Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++ZÜRICH
tagesanzeiger.ch 11.02.2021
Sans-Papiers in Zürich: Heftiger Widerstand gegen Züri-City-Card
Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) ist verärgert: FDP und SVP wollen den Ausweis für Sans-Papiers mit allen Mitteln verhindern.
Corsin Zander
Der Zürcher Stadtrat will den geschätzt 10’000 Sans-Papiers der Stadt mit der Züri-City-Card einen Ausweis verschaffen. Im vergangenen November hat er dem Gemeinderat eine entsprechende Motion übergeben (lesen Sie hier mehr dazu).
Die freisinnigen Gemeinderätinnen Yasmine Bourgeois und Mélissa Dufournet reichten inzwischen zusammen mit 26 Mitunterzeichnenden ein Postulat ein. Der Stadtrat soll seine Weisung wieder zurückziehen, weil sie gegen übergeordnetes Recht verstosse. Diesen Vorstoss wollten sie am Mittwoch vergangene Woche für dringlich erklären. Ihr Vorhaben scheiterte. Lediglich 51 stimmten für die Dringlichkeitserklärung. 63 Stimmen wären nötig gewesen.
Anlass für das Postulat war die Antwort des Regierungsrats auf eine Anfrage von drei SVP-Kantonsräten. Sie wollten wissen, ob eine Züri-City-Card als Identitätspapier verwendet werden könnte. Die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) hatte im November angekündigt, die Stadtpolizei anzuweisen, die Karte als Beleg für die Identität zu akzeptieren.
Auf Antrag des Sicherheitsdirektors Mario Fehr (SP) hielt der Regierungsrat fest, dass der Bund für die Regelung von Ausweispapieren zuständig sei: «Eine City Card kann somit kein amtliches Ausweisdokument darstellen bzw. ein solches ersetzen.»
Zugang zu Büchern und Gesundheitsversorgung
Dass die Stadtzürcher FDP nun zum Schluss kommt, mit der Züri-City-Card wolle der Stadtrat übergeordnetes Recht umgehen, verärgert Stadtpräsidentin Corine Mauch, wie sie auf Anfrage sagt. Der Stadtrat habe schon immer betont, dass die City Card bei einer Polizeikontrolle nicht genüge, wenn der Verdacht bestehe, jemand würde sich unrechtmässig in der Schweiz aufhalten.
Aber der Stadtrat sei überzeugt: «Die City Card kann die Solidarität und das Zusammenleben stärken und der ganzen Bevölkerung noch bessere Möglichkeiten bieten, um sich am sozialen, kulturellen und politischen Leben in Zürich zu beteiligen.» So soll die Karte den Sans-Papiers ermöglichen, eine Verbilligung von Krankenkassenprämien in Anspruch zu nehmen, in Bibliotheken Bücher auszuleihen oder günstigere Tickets für kulturelle Veranstaltungen zu bekommen (mehr zum Thema: Eine ID für jeden Stadtbewohner, losgelöst von der Herkunft).
Diese Möglichkeit anerkennt auch der Regierungsrat. Eine solche Karte könne für Freizeitaktivitäten wie Museen oder Bibliotheken eingesetzt werden und einen Zugang zur Gesundheitsversorgung bieten.
SVP droht mit Referendum
Davon will die SVP nichts wissen. Man werde die City Card mit allen Mitteln bekämpfen, sagt der städtische Parteipräsident und Nationalrat Mauro Tuena: «Sollte es möglich sein, dagegen ein Referendum zu ergreifen, werden wir es sicher tun.»
Wie die Züri-City-Card ausgestaltet werden soll und ob ein Referendum dagegen möglich sein wird, dürfte sich noch nicht so bald entscheiden. Der Stadtrat rechnet damit, dass die Karte frühestens ins vier Jahren eingeführt wird. Schon vorher will die Stadt prüfen, wie die Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers verbessert werden kann.
Und auch aus dem Gemeinderat kommen weitere Vorschläge, wie Menschen schon ohne City Card verstärkt am gesellschaftlichen Leben in Zürich teilnehmen können. Ein am Mittwoch eingereichtes Postulat von Willi Wottreng (AL) und Marco Geissbühler (SP) verlangt vom Stadtrat, zu prüfen, ob Sans-Papiers über die Sammeladresse einer NGO in der Zentralbibliothek und der Pestalozzibibliothek Bücher ausleihen können. Die Stadt soll dann bei allfälligen Verlusten der Bücher die Kosten übernehmen.
FDP hat keine «Ideallösung» für Sans-Papiers
Yasmine Bourgeois sagt, diese Ausweise lösten keines der Probleme. Sans-Papiers hätten heute schon Zugang zu Gesundheitssystem und Wege, an Vergünstigungen zu gelangen. Sie anerkennt zwar das Problem, dass in der Stadt Zürich geschätzt 10’000 Personen leben und viele davon gezwungenermassen schwarz arbeiten. Eine Ideallösung auf städtischer Ebene könne sie dafür nicht präsentieren, schliesslich gehe es um übergeordnetes Recht, sagt Bourgeois. Man müsse sicher Schwarzarbeitgeber konsequenter bestrafen, um falsche Anreize zu eliminieren. Und gut integrierte Sans-Papiers sollen erleichtert als Härtefälle anerkannt werden.
Auf diese Möglichkeit verweist auch der Regierungsrat. Für ein Härtefallgesuch muss man seit mindestens 10 Jahren im Kanton Zürich leben. Dies sind geschätzt 2000 bis 3700 der 13’600 bis 24’900 im ganzen Kanton Zürich lebenden Sans-Papiers. Zusätzlich müssen sie aber auch noch die Bedingungen erfüllen, dass die Rückreise ins Herkunftsland unzumutbar ist und sie gut integriert sind. Gerade die letzte Bedingung ist für viele dieser Menschen schwer zu belegen, wenn sie ohne Ausweis versteckt in Zürich leben müssen (lesen Sie Porträts von Sans-Papiers hier oder hier).
Deshalb fordert die Zürcher Stadtregierung schon länger, Bund und Kanton sollen die Rechtsgrundlagen anpassen, um Sans-Papiers unter transparenten Bedingungen zu regularisieren und sie in den geregelten Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch dazu bieten bisher weder der Bundes- noch der Zürcher Regierungsrat Hand.
(https://www.tagesanzeiger.ch/heftiger-widerstand-gegen-zueri-city-card-992403866918)
+++BALKANROUTE
Mit klopfenden Herzen
Wer an der kroatischen Grenze Flüchtlingen hilft, muss mutig sein. Denn die Ablehnung gegen Fremde ist groß und die Stimmung gereizt.
Als in den 90er Jahren der Balkankrieg wütete, verließen Zlatan Kovačevi und Zehida Bihorac ihr Land. Doch sie kehrten nach Bosnien zurück und helfen heute selbst Geflüchteten, die nahe der kroatischen Grenze gestrandet sind.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1148191.fluechtlinge-mit-klopfenden-herzen.html
+++GRIECHENLAND
Griechenland plant neues Lager auf Lesbos
Ein „geschlossenes und kontrolliertes Zentrum“ soll im Herbst das provisorische Lager in Kara Tepe ablösen. NGOs zeigen sich skeptisch
https://www.derstandard.at/story/2000124077027/griechenland-plant-neues-lager-auf-lesbos?ref=rss
Flüchtlingslager Lesbos: »Kinder reißen sich die Haare aus und knallen den Kopf gegen die Wand«
Katrin Glatz-Brubakk betreut für Ärzte ohne Grenzen Kinder im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos. Im Interview berichtet die Psychologin, wie den Kindern zunehmend der Lebensmut abhanden kommt.
https://www.spiegel.de/panorama/fluechtlinge-auf-lesbos-kinder-reissen-sich-die-haare-aus-und-knallen-den-kopf-gegen-die-wand-a-811e89e5-4e8d-444e-9e68-8afa1ffb3c09
+++MITTELMEER
Flüchtende mit steigender Gewalt an EU-Außengrenze konfrontiert
Ein Bericht der Organisation Mare Liberum prangert massive Gewalt gegen Flüchtlinge im Mittelmeer an. Illegale Pushbacks sind demnach verbreitete Praxis
https://www.derstandard.at/story/2000124073276/fluechtende-mit-steigender-gewalt-an-eu-aussengrenze-konfrontiert?ref=rss
+++EUROPA
Frontex: Agentur außer Kontrolle
Vertuschte Menschenrechtsverletzungen, heimliche Treffen mit der Rüstungsindustrie: Über Frontex werden immer mehr Vorwürfe bekannt. Wer kontrolliert die Kontrolleure?
https://www.zeit.de/politik/2021-02/frontex-eu-grenzschutzagentur-kontrolle-menschenechte-ruestungsindustrie/komplettansicht
+++GASSE
derbund.ch 11.02.2021
Corona-Stress in Bern? Brennpunkt Bahnhof – sonst ist es eher ruhig
Der Corona-Frust wächst auch bei Berner Jugendlichen. Trotzdem kommt es nur vereinzelt zu Gewalt und Exzessen, wie Fachpersonen feststellen.
