Medienspiegel 4. Februar 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
#ShutDownORS: Der ORS Service AG kündigen wegen Gesundheitsgefährdung in der Corona-Pandemie
Im Rückkehrzentrum Aarwangen im Kanton Bern ist Covid ausgebrochen. Die minimalistische Betreuung und die unzureichende Infrastruktur der ORS Service AG führten zu einer Gefährdung der geflüchteten Personen im Rückkehrzentrum.
„Stopp Isolation“ – Gruppe Menschen mit Asylnegativentscheid, das Migrant Solidarity Network (MSN) und die Demokratische Juristinnen und Juristen Bern (djb) fordern:
Die Unterbringung der Menschen aus dem Rückkehrzentrum Aarwangen in einer quarantänetauglichen, menschenwürdigen Einrichtung. Sie soll genügend Raum und sanitäre Einrichtungen bieten, damit die Hygienevorschriften und Abstandsregeln eingehalten werden können. Zugang zu Tests für ALLE Bewohner*innen der Rückkehrzentren im Kanton Bern (inkl. Transport zum Testzentrum). Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung für die erkrankten Menschen. Ausrichtung der gesamten Nothilfeleistungen von acht statt vier Franken pro Tag auch während Quarantänezeiten. Durchführung einer unabhängigen Untersuchung über die Unterbringungsbedingungen in von der ORS Service AG betriebenen Zentren im Kanton Bern. Der ORS Service AG das Leistungsmandat für die Führung der Rückkehrzentren im Kanton Bern entziehen.
https://act.campax.org/petitions/shutdownors-der-ors-service-ag-kundigen-wegen-gesundheitsgefahrdung-in-der-corona-pandemie


Negativer Asylentscheid für einen Lehrling: Kanton muss Bundesrecht umsetzen
Ein junger Mann kann seine Lehre im Kanton Bern nicht beenden, weil der Bund sein Asylgesuch rechtskräftig abgewiesen hat. Die Zuständigkeiten in solchen Fällen liegen beim Bund. Der Regierungsrat muss den Bundesentscheid korrekt umsetzen. Dies stellt die Kantonsregierung in ihrer Antwort auf ein Schreiben des Arbeitgebers des jungen Mannes und eine Petition fest.
https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.mm.html/portal/de/meldungen/mm/2021/02/20210203_1723_kanton_muss_bundesrechtumsetzen
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/187978/



derbund.ch 04.02.2021

Asylbehörden bleiben hart: Kochlehrling muss das Land verlassen

Der Berner Regierungsrat sieht keinen Handlungsspielraum: Der aus Afghanistan geflüchtete «Le Beizli»-Angestellte darf seine Lehre nicht beenden.

Andres Marti

Fast 10’000 Online-Petitionäre setzen sich dafür ein, dass der aus Afghanistan geflüchtete Omar Habibi hier seine Lehre beenden kann. Lanciert hat die Petition «für mehr Menschlichkeit» sein Lehrmeister. Dass gut integrierte Flüchtlinge hier ihre Lehre beenden können, unterstützen selbst Politiker aus dem bürgerlichen Lager.

Doch im Fall von Omar Habibi bleiben die bernischen Asylbehörden hart. Der Kanton müsse die rechtskräftigen Entscheide des Staatssekretariats für Migration (SEM) umsetzen, teilt der Regierungsrat am Donnerstag mit. Er sei damit lediglich für den Vollzug dieser Entscheide zuständig. Dazu gehöre auch das Arbeitsverbot.

Lehrmeister kritisiert Behörden

Der aus Afghanistan geflüchtete Omar Habibi begann im Corona-Sommer eine Kochlehre in einem Restaurant des Berner Gastrounternehmens KG Gastrokultur. Doch das Staatssekretariat für Migration lehnte sein Asylgesuch ab. Nachdem im Dezember auch das Bundesverwaltungsgericht sein Gesuch abgelehnt hatte, drohte dem Mann die Ausschaffung nach Afghanistan. Im «Bund» kritisierte sein Arbeitgeber das Vorgehen der Behörden als «unmenschlich». Man sei zudem kaum über das Arbeitsverbot informiert worden.

