich gemäss eigener Definition an Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren. Alava will sich darum auch eher im Hintergrund halten. Sie liess sich trotzdem auf ein Gespräch mit dieser Zeitung ein, um zu zeigen, dass es auch Linke gebe, die mitmachten. Sie sagt: «Ich bewege mich in Basel in einem linken Milieu. Der Hass, den ich von anderen Linken spüre, bedrückt mich sehr.»

Alavas Anliegen ist die Versöhnung. Sie will die Gräben zwischen Anhängern und Gegnern der Massnahmen zuschütten. Aber haben die Demonstrationen nicht das Gegenteil bewirkt? Viele, die zu Hause bleiben und sich einschränken, sind sauer auf die Demonstranten. «Es ist schade, dass sich Leute derart aufregen», erwidert Alava und sagt: «Die Demonstranten sehen keinen anderen Weg. Da ist ein enormer Leidensdruck dahinter.»

Auch wenn sie in der Coronafrage nicht mit der SP, die sie wählt, übereinstimmt, will sie ihr an der Urne treu bleiben. «Gerade in einer solchen Situation sollte man miteinander arbeiten und sich nicht abwenden», sagt Alava. Und: «Irgendwann wird das alles auch wieder vorbei sein.»

Spricht man Rimoldi, Walker und Alava auf Tod und Krankheit an, die mit obligatorischen Massnahmen verhindert werden sollen, antworten sie sehr ähnlich. Sie bedauern und erzählen dann von einsamen Alten im Heim oder überfüllten Jugendpsychiatrien. Dieses Leid wiegt für sie schwerer.



Uri erlässt Beschränkungen für Demonstrationen

Im Kanton Uri sind ab dem 1. April Kundgebungen auf 300 Teilnehmenden beschränkt. Das teilte die Kantonsregierung mit. Damit geht Uri weiter als der Bund. Demonstrationen sind unter Einhaltung der Coronamassnahmen grundsätzlich erlaubt. Die Beschränkung gilt bis am 30. April. Zuvor hatte die Urner Kantonsregierung einer für den 10. April in Altdorf vorgesehenen Kundgebung die Bewilligung verweigert. Begründete wurde der Entscheid unter anderem mit den Erfahrungen von Liestal, wo Massnahmen-Gegner sich nicht an die Auflagen des Kantons gehalten hatten. Ein Sprecher der Organisatoren kündigte an, gegen den Entscheid rechtlich vorzugehen. Aufschiebende Wirkung hat ein Einspruch nicht. (kca/rit)
(https://www.limmattalerzeitung.ch/schweiz/liestal-protest-ein-rechter-provokateur-eine-vegane-bachelor-kandidatin-und-eine-linke-so-divers-sind-die-corona-rebellen-von-mass-voll-ld.2119364)



SBB-Personal stoppt Mann am Zürcher HB: Video zeigt Pfefferspray-Einsatz gegen Masken-Verweigerer
Bereits auf dem Weg zur Corona-Demo gab es Ärger: Ein Corona-Skeptiker aus dem Zürcher Oberland löste am HB einen Pfefferspray-Einsatz von SBB-Sicherheitsleuten aus und streamte alles live im Internet.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/sbb-personal-stoppt-mann-am-zuercher-hb-video-zeigt-pfefferspray-einsatz-gegen-masken-verweigerer-id16425240.html


Warum Halbwahrheiten gefährlicher sind als Lügen
Wie lassen sich Verschwörungserzählungen und Fake News entlarven, die unsere Gesellschaft vergiften? Die Basler Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess hat eine Anleitung geschrieben für den Umgang mit Menschen, die gegen Fakten resistent geworden sind.
https://www.republik.ch/2021/03/26/warum-halbwahrheiten-gefaehrlicher-sind-als-luegen



aargauerzeitung.ch 27.01.2021

Aargauer Regierung will Corona-Kundgebungen trotz heftiger Kritik nicht generell untersagen – erkrankter Badener stellt sich gegen Skeptiker

Weil die Maskenpflicht nicht eingehalten wird, bewilligen die Kantone Uri und Baselland vorläufig keine Coronademos mehr. Im Aargau dagegen will der Regierungsrat – wie schon bei der Kundgebung in Wohlen – auch künftig nicht einschreiten. Dafür machen immer mehr Aargauer beim Aufruf #NoLiestal mit.