Christian Zellweger
Schlägt der Corona-Koller nun in Aggressivität um? Aus Zürich, Winterthur oder Genf werden regelmässig grössere Menschenansammlungen im öffentlichen Raum gemeldet, Auseinandersetzungen machen Schlagzeilen. In Bern dagegen scheint es bisher ruhiger zu sein.
Vorfälle gab es durchaus, etwa im Dezember auf der Bundesterrasse, wo es zu Schlägereien kam. «Indem wir die Bundesterrasse nachts geschlossen haben, ist der grösste Brennpunkt verschwunden», sagt Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP). Probleme würde – wie schon vor der Pandemie – weiterhin die Situation vor dem Bahnhofsausgang machen. Ansonsten sei die Stimmung «volatil». Wenn es zu grösseren Ansammlungen komme, seien diese selten am selben Ort und nicht permanent.
Es sei eine gewisse Corona-Müdigkeit spürbar, sagt Isabelle Wüthrich, Sprecherin der Kantonspolizei Bern. «Einzelne Personen reagieren nicht mehr ganz so verständnisvoll, wenn wir sie auf die Massnahmen hinweisen.» Auseinandersetzungen hingegen würden nicht statistisch registriert. Dafür habe man im Kanton Bern in der Woche vom 1. bis zum 7. Februar 34 Bussen erfasst, die meisten wegen Verstössen gegen die 5-Personen-Regelung.
«Ventil für Druck und Ärger»
Wie die Stimmung auf der Strasse aussieht, weiss Silvio Flückiger, Leiter der mobilen Interventionsgruppe Pinto der Stadt Bern. Seit Dezember sei es zu spürbar mehr Auseinandersetzungen gekommen in der Stadt, sagt er. Dies betreffe Einzelne, aber auch Gruppen. Wenn dann noch Alkohol dazukomme, werde es leichter gewalttätig. «Für einige ist es ein Ventil, um mit dem Druck und dem Ärger, der durch die Pandemie und den Lockdown verursacht wird, umzugehen», so Flückiger.
Pinto sei deshalb an den Brennpunkten, etwa um den Bahnhof, jeweils früh präsent, um mit den Leuten in Kontakt zu kommen, die Bedürfnisse abzuholen, aber bisweilen auch, um zu ermahnen und zu schlichten. Trotz allem: Die meisten Personen, gerade Jugendliche, seien friedlich und hätten sehr viel Verständnis für die Lage, sagt Flückiger. «Sie versuchen das Beste aus der Situation zu machen.»
«Schutzraum» für Jugendliche
Das bestätigt Evelyne Grieb: «Wir stellen in Bern unter Jugendlichen keine vermehrte Gewalt fest», sagt sie. Grieb ist Jugendarbeiterin in Berns Westen und stellvertretende Geschäftsführerin der offenen Jugendarbeit. Dass es nicht mehr Vorfälle gebe, habe möglicherweise mit der Präsenz von Polizei und Security-Mitarbeitern zu tun. Gerade im Stadtzentrum, etwa auf der Grossen Schanze, würden Versammlungen konsequent aufgelöst.
In den Quartieren sei die Polizei toleranter. So habe sich das Verhalten der Jugendlichen im öffentlichen Raum, zumindest im Westen Berns, ihrer Wahrnehmung nach nicht stark verändert. «Sie treffen sich weiterhin wie vorher.» Falls jemand von der Jugendarbeit präsent ist, seien dank einer Abmachung mit dem Kanton Bern zudem offiziell grössere Versammlungen erlaubt. «So können wir den Jugendlichen einen ‹Schutzraum› im Freien bieten.»
Für viele Jugendliche sei die Situation nicht einfach. «Die Leichtigkeit ist verschwunden», sagt Grieb. Viele würden sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Etwa, weil sie keine Schnupperlehren absolvieren können oder nicht zurechtkommen mit Vorstellungsgesprächen, die über das Internet stattfinden. Hinzu komme die mediale Kritik an den Jugendlichen, dass sie sich nicht an die Corona-Massnahmen halten würden.
Immerhin könne man in diesem zweiten Lockdown die Angebote der Jugendarbeit aufrechterhalten. Nachdem die Jugendarbeit im ersten Lockdown noch als Freizeitangebot eingestuft wurde, gilt sie jetzt als soziale Einrichtung. «Dadurch können wir die Jugendräume und die Beratungsangebote offen halten und auch mehr als fünf Personen empfangen.»
Party an der FH
Dass es nicht nur Jugendliche sind, die Treffpunkte suchen, zeigt ein Vorfall am Standort Marzili der Berner Fachhochschule. Wie aus einem Mail an die Studierenden des Wirtschaftsdepartementes hervorgeht, wurde in den Räumlichkeiten an den Wochenenden «offensichtlich geraucht, gegessen, Alkohol getrunken und viel Abfall zurückgelassen».
Die Studierenden hätten mit dem Badge rund um die Uhr Zugang zu den Gebäuden, sagt Anja Habegger, Leiterin Lehre des Departementes Wirtschaft an der BFH. «Ich habe zwar ein gewisses Verständnis für das Bedürfnis nach Treffpunkten», sagt Habegger. Doch könne man die Räume der Fachhochschule natürlich nicht als Party-Ort zur Verfügung stellen. Dennoch soll die Schule für Personen mit Badge auch weiterhin offen bleiben. So hätten alle weiterhin Zugang zur Infrastruktur. Dies wolle man wegen dieses einen Vorfalls nicht ändern.
(https://www.derbund.ch/brennpunkt-bahnhof-sonst-ist-es-eher-ruhig-119335436652)
—
Absolute Bettelverbote: Ein Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
Das Recht auf Privatleben beinhaltet den Anspruch, die eigene Notlage zum Ausdruck zu bringen und andere um Hilfe zu bitten. Ein absolutes Bettelverbot – unabhängig von der individuellen Situation der Armutsbetroffenen – ist unverhältnismässig und verletzt die Europäische Menschenrechtskonvention.
https://www.humanrights.ch/de/ipf/rechtsprechung-empfehlungen/europ-gerichtshof-fuer-menschenrechte-egmr/erlaeuterte-schweizer-faelle/bettelverbot-privatsphaere-unverhaeltnismaessigkeit
Notschlafstelle: 17 Basler Bettelnde wollen ausreisen
Beim Basler Migrationsamt hat sich bisher eine grössere Gruppe Personen osteuropäischer Herkunft gemeldet, die in der Männernotschlafstelle übernachten.
https://www.bzbasel.ch/basel/notschlafstelle-17-basler-bettelnde-wollen-ausreisen-ld.2101256
++++KNAST
Traumatische Untersuchungshaft
Die Untersuchungsgefängnisse der Schweiz haben international einen schlechten Ruf. Kaum Licht, kaum Bewegung, kaum private Kontakte. Und das obwohl für die Insassen die Unschuldsvermutung gilt. Wir haben recherchiert, was hinter den hohen Mauern vis à vis vom Kustmuseum Bern, vor sich geht.
https://rabe.ch/2021/02/11/traumatische-untersuchungshaft/
-> https://www.humanrights.ch/de/fachstellen/fachstelle-freiheitsentzug/suizid-u-haft-menschenrechtswidrige-haftbedingungen-regionalgefaengnis-bern
-> https://www.woz.ch/-acf5
+++POLICE BE
bernerzeitung.ch 11.02.2021
Umstrittene Anzeige Berner Polizei von Gericht gerüffelt
Die Polizei zeigte zwei Passantinnen an, weil diese zwei ihrer Beamten bei einer Festnahme gestört hätten. Die Frauen wehrten sich vor Gericht dagegen. Mit Erfolg.
Michael Bucher
Es kommt eher selten vor, dass ein Gericht der Polizeiarbeit ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Am Mittwoch geschah genau dies am Regionalgericht in Bern. Der Richter rüffelte zwei Polizisten, die zwei Frauen angezeigt hatten. Die beiden Passantinnen hätten sie bei einer Festnahme bedrängt, so der Vorwurf der Beamten. Gegen den Strafbefehl von 300 Franken wehrten sich die Frauen und erhielten nun vor Gericht recht, wie der «Bund» am Donnerstag berichtete.
Festnahme auf der Schütz
Was war geschehen? Im Sommer 2019 sassen eine Mutter und ihre Tochter beim Bollwerk in einem Restaurant. Von dort aus konnten sie beobachten, wie zwei Polizisten auf der Schützenmatte einen Mann zu Boden drückten, der sich einer Kontrolle entziehen wollte. Weil der Mann immer wieder laut aufschrie, eilten die beiden Frauen zum Ort des Geschehens. Sie hätten die Polizisten gebeten, verhältnismässiger vorzugehen und dem Mann nicht wehzutun, meinte die Mutter.
Die Polizisten zeigten danach die beiden Frauen an wegen Hinderung einer Amtshandlung. Obwohl der Festgenommene bereits am Boden war, machten sie in ihrer Stellungnahme gegenüber der Staatsanwaltschaft geltend, sie seien in ihrer Arbeit «massiv gestört» worden. Die Frauen hätten «gestikuliert». Die Beamten hätten dadurch davon ausgehen müssen, dass «demnächst ein Angriff erfolgen könnte». Das sei im Perimeter Schützenmatte nicht unüblich.
