Medienspiegel 5. Februar 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Asylpraxis zu Sri Lanka ist zu überprüfen
Ein UNO-Bericht von Ende Januar 2021 kritisiert die Entwicklung der Menschenrechtslage in Sri Lanka scharf. Die Einschätzung des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) bestätigt die bisherigen Erkenntnisse der SFH. Seit der neue Präsident Gotabaya Rajapaksa im November 2019 das Amt übernahm, hat sich die Lage im ehemaligen Bürgerkriegsland deutlich verschlechtert.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/asylpraxis-zu-sri-lanka-ist-zu-ueberpruefen


+++BALKANROUTE
Caritas: Österreich soll Flüchtlingsintegration auf dem Balkan mitfinanzieren
Balkanländer sollen nicht als „Anhaltezentrum der EU“ ausgebeutet werden. Hilfe für Geflüchtete sei auch im Interesse Österreichs
https://www.derstandard.at/story/2000123893987/caritas-oesterreich-soll-fluechtlingsintegration-am-balkan-mitfinanzieren?ref=rss


+++MITTELMEER
Seenotrettung im Mittelmeer: Ocean Viking rettet 180 Menschen
Frauen, Kinder und Männer sind vor der libyschen Küste in Seenot geraten. Schon am Vortag wurden 237 Menschen vor dem Ertrinken gerettet.
https://taz.de/Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5749341/
-> https://www.nau.ch/news/europa/uber-400-gefluchtete-retten-sich-auf-ocean-viking-65866265
-> https://www.blick.ch/ausland/italien-viele-fluechtlinge-verlassen-libyen-ueber-400-auf-der-ocean-viking-id16332437.html


Über 800 Geflüchtete vor libyscher Küste gestoppt
Rom. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) versuchen aktuell viele Menschen das Kriegsland Libyen Richtung Europa zu verlassen. In 24 Stunden hätten sich mehr als 1.000 Geflüchtete in Booten auf den Weg gemacht, um den schlechten humanitären Bedingungen dort zu entfliehen, schrieb die Organisation am Freitag. Über 800 von ihnen seien von der sogenannten Libyschen Küstenwache abgefangen und in Internierungslager gebracht worden. Im vergangenen Jahr wurden laut IOM Libyen 11.891 Menschen von der EU-finanzierten »Küstenwache« nach Libyen zurückgebracht.
https://www.jungewelt.de/artikel/396281.%C3%BCber-800-gefl%C3%BCchtete-vor-libyscher-k%C3%BCste-gestoppt.html


+++ÄTHIOPIEN
Konflikt in Tigray: Humanitäres Desaster für geflüchtete Eritreer
Der kriegerische Konflikt zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der in Tigray regierenden Volksbefreiungsfront TPLF hat die gravierende Situation der Geflüchteten aus Eritrea verschärft. ARTE Info hat mit Exil-Eritreern über die Krise in Tigray, die Repressionen in ihrem Heimatland sowie die europäische Asylpraxis gesprochen.
https://www.arte.tv/de/videos/094279-180-A/konflikt-in-tigray-humanitaeres-desaster-fuer-gefluechtete-eritreer/


+++FREIRÄUME
Bis Mitte Februar muss Haus leer sein: Luzerner Stadtrat irritiert mit Festhalten am Eichwäldli-Abriss
Die Luzerner Stadtregierung bleibt dabei: Die Gruppe «Familie Eichwäldli» muss die Soldatenstube in zehn Tagen verlassen – obwohl das Parlament den Abriss vertagen wollte. Die Jungen Grünen, die SP und die Bewohner fühlen sich vor den Kopf gestossen. Stadtpräsident Beat Züsli kontert die Kritik – und sagt, was passiert, wenn die Bewohner das Haus nicht verlassen sollten.
https://www.zentralplus.ch/luzerner-stadtrat-haelt-am-eichwaeldli-abriss-fest-2004365/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/stadt-luzern-der-stadtrat-bleibt-hart-die-soldatenstube-wird-abgebrochen-die-familie-eichwaeldli-muss-das-gebaeude-verlassen-ld.2095193
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/soldatenstube-eichwaeldli-stadtrat-bleibt-bei-abriss?id=11926696


+++GASSE
Fachstelle warnt: «In der Corona-Krise starben bereits mehrere Jugendliche an Mischkonsum»
Der Drogenhandel mit Benzodiazepinen, Cannabis und Amphetaminen hat durch die Corona-Krise bei Jugendlichen stark zugenommen.
https://www.20min.ch/story/in-der-corona-krise-starben-bereits-mehrere-jugendliche-an-mischkonsum-473940350708


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Basler Massenprozess wegen Protests gegen Neonazi-Demo:
«Die Urteile sind skandalös und völlig inakzeptabel!»
«Mitgegangen, mit¬gefangen.» Nach diesem Motto verurteilt das Basler Strafgericht derzeit reihenweise¬ Menschen, die im Herbst 2018 gegen die Neonazi-Partei PNOS protestiert hatten. Das schlägt in Basel hohe politische Wellen.
https://www.workzeitung.ch/2021/02/die-urteile-sind-skandaloes-und-voellig-inakzeptabel/


+++KNAST
tagesanzeiger.ch 05.02.2021

Über 30 Forderungen: Pöschwies-Insassen wollen weniger Arbeitszwang und mehr Telefone

Die Zürcher Regierung hat Post erhalten: Knapp hundert Gefangene fordern bessere Bedingungen im härtesten Knast der Schweiz.

Liliane Minor

Unter Gefangenen gilt die Justizvollzugsanstalt Pöschwies schon seit Jahren als härtester Knast der Schweiz. Tatsächlich ist das Regime in Regensdorf in mancherlei Hinsicht strenger als in anderen Strafanstalten: So sind dort beispielsweise keine Privatkleider erlaubt, weniger Besuche möglich, und die Gefangenen müssen mehr Zeit in ihren Zellen verbringen als anderswo.