Fabian Hägler

Je nach Quelle zwischen 5000 und 10’000 Personen waren es, die am letzten Samstag in Liestal BL gegen die Coronamassnahmen demonstrierten. Bei der Kundgebung hielten sich die meisten Teilnehmer nicht an die Maskenpflicht, doch dies hat für sie keine Folgen. Obwohl der Verein Stiller Protest, welcher die Kundgebung organisierte, die Auflagen nicht einhielt, drohen keine strafrechtlichen Konsequenzen.

Rund einen Monat früher fand in Wohlen eine erste grosse Coronademo mit rund 3000 Teilnehmern statt. Auch dort trugen viele Demonstranten keine Maske und hielten die Abstandsregeln nicht ein:

Der Gemeinderat Wohlen hatte die Demo bewilligt, die Polizei hielt sich bei der Kundgebung zurück und griff trotz Verletzung der Auflagen nicht ein. Die Bewilligung durch die Gemeinde und die Zurückhaltung der Polizei lösten nach der Demonstration heftige Kritik von Lokalpolitikern aus.

Polizei büsste keine Teilnehmer und zeigte auch niemanden an

«Es ist unbestritten, dass es bei der Kundgebung in Wohlen zu diversen Verstössen gegen die Covid-19-Gesetzgebung kam», räumt Polizeisprecherin Corina Winkler auf Anfrage ein. Im Interesse eines friedlichen Verlaufs der Kundgebung und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit habe man in Kauf genommen, «dass gewisse Widerhandlungen gegen die Covid-19-Gesetzgebung unsanktioniert blieben», sagt Winkler weiter.

Das klingt, als habe die Polizei in Wohlen dennoch einige Verstösse von Teilnehmern geahndet – doch dies ist nicht der Fall. Es seien weder Ordnungsbussen ausgestellt worden, noch habe man jemanden angezeigt, hält die Polizeisprecherin fest. Wollte man Recht und Gesetz bei einer Grossveranstaltung bis zum letzten Verstoss konsequent durchsetzen, würde dies unweigerlich nach einem Grossaufgebot rufen, gibt Winkler zu bedenken.

Um jeden Verstoss zu ahnden, wäre ein Grossaufgebot nötig

«Ein solches Dispositiv mit polizeilichem Eingriff bei sämtlichen Widerhandlungen ist mit diversen Risiken verbunden und erscheint im Kontext einer Kundgebung wie in Wohlen, die von der Gemeinde bewilligt war und absolut friedlich verlief, unverhältnismässig», so die Polizeisprecherin. Die anwesenden Polizeikräfte hatten laut Winkler nur den Auftrag, «Konfrontationen mit Störern zu verhindern und grobe Verstösse zu ahnden».

Anders war dies in Bern, wo die Stadtpolizei am Samstag eine unbewilligte Demonstration auflöste und danach rund 600 Bussen ausstellte. Die Frage, ob eine Kundgebung bewilligt war, wie in Wohlen, oder eben nicht, wie in Bern, hat laut Corina Winkler einen wesentlichen Einfluss auf das polizeiliche Vorgehen. Im Gegensatz zu einem bewilligten Anlass könne «die Polizei bei einer unbewilligten Kundgebung die Strategie verfolgen, Ansammlungen zu verhindern». Das kann beispielsweise bedeuten, anreisende Teilnehmer frühzeitig abzufangen und wegzuweisen.

«Ist es sinnvoll, solche Demonstrationen zu bewilligen?»

Die Polizeisprecherin betont aber, auch während der Coronapandemie seien politische Veranstaltungen, an denen die Teilnehmer ihre Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausüben könnten, mit einer entsprechenden Bewilligung grundsätzlich erlaubt. Falls die notwendigen Voraussetzungen erfüllt seien, hätten die Veranstalter einen Anspruch auf die Bewilligung.

Bei der Kundgebung in Wohlen handelte es sich laut Winkler um eine durch diese Grundrechte geschützte Veranstaltung, die von der Gemeinde bewilligt wurde. Inzwischen wissen die Polizei aber, dass es bei den bisherigen Corona-Kundgebungen zu Verstössen gekommen sei. «Dies stellt die Gemeindebehörden künftiger Austragungsorte vor die Frage, ob es sinnvoll sei, solche Anlässe weiterhin zu bewilligen», sagt Winkler.