Die Ausführungen überzeugten das Gericht allerdings nicht. In seinem Urteil stützte es sich hauptsächlich auf eine Filmaufnahme der Festnahme, welche die Tochter mit ihrem Handy gemacht hatte und die von der Verteidigung als Beweis eingereicht worden war. Auf dem Video sei «keinerlei Anzeichen einer Gefährdung der Polizisten» erkennbar, hielt der Gerichtspräsident laut «Bund» fest. Die Anzeige sei folglich nicht angebracht gewesen.
Kritik an Staatsanwalt
In einem schlechten Licht steht auch die Staatsanwaltschaft da. Das verhehlte offenbar auch der Gerichtspräsident nicht. Denn die Anklage kannte das Video, welches den Schilderungen der Polizisten offensichtlich widersprach. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, hielt sie trotzdem am Strafbefehl fest. «Die Staatsanwaltschaft hat die Darstellung der Polizisten einfach unkritisch übernommen», sagt Rechtsanwalt Dominic Nellen auf Anfrage. Er vertrat die Tochter vor Gericht.
Die Kritik an der Polizei, sie würde «vorschnell» Anzeigen wegen Hinderung einer Amtshandlung einreichen, ist immer wieder zu hören. Nellen spricht dabei von einer «generellen Tendenz zur Einschüchterung». Umso wichtiger findet der Rechtsanwalt die Feststellung des Gerichts, dass bei kritischen Situationen mit der Polizei stets gefilmt werden dürfe. Denn stehe ein Wort gegen das andere, so werde den Schilderungen von Polizisten oft eine erhöhte Glaubwürdigkeit zugesprochen, so Nellen. Dass Aussagen von Polizisten auch mal falsch oder übertrieben sein können, habe der Fall am Mittwoch gezeigt. Nellen ist überzeugt: «Hätte es dieses Video nicht gegeben, so wären die Frauen schuldig gesprochen worden.»
(https://www.bernerzeitung.ch/berner-polizei-von-gericht-gerueffelt-299944434925)
+++POLIZEI ZH
Zürich: Ringen um Nationaltät der Täter bei Polizeimeldungen
Soll die Stadtpolizei Zürich neu die Nationalität von Tatverdächtigen nennen? Und bei Schweizern auch den Migrationshintergrund? Politiker von links und rechts liefern sich vor der Abstimmung am 7. März einen Schlagabtausch.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/zuerich-ringen-um-nationaltaet-der-taeter-bei-polizeimeldungen?urn=urn:srf:video:5d48f1af-6fcf-46c9-9bb0-34029aa2da5f
+++POLIZEI DE
Polizei Frankfurt ehrt Widerstand: „Von Vergessen zu reden, ist völlig unerträglich“
Immer wieder waren in den vergangenen Monaten in Deutschland Polizisten an rechtsextremen Chatgruppen beteiligt. Drohmails wurden mit Polizeiwachen, Adressabfragen mit Polizeicomputern in Verbindung gebracht. In Frankfurt am Main setzt die Behörde dagegen nun ein deutliches internes Zeichen.
https://www.deutschlandfunk.de/polizei-frankfurt-ehrt-widerstand-von-vergessen-zu-reden.691.de.html?dram:article_id=492321
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Brief mit weissem PulverZwei Polizeieinsätze beim BAG innert 48 Stunden
Wegen einer verdächtigen Substanz mussten am Donnerstag Polizei und Feuerwehr zum BAG-Sitz im Liebefeld ausrücken – schon wieder.
https://www.bernerzeitung.ch/zweiter-polizeieinsatz-beim-bag-innert-48-stunden-149940501534
-> https://www.20min.ch/story/polizei-muss-innert-48-stunden-zweimal-zum-bag-ausruecken-633989069307
-> https://www.20min.ch/story/bag-sitz-in-bern-erhaelt-wegen-drohungen-polizeischutz-695333033447
Die deutsche Impfgegner-¬Szene ist in der Pandemie enorm gewachsen
Esos gegen Wissenschaft
Die Szene der Impfgegner ist gemeinsam mit der Bewegung der Pandemieleugner in Deutschland enorm gewachsen. Impfungen abzulehnen, ist hier inzwischen gesellschaftlich akzeptiert.
https://jungle.world/artikel/2021/05/esos-gegen-wissenschaft
Querdenker als Corona-Spreader?
Besteht die Möglichkeit, dass Demos ohne Masken und ohne Abstand dazu beigetragen haben, das Virus zu verbreiten? Wer dies damals befürchtet hatte, musste sich als Panik-Macher verspotten lassen
https://www.heise.de/tp/features/Querdenker-als-Corona-Spreader-5052163.html
+++RECHTSPOPULISMUS
-> https://www.20min.ch/story/roger-koeppel-ruft-gastronomen-auf-am-1-maerz-zu-oeffnen-706615883482
-> https://www.blick.ch/politik/koeppel-ruft-zu-ungehorsam-auf-im-september-war-ihm-der-rechtsstaat-noch-heilig-id16342072.html?fbclid=IwAR2YfPDr-eTGgQA7tGAThTFTSdMhWjhUspApMKwA4DeA0FuM6SJ7X-LSuFo
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/roger-koppel-ruft-beizen-auf-am-1-marz-zu-offnen-65869249
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/beizen-sollen-am-1-maerz-oeffnen-roger-koeppel-ruft-zu-zivilem-ungehorsam-auf-140890329
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/roger-koeppel-fordert-gastronomen-dazu-auf-ihre-restaurants-im-maerz-zu-oeffnen-140890463
Coronavirus: SVP-Chef Marco Chiesa will Sputnik-Offensive
SVP-Präsident Marco Chiesa sagt, wie seine Partei ab März die Corona-Massnahmen lockern will. Der Tessiner pocht auf die Beschaffung des russischen Impstoffs.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/coronavirus-svp-chef-marco-chiesa-will-sputnik-offensive-65868852
+++RECHTSEXTREMISMUS
Frankreich: Wer finanziert die Identitäre Bewegung?
Das französische Innenministerium arbeitet an der Auflösung der rechtsextremen Gruppe „Génération Identitaire“. Ihre Finanzierung soll untersucht werden, denn die Aktionen der Gruppe sind teuer und stark mediatisiert.
https://www.arte.tv/de/videos/102169-000-A/frankreich-wer-finanziert-die-identitaere-bewegung/
Feindeslisten: Ein Gesetzentwurf gegen Nazis gefährdet antifaschistische Recherche
Vor allem Neonazis sammeln auf Feindeslisten Informationen über politische Gegner, das bringt Betroffene in Gefahr. Das Justizministerium will das Problem mit einem neuen Gesetz angehen, das könnte aber genau das Gegenteil bewirken und antifaschistische Recherche und Journalismus erschweren.
https://netzpolitik.org/2021/feindeslisten-ein-gesetzentwurf-gegen-nazis-gefaehrdet-antifaschistische-recherche/
Transnationaler Rechtsextremismus: Kein Bier für Neonazis
Rechtsextreme vernetzen sich zunehmend international. Unser Gastautor berät die Bundesregierung, wie sie mit der daraus entstehenden Gefahr umgehen soll. Hier schlägt er mögliche Gegenstrategien vor.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-02/transnationaler-rechtsextremismus-eu-bewegung-gewalt-judenfeindlichkeit-fluechtlingspolitik-osteuropa-alexander-ritzmann/komplettansicht
Rechtsextremismus: Rechte Kämpferlandverschickung
Neonazis in Sachsen behaupten, Urlaub für Veteranen des Ukraine-Konflikts in Deutschland zu organisieren. Alles nur ein Propaganda-Fake?
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/rechtsextremismus-neonazis-sachsen-urlaub-veteranen-ukraine/komplettansicht
—
zeit.de 11.02.2021
Die braune Internationale
Deutsche Neonazis, die zum Kämpfen ins Ausland gehen. Amerikanische Vordenker, die von einer faschistischen Revolution träumen. Ein russischer Ex-Soldat, der Rechtsextreme aus halb Europa an der Waffe ausbildet. Einblicke in eine Bewegung, die sich weltweit vernetzt – und immer gefährlicher wird
Eine Reportage von Kai Biermann, Christian Fuchs, Astrid Geisler, Yassin Musharbash und Holger Stark
Der Hassprediger wohnt in einem heruntergekommenen Hinterhaus im Stadtzentrum von Denver, einmal durch den Hof, erster Stock rechts, der Fernseher läuft. Nach dem ersten Klopfen macht er die Tür auf. Ob wir mit ihm über die neue weltweite Nazi-Bewegung reden könnten, immerhin sei er ja einer ihrer Vordenker?
„Kommen Sie rein“, sagt James Mason.
Er trägt einen eisgrauen Vollbart, ein weiß-blaues Nadelstreifenhemd, eine Bundfaltenhose. Im Bücherregal zahlreiche Werke mit Titeln wie Blood & Honor oder, auf Deutsch, Der Gauleiter und Deutschland erwache!. An der Wand eine laut tickende Kuckucksuhr, die sich jede halbe Stunde meldet.