Nun fordern die Gefangenen bessere Haftbedingungen. Einer der Insassen hat «nach reichlich Kontemplationen und Besprechungen» eine Petition «zur Verbesserung unserer misslichen Lage» verfasst und dem Regierungsrat geschickt. Die Petition liegt dieser Zeitung vor. Fast hundert der insgesamt rund 370 Insassen haben das zwanzigseitige Schreiben unterzeichnet. Und das, obwohl laut Petition viele Inhaftierte Konsequenzen fürchten, wenn sie die Haftbedingungen infrage stellen.

Bildung statt Arbeitszwang

Die Petition listet mehr als dreissig Vorschläge auf, viele werden detailliert begründet. Teils zitiert der Autor des Textes, der selbst Insasse ist, ausführlich aus Fachtexten. Und immer wieder verweist er auf die Praxis in den Strafanstalten Lenzburg, Bostadel und Cazis Tignez. Tatsächlich wechseln viele Gefangene im Lauf ihrer Haftzeit einmal oder mehrmals die Strafanstalten, die Insassen wissen daher sehr genau, was wo gilt.

Ein zentrales Anliegen der Pöschwies-Insassen: Sie wünschen sich mehr Individualität. So wollen die Gefangenen zum Beispiel ihre eigenen Computer und Spielkonsolen benutzen, sie würden gerne selbst kochen und ihre privaten Kleider tragen dürfen. Gefängniskleider seien «ein Produkt der Vergangenheit», schreiben sie. Sehr wünschenswert seien auch eine ausgewogenere Ernährung und ein Mitspracherecht beim Menüplan.

Mehrere Vorschläge betreffen Arbeit und Ausbildung. Die Gefangenen wünschen sich ein erweitertes Lehrstellenangebot. Und es brauche Ausbildungsangebote in den grundlegenden Kulturtechniken wie Schreiben, Lesen und Rechnen oder in «einfachen Überlebenstechniken», etwa dem Erstellen eines Budgets, der Bedienung einer Waschmaschine, dem Auftreten in einem Vorstellungsgespräch. Die Gefangenen sollten von Anfang an und nicht erst gegen Ende der Strafe auf die Entlassungvorbereitet werden, heisst es in der Petition weiter, denn «es genügt nicht, entsprechendes Wissen zu akkumulieren – seine Umsetzung im Alltagsverhalten muss auch geübt werden».

Den geltenden Arbeitszwang hingegen wollen die Gefangenen abschaffen: «Gefangene sollen, wie in anderen Ländern üblich, selbst entscheiden können, ob sie arbeiten wollen oder nicht. Der Zwang und die damit einhergehenden destruktiven Folgen wie Bore-out und Depressionen erschweren die Wiedereingliederung.» Wer nie legal gearbeitet habe, der sammle im Gefängnis nur negative Erfahrungen, denn die angebotenen Arbeiten seien oft stupid und repetitiv. Auf jeden Fall müsse die Bildung Vorrang haben vor einer Arbeitstherapie, die «mitnichten die kapitalistisch geprägte, extramurale Realität widerspiegelt. Kein einziger Insasse wird nach seiner Entlassung für zwanzig Franken am Tag Schrauben zählen.»

Längerer Hofgang, mehr Kontakte

Ein wichtiges Anliegen ist den Insassen der Hofgang und die Möglichkeit, Sport zu treiben. Doch beides sei in der Pöschwies nicht ausreichend möglich. Der gesetzlich vorgeschriebene einstündige Hofgang finde direkt nach dem Mittagessen statt. Wer sich sportlich betätigen wolle, der müsse entweder mit vollem Magen trainieren oder aufs Essen verzichten, «beides ist nicht gerade ideal und gesundheitsfördernd». Die Insassen möchten deshalb den Hof am Abend benutzen dürfen, so wie das auch in anderen Gefängnissen üblich sei. Und sie würden gern auf dem anstaltsinternen Fussballplatz statt auf dem verletzungsgefährlichen Teerplatz kicken dürfen: «Immerhin hat der Steuerzahler den Rasenplatz ja genau aus diesem Grund finanziert.»

Auch der stark eingeschränkte Kontakt nach aussen beschäftigt viele Gefangenen. In der Pöschwies dürfen Insassen pro Jahr nur eine bestimmte Anzahl Besucherinnen und Besucher empfangen. Wer eine grössere Familie habe, der müsse Jahr für Jahr entscheiden, wer auf die Besuchsliste komme und wer nicht, heisst es in der Petition: «Das ist nicht sozialkonform.» Überdies wünschen sich die Gefangenen Telefone in den Zellen, wie es sie in Cazis gebe – am liebsten mit der Möglichkeit, zu skypen.

Und schliesslich unterstützen die Gefangenen die Forderung nach einer unabhängigen Justiz-Ombudsstelle, die Fachleute letztes Jahr lanciert haben (lesen Sie hier mehr dazu). Das wäre «zumindest ein Schritt in die richtige Richtung», heisst es im Schreiben.

Regierungsrat hat sechs Monate Zeit für eine Antwort

Die Petition liegt nun beim Regierungsrat, er hat sechs Monate Zeit, zu reagieren. Die Justizdirektion von Jacqueline Fehr (SP) will bis dahin keine Stellung zu den einzelnen Forderungen nehmen. Man nehme die Anregungen aber auf jeden Fall ernst.

Generell sei die Pöschwies «beständig darum bemüht, Verbesserungen und Entwicklungsschritte zu realisieren», schreibt die Direktion auf Anfrage dieser Zeitung. So gewähre man den Gefangenen neuerdings vier bezahlte arbeitsfreie Tage – eine Verbesserung, die auf Initiative der Direktion zustande gekommen sei. Die Verantwortlichen griffen aber auch immer wieder Anregungen der Insassen auf. So seien auf deren Wunsch hin zum Beispiel Outdoor-Fitnessgeräte beschafft worden. Auch die Telefonzeit sei verlängert worden.