Für den 10. April war in Altdorf die nächste Coronademo geplant – die Organisatoren rechneten mit bis zu 10’000 Teilnehmern. Doch am Donnerstag verbot der Urner Regierungsrat die Kundgebung. Zuvor hatte schon der Regierungsrat von Baselland entschieden, dass die Organisatoren der umstrittenen Demo von Liestal künftig im Kanton keine Bewilligung mehr erhalten.

Aargauer Regierungsrat: Bewilligung ist Sache der Gemeinden

Anders sieht dies im Aargau aus, wie Regierungssprecher Peter Buri auf Anfrage mitteilt. Weder vor noch nach der Demonstration in Wohlen sei die Kundgebung ein Thema im Regierungsrat gewesen, hält er fest. Auch ein Verbot künftiger Coronademos im Aargau, wie im benachbarten Baselland, zieht die Regierung laut Buri derzeit nicht in Betracht.

Von Gesetzes wegen seien die Gemeinden, bei Bedarf in Absprache mit der Polizei, für die Behandlung von Gesuchen zur Durchführung von Kundgebungen und Demonstrationen zuständig, hält Buri fest. Zurzeit sei aufgrund der aktuellen Lage keine Änderung dieser Praxis geplant. «Falls sich die Situation markant verändern sollte, zum Beispiel aufgrund übergeordneter Sicherheitsaspekte, würde die Frage der Zuständigkeiten fallweise überprüft», sagt der Regierungssprecher weiter.

Polizei und Urs Hofmann verboten 2017 eine Türken-Versammlung

Einen solchen Fall gab es im Aargau vor rund vier Jahren: Im März 2017 verboten die Kantonspolizei und der damalige Regierungsrat Urs Hofmann eine geplante Versammlung der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) in Spreitenbach. Dort sollte ein Vertrauter des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan auftreten und unter den Türken in der Schweiz für ein Ja zur Verfassungsreform werben.

Als die Kantonspolizei vom geplanten Auftritt erfuhr, führte sie eine Lagebeurteilung durch und kam zum Schluss, dass gewisse Sicherheitsrisiken bestanden. Es war demnach nicht klar, wie viele Leute kommen und nicht auszuschliessen, dass auch politische Gegner des türkischen Politikers nach Spreitenbach reisen würden. «So könnten sich Auseinandersetzungen ergeben, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen», begründete ein Polizeisprecher damals das Verbot.

Umgemünzt auf die Diskussion um Coronademos würde das bedeuten: Wenn die Polizei und der heutige Innendirektor Dieter Egli zum Schluss kämen, dass eine massive Konfrontation mit Gegendemonstranten droht, könnte eine Kundgebung verboten werden. Ob allein die Weigerung von Teilnehmern, eine Maske zu tragen, als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gilt, scheint im Aargau hingegen eher fraglich.

#NoLiestal: Protest gegen Coronademos auch aus dem Aargau

In den sozialen Medien ist in den letzten Tagen eine Gegenbewegung zu den protestierenden Coronaskeptikern entstanden. Unter dem Hashtag #NoLiestal geben Tausende ein Statement ab gegen die Maskenverweigerer und Co. und für ein Durchhalten in der Pandemie. Unter ihnen ist der Badener Lehrer Marc Halter, der letztes Jahr schwer an Covid-19 erkrankte und um sein Leben kämpfte.

    Exakt vor einem Jahr habe ich aufgrund von Covid-19 um mein Leben gekämpft. Auch wenn ich noch immer unter Longcovid-Folgen leide – ich lebe. Viele, viel zu viele, hatten dieses Glück nicht. Schauen wir nach vorne und machen es besser. Wir schaffen das! #Noliestal pic.twitter.com/a78SKBbsq4
    — Marc Halter (@HalterMarc) March 25, 2021

Und auch Mitte-Grossrätin Maya Bally macht auf Twitter unter dem Hashtag #NoLiestal ihre Position klar. «Gegen die Ignoranz: Diskussion Ja, Demos ohne Schutzmasken Nein», schreibt sie.

    #NoLiestal pic.twitter.com/6jvFG76z0u
    — Maya Bally (@maya_bally) March 25, 2021

SP-Grossrat Thomas Leitch hält fest, Corona bedeute für ihn, eine gewisse Zeit auf Individualismus zu verzichten. «Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Andern beginnt. Solidarisch verhält sich, wer alles tut, was dem Nächsten nicht schadet».