Dieser ältere Herr von 68 Jahren ist unter Neonazis eine Legende. Mason war 14, als er sich der Jugendbewegung der American Nazi Party anschloss. Später wurde er zu einem der bedeutendsten Rechtsextremisten der USA. Er verklärte Adolf Hitler ebenso wie den Serienmörder Charles Manson, propagierte Gewalt und Terror, saß im Gefängnis. Und vor allem veröffentlichte er, 1992 war das, ein Buch: Siege, das heißt auf Deutsch „Belagerung“.
„Lasst uns einige Gedanken teilen, was der nächste logische Schritt zu einem revolutionären Flächenbrand sein könnte“, steht darin. Um „das System“ ins Wanken zu bringen, müsse die „Bewegung“ alles tun, was Anarchie und Chaos befördert – von „zufälligen Schießereien“ bis zu „gezielten, zeitgleichen Mordanschlägen im ganzen Land“.
Die klassischen faschistischen Gruppen und Parteien des 20. Jahrhunderts waren hierarchisch aufgebaut, mit einem Anführer an der Spitze, mit Befehlsketten und militärischen Strukturen. In Siege vertritt James Mason ein anderes Konzept: Am besten, man organisiere sich in kleinen Zellen. Oder man attackiere ganz allein, denn manchmal seien zwei schon einer zu viel. „Das gesamte weiße Amerika“, schreibt Mason, „ist unsere Armee.“
Es gibt ein Foto, aufgenommen 2019, das James Mason mit zwölf Männern zeigt. Mason sitzt in der Mitte auf einem Stuhl, er trägt Braunhemd und Hakenkreuz-Binde. Die Männer knien oder stehen um ihn herum, sie tragen Tarnanzug und sind mit Totenkopfmasken vermummt. Es sind Mitglieder der Atomwaffen Division bei einem Treffen in Las Vegas, Mason war eine Art Ehrengast. Sie nennen sich wirklich so: Atomwaffen Division. Die 2015 von Amerikanern gegründete Neonazi-Gruppe ist eine der härtesten weltweit, in den USA werden AWD-Anhängern fünf Morde angelastet. Und: Sie ist stark von der Idee des „führerlosen Widerstands“ geprägt, die James Mason propagiert hat.
„Eine wundervolle Gruppe“, sagt Mason in seinem Wohnzimmer. „Tapfere Kerle!“ Die Idee der AWD sei es, „den Kampf zum Feind zu tragen“ – nicht nur in den USA. Mittlerweile hat die AWD Ableger in zahlreichen Ländern, auch in Deutschland. „In der Ukraine und quer durch Europa gab es viele Aktionen, das war sehr beeindruckend, muss ich zugeben.“
Vor knapp einem Jahr, im Frühjahr 2020, gab Mason die Auflösung der Atomwaffen Division bekannt, das dürfte jedoch nur ein taktischer Zug gewesen sein, um in den USA dem Fahndungsdruck durch das FBI zu entgehen. „Ein Name verschwindet, und du suchst dir einen anderen. So, wie man seine Unterwäsche wechselt“, sagt Mason.
Man merkt ihm an, dass er stolz ist auf seine Rolle als geistiger Urvater. Gleichzeitig scheint er darauf zu achten, nichts zu sagen, was man als Anstiftung zu Straftaten verstehen könnte. Er glaube heute nicht mehr an die Idee vom rechten Terror, behauptet Mason. Aber: „Es gibt so viele, die nicht bereit sind aufzugeben!“
Es ist zu befürchten, dass Mason recht hat.
In den USA existiert jetzt eine Nachfolgeorganisation der AWD, sie heißt National Socialist Order. Es sind wohl teilweise dieselben Männer – sie tragen nur neue Unterwäsche. Viele Neonazis jenseits der AWD beziehen sich ebenfalls auf Mason. In einem Vermerk spricht das FBI von einem „Siege-Netzwerk“, einem globalen Geflecht von Online-Kanälen und von Gruppen, die ganz real, in der analogen Wirklichkeit, miteinander kooperieren.
Global ausgerichtete Rechtsextremisten: Das klingt wie ein Widerspruch in sich. Waren es nicht die linksextremen Terrorgruppen, die – wie die deutsche RAF – von der „weltweiten Front“ träumten? Die RAF verbündete sich mit der nordirischen IRA, der palästinensischen PLO, der nordvietnamesischen FNL, und die militärische Schulung ihrer Kader fand in Ausbildungscamps im Nahen Osten statt. Auch der Dschihadismus beruht auf der Vorstellung einer weltweiten Gemeinschaft, die keine Nationen kennt. Aber Neonazis? Grölen die nicht „Deutschland den Deutschen!“ oder „Les Français d’abord!“, „Franzosen zuerst!“?
Das war einmal.
In den vergangenen Jahren sei „eine neue führerlose, transnationale, apokalyptisch gesinnte, gewaltorientierte rechtsextreme Bewegung“ entstanden, schreiben Experten in einer aktuellen Studie im Auftrag des deutschen Außenministeriums.
„Ich war fasziniert davon, zu kämpfen“
In einem Bericht der europäischen Polizeibehörde Europol heißt es, dass sich in zahlreichen Staaten auf dem Kontinent die rechtsextreme Szene internationalisiert hat.
Und das Counter-Terrorism Committee des UN-Sicherheitsrats stellt fest, dass es von 2015 bis 2020 bei der Zahl der rechtsterroristischen Angriffe weltweit einen steilen Anstieg gegeben habe: plus 320 Prozent.
Reporterinnen und Reporter der ZEIT haben in sechs Ländern recherchiert, Akten ausgewertet, Interviews geführt und Gerichtsprozesse besucht. Manche Protagonisten dieses Dossiers sind international bedeutsame Schlüsselfiguren, andere einsame Versager vor ihren Rechnern, einer betreibt ein paramilitärisches Trainingscamp, ein anderer, ein junger Deutscher, war kurz davor, in den Krieg zu ziehen. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind Teil von etwas Neuem, das man die braune Internationale nennen könnte.
Der Sog des Krieges
Felix Oberhuber geht schnell und spricht schnell. Es ist das erste Mal, dass er jemandem außerhalb seiner Familie und der Neonazi-Szene seine Geschichte erzählt. Die Stiefel knirschen auf dem frostigen Feldweg, vor ihm erstrecken sich Alpengipfel. Oberhuber trägt Wollmütze und Flecktarnjacke, er ist ein stämmiger Mann, der mit seinen 22 Jahren James Masons Enkelsohn sein könnte – und der bis vor zwei Jahren deutsche und ukrainische Rechtsextreme vernetzt hat. Noch heute führen die Behörden ihn als Gefährder. Er selbst sagt, er wolle mit der Szene nichts mehr zu tun haben. Weil er in Angst lebt vor seinen ehemaligen Kameraden, wird sein echter Name hier nicht genannt.
Fragt man ihn, wie er seine Geschichte belegen könne, krempelt Oberhuber den Ärmel seiner Tarnjacke hoch und zeigt ein Tattoo auf dem Unterarm: Da steht „Misanthropic Division“.
Die MD ist eine paramilitärische rechtsextreme Gruppe aus der Ukraine mit dem Leitspruch „Töten für Wotan“. Oberhuber war bis 2019 ihr Deutschland-Chef. Auf seinen Beinen hat er weitere Tattoos. Runen. Ein Hakenkreuz. Die ZEIT hat auch mit seinem Vater gesprochen, Dokumente studiert und Recherchen in seinem Umfeld angestellt, um seine Geschichte zu verifizieren.
Oberhuber zeigt auf ein Stück Nadelwald. „Dahinten bin ich mit meinem Bruder schon als Kind mit Plastikgewehren rumgerannt.“ Als Teenager trinkt und kifft er viel, bleibt vor dem Fernseher bei Dokumentationen über die Nazi-Zeit hängen, und als er volljährig wird, ist er schon in mehr als 35 rechtsextremen WhatsApp-Gruppen aktiv. Er bekommt Schriften empfohlen, die Pamphlete von ausländerfeindlichen Attentätern, aber auch ein Buch: Siege von James Mason. Er radikalisiert sich, verprügelt Ausländer und plant mit Kameraden einen Überfall auf Linke. „Das war mein erster Versuch, terroristisch aktiv zu werden“, erinnert sich Oberhuber. „Ich war fasziniert davon, zu kämpfen.“
Der Überfall misslingt, weil sie nicht an Waffen kommen. Oberhuber aber ist weiter vom Kämpfen fasziniert und stößt im Internet auf das rechtsextreme Asow-Bataillon. Es wurde 2014 in der Ukraine gegründet, kurz nach Beginn des Kriegs im Osten des Landes. Das Bataillon ist bekannt dafür, dass es auch Ausländer aufnimmt, die sich dem Kampf gegen prorussische Separatisten anschließen wollen. Über WhatsApp kontaktiert Oberhuber einen deutschen Neonazi, von dem er hofft, er könne ihn an die Front bringen. Der Deutsche stellt sich als Funktionär der Misanthropic Division heraus. Die MD rekrutiert in nahezu 20 Ländern Kämpfer für das Asow-Bataillon in der Ukraine. Oberhuber ist begeistert. Genau da will er hin.
