Medienspiegel 7. März 2021

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+++SCHWEIZ
NZZ am Sonntag 07.03.2021

Asyl: Prävention gegen Straftaten

Die Zahl der Polizeieinsätze in den Asylzentren des Bundes ist – auch wegen Corona – deutlich gestiegen. Jetzt reagieren die Verantwortlichen.

Lukas Häuptli

Das Lauteste an Deitingen sind die Autos. A1, Raststätte Deitingen-Nord, Raststätte Deitingen-Süd (das ist die mit den berühmten Betonschalen-Dächern). Fast 100 000 Fahrzeuge brausen hier am Tag vorbei. Doch die 2200 Einwohner und Einwohnerinnen stören sich kaum daran. Denn sonst scheint in ihrem Dorf im Solothurner Mittelland vieles zu stimmen: das rege Vereinsleben, die nahen Erholungsgebiete, die gute Verkehrserschliessung.

Alles im Lot – zumindest bis im letzten Dezember war’s so. Doch da brachen in Deitingen plötzlich Unbekannte in Häuser ein, begingen Diebstähle, belästigten Frauen. Während Tagen, während Wochen. «Alles in allem gab es wohl zwei Dutzend Fälle», sagt Deitingens Gemeindepräsident Bruno Eberhard. Auch in den Nachbardörfern häuften sich die Delikte.

Mittlerweile geht die Solothurner Kantonspolizei davon aus, dass es sich bei den Tätern um abgewiesene Asylsuchende handelt, wie Polizeisprecherin Astrid Bucher sagt. Diese sind im Asylzentrum des Bundes untergebracht, das sich zwar auf dem Gemeindegebiet von Flumenthal, aber gleich neben der Autobahnraststätte Deitingen-Nord befindet. Das Staatssekretariat für Migration eröffnete es im September 2019; es ist Teil der grossen Asylreform des Bundes.

Deitingen ist kein Einzelfall. In den letzten Wochen und Monaten ist es auch in und um andere Asylzentren des Bundes zu immer mehr Konflikten und Delikten gekommen, etwa in Kappelen (BE), Giffers (FR) oder Boudry (NE). «Die Zahl der Straftaten, die mutmasslich von Asylsuchenden begangen wurden, hat in den letzten Monaten zugenommen», sagt Claudio Martelli, Vizedirektor des Staatssekretariats für Migration. «Bei den Delikten handelt es sich hauptsächlich um Kleinkriminalität. Nicht selten sind dabei Alkohol und Medikamente im Spiel.»

Mehr Tätlichkeiten

Die Zunahme der Zwischenfälle und Straftaten geht auch aus den vierteljährlichen Controlling-Berichten hervor, die das Staatssekretariat für Migration zu den Bundesasylzentren erstellt. Gemäss diesen stieg die Zahl der Polizeieinsätze in und um die Zentren von 252 im Jahr 2019 auf 281 im Jahr 2020. Die Zahl der Tätlichkeiten nahm von 372 auf 491 zu, die der verbalen Eskalationen von 1152 auf 1539.

Wegen der steigenden Zahl von Vorfällen und Straftaten geht das Staatssekretariat für Migration jetzt neue Wege: Es setzt bei der Bekämpfung von Gewalt vermehrt auf Prävention. «Wir stocken das Personal in den Bundesasylzentren mit Betreuungspersonen auf, die auf die Lösung von Konflikten spezialisiert sind», sagt Claudio Martelli. «Sie treten gezielt mit auffälligen Asylsuchenden in Kontakt und versuchen in Gesprächen, Konflikte zu schlichten.»

Daneben führt das Staatssekretariat für Migration in all seinen Asylzentren ab nächstem April Gewaltpräventionskonzepte ein. Was diese enthalten, ist noch geheim; die Konzepte befinden sich zurzeit in der Vernehmlassung. Es gehe darin aber nicht nur um Gewalt von Asylsuchenden, sondern auch um Gewalt an Asylsuchenden, sagt eine gut informierte Person.