Zum Vergleich mit anderen Gefängnissen schreibt die Justizdirektion: «Welche Regeln in einer Vollzugsanstalt gelten, hängt von verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt baulichen.» In einem Neubau wie dem Gefängnis Cazis Tignez sei es einfacher, technische, bauliche und organisatorische Innovationen umzusetzen. Aber es sei auch zu sagen, «dass die JVA Pöschwies in verschiedenen Bereichen führend ist, etwa mit dem Familienzimmer, dem ausgebauten Sozialdienst oder dem breiten Ausbildungsangebot».
(https://www.tagesanzeiger.ch/weniger-arbeitszwang-mehr-telefone-poeschwies-insassen-wehren-sich-181441163975)
-> https://www.20min.ch/story/telefone-in-den-zellen-und-mehr-besuche-haeftling-startet-petition-668869295985
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/der-hochzeitskuss-durch-die-schutzmaske?id=11926213 (ab 03:05)


+++RECHTSPOPULISMUS
Kolumne «Geschichte» von Claude Cueni: Rassismusdebatte im Reagenzglas
Anti-Rassisten verurteilen nur schon den Gebrauch von Stereotypen und sehen jeden Nicht-Weissen als benachteiligtes Individuum. Vom tatsächlichen Rassismus haben die westlichen Aktivisten aber meist keine Ahnung.
https://www.blick.ch/meinung/kolumne-geschichte-von-claude-cueni-rassismusdebatte-im-reagenzglas-id16330372.html


Trotz fehlender Belege: Verfassungsschutz warnt vor linksextremer Kampfsportszene
Existiert im Freistaat eine linksextreme Kampfsportszene? Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) warnt und erntet dafür im Netz vor allem Spott und Häme. Politiker fordern parteiübergreifend handfeste Belege. Die bleibt der Nachrichtendienst bislang schuldig. Ist die Kritik an dem Inlandsnachrichtendienst berechtigt?
https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2021/02/trotz-fehlender-belege-verfassungsschutz-warnt-vor-linksextremer-kampfsportszene-372175


+++RECHTSEXTREMISMUS
Antisemitische Aktionen: Übergriffe mit Schweinefleisch auf Synagogen in der Romandie
In Genf wollte eine Frau Türen mit Schweinefleisch verschmieren, in Lausanne deponierte eine andere Täterin eine Packung Speck vor der Synagoge.
https://www.derbund.ch/uebergriffe-mit-schweinefleisch-auf-synagogen-in-der-romandie-899294777253
-> https://www.tdg.ch/du-porc-depose-devant-des-synagogues-a-geneve-et-a-lausanne-446487586584
-> https://www.20min.ch/fr/story/deux-synagogues-ont-ete-souillees-avec-du-porc-378468116523


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Corona-Leugner dringen in Berner Schulen ein: «Sie kamen bis ins Lehrerzimmer»
In Bern macht eine Gruppe von Corona-Skeptikern Schulhäuser unsicher, dringt ohne Maske in Lehrerzimmer ein und verteilt Flyer mit Falschinformationen. Hinter der Aktion steckt ein bekannter Berner Verschwörungs-Anhänger. Jetzt greift die Polizei durch.
https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/187425628-corona-leugner-stuermen-berner-schulen-sie-kamen-bis-ins-lehrerzimmer
-> Wegweisungsverfügung Teil2: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2490266434614459&set=p.2490266434614459&type=3
-> Wegweisungsverfügung Teil 2: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2490266674614435&set=p.2490266674614435&type=3
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/gegner-von-corona-massnahmen-missionieren-in-berner-schulen-65866212
-> https://www.derbund.ch/ticker-corona-kanton-bern-847540015171
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/gegner-von-corona-massnahmen-missionieren-in-berner-schulen-65866212
-> https://www.20min.ch/story/corona-skeptiker-stuermen-schulen-und-verbreiten-falschinformationen-196907028483



bernerzeitung.ch 05.02.2021

Polizei musste eingreifenEine Gruppe wirrer Corona-Leugner sucht Stadtberner Schulen heim

In dieser Woche besuchte eine Handvoll Corona-Leugner verschiedene Stadtberner Schulen und verteilte Propagandamaterial. Die Polizei musste eingreifen.

Stefan Schnyder

Eine Gruppe von wirren Corona-Skeptikern hat sich nun gar Schulen als Schauplatz für ihre Aktionen ausgesucht. Wie das Internetportal Watson berichtet, hat sich diese Woche eine Handvoll Personen mit abstrusem, Corona-skeptischem Propagandamaterial auf Pausenplätze von Stadtberner Schulen begeben und Verteilaktionen durchgeführt. «Sie haben Flyer an die Schüler verteilt und sind ohne Schutzmaske in das Lehrerzimmer eingedrungen. Das ist total daneben», sagte Giuliano Picciati, Leiter der Schule Munzinger im Berner Mattenhof-Quartier, gegenüber Watson. Weitere Aktionen fanden offenbar in den Schulhäusern Pestalozzi, Brunnhof und Statthalter statt.

Von der Polizei erwischt

Die Schulbehörden haben die Polizei verständigt, die gegen die mutmasslichen Täter Rayonverbote erlassen hat. Sie hat zudem am Mittwoch vier Personen erwischt, als sie in Bümpliz ohne Maske das Areal des Schulhauses Statthalter betraten, Kleber anbrachten und Flyer verteilten, wie Watson schreibt. Laut der Kantonspolizei wurde eine Person angezeigt. Gegen die anderen laufen polizeiliche Abklärungen.