    Corona bedeutet für mich, dass man für eine gewisse Zeit auf seinen Individualismus verzichtet. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Andern beginnt. Solidarisch verhält sich, wer alles tut, was dem Nächsten nicht schadet. #NoLiestal #sicheröffnen #NoCovid pic.twitter.com/4aWCcugzKU
    — Thomas Leitch (@leitch_frey) March 25, 2021

Mia Jenni, SP-Einwohnerrätin in Obersiggenthal und ehemalige Präsidentin der Juso Aargau, kritisiert auf Twitter, dass auch Nazis und Antisemiten bei den Demos dabei gewesen seien. Auch ihr Parteikollege, der Wohler Gemeindeammann und SP-Grossrat Arsène Perroud, störte sich an Plakaten mit rechtsextremen Slogans.

    Weil solidarisch sein nicht heisst mit Nazis und Antisemit*innen zu marschieren.
    Solidarisch sein heisst die Infektionszahlen ernst nehmen, Arbeiter*innen unterstützen und mehr Anlaufsstellen für psychologische Betreuung zu schaffen. #noliestal pic.twitter.com/2B5NGZVecA
    — Mia Jenni (@MiaAnaJenni) March 25, 2021

Unter anderem war zu lesen: «Impfen macht frei». Dies in Anlehnung an den Schriftzug «Arbeit macht frei», der während des Zweiten Weltkriegs über den Konzentrationslagern der Nazis hing. Perroud bezeichnete dies gegenüber der AZ als «problematische Aussagen». Konsequenzen für die Teilnehmer haben aber auch diese Plakate nicht – laut Fiona Strebel, Sprecherin der Aargauer Staatsanwaltschaft, sind nach der Demonstration in Wohlen keine Anzeigen eingegangen.

Maskengegner aus Würenlos verteidigt Demos mit Hashtag #YesLiestal

Eine andere Position vertritt Steven Schraner aus Würenlos, der beim Regierungsrat eine Petition gegen die Maskenpflicht für 5.- und 6.-Klässler im Aargau einreichte. Er kritisiert die Aktion gegen die Coronademos in den sozialen Medien unter dem Hashtag #YesLiestal.

    Wird das #Coronavirus nun auch über das Glasfasernetz übertragen? Oder warum tragen die alle Maske? #YESLiestal
    — Steven Schraner (@SchranerSteven) March 25, 2021
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/noliestal-aargauer-regierung-will-corona-kundgebungen-trotz-heftiger-kritik-nicht-generell-untersagen-erkrankter-aargauer-stellt-sich-gegen-coronaskeptiker-ld.2118640)


+++REPRESSION DE
zeit.de 25.03.2021

Fall Lina E.: Die Studentin im Visier

Eine linke Aktivistin sitzt seit Monaten im Gefängnis, weil die Ermittler sie für eine Terroristin halten. Doch die Zweifel daran wachsen 

Von Christian Fuchs

Vier Stunden bevor sie verhaftet wird, sitzt Lina E. am 5. November 2020 in einer blauen Adidas-Jacke vor ihrem Laptop im Wohnzimmer ihrer Leipziger WG. Kurz vor halb elf, erzählen Kommilitonen später, loggt sie sich im Seminar „Reflexive Sozialpädagogik“ der Universität Halle ein. Die 26-Jährige studiert im Master Erziehungswissenschaften. Freunde berichten, dass sie nach dem Studium in der Jugendhilfe arbeiten will – als Sozialarbeiterin für den Staat.

Das Online-Seminar ist noch nicht lange zu Ende, als vermummte Beamte des Landeskriminalamts Lina E. festnehmen. Am Tag darauf wird sie in einem Polizeihubschrauber nach Karlsruhe geflogen, wo sie dem Haftrichter beim Bundesgerichtshof vorgeführt wird. Die Studentin soll Anführerin einer linksextremen Zelle sein und sich zusammen mit zehn weiteren Personen zu einer kriminellen Vereinigung zusammengeschlossen haben. Sie soll also den Staat angegriffen haben, für den sie bald arbeiten wollte.