Bereits Mitte Februar hat das Staatssekretariat für Migration sein spezielles Zentrum für renitente Asylsuchende in Les Verrières (NE) wiedereröffnet. Das geschah unter anderem auf Druck verschiedener Kantone und Gemeinden, auch von Deitingen. In der Zwischenzeit sind zwölf Asylsuchende wegen renitenten Verhaltens oder mutmasslicher Straftaten ins Zentrum tief im Neuenburger Jura versetzt worden. Bemerkenswert: Fünf der zwölf Betroffenen tauchten nach ihrer Versetzung ab. In allen Bundesasylzentren sind zurzeit rund 1700 Personen untergebracht.

«Am Anschlag»

Was aber sind Gründe für die zunehmenden Konflikte und Delikte in und um die Bundesasylzentren? Es gibt im Wesentlichen zwei. Erstens haben Corona und die Massnahmen dagegen den Druck auf die Zentren, deren Mitarbeiter und deren Bewohner erhöht. «Viele Asylsuchende, aber auch viele Betreuungs- und Sicherheitsmitarbeiter sind am Anschlag», sagt eine Person, welche die Situation in den Zentren kennt.

Zweitens: «Ein Grund für die Zunahme der Delikte ist die Zusammensetzung der Asylsuchenden», sagt Claudio Martelli. «Seit rund einem Jahr stellen in der Schweiz wieder mehr Personen ein Gesuch, die kaum Aussicht auf Asyl haben. Dazu gehören etwa Personen aus Maghrebstaaten.» Was die Sache zusätzlich erschwert: Wegen Corona sind Rückführungen nach Algerien, Marokko und Tunesien seit mehreren Monaten nicht mehr möglich. «Es ist nicht ausgeschlossen, dass Asylsuchende aus diesen Ländern im Wissen darum gezielt Asylgesuche in der Schweiz stellen», erklärt Martelli.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/asyl-praevention-gegen-straftaten-ld.1605341)


+++GRIECHENLAND
Geflüchtete beantragen Schutzstatus doppelt
Wegen schlechter Zustände in Griechenland beantragen viele Geflüchtete zusätzlich in Deutschland Asyl. Politiker fordern eine Aussetzung der visumfreien Weiterreise.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-03/migration-fluechtlinge-griechenland-asylantraege-deutschland-weiterwanderung


+++ATLANTIK
nzz.ch 07.03.2021

Auf den Kanarischen Inseln gestrandete Migranten fordern, dass sie nach Europa weiterreisen können

Aus Angst vor einer Deportation in ihre Herkunftsländer campieren viele Flüchtlinge aus Afrika unter freiem Himmel. Die spanische Regierung hofft derweil auf eine europäische Lösung des Problems.

Ute Müller, Madrid

Die Kanarischen Inseln dürfen kein Gefängnis sein. Unter diesem Motto demonstrierten am Wochenende auf der Ferieninsel Teneriffa rund 1200 Migranten für das Recht auf eine Weiterreise auf das spanische Festland. Dies wird ihnen bis anhin verweigert. Mit handgeschriebenen Plakaten wie «Wir sind keine Kriminellen» oder «Wir wollen nichts weiter als arbeiten» und mit Rufen nach Freiheit marschierten die Bootsflüchtlinge friedlich, aber ohne den obligatorischen Corona-Mindestabstand ins Zentrum von San Cristóbal de La Laguna.

Unweit dieser Stadt im Norden der Insel sind im Februar zwei grosse Flüchtlingslager in Betrieb genommen worden. Das erste Lager, «Las Raíces», ein ehemaliger Militärstützpunkt, hat eine Kapazität von 1200 Plätzen, die bei Bedarf verdoppelt werden kann. Im zweiten Lager, «Las Canteras», können 1600 Flüchtlinge untergebracht werden. Beide Lager nehmen Migranten auf, die schon vor Monaten auf den Kanarischen Inseln gelandet sind. Viele der Flüchtlinge waren zu Anfang in Hotels untergebracht. Seit im vergangenen Jahr Bilder der völlig überfüllten Hafenmole Arguineguín auf Gran Canaria um die Welt gingen, zieht es Madrid vor, sie in Lagern abseits der Küste zu sammeln.