Der Gruppe gehört auch der Stadtberner Gemeinderatskandidat Stefan Theiler an. Er ist bereits durch mehrere Aktionen negativ aufgefallen. So hatte er am Tag der Stadtberner Wahlen versucht, ohne Maske ins Rathaus zu gelangen. Zudem belästigte er im Herbst Kantonsärztin Linda Nartey auf ihrem Nachhauseweg verbal.
(https://www.bernerzeitung.ch/eine-gruppe-wirrer-corona-leugner-sucht-stadtberner-schulen-heim-145577496274)



Auf allen Kanälen: Verschwörung frei Haus
Die grossen Onlinebuchhandlungen bieten heute offen zum Verkauf, was einst nur in der Schmuddelecke aufzutreiben war: Verschwörungsliteratur – algorithmisch gepusht und im Sonderangebot.
https://www.woz.ch/2105/auf-allen-kanaelen/verschwoerung-frei-haus


+++EUROPA 2
DIE FRONTEX FILES
Glock, Airbus, Heckler & Koch. Die Teilnehmerliste der 16 Lobby-Treffen der EU-Grenzschutzagentur Frontex in den Jahren 2017 bis 2019 liest sich wie das Who-is-Who der Rüstungsindustrie. Kataloge mit Handfeuerwaffen wurden herumgereicht und in bunten PowerPoint-Präsentationen die Vorzüge von Überwachungsdrohnen erklärt.
https://www.frontexfiles.eu/


Die geheimen Dates von Frontex und der Rüstungsindustrie | ZDF Magazin Royale
Frontex, die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, hat viel zu tun: Sie muss Menschen davon abhalten, nach Europa zu kommen. Das nennt Frontex „Migration Flow Management“, und das ist kein leichtes Geschäft. Es braucht Personal, Ausrüstung, Waffen und natürlich: Zeppeline. Leider hat Frontex dabei vor lauter Stress vergessen, die Öffentlichkeit und das EU-Parlament über ein paar ziemlich wichtige Details zu informieren. Das kann passieren, kein Problem. Schmutzige Arbeit aufdecken und unbequeme Wahrheiten aussprechen? ZDF Magazin Royale ist gerne der Buhmann.
https://www.youtube.com/watch?v=2uk0w8SvUMw&feature=emb_logo
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/frontex-lobbyismus-100.html#xtor=CS5-62



spiegel.de 05.02.2021

Europas Grenzschützer und ihre Skandale: Die Akte Frontex

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll die Migration nach Europa steuern. Doch unter ihrem Chef Fabrice Leggeri versinkt sie im Chaos. Neue Vorwürfe belasten den Franzosen schwer.

Von Giorgos Christides, Klaas van Dijken, Steffen Lüdke und Maximilian Popp

Die Männer und Frauen, die Europas neue Elitegrenztruppe bilden sollen, schalten sich jeden Morgen um neun Uhr zur Videokonferenz zusammen. In Griechenland, Kroatien, Bulgarien, Albanien leuchten dann Bildschirme auf. Normalerweise sprechen die Frontex-Beamten über Migra­tionsbewegungen und Menschenhandel. Doch seit Anfang Januar geht es in den internen Sitzungen vor allem um die mise­rable Stimmung in der Truppe.

»Macht endlich was, oder hier arbeitet bald keiner mehr«, warnte ein Grenzschützer in einem der Videocalls. Die Polizistinnen und Polizisten, die regelmäßig ihr Leid klagen, sind die ersten eigenen Grenzschützer der EU. Sie stellen die »ständige Reserve« von Frontex dar.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex und ihr Chef Fabrice Leggeri sind in eine Reihe von Skandalen verstrickt: Sie müssen sich wegen illegaler Rückführungen an den Grenzen verantworten, wegen mutmaßlichen Mobbings, wegen eines möglichen Betrugsfalls im Umfeld der Behörde. Nun hat die Krise auch die ständige Reserve erreicht, das Prestigeprojekt der Grenzschutzagentur.

Frontex will in den kommenden Jahren bis zu 10 000 Beamte an die EU-Außengrenzen entsenden. Ihnen wurde brandneues Equipment in Aussicht gestellt, ein EU-Job mit üppigem Gehalt. Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen setzte sich persönlich für die ständige Reserve ein. Am Ärmel der neuen dunkelblauen Uniform funkeln die Sterne der EU-Flagge.

Doch in den Einsatzländern, in Griechenland, Kroatien oder Albanien, spüren die Beamten nichts von Glanz. Sie haben zu wenig Dienstwagen, mussten teure SUV anmieten und teils das Benzin selbst zahlen. Spesen würden offenbar aus bürokratischen Gründen nicht erstattet, Teile der neuen Uniformen fehlten – sie mussten von den Polizisten selbst gekauft werden. So schildern es mehrere Beamte dem SPIEGEL.

Eigentlich sollen die Polizistinnen und Polizisten Kriminelle jagen und Schmuggler stellen. Doch die Beamten der Kategorie 1, die bei Frontex direkt angestellt sind, dürfen bisher keine Waffen tragen. Frontex hat versäumt, dafür rechtzeitig eine rechtliche Grundlage zu schaffen. Europas vermeintliche Elitetruppe wird deshalb bei jeder Patrouille von nationalen Sicherheitskräften eskortiert.

Die Pandemie habe die Herausforderungen rund um die Entsendung der Truppe noch vergrößert, teilte Frontex auf Anfrage mit. Inzwischen sei das Projekt aber auf Kurs. Die eigenen Beamten sehen das offenbar anders. Sie seien eine »Potem­kinsche Reserve«, spottet einer. »Das ist es nicht wert«, sagt ein Offizier, der darüber nachdenkt hinzuschmeißen.

Der Aufbau der ständigen Reserve ist eines der wichtigsten migrationspolitischen Vorhaben der EU. Sie soll die irreguläre Zuwanderung kontrollieren. Nun müssen die EU-Kommission und die Mitgliedsländer mitansehen, wie sie zu einer Lachnummer verkommt.

Das Fiasko um die ständige Reserve ist zum Sinnbild geworden für eine Behörde, die seit Jahren hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit zurückbleibt, und für einen Behördenchef, der immer mehr Macht anhäuft, sie aber nicht einzusetzen versteht.

Unter Leggeri schlittert Frontex von einer Affäre in die nächste. Vergangenen Herbst enthüllte der SPIEGEL gemeinsam mit internationalen Medienpartnern, dass Frontex-Einsatzkräfte in der Ägäis in illegale Rückführungen von Geflüchteten verwickelt waren, sogenannte Pushbacks. Der Frontex-Verwaltungsrat prüft die Vorwürfe, die EU-Ombudsfrau hat eine Untersuchung eingeleitet. Leggeri selbst behindert offenbar bislang die Aufklärung.