Wie kann es ein junger deutscher Neonazi mit seinem Weltbild vereinbaren, in einen komplizierten Krieg zwischen Soldaten der Ukraine und von Russland gelenkten Separatisten zu ziehen, knapp 2000 Kilometer von seiner Heimat entfernt? In der Vergangenheit, erklärt der Extremismus-Experte Alexander Ritzmann, stand für Rechtsextremisten der Kampf für die eigene Nation im Mittelpunkt. Heute sei es etwas anderes: die Verteidigung der „weißen Rasse“. Eine Wahnidee, mit der Neonazis überall in der westlichen Welt etwas anfangen können.
In Europa leben Einwanderer, die ihren muslimischen Glauben nicht verstecken wollen – die „weiße Rasse“ ist bedroht.
In den USA nimmt der Anteil der Nichtweißen an der Bevölkerung zu – die „weiße Rasse“ ist bedroht.
In Australien küssen auf der Straße Männer Männer und Frauen Frauen – die „weiße Rasse“ ist bedroht.
Die Verteidigung der „weißen Rasse“, das ist das Ziel, für das sich Rechtsextreme aller Länder vereinigen.
In den Siebzigerjahren wanderten militante Linke als Berufsrevolutionäre von einem Guerillakrieg in der Dritten Welt zum nächsten. Vor knapp zehn Jahren machten sich Islamisten auf den Weg nach Syrien und in den Irak, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Und im Jahr 2018 zieht Felix Oberhuber nach Weißenfels in Sachsen-Anhalt, in die Wohnung des Funktionärs der Misanthropic Division. Dort lebt bereits ein Mann aus Belarus, der mit Haftbefehl gesucht wird. Die drei bilden jetzt eine Zelle. Sie verkaufen T-Shirts und Flaggen, die sie aus der Ukraine beziehen. Regelmäßig besuchen MD-Gesandte Weißenfels. Oberhuber macht mit ihnen Ausflüge, einmal zu einer Burg, auf der vor 1945 Nazis gelebt haben. Er hat das Gefühl, sie begutachten ihn. Wird sein Traum wahr?
Als der MD-Funktionär wegen bewaffneten Diebstahls ins Gefängnis muss, entscheidet die Führung in Kiew, dass Oberhuber die Geschäfte übernehmen soll. So erzählt er es heute. Er baut einen Kanal auf dem Chatdienst Telegram auf, sprüht Graffiti mit MD-Schriftzug, will beweisen, „dass ich hart arbeite, und dadurch rüberkomme in ein Trainingslager und dann an die Front“. Die Ukrainer schicken einen Tätowierer, der Oberhuber das MD-Logo auf den Unterarm ritzt. Eine Auszeichnung wie ein Orden, die nur wenigen Aktivisten verliehen wird. Nun gehört er zum inneren Kreis. Aber an der Front ist er immer noch nicht.
Experten schätzen die Zahl der Freiwilligen, die aus Deutschland aufgebrochen sind, um im Ukraine-Krieg zu kämpfen, auf etwa 150. Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner von der Linken hat dazu eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, vergangene Woche bekam sie die Antwort: Demnach kennen die deutschen Behörden lediglich „eine Personenzahl im unteren zweistelligen Bereich“ mit Namen. Nur gegen vier Freiwillige seien Ermittlungen eingeleitet worden. Felix Oberhuber sagt, er allein kenne drei Neonazis, die von der Front zurückgekehrt seien. Andere ehemalige Rechtsextremisten berichten der ZEIT von deutschen Neonazis, die sich vor allem deshalb dem Asow-Bataillon angeschlossen hätten, um an Waffen ausgebildet zu werden. Für alle Fälle. Für später.
Im Februar 2020 veröffentlichte der US-Kongressabgeordnete Max Rose zusammen mit dem Terrorexperten Ali Soufan einen Beitrag in der New York Times. Der Krieg in der Ukraine, erklärten Rose und Soufan darin, sei für Rechtsextreme heute das, was Afghanistan in den 1980ern und 1990ern für Dschihadisten war. Damals gingen Gotteskrieger aus vielen Ländern an den Hindukusch und kämpften gegen die von der Sowjetunion unterstützten säkularen Machthaber. Einer von ihnen war Osama bin Laden. Aus einem harten Kern von Fanatikern formte er Al-Kaida. Der Krieg am Hindukusch war so etwas wie der Urknall für den islamistischen Terror des 21. Jahrhunderts.
In ihrem Beitrag machten Rose und Soufan eine Rechnung auf. In den Ukraine-Krieg seien bislang fast doppelt so viele ausländische Freiwillige gezogen wie seinerzeit nach Afghanistan, schrieben sie. 17.000 sind es einer Expertenstudie zufolge, darunter mehr als 1000 Bürger westlicher Staaten. Nicht alle von ihnen sind Rechtsextremisten. Aber viele. Hunderte potenzielle Rückkehrer mit Kampferfahrung. Hunderte potenzielle Krieger für den internationalen Kampf der „weißen Rasse“.
Es gibt Leute, die daran arbeiten, diese Zahl noch zu erhöhen.
Olena Semenjaka ist eine junge Frau aus Kiew, die Philosophie studiert hat. Sie hat dunkelbraune Haare und eine zierliche Figur, auf Fotos voller bärtiger Muskelkerle ist sie oft die einzige Frau. Semenjaka spielt für die ukrainischen Rechtsextremen die Rolle des Postergirls. Zuerst sagt sie ein Interview zu, bricht dann aber den Kontakt ab. Auf manchen Fotos zeigt sie den Hitlergruß, auf anderen posiert sie mit Hakenkreuz.
Rund um das Asow-Bataillon hat sich eine ganze Bewegung gebildet. Deren Ziel sei es, eine Koalition rechtsextremer Gruppen in der Welt zu formen – so sagte es Olena Semenjaka noch 2019 dem Magazin Time. Dabei setzt die Bewegung nicht allein darauf, dass die Misanthropic Division als ihr paramilitärischer Arm im Ausland Neonazis wie den Deutschen Felix Oberhuber rekrutiert. Als Werbebotschafterin reist Semenjaka seit Jahren quer durch Europa zu rechtsextremen Gruppen, nach Recherchen der ZEIT bisher achtmal auch nach Deutschland: auf Einladung der Partei Die Rechte etwa oder als Referentin bei der Identitären Bewegung. Auf einem Festival der deutschen Neonazi-Partei „Der III. Weg“ in der Nähe von Erfurt warb sie 2018 für ein Rechtsrockfestival, das Asgardsrei: „Alle hier sind explizit nach Kiew eingeladen!“
Das Asgardsrei ist eine der größten Veranstaltungen ihrer Art, auch Flaggen der Atomwaffen Division werden dort manchmal im Publikum geschwenkt. Um die Black-Metal-Konzerte herum hat Semenjaka eine Art Kongress aufgebaut, bei dem Rechtsextreme aus Norwegen, Italien, Deutschland, den USA und anderswo sich kennenlernen und austauschen können. Die neuen Netzwerke, warnen Experten, haben sich längst etabliert.
Traum vom Krieg wurde nie Wirklichkeit
Felix Oberhubers Traum vom Krieg wurde nie Wirklichkeit. Vielleicht hielt ihn die Misanthropic Division für ungeeignet, vielleicht präsentierte er sich falsch. Er selbst jedenfalls ist heute froh, dass er in Deutschland blieb: „Ich kann von Glück sprechen.“ Er lebt mit Frau und zwei Kindern in einer Kleinstadt. Die Ukraine ist für ihn wieder sehr weit weg.
Inspiration Dschihad
Rinaldo Nazzaro antwortet schnell: „The Base ist keine Neonazi-Organisation und keine Terrorgruppe“, schreibt er, 63 Minuten nachdem die E-Mail-Anfrage bei ihm eingetroffen ist. Sondern lediglich eine „Plattform zur Vernetzung von Individuen“, die sich für „Selbstverteidigung“ interessierten.
Es ist nicht das erste Mal, dass Nazzaro seine Aktivitäten verharmlost. Wie er wirklich zu denken scheint, zeigt ein geleakter Chat von The Base: „Es ist illegal, wenn du mit dem Ziel trainierst, Unruhen auszulösen“, schrieb Nazzaro dort. „Wenn du zur Selbstverteidigung trainierst: kein Problem.“
Nazzaro, 47 Jahre alt, faustlanger Vollbart, hageres Gesicht, stammt aus dem US-Bundesstaat New Jersey. Als Jugendlicher besuchte er eine Privatschule, später begann er ein Philosophiestudium, brach es ab, schloss sich dem amerikanischen Militär an, war wohl im Irak. Im Jahr 2002 gründete er eine Sicherheitsfirma und warb mit seiner Kriegserfahrung. Dann, ab etwa 2017, verwandelte er sich in einen rechtsextremen Propagandisten, der unter den Pseudonymen Roman Wolf und Norman Spear auftrat. Im Sommer 2018 gründete er The Base, eine Gruppe, in der Siege zur Pflichtlektüre zählt.