Das Leben in den Lagern ist komplizierter als gedacht. Von Anfang an klagten die Migranten, vorwiegend Männer aus Marokko, Senegal, Gambia und Mauretanien, über die Kälte und darüber, dass man ihnen schlechtes Essen serviere. Zudem kommt es zwischen den verschiedenen Gruppen, besonders zwischen Senegalesen und Marokkanern, immer wieder zu Reibereien.

Einheimische reagieren verunsichert

Wegen des in ganz Spanien geltenden Alarmzustands aufgrund der Corona-Pandemie vermeidet es die spanische Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez, die Neuankömmlinge in grossem Stil auf das spanische Festland zu überführen, und vertraut auf eine europäische Lösung des Problems. Jüngst wurden Anfang Februar etwa 1000 Personen ausgeflogen, denen man den Status der besonderen Schutzbedürftigkeit zuerkannt hatte. Doch noch immer verharren 9000 Migranten und 2000 unbegleitete Jugendliche auf den Inseln.

Das Zusammenleben mit den Einheimischen gestaltet sich zunehmend schwieriger. Zu Monatsbeginn sorgte die Nachricht von der Gruppenvergewaltigung einer 36-Jährigen für Empörung auf Gran Canaria. Ermittelt wird gegen vier Männer aus dem Maghreb, die an der Tat beteiligt gewesen sein sollen. Wie angespannt die Lage auf Gran Canaria ist, beweisen mehrere Demonstrationen von Inselbewohnern; sie fühlen sich von Madrid im Stich gelassen und fordern ebenfalls eine baldige Überführung der in einem Lager untergebrachten Migranten auf das Festland.

Die Unterbringung in den Lagern weckt bei vielen Migranten Misstrauen, die Angst vor einer Deportation in ihre Heimatländer steigt. Daher ziehen es immer mehr Menschen vor, unweit der Lager zu campieren, in Teneriffa etwa sind in einem Eukalyptuswald unweit von «Las Raíces» kleine Zeltsiedlungen entstanden. Menschenrechtsorganisationen beklagen die Bedingungen, unter denen die Zuwanderer dort leben müssen.

2020 kamen mehr als 23 000 Bootsflüchtlinge auf die Kanarischen Inseln, in diesem Jahr sind es bereits 2300. Die meisten kommen mit Schleppern, der Preis für die Reise beträgt zwischen 1500 und 4000 Euro.
(https://www.nzz.ch/international/migration-bootsfluechtlinge-sitzen-auf-den-kanaren-fest-ld.1605384)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Das hässliche Gesicht der bürgerlichen Schweiz
Ein weiterer dunkler Abstimmungssonntag für die Schweiz. Die Serie xenophober Initiativen des SVP-nahen Egerkinger Komitees geht weiter. Nach der Minarettinitiative 2009 und der Masseneinwanderungsinitiative 2014, zeigt die Schweiz mit der Annahme des Verhüllungsverbots erneut ihr fremdenfeindliches Gesicht. Die Wut darauf lässt nicht lange auf sich warten. Noch am selben Abend finden sich um die 400 Demonstrant*innen unter dem Berner Baldachin ein. Die Aktivist*innen skandieren antifaschistische Parolen. Auf ihren Plakaten: alles von „my body, my decision“ bis „FCKSVP“, über „Eure Demokratie ist gegen unsere Freiheit“.
https://www.megafon.ch/aktuelles/das-haessliche-gesicht-der-buergerlichen-schweiz/


Kurzbericht Demo gegen rassistischen, antimuslimischen & sexistischen Normalzustand
07.März 2021/ Heute zogen rund 350 Personen durch die Berner Innenstadt zu einer wütenden Demonstration gegen die Annahme des Verhüllungsverbotes. Das rechte Initiativkomitee wird von rechtspopulistischen Hardlinern zusammengesetzt. Ihnen geht es bei der Initiative darum ihre rassistische, antifeministische und diskriminierende Politik weiter voranzutreiben. Dazu bedienen sie sich den staatlichen Instrumenten und Institutionen.
https://anarchistisch.ch/kurzbericht-demo-gegen-rassistischen-antimuslimischen-sexistischen-normalzustand/