Im Januar wurde bekannt, dass das Euro­päische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) ein Verfahren gegen Frontex eröffnet hat. Leggeri behauptet, die Ermittler befassten sich mit den Pushback-Berichten, mehr könne er nicht sagen. Nach SPIEGEL-­Erkenntnissen reichen die Vorwürfe viel wei­ter. Bei den Ermittlungen geht es um einen möglichen Betrugsfall im Zusammenhang mit einem Dienstleister, um Mobbingvorwürfe und die Frage, ob der Grundrechtsbeauftragten der Agentur Informationen vorenthalten wurden. Interne Dokumente legen nahe, dass Leggeris gesamter Führungsstil auf dem Prüfstand steht.

Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte die Behörde, der die EU den Schutz ihrer Grenzen anvertraut hat, derart im Chaos versinken? Und was heißt das für Europas Migrationspolitik?

Der SPIEGEL, die Medienorganisation Lighthouse Reports und die Zeitung »Libération« haben für diesen Report mit knapp einem Dutzend aktuellen und ehemaligen Frontex-Offiziellen gesprochen. Die meisten von ihnen bestanden darauf, dass ihr Name nicht genannt wird. Sie haben Angst um ihren Job. Leggeri selbst lehnte ein Interview ab.

Gemeinsam mit internen Dokumenten, die der SPIEGEL und seine Partner ein­sehen konnten, zeichnen die Berichte der Insider das Bild einer Agentur in Aufruhr.

»France Télécom«: wie Leggeri die Macht bei Frontex an sich riss

Frontex residiert in einem Bürokomplex im Warschauer Stadtteil Wola, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Jahrelang arbeiteten hier nur ein paar Beamte, die Berichte über Migrationsrouten erstellten; Grenzschützer borgte man sich bei nationalen Polizeibehörden.

Doch die Agentur wächst: 2005 betrug das Budget gut 6 Millionen Euro, 2020 waren es rund 460 Millionen. Bis 2027 werden Europas Steuerzahler der Agentur 5,6 Milliarden Euro zur Verfügung stellen.

Die Agentur verfügt nun über eigene Grenzbeamte, die ständige Reserve, über Flugzeuge und Drohnen, bald will sie Zeppeline über der Ägäis kreisen lassen. Der Aufstieg von Frontex hat viel mit Fabrice Leggeri zu tun, mit jenem Mann, der Frontex wie kein Zweiter prägte.

Fabrice Leggeri, 52 Jahre alt, wurde in Mülhausen im Elsass geboren, er spricht fließend Deutsch. Er studierte an der École Nationale d’Administration in Straßburg. Die Universität bildet seit je die französische Elite aus. Von 2013 an arbeitete er im Pariser Innenministerium in der Abteilung für irreguläre Migration. Damals setzte sich die Regierung für den Ausbau von Frontex ein. Zwei Jahre später wurde Leggeri zum Chef der Agentur ernannt.

Wegbegleiter beschreiben Leggeri als Technokraten. Bei einer Weihnachtsfeier habe er vor versammelter Mannschaft eine Rede gehalten, pathetisch von den Errungenschaften der »Frontex-Familie« gesprochen. Doch Leggeri las von seinem Notizzettel ab. »Es wirkte, als wäre die ganze Sache eine Nummer zu groß für ihn«, erinnert sich ein Zuhörer.

Im Zuge der Frontex-Expansion schnitt Leggeri die Agentur ganz auf sich zu. Er vergrößerte sein Kabinett. Viele der wichtigen Stellen besetzte er mit Landsleuten.

Leggeri, so erzählen es Mitarbeiter, sehe man nur selten auf den Fluren. Alle wichtigen Entscheidungen würden in kleinstem Kreis getroffen. Von Kontrollwahn ist die Rede, einige ehemalige Mitarbeiter bezeichnen ihn als »Diktator«. »Leggeri führt die Agentur wie eine Unterpräfektur«, sagt jemand, der lange mit ihm gearbeitet hat. »So kann man vielleicht ein französisches Ministerium leiten, aber nicht eine internationale Organisation.«

Leggeris Kabinett nennen Frontex-Leute hinter vorgehaltener Hand »France Télécom«. Die Bezeichnung ist eine Anspielung auf den Skandal bei der fran­zösischen Telekommunikationsbehörde: Systematisches Mobbing trieb damals zahlreiche Mitarbeiter in den Selbstmord.

Der Unmut vieler Frontex-Mitarbeiter richtet sich vor allem gegen einen von Leggeris engsten Vertrauten: Thibauld de la Haye Jousselin. Der Franzose entstammt einer Adelsfamilie aus dem Süden des Landes. Einst arbeitete er für den französischen Abgeordneten Bernard Carayon, der früher Mitglied einer rechtsextremen Studentenvereinigung war. Er ist Reserveoffizier der französischen Armee und hat einen Fimmel für Militär und Uniformen. »De la Haye Jousselin steht politisch klar rechts«, sagt einer, der ihn lange kennt. Jetzt dient er Leggeri als Kabinettschef.

De la Haye Jousselin regiert offenbar mit harter Hand. Er fahre schnell aus der Haut, heißt es. Mitarbeiter berichten von Beleidigungen und respektlosem Verhalten. Offizielle Beschwerden über de la Haye Jousselin habe Frontex nicht erhalten, teilte die Agentur mit. Keines der ­Kabinettsmitglieder sei aufgrund seiner Nationalität eingestellt worden. De la Haye Jousselin selbst weist die Anschuldigungen als »falsch und unbegründet« zurück.

Das Verhalten von Leggeri und seinem Kabinettschef hat Folgen. Widerspruch scheint nicht gern gesehen. Auch deshalb greifen interne Kontrollmechanismen wohl immer schlechter.

Inmaculada Arnáez hat mehr als 20 Jahre lang Erfahrung in Menschenrechtsfragen. Die Anwältin aus Spanien hat bei der Uno gearbeitet und der OSZE, seit 2012 ist sie bei Frontex. Als Grundrechtsbeauftragte sollte sie unabhängig vom Exekutivdirektor operieren – und die Agentur von innen kontrollieren. Doch als Leggeri 2015 die Macht übernahm, bekam sie schnell zu spüren, wie wenig der neue Chef offenbar für Menschenrechte übrighat.