Der Tatvorwurf nach Paragraf 129 ist einer der härtesten im Strafgesetzbuch. Mitglieder der Hells Angels, von Drogenhändler-Banden oder Neonazi-Kameradschaften wurden als kriminelle Vereinigungen verurteilt. Der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen, wenn Täter „staatsgefährdende Delikte“ begangen haben. Und genau das wirft der Haftbefehl Lina E. vor: Von ihrer Gruppe sei eine „besondere Gefährlichkeit“ ausgegangen; sie habe die bestehende rechtsstaatliche Ordnung angegriffen. Ihre Straftaten seien im „Grenzbereich“ zum Terrorismus anzusiedeln.

Als Lina E. aus dem Polizei-Helikopter in Karlsruhe steigt, ist das ein seltener Anblick. Man kennt ähnliche Fotos von IS-Kämpfern oder dem Mörder von Walter Lübcke. Lange schon wurde dem Generalbundesanwalt keine mutmaßlich linksextreme Frau mehr vorgeführt. Das letzte Mal vor 20 Jahren, die Verdächtige gehörte zu den Revolutionären Zellen. Linksextreme Frauen: Im kollektiven Gedächtnis sind vor allem Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin haften geblieben.

Das Bild ist stark, die historischen Parallelen sind rasch gezogen. Nicht nur die ZEIT berichtet über die „Frau unter Vermummten“. Hier agierten „Linksextremisten fast wie die RAF“, schreibt der Tagesspiegel. Lina E. sei die „Chef-Chaotin im Mini-Rock“ (Bild). Doch stimmt das alles?

Die ZEIT hat vier Monate lang recherchiert, hat interne Unterlagen, Mails und ihre Aktivitäten an der Universität ausgewertet sowie Gespräche mit Ministerien, Staatsanwaltschaften und dem Bundesamt für Verfassungsschutz geführt. Hinzu kamen Gespräche mit den Anwälten von Lina E. sowie mit einer engen Freundin und ihrem Arbeitgeber. Diese Recherchen zeichnen das Bild einer jungen Frau, die offenbar ein anderes Leben führte, als es die Ermittler im Haftbefehl suggerieren.

Ende 2019 gründete die sächsische Regierung eine neue Polizei-Einheit, die Soko Linx. Die 20 Beamten sollten linksextreme Straftaten in Leipzig zurückdrängen. Kurz zuvor war die Prokuristin einer Immobilienfirma überfallen worden, mutmaßlich von autonomen Gentrifizierungskritikern. Linke Gewalt ist ein Thema in der Stadt: Es gab Angriffe auf Polizisten am Rand von Demonstrationen, brennende Autos auf dem Hof eines Digitalunternehmens, das einen mutmaßlich Rechtsextremen angestellt hatte, oder zerstörte Fensterscheiben einer Kneipe, deren Besitzer eine Frau sexuell missbraucht haben soll. Für keine dieser Taten wurde bislang jemand verurteilt.

Die Soko Linx ermittelt mit Hochdruck – aber bisher mit überschaubarem Erfolg. Allein 335 Ermittlungsverfahren hatte die Sonderkommission im ersten Halbjahr 2020 eröffnet, jedoch nur drei Beschuldigte gefunden. Der Morgen des 14. Dezember 2019 war darum eine seltene Ausnahme für die Linx-Ermittler: In Eisenach erwischten Polizisten sieben junge Leute, kurz nachdem sie mutmaßlich vier Rechtsextreme mit Stangen, Schlagstöcken, einem Hammer und Reizgas überfallen haben sollen. Einige aus der Gruppe stammten aus Leipzig, unter ihnen: Lina E.

Es folgen monatelange Ermittlungen, die Soko Linx wird 2020 um fünf Beamte aufgestockt. Lina E. und die mutmaßlichen Mitglieder der „Gruppe E“ werden observiert, Autos mit Peilsendern verfolgt, Gespräche abgehört und Konten überwacht. Am Ende sind sich die Ermittler sicher, dass E. an zwei Überfällen auf Eisenacher Neonazis beteiligt war und einen rechtsextremen Kampfsportler in Leipzig ausgespäht hat. Außerdem werfen sie ihr vor, zwei Hämmer (38 Euro) im Baumarkt geklaut zu haben. Personen aus der „Gruppe E“ sollen zudem einen weiteren Mann schwer verletzt haben. Es gibt bisher keine Beweise, dass Lina E. an dieser Tat beteiligt war. Bei den Angriffen in Eisenach erlitten die Opfer Platzwunden am Kopf, Prellungen sowie Augenreizungen durch ein Reizstoffsprühgerät, das Lina E. bedient haben soll. Schwerer noch als der Tatverdacht der gefährlichen Körperverletzung und des Landfriedensbruchs wiegt ein anderer Vorwurf. Die Soko Linx geht davon aus, dass die einzige Frau in der Gruppe – nämlich Lina E. – die Anführerin gewesen sein muss. Sie habe eine „herausgehobene Stellung“ innegehabt und „führte das Kommando“, heißt es in einer Mitteilung des Generalbundesanwalts.