Spontandemo nach Abstimmung – 250 Personen protestieren auf Berns Strassen gegen Burkaverbot
Nach dem Ja zur Verhüllungsinitiative versammelten sich am Sonntagabend in Bern ungefähr 250 Demonstrantinnen und Demonstranten zu einer spontanen Kundgebung.
https://www.bernerzeitung.ch/250-personen-protestieren-auf-berns-strassen-gegen-burkaverbot-659733023949
Fotos:
-> https://twitter.com/Megafon_RS_Bern/status/1368654807528005638
-> https://twitter.com/Megafon_RS_Bern/status/1368629049107636233
-> https://twitter.com/bwg_bern/status/1368629720842133504


«Rassistisches Patriarchat»: Hunderte demonstrieren in Zürich und Bern gegen Burka-Verbot
Nach einem Aufruf der Anarchistischen Gruppe Bern ist es zu einer Kundgebung in Bern gegen das Abstimmungsresultat gekommen. Auch in Zürich versammelten sich Demonstrantinnen.
https://www.blick.ch/schweiz/bern/rassistisches-patriarchat-hunderte-demonstrieren-in-zuerich-und-bern-gegen-burka-verbot-id16387385.html


Verhüllungsverbot: Linke demonstrieren nach Ja zu Burka-Initiative
Die Schweiz hat sich für ein Verhüllungsverbot ausgesprochen. Das Resultat kommt bei Linken nicht gut an. Sie demonstrieren heute in Bern.
https://www.nau.ch/news/schweiz/verhullungsverbot-linke-demonstrieren-nach-ja-zu-burka-initiative-65883678


Zürich, Bern, Basel: Hunderte kommen zu Spontandemos nach Ja zum Verhüllungsverbot
Dass die Schweiz muslimischen Frauen künftig die Verschleierung mit Nikab oder Burka in der Öffentlichkeit verbieten will, akzeptieren nicht alle: In verschiedenen Schweizer Städten wurde zu Spontandemonstrationen aufgerufen.
https://www.20min.ch/story/hunderte-kommen-zu-spontandemos-nach-ja-zum-verhuellungsverbot-707854880222


Unbewilligte Demos in Zürich: Junge Frauen demonstrieren gegen Burka-Initiative
Trotz Verbots haben sich in der Stadt Zürich wie schon am Samstag über hundert Menschen zum Protest versammelt – diesmal wegen der Annahme der Verhüllungsverbotsinitiative.
https://www.tagesanzeiger.ch/tag-der-frau-polizei-loest-illegale-kundgebung-auf-533767709288
-> Videos: https://twitter.com/ajour_mag


Kurzcommuniqué Migrantifa Basel:
Heute Abend sind spontan rund 300 Menschen auf die Strasse gegangen als Reaktion auf die Annahme der SVP-Verhüllungsinitiative. 52% waren heute für Rassismus, Sexismus und Islamophobie. Ein Schlag ins Gesicht für alle Musliminnen.
Und wieder hat sich gezeigt, dass Parlamente dazu da sind die Unterdrückung gegen TINF-Personen, Migrant*innen etc. aufrechtzuerhalten. Wir lassen das aber nicht zu. Gegen dieses System, immer und überall! Selbstbestimmt gingen wir daher heute vom Claraplatz bis zum Voltaplatz auf die Strasse und haben gerufen: SVP – Halts Maul!
(Bei Kontrollen und Problemen mit der Polizei, bitte meldet euch bei Antirep Basel)
Erklärung: TINF (Trans-, Inter- Non-binäre Menschen, Frauen)
https://www.instagram.com/p/CMIdHckAW5l/?igshid=jj4d076phxd7


+++REPRESSION DE
Widerstand im Nordkiez
Polizeiaufmarsch in Berlin-Friedrichshain. Vorwand: »Brandschutzbegehung«
https://www.jungewelt.de/artikel/397911.gentrifizierung-widerstand-im-nordkiez.html