Arnáez sei links liegen gelassen worden, berichten ehemalige Frontex-Mitarbeiter. »Wir hatten das Gefühl, dass Leggeri sie einfach überging.« Menschenrechte seien nie seine Priorität gewesen.

Zum endgültigen Bruch zwischen Leggeri und Arnáez kam es, als das Europaparlament der Grundrechtsbeauftragten 2019 mehr Kompetenzen zusprach. Arnáez sollten 40 Menschenrechtsbeobachter zur Seite gestellt werden. Sie hätte eigene Untersuchungen an Europas Grenzen durchführen können. Für Leggeri allem Anschein nach undenkbar.

Am 19. November 2019, Arnáez war gerade nach längerer Krankheit zurückgekehrt, schrieb der Frontex-Chef ihre Stelle öffentlich aus. Leggeri überging damit den Frontex-Verwaltungsrat. Der hätte der Stellenausschreibung zustimmen müssen. Arnáez selbst informierte er erst kurz vorher. Die EU-Kommission bezeichnete Leggeris Manöver in einer schriftlichen Einschätzung, die dem SPIEGEL vorliegt, als »schlicht und einfach illegal«, es könne als Versuch wahrgenommen werden, Arnáez zu schwächen oder zu diskreditieren.

Die EU-Kommission zwang Leggeri, die Ausschreibung zurückziehen. Doch der Frontex-Chef gab nicht auf: Arnáez müsse ersetzt werden, sie habe nicht genug Managementerfahrung, um die 40 Mitarbeiter anzuleiten, behauptete er.

In Wahrheit dürfte dem Frontex-Chef Arnáez vor allem durch ihr Eintreten für Menschenrechte lästig sein. Arnáez warnte Leggeri wiederholt vor Rechtsbrüchen. Sie habe an die Kraft ihrer Berichte geglaubt, so Kollegen. Regelmäßig informierte sie ihn über Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis und empfahl ihm, die Mission in Ungarn abzubrechen. Dort hatte Premier Viktor Orbán Pushbacks 2016 legalisiert.

Leggeri ignorierte die Berichte der Grundrechtsbeauftragten und führte den Einsatz in der Ägäis fort. Aus Ungarn zog er seine Beamten erst ab, als ihn ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vor wenigen Wochen dazu zwang. Auf Anfrage ließ Leggeri mitteilen, er habe die Kooperation mit Arnáez stets wertgeschätzt. Managementerfahrung sei auf dem Posten wegen des stark gestiegenen Budgets nötig.

Die 40 Menschenrechtsbeobachter hat Leggeri immer noch nicht eingestellt. Vor dem Europaparlament machte er die Kommission für die Verzögerungen verantwortlich. Die zuständige Kommissarin Ylva Johansson warf ihm daraufhin vor, das Parlament in die Irre geführt zu haben.

Arnáez ist seit vergangenem März erneut krankgeschrieben. Der Frontex-Verwaltungsrat ersetzte sie interimsmäßig durch die Deutsche Annegret Kohler, die zuvor im Kabinett von Leggeri arbeitete. »Ein klarer Interessenkonflikt«, sagt ein Frontex-Beamter.

Die Pushback-Affäre: wie Frontex Menschenrechtsverstöße vertuscht

An den Wänden des Frontex-Lagezentrums sind Monitore angebracht. Über­wachungsflugzeuge und -satelliten übermitteln Bilder aus den Grenzregionen in Echtzeit. Von ihren Schreibtischen aus können die Frontex-Beamten mitverfolgen, was an Europas Rändern geschieht. »Man erkennt, wie viele Menschen in einem Flüchtlingsboot sitzen«, sagt jemand, der den Raum gut kennt.

Die Bilder, die hier in der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020 über die Bildschirme flimmerten, beschäftigen das EU-Parlament bis heute. Sie stammen von einem Frontex-Überwachungsflugzeug über der Ägäis. So geht es aus mehreren internen Frontex-Berichten hervor, die dem SPIEGEL vorliegen.

Kurz vor Mitternacht hatten griechische Grenzschützer nördlich der Insel Lesbos ein Schlauchboot mit 20 bis 30 Flüchtlingen gestoppt und die Menschen an Bord genommen. Sie hätten die Schutzsuchenden nach geltendem Recht nach Lesbos bringen müssen, wo diese einen Asyl­antrag stellen können. Stattdessen setzten sie die Migrantinnen und Migranten wieder auf das Schlauchboot und schleppten sie in Richtung Türkei.

Griechische Beamte im Koordinierungszentrum in Piräus wiesen den Frontex-­Piloten an, eine andere Route einzuschlagen, weg vom Schlauchboot. Ob es für die Kursänderung einen besonderen Grund gebe, fragte der Frontex-Teamleiter. »Negativ«, erwiderten die Griechen.

Um 3.15 Uhr ging dem Frontex-Flugzeug der Sprit aus. Der Pilot nahm ein letztes Bild auf. Es zeigte die Flüchtlinge allein auf dem Meer, ein paar Hundert Meter von der türkischen Küste entfernt. Türkische Einheiten seien nicht in der Nähe, meldete der Pilot. Das Schlauchboot habe keinen Motor. Die griechische Küsten­wache sei weggefahren. Erst am nächsten Morgen um 6.32 Uhr rettete die türkische Marine nach eigenen Angaben die Menschen, darunter vier Kinder.

Die griechische Küstenwache führt seit Monaten systematisch Pushbacks durch. Sie stoppt Flüchtlingsboote in griechischen Gewässern, zerstört teilweise die Motoren, schleppt die Flüchtlinge zurück in Richtung Türkei. »Aggressive Überwachung« nennt die Regierung in Athen die Strategie offiziell. Tatsächlich ist sie illegal.