Bei der Erteilung der Bewilligung für den Lehrantritt einer Person im hängigen Asylverfahren weise der Kanton die Arbeitgeber auf dieses Risiko hin, schreibt die Regierung. «Wird das Gesuch rechtskräftig abgewiesen, dürfen die betroffenen Personen gemäss Bundesrecht nicht mehr arbeiten.» Der Bundesrat hat bestimmt, dass in solchen Fällen die Ausreisefrist um maximal sechs Monate verlängert werden kann, wenn in diesem Zeitraum eine Lehre abgeschlossen werden kann. Auch hier sieht sich der Kanton nicht zuständig: «Der Kanton hat auch hier keinen Handlungsspielraum».
(https://www.derbund.ch/ausschaffung-trotz-lehre-kanton-bleibt-hart-410100081061)



bernerzeitung.ch 04.02.2021

Kanton lehnt Antrag ab: «Le Beizli»-Kochlehrling soll definitiv ausgeschafft werden

Der Kanton wird sich beim Bund nicht dafür einsetzen, dass der abgewiesene afghanische Flüchtling seine Lehre beenden kann. Die Bedingungen für ein Härtefall-Gesuch seien nicht erfüllt.

Benjamin Bitoun

Die Geschichte von Omar Habibi (Name geändert) bewegt. Weil sein Asylrekurs abgelehnt wurde, darf der afghanische Flüchtling seine Kochlehre im Liebefeld nicht beenden. In den vergangenen Wochen setzten sich seine Lehrmeister für den talentierten Lehrling ein. Sie reichten beim Kanton Bern einen Antrag um Fortführung der Lehre ein. Sie schrieben einen offenen Brief an den Könizer Gemeinderat, der Gemeinde, wo Omar wohnt und arbeitet. Und sie lancierten eine Petition, einen «Aufruf zur Menschlichkeit», wie sie sagen. Knapp 10’000 Personen haben bislang unterschrieben.

Am Donnerstag teilte der Berner Regierungsrat nun mit: Der Kanton Bern wird sich beim Staatssekretariat für Migration (SEM) nicht für den Kochlehrling einsetzen und beim SEM kein Härtefall-Gesuch stellen. Damit bleibt der Wegweisungsentscheid rechtskräftig. Der 30-jährige Omar muss die Schweiz Richtung Afghanistan verlassen.

Regierungsrat sieht keinen Handlungsspielraum

In seiner Mitteilung betont der Kanton, dass er in der Sache über keinen Handlungsspielraum verfüge und negative Asylentscheide des Bundes vollziehen müsse. «Die Prüfung und der Entscheid über Asylgesuche liegen ausschliesslich beim Staatssekretariat für Migration», präzisiert der Regierungsrat in seiner Antwort an Regula Keller und Michel Gygax von der KG Gastrokultur. Sie betreiben im Raum Bern unter anderem das Restaurant Le Beizli, wo Omar arbeitete.

Ebenfalls habe der Bundesrat bestimmt, dass die Ausreisefrist einer rechtskräftig weggewiesenen Person um maximal sechs Monate verlängert werden kann. Und dies auch nur dann, wenn in diesem Zeitraum eine Lehre abgeschlossen werden kann – was bei Omar nicht der Fall wäre. Auch daran könne der Kanton nichts ändern, betont der Regierungsrat in seinem Schreiben an Gygax.

Entsetzt über den Wegweisungsentscheid zeigten sich Michel Gygax und Regula Keller in erster Linie aus humanitären Gründen. Omar, der einer von den Taliban stark diskriminierten Minderheit angehört, in sein unsicheres Heimatland Afghanistan zurückzuschicken, sei nicht vereinbar mit der humanitären Tradition der Schweiz, so Michel Gygax.