Beim Aufbau von The Base orientierte sich Nazzaro offenbar auch an einer Organisation, die den Schritt zum weltweit agierenden Terrornetzwerk erfolgreich vollzogen hatte: an Al-Kaida, deren Name ebenfalls „die Basis“ bedeutet. Kleine, autonome Zellen. Möglichst viele Standorte. Obligatorisches paramilitärisches Training. „Afghanistan ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine vereinigende Ideologie militärisch nutzbar gemacht wurde“, hieß es zeitweise auf einem Base-Account auf Twitter. The Base sei besser als Al-Kaida und der „Islamische Staat“, prahlte ein Mitglied.
Dass sich Neonazis auf Dschihadisten beziehen, ist nicht neu. Tatsächlich inspirieren sich die Bewegungen seit Jahren gegenseitig: Rechtsextreme studieren Anleitungen zum Guerillakrieg, die von Islamisten verfasst wurden, und benutzen deren Anleitungen zum Bombenbau. Al-Kaida und der IS rufen ihre Anhänger zu Anschlägen als „einsamer Wolf“ auf und zitieren damit Rechtsterroristen. Der Neonazi Anders Breivik wiederum, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete, war von Al-Kaida fasziniert.
The Base entstand nach einem Aufruf Nazzaros in einem Online-Forum und hatte rasch um die 50 Mitglieder. Manche trafen sich bald im echten Leben, veranstalteten Camps, übten Schießen und produzierten Propagandavideos, in denen sie vermummt auftraten und das Runen-Symbol von The Base zeigten.
Das FBI schreibt in seinen Akten, das Ziel von The Base sei es, „militante weiße Rassisten rund um den Globus zu vereinigen“ und „einen Rassenkrieg anzuzetteln“.
Drei Angehörige der Organisation wurden festgenommen, weil sie planten, Antifa-Aktivisten zu ermorden. Weitere drei Mitglieder gingen den Ermittlern ins Netz, nachdem sie darüber diskutiert hatten, eine Kundgebung für das Recht auf Waffenbesitz in Virginia zu attackieren, offenbar mit dem Ziel, als Provokateure eine Eskalation auszulösen.
Im Sommer 2019 schloss sich nach Recherchen der ZEIT ein junger Deutscher der Organisation an. Sein Deckname: Dekkit. Fotos und Chatnachrichten belegen, dass er damals in die USA reiste, höchstwahrscheinlich nach Silver Creek, einem abgelegenen Dorf im Bundesstaat Georgia, wo die Familie eines Mitglieds von The Base ein 40 Hektar großes Grundstück besitzt. Dort hielt die Gruppe dem FBI zufolge hate camps ab, bei denen die Männer mit Waffen trainierten und in einem heidnischen Ritual einen Ziegenbock enthaupteten.
„Dekkit in Amerika gesichtet“, schrieb am 13. August 2019 ein US-Neonazi in den Chat. Dazu postete er ein Foto des Gastes. Es zeigt einen halb von einer Hakenkreuzflagge verborgenen Mann in Militärkleidung: Eine Totenkopfmaske verdeckt das Gesicht, darüber trägt er eine Baseballkappe mit dem Runen-Logo von The Base.
Es sind mehrere Einträge bekannt, die Dekkit im verschlüsselten Chatroom von The Base gepostet hat. „Wäre heute fast beim Durchqueren der Sümpfe gestorben“, berichtete er einmal. Sein Begleiter sei „bis zu den Oberschenkeln im Schlamm“ versunken. Sogar Alligatoren und Wasserschlangen hätten sie gesehen. Was Dekkit in Silver Creek genau tat, ob er Anschläge plante oder Aufträge erhielt, ist unklar.
Inzwischen ist Dekkit allem Anschein nach wieder in Deutschland. Ein gewaltbereiter Rechtsextremist auf der Suche nach Anschluss. Nach seiner Rückkehr hat er seinen Decknamen um die Buchstaben „AW“ ergänzt, was mutmaßlich für Atomwaffen Division steht.
Experten vermuten, dass sich längst außerhalb der USA eigene Zellen von The Base gebildet haben, in Großbritannien, im Baltikum, in Australien und Südafrika.
Und in den Niederlanden.
Januar 2021, Haftprüfungstermin in einem Gericht in Rotterdam: Per Video werden aus der U-Haft zwei Männer zugeschaltet, denen die Mitgliedschaft bei The Base vorgeworfen wird.
Fabio I., 19 Jahre alt, soll im Internet Hassbotschaften gepostet haben, „alle Nichtweißen töten“ zum Beispiel. Sein Anwalt sagt, Fabio I. sei kein Base-Mitglied. Als Beleg verweist er auf eine Nachricht, die sein Mandant in dem Chat erhielt: „Du wurdest noch nicht überprüft und hast noch keinen Zellenführer.“ Was allerdings belegen könnte, dass er zumindest mit The Base in Kontakt war.
Der zweite Beschuldigte ist Steven V., 20 Jahre alt. Er wird verdächtigt, zu einem Anschlag auf Premierminister Mark Rutte angestiftet zu haben. Rutte, schrieb er in einem Chatroom, den die Ermittler The Base zuordnen, nehme auf dem Fahrrad täglich eine von drei Routen ins Büro und sei dabei ungesichert. „Ich bin kein Terrorist“, sagt Steven V. bei der Anhörung im Gericht. „Ich habe den Chatroom vor Monaten verlassen.“
Das Gericht entscheidet, dass Fabio I. und Steven V. in U-Haft bleiben.
Internet und Wirklichkeit
Das Örtchen Tiefenbach liegt steil am Hang im Bayerischen Wald. Hier, in der Kellerwohnung des pastellfarbenen Hauses seiner Eltern, lebte bis zu seiner Festnahme im Februar 2020 Fabian D. Versteckt hinter der Dunstabzugshaube fanden die Ermittler eine Festplatte. Darauf: Siege, das Terrorhandbuch von James Mason.
Fabian D., Elektroniker, heute 23 Jahre alt, war nie in einer rechten Partei. Soweit bekannt, wollte er anders als Felix Oberhuber nie in der Ukraine kämpfen und reiste anders als Dekkit nicht nach Amerika. Fabian D. saß am Computer und zockte. Im Internet stieß er auf Neonazi-Gruppen aus dem Siege-Kosmos wie die Atomwaffen Division, The Base und die Feuerkrieg Division, ein weiteres rechtsterroristisches Netzwerk mit etwa 40 Mitgliedern aus 15 Ländern.
In seinem Keller zog sich Fabian D. 18 Propagandafilme der Atomwaffen Division aus dem Netz. Er studierte Manifeste rechtsextremer Attentäter. Bald wollte er kein Zuschauer mehr sein, sondern mitmachen.
Im Frühjahr 2019 bekam er endlich Zutritt zum Chat der Feuerkrieg Division. Dort erschuf Fabian D., der im echten Leben keine Freunde hatte und mit seinem Übergewicht haderte, eine neue Version seiner selbst. Mehr als 18.000 Screenshots der Chats hat die ZEIT gesichtet. Fabian D. nannte sich darin „reinhard070304“ oder „Heydrich“, nach dem Nazi-Verbrecher und Holocaust-Organisator Reinhard Heydrich, geboren am 7. März 1904. Als virtueller Heydrich postete Fabian D. ein Foto, das vermutlich Geflüchtete im ostbayerischen Cham zeigt, und schrieb dazu: „Hm, töten oder nicht töten – das ist die Frage.“
Seine digitalen Fantasien übertrug Fabian D. in die analoge Welt. Er lief in Bundeswehrkleidung herum. Bemühte sich um Schusswaffen. Im Juli 2019 beantragte er einen Kleinen Waffenschein und erhielt ihn 14 Tage später. An die Adresse seiner Großmutter ließ er sich Waffenteile schicken: den „Deko-Nachbau“ einer Kalaschnikow, dazu ein Originalgehäuse. Schleif- und Bohrspuren deuten darauf hin, dass er daraus eine scharfe Waffe bauen wollte.
Fabian D. lud sich Anleitungen zum Bombenbau aus dem Netz herunter und ließ sich Totenkopfmasken liefern, wie er sie aus Propagandavideos kannte. Ein Selfie aus dieser Zeit zeigt ihn maskiert im Tarnfleckanzug, in einer Hand Mein Kampf, in der anderen die nachgebaute Kalaschnikow.
Im Januar 2020 schrieb D. seinen Kameraden, er wolle als „Saint“ – als Heiliger – berühmt werden. Im Chat der Feuerkrieg Division ist „Saint“ der Szenecode für Rechtsterroristen wie den mutmaßlichen Mörder des CDU-Politikers Walter Lübcke in Deutschland oder den Attentäter von Christchurch in Neuseeland.
Wer zu einem Anschlag entschlossen sei, solle seine Ziele sorgfältig aussuchen, hatte James Mason in Siege geschrieben. Jetzt fragte Fabian D. in die Runde, was ein geeignetes Ziel sein könnte. Er halte „Orte der Andacht“ für eine gute Wahl und wolle „Werkzeuge“ einsetzen, die „hautnah und persönlich“ seien.