Wie radikal ist Lina E.?

Inzwischen zweifeln auch einige Ermittler an der Chefinnen-These. Die Anwälte von Lina E., Erkan Zünbül und Björn Elberling, werden in ihrer Kritik deutlich: „Am Tatort ist genau eine Frau aufgefallen, unsere Mandantin. Sie wird festgenommen und zur Anführerin gemacht.“ Sie werde als Kommandoführerin präsentiert, ohne Begründung, dabei sei sie nicht einmal vorbestraft. Ihre Führungsrolle werde von der Soko Linx nur konstruiert, sagen die Anwälte und weisen auch andere Vorwürfe zurück: So fänden sich in den Ermittlungsakten keine Hinweise auf das Bestehen einer festen Gruppe mit hohem Organisationsgrad. Außerdem bezweifeln sie die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft für derartige Überfälle in der Provinz, da diese Behörde doch nur bei schweren, staatsgefährdenden Delikten bundesweiter Tragweite ermittle. „Das LKA Sachsen hat dem Generalbundesanwalt ein schönes Buffet präsentiert. Nachdem dieser nun den Fall an sich gezogen hat, muss er feststellen, dass es nur Fast Food gibt“, sagt Anwalt Zünbül.

Die Ermittler in Sachsen hingegen glauben, dass Lina E. planvoll vorgegangen sei. Bei den Überfällen in Eisenach habe sie das Fluchtfahrzeug besorgt und dafür Nummernschilder gestohlen. Bei ihrer Festnahme sei ein als gestohlen gemeldeter Personalausweis gefunden worden, „bei dem der Name und das Geburtsdatum der früheren Inhaberin in auffälliger Weise den eigenen Daten der Beschuldigten ähneln“, heißt es im Haftbefehl.

Das sächsische LKA überprüft weitere Fälle, die auf die „Gruppe E“ zurückgehen könnten. In verschiedenen Medien tauchten Verdächtigungen auf, welche Taten Lina E. noch zugerechnet werden könnten: die Sachbeschädigung des Burschenschaftsdenkmals in Eisenach 2019. Der Angriff auf einen Aktivisten der rechtsextremen Identitären Bewegung in Leipzig 2019. Der Angriff auf die Mitarbeiterin der Immobilienfirma in Leipzig. Es gibt jedoch bislang keine Beweise, dass sie an den Taten beteiligt war.

Die entscheidende Frage lautet: Wie radikal ist Lina E.? War oder ist sie auf dem Weg, im politischen Untergrund zur Staatsfeindin zu werden?

E. stammt aus Kassel. „Sie hatte eine enge familiäre Bindung“, sagt eine Freundin. In der Schule bleibt sie unscheinbar. Als Jugendliche geht sie demonstrieren, interessiert sich für Frauenrechte und kritisiert die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen, erinnern sich Bekannte in der Welt. Der NSU-Mord in Kassel könnte sie als Jugendliche politisiert haben, sagt ein Freund der Lokalzeitung LVZ. Gleich nach dem Abitur, mit 18, zieht sie nach Leipzig. Sie verliebt sich in den 27-jährigen Johann G., der sich „Hate Cops“ auf die Handknochen hat tätowieren lassen. Er soll schon als Jugendlicher mehrere Straftaten, dabei eine gefährliche Körperverletzung, begangen haben. Das geht aus einem internen Papier des Verfassungsschutzes hervor, das die ZEIT einsehen konnte. Weil Johann G. vor sechs Jahren am Rande einer Legida-Demo Personen verprügelt hatte, wurde er zu mehr als einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach seiner Entlassung soll er sich an Überfällen der „Gruppe E“ beteiligt haben. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass G. bei der Radikalisierung von Lina E. „einen erheblichen Beitrag geleistet hat“. Aktuell wird er von der Polizei gesucht, Johann G. ist untergetaucht.