Die Frontex-Regularien verpflichten Leggeri, Missionen zu beenden, wenn er von schwerwiegenden und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen erfährt. Seine Truppe soll Menschenrechte schützen. Leggeri aber behauptet beharrlich, keine belastbaren Kenntnisse über Pushbacks zu besitzen – und das, obwohl der SPIEGEL und seine Recherchepartner lückenlos dokumentiert haben, dass Frontex-Einheiten bei mindestens sieben illegalen Rückführungen in der Nähe waren.

Die Frontex-Kräfte unterstehen bei ihren Operationen dem Kommando der griechi­schen Grenzbeamten. Bereits vergangenen März befahl ein griechischer Verbindungsoffizier einer dänischen Frontex-Crew, schon gerettete Flüchtlinge auf dem Meer auszusetzen. Das geht aus internen E-Mails hervor, die der SPIEGEL einsehen konnte. Frontex legte den Fall trotzdem innerhalb eines Tages zu den Akten. Vor dem Europaparlament stellte Leggeri die Angelegenheit später als Missverständnis dar.

Den Pushback vor Lesbos vom 18. auf den 19. April haben Frontex-Beamte selbst lückenlos dokumentiert. Die Fakten stützen den »Vorwurf einer möglichen Verletzung von Grundrechten oder internationalen Schutzverpflichtungen«, heißt es in einem internen Frontex-Bericht, der dem SPIEGEL vorliegt.

Der Fall war offenbar so heikel, dass Leggeri selbst die Aufklärung übernahm und ihn nicht, wie üblich, seiner Grundrechtsbeauftragten überließ. Am 8. Mai schrieb er an Ioannis Plakiotakis, den griechischen Schifffahrtsminister. Der Brief liegt dem SPIEGEL vor. Leggeri zeigte sich darin besorgt. Er bat um eine interne Untersuchung. Die Einhaltung von Grundrechten, insbesondere dem Grundsatz der Nichtzurückweisung, sei »ultimative Voraussetzung« des Frontex-Einsatzes.

Die Antwort der griechischen Regierung ist ein Sammelsurium aus Relati­vierungen. Die Migrationsströme in der Ägäis stellten eine »hybride Gefahr« dar, heißt es darin. Wegen der Coronakrise sei es wichtiger denn je, illegale Grenzüberquerungen zu verhindern. Keiner der Mi­granten habe um Asyl gebeten. Laut vorläufiger Einschätzung der griechischen Beamten sei keiner von ihnen besonders schutzbedürftig gewesen.

Juristinnen und Juristen betrachten das Antwortschreiben der Griechen als wertlos. »Die griechische Küstenwache hat in dem Fall ohne jeden Zweifel Menschenrechte verletzt«, sagt Dana Schmalz, Völkerrechtlerin am Max-Planck-Institut in Heidelberg. Aus ihrer Sicht handelt es sich klar um einen illegalen Pushback. Ob jemand schutzbedürftig sei oder ihm in der Türkei Gefahr drohe, könne man nicht an Bord eines wackeligen Schlauchboots klären, es brauche ein individuelles Verfahren an Land. Zudem habe die griechische Küstenwache das Leben der Geflüchteten gefährdet, indem sie die Menschen auf ein Schlauchboot ohne Motor setzte und auf dem Meer zurückließ.

Doch Leggeri gab sich mit dem Bericht zufrieden. Das Urteil: kein Pushback, keine Grundrechtsverletzung. Der Frontex-Chef begrub auch diesen Vorfall geräuschlos. »Leggeri hat uns schon mehrmals nicht angemessen informiert, obwohl er gesetzlich dazu verpflichtet ist«, sagt die niederländische Europaabgeordnete Tineke Strik.

Auf Anfrage sagt Frontex dazu: Die griechische Regierung habe keine Rechtsverstöße feststellen können. Man müsse sich auf nationale Behörden verlassen, um solche Vorfälle zu untersuchen. Die Agentur dürfe das gemäß ihrer Regularien nicht.

Eigentlich müssen Frontex-Beamte schon den Verdacht von Menschenrechtsverletzungen melden, in sogenannte »Serious Incident Reports«. Doch solche Berichte werden kaum geschrieben. Seit Jahren agieren Frontex-Beamte so, wie ihr Chef Leggeri es ihnen vorlebt: Im Zweifel schweigen sie.

Insider beschreiben die Regeln als eine Art Omertà. Kaum jemand will seine Karriere gefährden oder den Kollegen im Gastgeberland Probleme bereiten. In einem Fall habe ein Beamter versucht, seinen schwedischen Kollegen daran zu hindern, einen »Serious Incident Report« zu schreiben, sagte der Chef der schwedischen Grenzpolizei dem Frontex-Verwaltungsrat.

Ein deutscher Bundespolizist ist einer der wenigen, die widersprachen. Seinen richtigen Namen möchte er nicht veröffentlicht sehen. Am 28. November 2020, seinem ersten Tag im Frontex-Einsatz auf der griechischen Insel Samos, ploppte auf seinem Handy ein Artikel des SPIEGEL auf. In dem Bericht ging es um die »Uckermark«, das Boot, auf dem er noch am selben Abend Dienst schieben sollte. Die Deutschen hatten am 10. August ein Flüchtlingsboot gestoppt und an die griechische Küstenwache übergeben. Danach setzten die Griechen die Menschen auf dem Meer aus.

Der Bundespolizist ging zu seinen Vorgesetzten. Er könne bei der Sache nicht mitmachen, sagte er sinngemäß, er wolle keine Beihilfe zu Verbrechen leisten. Später erklärte er sich seinen Kameraden per WhatsApp: »Ich selbst habe für mich entschieden, dass ich die Maßnahmen der Griechen nicht tolerieren und schon gar nicht unterstützen kann«, schrieb er.

Sein Vorgesetzter antwortete ein paar Minuten später: »Fakt ist, dass unser Handeln rechtmäßig ist! Abgedeckt durch das Frontex-Mandat.« Gemeint war offenbar die Pflicht, sich an die Anweisungen der griechischen Küstenwache zu halten.