Es ist unklar, ob der Verfassungsschutz bei diesen Unterhaltungen mitlas oder ob er einen Hinweis aus dem Ausland erhielt. Jedenfalls alarmierte der Nachrichtendienst die Polizei: Es drohe ein Anschlag, vielleicht auf eine Synagoge oder Moschee. Kurz darauf nahmen Spezialkräfte Fabian D. fest. In der Fahrertür seines Pkw steckte ein Schreckschussrevolver, geladen und schussbereit, ein zweiter lag versteckt unter dem Beifahrersitz. In seinem Rucksack hatte er ein Campingmesser, ein Jagdmesser und ein Handbeil. In der Kellerwohnung in seinem Elternhaus stellte die Polizei einen Stahlhelm, eine Machete, eine Weste zum Transport von Waffenmagazinen und ein Set zum Knacken von Schlössern sicher. Im Briefkasten lag Post von der Bundeswehr. Fabian D. hatte sich auf eine Stelle in der EDV beworben. Der Brief enthielt die Zusage.
Agieren wie virtuelle Schatten
Als Fabian D. im November 2020 den Saal E006 des Nürnberger Landgerichts betritt, versteckt er sein Gesicht hinter einem Leitzordner. Er trägt Anzug, die Haare sind gescheitelt, im Nacken kurz geschoren. Der Angeklagte, diagnostiziert ein psychiatrischer Gutachter, sei von „erheblicher Gefährlichkeit“. D. habe sich so tief in die rechtsextreme Ideologie hineingesteigert, dass nicht mehr viel Antrieb nötig gewesen wäre, um ihn zu schweren Straftaten zu motivieren. Das Gericht verurteilt Fabian D. zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung. Die Verteidigung hat Revision eingelegt.
Der Fall zeigt, wie schwer es den Sicherheitsbehörden fällt, den Angehörigen der braunen Internationale auf die Spur zu kommen. Sie hinterlassen ja kaum Spuren, tragen Decknamen, agieren wie virtuelle Schatten, sind vielleicht nur Online-Sprücheklopfer. Bis sie auf einmal im echten Leben zur Waffe greifen. Gegen mutmaßliche deutsche Anhänger des Siege-Netzwerks ermittelt inzwischen sogar der Generalbundesanwalt. Er verdächtigt Neonazis, eine terroristische Vereinigung gegründet oder unterstützt zu haben: die Atomwaffen Division Deutschland. Die Spuren führen nach Bayern und Berlin, ins Studentenmilieu und zu einer rechtsextremen Bürgerwehr. Die Bundesanwaltschaft äußert sich auf Anfrage dazu nicht.
Ermittelt wird auch wegen angeblicher Anschlagspläne in Deutschland. Im Chat der Feuerkrieg Division prahlte ein Teilnehmer im Sommer 2019, es sei eine „OP Walter Lübcke 2.0“ geplant. Im bayerischen Tiefenbach postete Fabian D. daraufhin einen Slogan der Atomwaffen Division: „Die Messer werden schon gewetzt“.
„Jeder auf der Erde kann eine Atomwaffendivision sein“, heißt es in einem Strategiepapier der AWD. „Wir können dein Nachbar, Postbote, Sekretär, bester Freund usw. sein. Wir sind überall und wir sind niemand.“ Es klingt fast wie abgeschrieben aus Anleitungen des IS an seine Anhänger, sich selbst zu rekrutieren und in Eigenregie zuzuschlagen. Man solle sein „Zuhause zu einem Guerilla-Camp“ machen, empfahl ein Agitator der Feuerkrieg Division.
Fabian D. wurde gestoppt, aber die anderen deutschen Teilnehmer des Feuerkrieg-Chats blieben unbehelligt. Wie Fabian D. sind auch sie potenzielle „einsame Wölfe“. Heute tauchen sie bei der AWD auf, morgen bei der Feuerkrieg Division, übermorgen bei The Base.
James Mason hatte recht: Gruppennamen spielen kaum noch eine Rolle. Genauso wenig wie die Herkunft. Die neuen nationalen Terroristen interessieren sich nicht für die Nationalität. Wichtig ist allein die richtige Gesinnung.
Die russische Connection
Die braune Internationale macht es einem nicht immer leicht, das Neue an ihr zu erkennen. Die Symbolik der meisten Gruppen zum Beispiel, die Runen und die Hakenkreuze und die lächerliche Lust an der Frakturschrift – all das wirkt ziemlich alt. Eher wie 1941 als wie 2021. Aber davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Ihre Methoden sind modern, und sie ist offen für neue Einflüsse und Bündnisse.
Als Adolf Hitler im Juni 1941 den Befehl gab zum Überfall auf die Sowjetunion, war das Ziel die „Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis“. Die Nazis von damals verachteten Slawen als „Untermenschen“, die es zu beherrschen und auszunutzen galt.
Man könnte denken: Russen haben bei den Nazis von heute nichts zu suchen.
Denis Gariew ist 42 Jahre alt, ein Mann mit weißen Socken in Latschen, der nicht besonders bedrohlich wirkt. Er hat einen Uni-Abschluss in Geschichte, und eine genaue Vorstellung von seinen Kunden hat er auch. „Die verstehen, dass es morgen nicht mehr darauf ankommen wird, was für ein Auto du fährst oder was für ein Start-up du gegründet hast. Denn morgen werden sie kommen und jeden töten, und dann muss man gegen den Feind kämpfen.“
Seine Kunden, das sind in der Mehrzahl russische Männer zwischen 20 und 45. Aber auch Franzosen, Serben, Deutsche. Sie alle reisen zu Gariew nach St. Petersburg und nehmen zum Beispiel teil an einem Kurs, in dem man Kriegstaktik lernt, Schießen, Erste Hilfe, Kenntnisse im Funken und in Topografie, sieben Tage für umgerechnet 280 Euro. 500 Buchungen seien es im letzten Jahr gewesen, sagt Gariew. „Wenn Leute mit patriotischen Ideen kommen, sind sie willkommen.“
Er steht im Keller eines scheinbar gewöhnlichen Wohnhauses, eine Autostunde vom Petersburger Stadtzentrum entfernt. Draußen verkünden Poster, dass hier Ringen und Martial Arts gelehrt werden, drinnen läuft einer von Gariews zehn Instrukteuren im Flecktarn über den Flur, im Holster eine Pistole. An den Wänden orthodoxe Ikonen. Im Büro ein Granatwerfer. Nur eine Attrappe, sagt Denis Gariew und redet über den Feind, die globale Allianz aus Linken, Schwulen und Migranten. Es braucht, glaubt er, einen „letzten Kreuzzug“, um die traditionellen christlichen Werte vor ihnen zu retten. Und dieser Kreuzzug soll von Russland ausgehen, dem Land, das für Rechtsextreme aus der ganzen Welt längst nicht mehr die Heimat der „Untermenschen“ ist. Sondern ein Sehnsuchtsort – ein Staat, der ihnen vorkommt wie ein Bollwerk gegen den Westen, gegen Verweichlichung und Migration.
Hier im Keller befindet sich einer der Standorte des paramilitärischen Ausbildungsprogramms, das Gariew für seinen Kreuzzug gegründet hat. Es ist eine Art Hardcore-Volkshochschule, und sie hat Neonazis etwas Verlockendes zu bieten: ein Training, wie es andere Länder nur für Soldaten erlauben; ohne dass die russischen Behörden etwas dagegen hätten. Zusätzlich leitet Gariew den militärischen Arm einer ultranationalistischen Gruppierung namens Russian Imperial Movement, deren Mitglieder von der Wiederauferstehung des Zarenreiches träumen. In Syrien und Libyen sind seine Kämpfer im Einsatz, als reguläre Soldaten der russischen Armee oder als Söldner. Im Ukraine-Krieg waren sie auch.
Wäre der Deutsche Felix Oberhuber tatsächlich für das ukrainische Asow-Bataillon in den Kampf gezogen, dann hätte er womöglich auf andere Männer schießen können, die ihr Handwerk beim Russen Denis Gariew gelernt haben. Die meisten Kämpfer aus dem Ausland, die freiwillig an diesem Krieg teilnehmen, tun dies auf russischer Seite.
Sie stehen sich als Feinde gegenüber. Und sind doch Teil derselben Bewegung. Dass sie solche Widersprüche aushält, macht die braune Internationale so gefährlich.
In St. Petersburg redet Gariew offen über seine Rolle. Er sagt: „Wir sind die einzige Organisation mit starken, professionellen Verbindungen zu Rechten auf der ganzen Welt.“
In Deutschland steht das Russian Imperial Movement mit NPD-Mitgliedern in Kontakt, so Gariew. Im April 2018 tauchten Repräsentanten des RIM bei einem Aufmarsch von Rechtsextremen in Dortmund auf.
In Spanien soll das RIM Nationalisten zu Anschlägen angestachelt haben.