Zum anderen monierten sie auch, dass ihnen der Staat nach grossem betrieblichem Aufwand auf diese Weise einen engagierten und talentierten Angestellten «wegnehme» – dies in Zeiten, in denen Corona-Pandemie und Fachkräftemangel der Gastrobranche stark zusetze. Dass dieses Risiko bestünde, darauf weise er die Arbeitgeber und Lehrmeister bereits bei der Erteilung der Bewilligung für den Lehrantritt einer Person im hängigen Verfahren hin, kontert der Kanton diese Kritik.

Kanton: «Kein Härtefall»

Seit einigen Jahren besitzen abgewiesene Asylsuchende wie Omar die Möglichkeit, ein Härtefall-Gesuch zu stellen. Wird dieses bewilligt, könnte der «Le Beizli»-Kochlehrling nicht nur die Lehre beenden, sondern dauerhaft in der Schweiz bleiben. Über ein Härtefallgesuch entscheidet zwar ebenfalls das SEM, doch eingereicht wird es nach einer ersten Prüfung vom Kanton.

In Omars Fall hat sich das Berner Amt für Bevölkerungsdienste (Abev) jedoch dagegen entschieden. Das Amt sei zum Schluss gekommen, dass die vielfältigen bundesrechtlichen Voraussetzungen im Fall ihres Lernenden klar und offensichtlich nicht erfüllt seien, heisst es in der Antwort an Gastrounternehmer Michel Gygax. «Der Regierungsrat sieht mit Blick auf das geltende Recht keine Möglichkeit, den Wegweisungsvollzug in diesem Fall zwecks Lehrabschluss zu sistieren.»

Lehrmeister wollen weiter kämpfen

«Wir sind sehr enttäuscht über diese Antwort», kommentiert Gygax den Entscheid. Insbesondere darüber, dass sich Bund und Kanton gegenseitig die Verantwortung zuschieben würden. Der Kanton weise auf die Zuständigkeit des Bunds hin, und beim Bund heisse es, die Ausführung liege beim Kanton.

Klein beigeben will Gygax trotzdem nicht. «Wir versuchen, auf anderen Wegen weiterzukämpfen und Lösungen zu finden», so der Arbeitgeber des abgewiesenen Flüchtlings. Als nächstes hoffe er auf eine Antwort von SEM-Staatssekretär Mario Gattiker, wo die Petition «Aufruf zur Menschlichkeit» eingereicht worden sei.

Und mit Blick auf das Schweizer Asylwesen betont Michel Gygax: «Für uns ist die aktuelle Asylpolitik sehr frustrierend.» Denn diese würde Asylsuchende zunächst dazu ermutigen, eine Lehre zu beginnen, nur um sie dann aus dem neu gewonnenen Leben wieder herauszureissen. «Das ist unwürdig und muss überdenkt werden.»



SP kritisiert Sicherheitsdirektion

In einer Medienmitteilung kritisiert die SP Kanton Bern den Entscheid des Regierungsrats, sich nicht beim Bund für den Flüchtling Omar einzusetzen. Besonders hart geht sie mit Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) ins Gericht. Dessen ideologische Haltung schaffe viele Probleme und menschliches Leid, schreibt die SP. Exemplarisch dafür stehe sein fehlender Wille, Lehrabbrüche von jungen Menschen mit Negativentscheid zu vermeiden.

Die SP Kanton Bern erwarte, dass die kantonale Sicherheitsdirektion in jedem Fall alle bestehenden Möglichkeiten konsequent ausschöpfe, um Lehrabbrüche bei einem negativen Asylentscheid zu verhindern, heisst es in der Mitteilung weiter. Sogar der Bundesrat bestätige, dass die Kantone die Möglichkeit hätten, Lehrabbrüche bei einem negativen Asylentscheid zu vermeiden. «Es ist empörend, dass dies in der Praxis vom zuständigen Regierungsrat immer noch nicht umgesetzt wird, wie die jüngsten Beispiele der Jumi AG oder des Le Beizli zeigen», schreibt die Partei. (pd/bit)
(https://www.bernerzeitung.ch/le-beizli-kochlehrling-soll-definitiv-ausgeschafft-werden-353571632476)