Lina E. lebt bis zur Festnahme in einer WG in einem Altbau im Stadtteil Connewitz, umgeben von veganen Lokalen. Im Oktober 2018 schließt sie den Bachelor in Erziehungswissenschaften ab, mit einer Arbeit über den Umgang mit Neonazis in der Jugendarbeit, am Beispiel des Clubs, in dem sich die späteren NSU-Terroristen radikalisierten. Bevor sie im Master weiterstudierte, entschied sie sich, ein Jahr lang praktisch zu arbeiten, und betreute Kinder in einer stationären Einrichtung.

In einem schwarzen Pullover und in Doc-Martens-Stiefeln sitzt eine Frau Mitte 20 in einem Büro im Leipziger Stadtteil Connewitz, nur wenige Minuten von Linas Wohnung entfernt. Für diesen Text möchte sie Katja heißen. Sie ist im vergangenen Jahr eine enge Freundin von Lina geworden. Viele Abende hätten sie gemeinsam gekocht und Rotwein getrunken. Lina schaute Herr der Ringe und kletterte in der Freizeit. Noch vor ein paar Monaten habe Katja mit ihr zu lauter Popmusik der US-Sängerin Miley Cyrus durch die Wohnung getanzt. Lina lache immer viel und sei ein lebensfroher Mensch, „ein witziges Mädchen“.

Gerechtigkeit sei Lina wichtig gewesen, sie sei eine kritische Denkerin. „Sie ist eher der Typ Antifaschistin by heart“, sagt Katja, der eine merkliche Radikalisierung ihrer Freundin nicht aufgefallen sei. Nur selten hätten sie über Politik gesprochen. Und wenn, dann ging es um die prekären Arbeitsbedingungen in der Jugendhilfe. Einmal diskutierten sie über das „doppelte Mandat“ von Sozialarbeitern – also über den Konflikt, zwischen dem Wohl eines Kindes und den Wünschen des Jugendamts. Lina sagte „Sieh das mal nicht so eng“ und argumentierte im Sinne der Behörde. „Sie ist nicht kritisch gegenüber der Demokratie eingestellt und will auch den Staat nicht abschaffen“, sagt die Freundin. „Ihr Denken ist nicht radikal.“

„Sie war nett, offen und aufgeschlossen“

Auch an ihrer Universität in Halle fiel sie nicht mit extremen Einstellungen auf. Eine ihrer Dozentinnen erinnert sich, dass sie „keine über die akademische Positionierung hinausgehende Haltung“ erkannt habe. Das bestätigen mehrere Lehrkräfte. Lina E. hat 17 Lehrveranstaltungen in einem Jahr besucht. Sie schreibt sich für Kurse über Rehabilitationspädagogik und Polyamorie ein, liest Texte von Judith Butler, diskutiert in Seminaren zu Feminiziden, Gewalt gegen Frauen. In einem Jahr schreibt sie fünf Hausarbeiten. „Im Master fordern wir sehr viel von unseren Studierenden“, sagt ihr Professor. Lina E. schließt fast alle Kurse mit Bestnote ab, ihr Durchschnitt: 1,4. Aufgrund ihrer guten Bachelorarbeit hatte der Professor Lina E. eine Stelle als studentische Hilfskraft angeboten, „allerdings ohne sie näher zu kennen“.

Neben dem Studium jobbte sie. Im September unterschreibt sie einen Vertrag in einer Sporthalle in Leipzig. „Sie war nett, offen und aufgeschlossen“, sagt der Besitzer. Zwei Monate lang arbeitet sie in dem Minijob, sie begrüßt die Gäste, brüht Kaffee und gibt am Tresen Sportschuhe aus. Bis zu ihrer Festnahme.