Im US-Bundesstaat Tennessee, acht Zeitzonen von St. Petersburg entfernt, sitzt in einem Diner der frühere Neonazi Matthew Heimbach. Er geriet vor fünf Jahren in den Dunstkreis des RIM, über Gesinnungsgenossen in Europa. Heimbach erzählt, wie zwei RIM-Aktivisten ihn in Tennessee besuchen kamen. Wie er mit ihnen in einem Vergnügungspark Achterbahn fuhr und beim Grillen über ein Bündnis zwischen den amerikanischen Neonazis und den russischen Zarenreich-Fanatikern redete. Wie er in den beiden „Kameraden“ sah und mit ihnen nach Washington fuhr. Vor dem Weißen Haus pflanzten sie ei
ne RIM-Fahne, machten Fotos und freuten sich über den Propaganda-Coup. Später äußerte ein Anti-Terror-Beamter des US-Außenministeriums den Verdacht, das RIM habe versucht, Amerikaner zu rekrutieren.
Und das war noch nicht alles. Der Beamte sagte auch: „Diese Gruppe hat das Blut Unschuldiger an den Händen.“
Die Nordische Widerstandsbewegung ist ein Verbund von Neonazi-Gruppen, die in ganz Skandinavien aktiv sind. Sie hat etwa 300 Mitglieder. Zwei von ihnen begingen zwischen November 2016 und Januar 2017 in Schweden mehrere Anschläge mit Sprengsätzen: auf ein linkes Büchercafé und auf einen Campingplatz, der als Unterkunft für Geflüchtete diente. Zuletzt deponierten sie eine Bombe nahe einer anderen Flüchtlingsunterkunft. Bei der Explosion wurde eine Reinigungskraft schwer verletzt.
Die Täter wurden festgenommen – und die Ermittler stießen auf ein Foto, das die beiden Männer beim Training in St. Petersburg zeigt, Kalaschnikows in den Händen. Sie waren nur Monate vor den Taten bei Denis Gariew gewesen. Der Russland-Trip sei ein „Schlüsselmoment ihrer Radikalisierung“ gewesen, glauben die Ermittler.
Anfang 2020 wird ein RIM-Rekruteur in Stockholm festgenommen; er hatte ein Waffenlager angelegt.
Im April 2020 erklärt das US-Außenministerium das RIM zur Terrororganisation, als erste ausländische rechtsextreme Vereinigung überhaupt.
Im Januar 2021, beim Interview in seinem Ausbildungskeller, streitet Denis Gariew gar nicht erst ab, dass er die beiden Schweden kannte. Sie seien „als Touristen“ gekommen. Er habe sie nur herumgeführt und mit ihnen über das Christentum diskutiert.
Für die amerikanische Regierung ist er jetzt also ein „specially designated global terrorist“. Er sagt dazu: Er wisse, warum die Europäer und Amerikaner ihn und seine Organisation fürchteten. „Sie haben verstanden, dass unsere Ideen eine Bedrohung sind.“
–
Mitarbeit: Sophie Garbe, Rosanne Kropman, Anton Maegerle, Dmitry Saltykovsky
–
Hinter der Geschichte
Für dieses Dossier recherchierten ZEIT-Redakteure acht Monate lang: Sie gingen den Spuren des Neonazis Fabian D. in der süddeutschen Provinz nach, besuchten den Vordenker der Bewegung, James Mason, zu Hause in Denver und kontaktierten den Chef der Neonazi-Gruppe The Base. Aus Russland und den Niederlanden arbeiteten freie Kollegen dem Team zu; der kanadische
Reporter Ryan Thorpe, der zeitweise undercover Zugang zum internen Chat von The Base hatte, teilte einige seiner Informationen.
Der zitierte Extremismus-Forscher Alexander Ritzmann hat für ZEIT ONLINE einen Beitrag über Strategien gegen den globalen Rechtsextremismus verfasst.
–
–
Überblick über die weltweiten rechten Gruppierungen
Nordic Resistance Movement
Die Nordische Widerstandsbewegung (Nordic Resistance Movement, NRM) ist ein in Skandinavien aktiver Verbund von gewaltaffinen Neonazi-Gruppen. Die Mitgliederzahl wird auf rund 300 geschätzt. Schwerpunkt des NRM ist Schweden, wo die Organisation auch als politische Partei in Erscheinung tritt. Das NRM pflegt seit Jahren Beziehungen zum Russian Imperial Movement.
Russian Imperial Movement
Die Russische Reichsbewegung (Russian Imperial Movement, RIM) ist eine ultranationalistische Gruppe, die von der Wiederauferstehung des russischen Großreiches und der Wiedereinführung des Zarentums träumt. Mit der Imperial Legion verfügt sie über einen militärischen Zweig, der im Ukraine-Konflikt auf prorussischer Seite aktiv war. Das RIM wurde 2020 vom US-Außenministerium als terroristische Vereinigung gelistet. RIM-Führer Denis Gariew betreibt in Sankt Petersburg ein paramilitärisches Ausbildungslager, an dem auch deutsche Rechtsextremisten trainiert haben. Das RIM ist international eng mit rechten Gruppen vernetzt, in Deutschland zum Beispiel mit der NPD.
The Base
2018 von Rinaldo Nazzaro gegründete Organisation, die nach Ansicht des FBI einen „weißen Ethno-Staat“ errichten möchte und zu Gewalt und Anschlägen aufruft, um den Ausbruch eines vermeintlich ohnehin bevorstehenden Bürgerkrieges zu beschleunigen. Mehreren Base-Mitgliedern in den USA werden Terrorplanungen vorgeworfen. Experten vermuten, dass The Base Zellen in Kanada, Australien, Südafrika und europäischen Ländern hat.
Atomwaffen Division
Eine neonazistische Organisation, die 2015 in den USA entstand und ideologisch massiv aus der Aufsatzsammlung „The Siege“ von James Mason schöpft. Mitgliedern der AWD werden in den USA fünf Morde angelastet. Die Gruppe hat Anhänger in mehreren europäischen Ländern, unter anderem in Deutschland, wo nach Informationen der ZEIT der Generalbundesanwalt Ermittlungen führt.
Feuerkrieg Division
Eine neoazistische Gruppierung, die vermutlich Ende 2018 nach dem Vorbild der Atomwaffen Division entstanden ist. Mitglieder in zahlreichen europäischen Ländern, darunter Deutschland. Im Internet haben FKD-Mitglieder immer wieder zu Gewalttaten aufgerufen, insbesondere gegen Juden und Migranten. 2020 wurde erstmals gegen einen Teilnehmer eines FKD-Chats in Deutschland ein Prozess geführt. Der Angeklagte wurde wegen der Planung einer staatsgefährdenden Straftat verurteilt.
NPD
1964 gegründete rechtsextreme politische Partei. NPD-Mitglieder pflegen Kontakte zu zahlreichen anderen rechtsextremen Parteien in ganz Europa sowie zum Russian Imperial Movement und zur Asow-Bewegung.
III. Weg
2013 gegründete rechtsextreme Kleinstpartei. Schwedischen Experten zufolge gilt sie der Nordic Resistance Movement als Vorbild. Die Partei hat enge Kontakte zur Asow-Bewegung, rekrutierte in Deutschland für ein „Sportlager“ in der Ukraine.
Misanthropic Division
Militante rechtsextreme Gruppierung, die 2013 in der Ukraine gegründet wurde, von der Etablierung eines nationalsozialistischen Staates träumt und sich im Krieg zur Erhaltung der „weißen Rasse“ wähnt. Im Konflikt in der Ukraine kämpft die MD gegen die prorussischen Separatisten und hat Rechtsextremisten aus zahlreichen Ländern als Freiwillige rekrutiert. Die MD ist gewaltbereit und verherrlicht den historischen Nationalsozialismus.
Asow-Bewegung
Rechte Bewegung, die sich rings um das ukrainische Asow-Regiment gebildet hat. Das Regiment wurde 2014 gegründet, um in der Ukraine gegen prorussische Separatisten zu kämpfen und fiel von Beginn an durch rechtsextreme Neigungen auf. Aus dem Regiment gingen später die rechte ukrainische Partei Nationales Korps und die Straßengruppe Nationale Miliz hervor. Regiment, Partei und Anhängerschaft bilden die Asow-Bewegung, die sich seit Jahren massiv um die internationale Vernetzung rechtsextremer Kräfte bemüht. Sie ist auch in Deutschland aktiv.
Identitäre Bewegung (IB)
Die Gruppe neurechter Aktivisten ist neben Frankreich, Österreich und anderen europäischen Ländern seit 2014 offiziell auch Deutschland aktiv. Die Nachrichtendienste der drei Länder überwachen die Gruppierung als rechtsextreme Organisation. Einzelne Mitglieder der IB halten Kontakte zu Asow in der Ukraine.
Die Rechte
Neonazistische rechtsextreme Kleinstpartei, die seit 2012 existiert und eine Nähe zur gewaltbereiten Kameradschaftszene aufweist. Mehrmals trat eine Vertreterin von Asow bei Veranstaltungen von Die Rechte in Deutschland auf.
(https://www.zeit.de/2021/07/faschismus-international-awd-neonazi-terrorimus-rechtsextremismus/komplettansicht)