Die Bundespolizei widerspricht der Darstellung des Mannes nicht, weist auf Anfrage aber darauf hin, dass sie sich nicht an rechtswidrigem Verhalten beteiligt habe. Der Bundespolizist selbst sah das jedoch anders. Er weigerte sich, an der Mission teilzunehmen. Stattdessen schob er an Land Wache. Für einen Frontex-Einsatz will er sich nie wieder melden.

Auffällige Amtsgeschäfte: Wie Leggeri ins Visier der Anti-Betrugsbehörde geriet

Die Antibetrugsbehörde schreitet immer dann ein, wenn sie vermutet, dass finanzielle Interessen der EU verletzt werden.

Nun hat Olaf ein Verfahren gegen Frontex eröffnet. Am 7. Dezember durchsuchten Olaf-Fahnder die Frontex-Zentrale in Warschau, drangen unter anderem in die Büros von Leggeri und dessen Kabinettschef de la Haye Jousselin ein.

Leggeri hat sich bislang nicht öffentlich zu den Ermittlungen geäußert. Vor dem Innenausschuss des Bundestags sprach er nach Angaben von Abgeordneten im Januar davon, dass es in dem Verfahren um die Pushback-Vorwürfe gehe, mehr könne er nicht sagen. Doch das ist allenfalls die halbe Wahrheit.

Nach SPIEGEL-Informationen ist das Mandat tatsächlich viel breiter angelegt. Seit Wochen laden Olaf-Beamte Zeugen vor, befragen Frontex-Mitarbeiter.

Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht offenbar unter anderem ein möglicher Betrugsfall: Eine polnische IT-Firma verkaufte der Agentur für Hunderttausende Euro Business-Software, unter anderem sollte sie für die Ausbildung von Grenzbeamten verwendet werden. Frontex-Mitarbeiter bemängelten bei ihren Chefs, dass die Software schlecht funktionierte. Die Agentur zahlte trotzdem einen großen Teil der vereinbarten Summe. Mit­arbeiter wiesen das Management 2018 darauf hin, dass die Unregelmäßigkeiten einen Betrugsfall darstellen könnten. So geht es aus Dokumenten hervor, die der SPIEGEL einsehen konnte.

Auch Leggeri erfuhr von den Vorwürfen. Es gab zumindest eine interne Untersuchung. »Der Frontex-Direktor ist aber laut EU-Regularien verpflichtet, poten­zielle Betrugsfälle unverzüglich an Olaf zu melden«, sagt Valentina Azarova vom Manchester International Law Centre. Auf Anfrage wollte sich Frontex zu den Olaf-Ermittlungen nicht äußern. Die Firma teilte mit, alle bisherigen IT-Dienstleistungsverträge mit Frontex korrekt und vertragsgemäß ausgeführt zu haben. Bis heute bekommt sie Aufträge von Frontex in Millionenhöhe.

Die Olaf-Ermittler interessieren sich darüber hinaus offenbar auch für den Verdacht auf Mobbing bei Frontex. Sie wollen wissen, ob Leggeri oder sein Kabinettschef ihre Mitarbeiter angeschrien oder schi­kaniert haben. Sie untersuchen zudem, ob Mitarbeiter angewiesen wurden, der Grundrechtsbeauftragten Inmaculada Arnáez und ihrer Nachfolgerin Informationen vorzuenthalten – und falls ja, von wem.

Olaf betont, dass trotz des Verfahrens die Unschuldsvermutung gelte. Die Ermittlungen allein sind kein Beweis für Unregelmäßigkeiten. Doch offenkundig gibt es zumindest ernsthafte Anhaltspunkte für persönliches Fehlverhalten von Leggeri. Der Fragenkatalog der Fahnder wirft große Zweifel an seinem Führungsstil auf.

In Brüssel wird Leggeri auch »Fabrice Teflon« genannt. Egal ob es um die Beteiligung seiner Beamten an Pushbacks oder Missmanagement in der Agentur ging, der Frontex-Chef hat bislang sämtliche Vorwürfe an sich abprallen lassen. Nun aber nimmt der Druck auf ihn zu.

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat mehr oder weniger klargemacht, dass sie Leggeri für nicht länger tragbar hält. »Es ist schwierig, bei Leggeris Fehltritten noch mitzukommen«, sagt ein hochrangiger Kommissionsbeamter. »Die Priorität muss sein, das Ansehen der Agentur zu schützen. Leggeris Handlungen sind damit nur schwer in Einklang zu bringen.«

Über Leggeris Zukunft entscheidet jedoch nicht die EU-Kommission, sondern der Frontex-Verwaltungsrat. In ihm sind vor allem die Regierungen der Schengenstaaten vertreten, die Kommission entsendet lediglich zwei Vertreter. Die EU-Staaten haben Leggeri in der Vergangenheit stets gestützt. Viele dürften insgesamt froh sein, dass Frontex Schutzsuchende mit zum Teil rabiaten Methoden am Grenzübertritt hindert, glaubt Giulia Laganà, ­Migrationsexpertin am Open Society Euro­pean Policy Institute.

Die Frage ist, ob der Verwaltungsrat auch dann noch zu Leggeri hält, wenn nun immer mehr Vorwürfe von Mobbing und womöglich sogar Betrug im Umfeld von Frontex öffentlich werden. Das Europaparlament hat bereits angekündigt, die Agentur in einem Prüfverfahren vier Monate lang durchleuchten zu wollen. Das Mandat ist absichtlich breit angelegt. Auch Leggeris Führungsstil und die Arbeitskultur bei Frontex sollen untersucht werden.

Selbst die eigenen Mitarbeiter in Warschau rätseln, wie lang ihr Chef sich noch an seinen Posten klammert. »Olaf hat uns im Visier, die Moral der Leute liegt am Boden«, sagt ein Beamter. »Ich frage mich, warum er nicht endlich geht.«
(https://www.spiegel.de/politik/ausland/frontex-skandal-weitet-sich-aus-grenzschuetzer-ausser-kontrolle-a-b1d5e777-e046-4d41-91c9-8181ed8f5ee0)