Die Ermittler werfen ihr vor, klandestin aus dem Untergrund heraus agiert zu haben. Von den Gesprächspartnern kann das keiner bestätigen. Sowohl an der Hochschule als auch beim Arbeitgeber und beim Vermieter war sie mit ihrem bürgerlichen Namen bekannt, stets gab sie ihre WG-Adresse an. Auch ihr vermeintlich konspiratives Vorgehen hatte wohl meist profane Gründe. Miete und Strom bezahlte sie nicht selbst, sondern das übernahmen ihre Eltern, um die Tochter zu unterstützen. Prepaid-SIM-Karten nutzte Lina E., weil sie billiger waren als ein Handyvertrag, sagen Freunde. Ihr „Waffenschein“ war eine Erlaubnis, Reizstoffwaffen zu besitzen, und stammte noch aus Kasseler Tagen, sagen die Anwälte. Mehr als 600.000 Menschen haben so einen Schein in Deutschland, unter ihnen sind besonders viele Frauen. Und Millionen nutzen den verschlüsselten Messengerdienst Signal – auch das führt die Polizei als Indiz an.

Was bleibt, sind eine blonde Perücke, Sonnenbrillen, ein gestohlener Personalausweis und 4000 Euro Bargeld, die bei Lina E. gefunden wurden. Rätselhaft tatsächlich, auch ihre Anwälte bleiben eine überzeugende Erklärung schuldig. Theoretisch kann man das Geld und die Utensilien für illegale Taten nutzen. Aber reicht das aus, um Lina E. als Terroristin abzustempeln?

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, kennt den Fall. Seine Behörde hatte den Ermittlern Erkenntnisse über die linke Szene geliefert. Man beobachte, dass linke Gewalt brutaler sowie organisierter werde und sich auch häufiger gegen Menschen richte. „Die Gewalt geht vor allem von kleinen klandestinen Gruppen aus, die sich von ihrem linksextremen Umfeld abgeschottet haben“, sagt Haldenwang der ZEIT. In den letzten zwei Jahren habe man versuchte Tötungsdelikte „im einstelligen Bereich“ registriert. Derzeit sehe man die Schwelle zum linken Terrorismus noch nicht überschritten.

Warum ermittelt das LKA Sachsen aber gegen Lina E. mit dem großen Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung? Der Generalbundesanwalt argumentiert, dass ihrer Gruppe „angesichts ihres Organisationsgrades und der Art ihrer Taten eine besondere Gefährlichkeit beizumessen“ sei. Helena Zimmermann von der „Solidaritätsgruppe für Lina“ sieht es anders: „Die Ermittlungen nach Paragraf 129 sind ein Konstrukt und dienen vor allem dazu, die antifaschistische Szene auszuleuchten und einzuschüchtern.“ Der Polizei gehe es in erster Linie darum, Linke auszuforschen, sagt sie, auch wenn sich die Vorwürfe später als haltlos erweisen.

Die Polizei widerspricht dieser These. Doch fällt auf, wie oft solche Ermittlungen ins Leere laufen. Seit 2010 gab es nach Angaben der Staatsanwaltschaft Dresden fünf 129er-Verfahren gegen linke Gruppen. Zwischen 2013 und 2016 suchte die sächsische Justiz unter linken Fußballfans in Leipzig nach kriminellen Strukturen. Trotz vieler Observationen und der Aufzeichnung Zehntausender Telefongespräche wurde nichts gefunden. Gegen mehrere Hundert Personen, die abgehört wurden, bestand nicht mal ein Anfangsverdacht. Außerdem wurde drei Jahre lang gegen 14 Leipziger ermittelt, die eine kriminelle Vereinigung für Angriffe auf die rechte Szene gebildet haben sollen. Auch diese Ermittlungen wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt. Es wurde in Sachsen im letzten Jahrzehnt kein einziger Beschuldigter wegen der Mitgliedschaft in einer linksextremen kriminellen Vereinigung verurteilt. Vielleicht wird der Fall Lina E. zum nächsten Beispiel dafür. Bis zur Entscheidung sitzt die Studentin in Untersuchungshaft in der JVA Chemnitz. Dort verbüßt auch die Rechtsterroristin Beate Zschäpe ihre Haft.

An Lina E.s Geburtstag vor ein paar Wochen ließen ein paar Freunde vor dem Gefängnis als Gruß Leuchtraketen steigen. Auch Beamte des LKA waren vor Ort, erzählen die Polizisten später. Sie wollten herausfinden, wer zu den mutmaßlichen Unterstützern von Lina E. gehört.

Mitarbeit: Anne Hähnig, Edgar Lopez
(https://www.zeit.de/2021/13/lina-e-links-aktivismus-extremismus-terrorismus-ermittlung/komplettansicht)