+++POLICE BE
Sag bloss nichts der Polizei: Demokratische JuristInnen Bern
Dominic Nellen, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern, erzählt wie man sich am besten verhält wenn man von der Polizei einer Straftat beschuldigt wird. Und auch, ob das Filmen der Polizei bei der Arbeit in Bern legal ist oder nicht. (ab 05:28/21:29/39:50)
https://rabe.ch/2021/03/07/sag-bloss-nichts-der-polizei-demokratische-juristinnen-bern/


+++POLIZEI ZH
«Linke wollten Ausländerkriminalität totschweigen»
Nationalitäten in Polizeimeldungen nennen und Sozialdetektive einsetzen – das sind die Resultate zu den Abstimmungen in Kanton und Stadt Zürich sowie Winterthur.
https://www.20min.ch/story/nationalitaeten-muessen-in-polizeimeldungen-genannt-werden-387796436739
-> https://www.zsz.ch/nationalitaet-der-taeter-nennen-oder-nicht-860779439660


+++RECHTSEXTREMISMUS
Braune Flecken
Auch in diesen Tagen: Die SVP distanziert sich von rechtsextremen Parteiexponenten erst, wenn bürgerliche Medien den Sachverhalt skandalisieren.
https://www.tachles.ch/artikel/news/braune-flecken


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Dieses Mal in der Nähe von Thun: Wieder Brandanschlag auf 5G-Antenne im Kanton Bern
Die Polizei geht von einem weiteren Brandanschlag aus. Bereits im Februar wurde eine 5G-Mobilfunkantenne im in der Region mutwillig zerstört.
https://www.derbund.ch/unbekannte-brennen-handyantenne-bei-thun-ab-218567480334
-> https://www.bernerzeitung.ch/unbekannte-brennen-handyantenne-bei-thun-ab-218567480334


Warum die Polizei die rechten Corona-Aufmärsche toleriert
Die Polizei will offensichtlich nicht, ihr Feind steht links. Doch entscheidend ist die ÖVP. Sie gibt im Hintergrund den Takt vor.
https://www.bonvalot.net/warum-die-polizei-die-rechten-corona-aufmaersche-toleriert-821/


+++HISTORY
Dokumentationszentrum in Bern: Die Schweiz soll ein offizielles Holocaust-Mahnmal bekommen
Ein breites Bündnis will dem Bundesrat in den nächsten Wochen ein Konzept für eine nationale Holocaust-Gedenkstätte vorlegen. Dem SonntagsBlick liegen erste Details vor.
https://www.blick.ch/schweiz/dokumentationszentrum-in-bern-die-schweiz-soll-ein-offizielles-holocaust-mahnmal-bekommen-id16386112.html
-> https://www.blick.ch/meinung/mahnmal-fuer-ns-opfer-in-der-schweiz-erinnern-aber-richtig-id16386001.html



NZZ am Sonntag 07.03.2021

Die Geschäfte der Kitts: Wie eine Zürcher Familie von der Sklavenwirtschaft profitierte

In der Karibik liegt eine winzige, öde Insel. Vor 250 Jahren aber lockte sie scharenweise europäische Händler an – darunter einen Kaufmann aus Zürich.

Ina Boesch

Besucht man heute die Antilleninsel St. Eustatius, kann man sich kaum vorstellen, dass sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der wichtigste Handelshub in der Karibik war. Wo damals Hunderte von Lagerhäusern am Ufer standen und sich die Ware mangels Stauraum am Strand häufte, ragen heute Mauerreste aus dem Sand; und wo in der Bucht unzählige Schiffe unter unterschiedlichsten Flaggen ankerten und in der Stadt ein Sprachengewirr und Menschengewusel herrschte, dominieren derzeit Hühner das Leben auf der Strasse.

Die Insel avancierte dank ihrer Lage und der politisch-wirtschaftlichen Umstände zum «Supermarkt der Karibik». Für den Warenverkehr zwischen Europa, Afrika und Amerika war die niederländische Kolonie ideal gelegen. Darüber hinaus verhalfen ihr die Neutralität der Niederlande und der von ihnen favorisierte Freihandel zu ihrer wichtigen Stellung.