+++AARGAU
Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria: SVP fühlt sich vom Gemeinderat hintergangen
In Brugg stand ein entsprechendes Postulat für die Einwohnerratssitzung von letzter Woche auf der Traktandenliste, wurde diskutiert und mit 34 zu 14 Stimmen überwiesen. Dass im Windischer Einwohnerrat zum gleichen Thema keine Diskussion ermöglicht wurde, ärgert die SVP-Fraktion. Das Geschäft birgt politischen Zündstoff.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/brugg/einwohnerrat-windisch-aufnahme-von-fluechtlingen-aus-moria-svp-fuehlt-sich-vom-gemeinderat-hintergangen-ld.2094169


+++BASEL
Flüchtlinge sollen bei Privatfamilien wohnen – Grosser Rat überweist Vorstoss
Alleinstehende mit negativem Asylentscheid müssen in der Basler Notschlafstelle nächtigen – das soll sich ändern.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/neues-zuhause-wuerdiges-leben-fuer-abgewiesene-asylbewerber-ld.2094474


+++LUZERN
Asyl- und Flüchtlingswesen: Bericht zeigt finanzielle Belastung für Gemeinden
Ein neuer Bericht zeigt auf, dass der finanzielle Aufwand einer Gemeinde nicht mit der Zahl der Personen aus dem Asyl- und Flüchtlingsbereich wächst, sondern mit dem Anteil der armutsbetroffenen Personen unter ihnen.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/kanton-luzern-asyl-und-fluechtlingswesen-bericht-zeigt-finanzielle-belastung-fuer-gemeinden-ld.2094599
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/gemeindefinanzen-luzerner-gemeinden-sind-besorgt-bald-sind-sie-fuer-die-fluechtlinge-zustaendig-explodieren-dann-die-sozialhilfekosten-ld.2094695


+++SCHWEIZ
„Besonderes“ Asylzentrum für renitente Männer – RaBe-Info 04.02.2021
Mitte Februar wird ein Asylzentrum im Kanton Neuenburg wiedereröffnet. Doch nicht etwa, weil es mehr Asylgesuche gibt, sondern weil die regulären Bundesasylzentren entlastet werden sollen. Denn das neue Zentrum in Les Verrières ist einzig für erwachsene Männer, die sich nicht an die Hausordnung des Bundesasylzentrums, in welchem sie normalerweise untergebracht sind, halten.
https://rabe.ch/2021/02/04/asylzentrum-der-besonderen-art/


Ausländerstatistik 2020
Die Zuwanderung in die Schweiz nahm gegenüber 2019 um 2,6 Prozent ab, während die Auswanderung der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung um 12,1 Prozent zurückging. Die stark rückläufige Auswanderung hat zu einem Wanderungssaldo von 61 390 Personen geführt, das sind 6373 Personen mehr als im Vorjahr. Ende Dezember 2020 lebten 2 151 854 Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Die Coronakrise bremste die Zuwanderung im zweiten Quartal und trug zum Rückgang der Auswanderung bei.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-82242.html
-> https://www.luzernerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/auslaenderstatistik-migration-pandemie-wirkt-sich-auf-die-zu-und-auswanderung-aus-ld.2094644


+++MITTELMEER
«Ocean Viking» nimmt rund 120 Bootsmigranten vor Libyen auf
Das private Hilfsschiff «Ocean Viking» hat rund 120 Bootsmigranten aus Seenot gerettet. Bereits Ende Januar wurden über 370 Personen nach Sizilien gebracht.
https://www.nau.ch/news/europa/ocean-viking-nimmt-rund-120-bootsmigranten-vor-libyen-auf-65865226