Während nämlich überall sonst der Merkantilismus vorherrschte, der Handel zwischen der Kolonie und dem Mutterland also exklusiv unter der Flagge der Kolonialmacht zu funktionieren hatte, waren in St. Eustatius Schiffe aller Länder willkommen.

Diesen Umstand bedachte Adam Smith, der schottische Begründer der klassischen Nationalökonomie in seinem Werk «Wealth of Nations» mit einem besonderen Lob. Hierher, in einen der grössten Häfen der damaligen Welt, brachten Händler aus ganz Europa Güter wie Textilien, Hüte oder Töpfe. Von hier verschifften sie Kolonialwaren wie Kaffee, Zucker oder Tabak. Und hier kauften und verkauften sie Sklaven aus Afrika.

An diesem enormen Warentausch wollte der Kaufmann Salomon Kitt (1744 bis etwa 1825) mitverdienen. In seiner Heimatstadt Zürich bankrottgegangen, landete er 1779 im Trubel von St. Eustatius und gründete mit einem Stuttgarter Compagnon eine Firma. Diese bezog ihre Ware von den besten Produzenten und Kaufleuten, die es damals in der Deutschschweiz gab.

Von Zürich schickte der renommierte Seidenexporteur Frey & Pestalozzi Textilien in Kommission. Von St. Gallen sandte Johann Caspar Zollikofer Baumwolle. Von Basel spedierte Hagenbach holländisches Leinen. Von Aarau gingen «Indiennes» und «Calancas» aus der Manufaktur Lutz & Hunziker weg. Umgekehrt verschiffte Kitt – von Sklaven produzierte – Kolonialgüter nach Europa: etwa das Färbemittel Indigo aus Saint-Domingue (dem heutigen Haiti) oder Kaffee aus Guadeloupe.

Kriegsflotte im Hafen

Salomon Kitt war der erste Zürcher, der auf den Antillen im Kolonialwarengeschäft mitmischte. Mit Erfolg – bis ihm die Weltpolitik buchstäblich einen Strich durch die Rechnung machte: Einmal mehr hatten die Briten den Niederländern den Krieg erklärt, und am 3. Februar 1781 fuhr George Rodney mit seiner Kriegsflotte im Hafen von St. Eustatius ein.

Systematisch verfolgte der Admiral sein Motto, aus dem «Golden Rock» eine «blosse Wüste» zu machen: Er liess alle Schiffe im Hafen und zur See beschlagnahmen sowie die Güter in den Lagerhäusern konfiszieren. Der Zürcher Pionier verlor sämtliche Ware.

Das Risiko gehörte zum globalen Handel, so wie der Bankrott gewissermassen das Synonym für den Kaufmann war. Deshalb liess sich Kitt nicht unterkriegen. Auf der benachbarten Insel St. Thomas, damals eine dänische Kolonie, tat er sich mit einem Basler Compagnon zusammen und reaktivierte seine Beziehungen zu Europa und den umliegenden Kolonien.

Doch statt satte Gewinne fuhr die Firma Schulden ein. Vor diesem Hintergrund musste der Vorschlag eines französischen Geschäftspartners verfänglich gewesen sein. Er ermunterte die Eidgenossen, ihr Warensortiment zu erweitern. Infrage kämen etwa «Neger». In diesem Fall müssten es aber «unbedingt schöne Jugendliche sein und vorzugsweise Congos».

Den Indigenen Land abgeknöpft

Soweit sich belegen lässt, ignorierte Kitt die Anregung. Warum er das tat, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht weil ihm ein anderes Geschäft krisenfester schien? Statt mit Sklaven zu handeln, begann er nämlich mit Boden zu spekulieren. Der Handel mit Land galt wegen der geringen Preisschwankungen solider als der Handel mit Kaffee oder Zucker und versprach lukrative Gewinne. In den 1780er Jahren knöpfte er den Indigenen, etwa den Chickasaws, ganz im Westen des heutigen US-Gliedstaats Tennessee Land ab, um es Siedlern zu verkaufen.