+++EUROPA
Frontex, die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, hat viel zu tun: Sie muss Menschen davon abhalten, nach Europa zu kommen. Das nennt Frontex „Migration Flow Management“, und das ist kein leichtes Geschäft. Es braucht Personal, Ausrüstung, Waffen und natürlich: Zeppeline.
Leider hat Frontex dabei vor lauter Stress vergessen, die Öffentlichkeit und das EU-Parlament über ein paar ziemlich wichtige Details zu informieren. Das kann passieren, kein Problem.
Das ZDF Magazin Royale übernimmt das gerne! Wir verraten, was niemand wissen darf.
Am Freitag um 20 Uhr auf frontexfiles.eu und in der ZDF Mediathek. Und um 23 Uhr im ZDF.
https://frontexfiles.eu/


+++ÄTHIOPIEN
Krieg in Äthiopien – «In Tigray lässt sich durchaus ein Guerillakrieg führen»
Tausende Menschen seien umgekommen, sagt SRF-Afrikakorrespondent Samuel Burri. Die humanitäre Lage spitzt sich zu.
https://www.srf.ch/news/international/krieg-in-aethiopien-in-tigray-laesst-sich-durchaus-ein-guerillakrieg-fuehren


+++FREIRÄUME
Rot-grün verschafft Bewohnern erneut Zeit: Der Stadtrat Luzern muss beim «Eichwäldli» nochmals über die Bücher
SP und Grüne verdonnern den Luzern Stadtrat dazu, mit dem Abriss der alten Soldatenstube beim Eichwald zuzuwarten und nochmals zu prüfen, wie eine Weiternutzung möglich ist, bis es konkrete Pläne für eine Zwischennutzung des Grundstücks gibt. Somit können die Bewohner wohl noch eine Weile in dem Haus bleiben.
https://www.zentralplus.ch/der-stadtrat-luzern-muss-beim-eichwaeldli-nochmals-ueber-die-buecher-2003413/
-> https://www.zentralplus.ch/blog/politblog/zweifelhafter-umgang-mit-hausbesetzungen-in-der-stadt-luzern/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/kommentar-zum-eichwaeldli-ein-cleverer-vorstoss-bringt-den-luzerner-stadtrat-in-die-zwickmuehle-ld.2094958
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/kritik-an-demo-bewilligungspraxis-der-stadt-luzern-140848741



luzernerzeitung.ch 04.02.2021

Eichwäldli: Die alte Soldatenstube soll vorerst nicht abgerissen werden

Nach einer hitzigen Debatte hat das Stadtluzerner Parlament am Donnerstag beschlossen, dass die Liegenschaft am Murmattweg bei der Allmend erhalten bleiben soll. Was nun damit passiert, ist noch unklar.

Simon Mathis

Die Stadt Luzern soll die Soldatenstube am Murmattweg vorläufig nicht abbrechen. Der Grosse Stadtrat hat am Donnerstag ein entsprechendes Postulat von Jona Studhalter (Junge Grüne) und Mario Stübi (SP) hauchdünn mit 22 zu 21 Stimmen überwiesen – gegen den Willen des Stadtrats. Erfolg hatte der Vorstoss auch dank Silvio Bonzanigo (parteilos). Das ehemalige SVP-Mitglied stimmte mit den Linken.

Während der Debatte flogen rhetorisch die Fetzen. Denn die Bewohner der Liegenschaft hatten angekündigt, dass sie das Gebäude entgegen der Weisung des Stadtrats nicht verlassen wollen. Dieser hatte den Bewohnern ein Ultimatum bis zum 15. Februar gestellt.

«Ergebnisoffener Prozess» ist gefordert

Im Postulat ging es im Grunde nicht darum, den Vertrag den Bewohnern, die sich «Familie Eichwäldli» nennen, zu verlängern. Sondern, dass der Stadtrat von einem Abbruch absieht, bis die künftige Nutzung des Areals geklärt ist. Zu diesem Zweck sei «ein ergebnisoffener Prozess zu lancieren und dabei Optionen mit oder ohne Haupthaus zu prüfen».