Auch in diesem Geschäft war er als einer der ersten Eidgenossen ganz vorn mit dabei, ein zweifelhafter Rang. Anfang des 19. Jahrhunderts verliert sich die Spur des Mannes, der als Kolonialwarenhändler von der Sklavenwirtschaft profitierte und als Bodenspekulant an der Verdrängung der Indigenen beteiligt war.

Salomon Kitt ist einer meiner Vorfahren. Eines Tages bin ich in einem Buch über seinen Namen gestolpert. Meine Grossmutter väterlicherseits hiess Kitt. Über ihre Familie wusste ich gar nichts. Der Stolperstein war der Anfang für eine umfassende Recherche zur heute nicht mehr bekannten Zürcher Familie und zu ihrer Verflechtung mit der Welt.

Der erste Kitt floh Anfang des 16. Jahrhunderts als Glaubensflüchtling vom katholischen Feldkirch nach dem reformierten Zürich, wo er sich 1535 einbürgern liess. Als Kleinkrämer erarbeitete sich der Einwanderer aus dem Vorarlberg ein kleines Vermögen, das seinen Nachkommen die Verbindung mit den mächtigsten Zürcher Familien erlaubte.

Dadurch gehörte die Familie Kitt in der Neuzeit zur Crème de la Crème, auch wenn sie nie so reich war wie die Werdmüller und nie so einflussreich wie die Rahn. Politiker wie diese stellte sie keine, wohl aber eine ganze Reihe von Kaufleuten.

Die Kitts waren wie viele Eidgenossen schon früh – viel früher, als man gemeinhin wahrhaben will – mit ihren Nachbarländern wirtschaftlich vernetzt. Seit der zweiten Generation handelten sie mit Lyon, Genua und Amsterdam, wo sie Waren aus aller Welt bezogen.

So war etwa Ende des 16. Jahrhunderts im Laden von Salomons Urururgrossvater Baschi Kitt fast der ganze Globus vertreten: Am Münsterplatz verkaufte er neben Seide aus Italien, Strümpfen aus Paris, Gold aus Lyon oder Kölnischwasser auch Gewürze – damals das globalisierte Produkt schlechthin. Die Würzmittel stammten aus Asien, Afrika und der Karibik.

Im Tausch gegen Sklaven

Die Familie Kitt war jedoch nicht nur über den Handel in den europäischen und damit in den kolonialen Wirtschaftsraum eingebunden, sondern auch über die Produktion. So gründete beispielsweise Salomons Grossvater Hans Martin Kitt 1701 zusammen mit seinen Schwägern und einem niederländischen Färber die erste Indienne-Fabrik Zürichs.

Dort stellten sie jenen dünnen Baumwollstoff her, der im Tausch gegen Sklaven eine unrühmliche Rolle spielte und den Gewürzen ihren Ruf als erste globalisierte Ware streitig machte.

Und so lässt sich der globale, mit der Geschichte der Familie Kitt eng verwobene Faden weiterverfolgen. Etwa nach Surinam, wohin ein «ungeratener Sohn» verbannt wurde, um die Sklavenhalter vor den «Wilden» zu schützen. Oder nach Ägypten, von wo ein Kaufmann der Universität Zürich zwei Mumien schickte.

Am Ende des Fadens hängen keine spektakulären Fälle. Die einzelnen Lebensgeschichten dokumentieren hingegen, wie früh, wie selbstverständlich und wie konstant die Familie Kitt globalisiert war – und kratzen damit am Mythos vom Sonderfall Schweiz.



Eine globale Familie

In ihrem neuen Buch zeigt Ina Boesch auf, wie die Zürcher Familie Kitt zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert mit der Welt verbunden war. Dazu hat sie Schauplätze in der Karibik, den USA und Ägypten besucht und Archive durchforstet: «Weltwärts. Die globalen Spuren der Zürcher Kaufleute Kitt», Verlag Hier und Jetzt 2021.
(https://nzzas.nzz.ch/wissen/zuercher-familie-kitt-profitierte-von-der-sklavenwirtschaft-ld.1605122)