Der Stadtrat betonte in der Debatte, dass der Vertrag mit den Bewohnern nicht verlängert werden soll. Der Abschluss von Gebrauchsleihverträgen liegt in der Kompetenz der Exekutive. Weiter hält diese am Ziel fest, das Gebäude längerfristig rückzubauen. Was nun nach der Überweisung des Postulats mit den Bewohnern geschieht, ist offen. Der Stadtrat müsse die Debatte noch analysieren, heisst es auf Anfrage.

Mehrkosten von 200’000 Franken

Der temporäre Erhalt des Gebäudes verursacht laut Stadtrat Mehrkosten von mindestens 200’000 Franken gegenüber dem geplanten Rückbau ohne Etappierung; gesamthaft 550’000 Franken statt 350’000 Franken. Er bezeichnete den weiteren Erhalt als unverhältnismässig. Dieser Argumentation folgte Judith Wyrsch (GLP). «Wollen wir, dass die 200’000 Franken anderen Kulturschaffenden fehlen?», fragte sie. «Die Stadt soll den Kulturdialog mit dem Eichwäldli weiterführen – ohne Soldatenstube.»

Die FDP teile «die Einschätzung des Stadtrates vollumfänglich», sagte Andreas Moser. «Es macht definitiv mehr Sinn, diese finanziellen Mittel an einem anderen Ort einzusetzen – etwa für eine Zwischennutzung.»

Streit um Demonstration

Patrick Zibung (SVP) holte zu einer Kritik an der Demonstration für den Erhalt der Soldatenstube aus, die am vergangenen Samstag stattfand und von der Stadt bewilligt worden war. Dass die Stadt eine solche «Spassveranstaltung» für 350 bis 400 Personen zu Zeiten von Corona zulasse, sei schlicht nicht nachvollziehbar. Über dieses Votum zeigte sich Janick Gauch (SP) «entsetzt». Dass sich die SVP gegen die Meinungsfreiheit einsetze, sei einer staatstragenden Partei unwürdig.

Christian Hochstrasser (Grüne) betonte, dass es beim Postulat weder um die Demo noch um die Bewohner gehe, sondern um das Areal und das Gebäude Eichwäldli. «Es geht lediglich darum, das Gebäude so lange zu halten, bis man weiss, was mit dem Areal geschieht.»

Links-Grün will neues Kapitel aufschlagen

CVP-Grossstadtrat Andreas Felder bemühte sich darum, die Emotionen aus der Diskussion zu nehmen. Dennoch zeigte er sich «erstaunt über die derzeitige Entwicklung». Dass der Stadtrat den Gebrauchsleihvertrag nicht schon vorher aufgelöst habe, sei angesichts des Verhaltens der Bewohner fragwürdig. Laut Exekutive haben diese die Vorgabe, den besonders einsturzgefährdeten Soldatenstuben-Anbau nicht zu betreten, missachtet. Felder äusserte die Befürchtung, dass man in einem Jahr wieder am gleichen Ort stehe, sollte der Gebrauchsleihvertrag verlängert werden.

Jona Studhalter führte aus, dass es sich um ein Holzhaus handle. «Das fällt nicht von einer Sekunde zur nächsten von der dritten in die zweite Dimension zusammen.» Er widersprach damit der Stadt, deren Abklärungen ergeben haben, dass die Liegenschaft einsturzgefährdet sei. Man wolle mit dem Postulat ein neues, konstruktives Kapitel aufschlagen und verhindern, dass es nach dem Abriss auf dem Areal zu einer «Wanderausstellung» mit Provisorien komme. Mario Stübi sagte, er wolle ein «übereiltes Handeln» verhindern. Der Stadtrat müsse in den nächsten Monaten der Quartierbevölkerung glaubhaft aufzeigen, dass der Abriss tatsächlich alternativlos sei.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/grosser-stadtrat-luzern-eichwaeldli-die-alte-soldatenstube-soll-vorerst-nicht-abgerissen-werden-ld.2094721)


+++GASSE
Basler Zeitung 04.02.2021

Hilfsangebot ausgeschlagen: Bettler wollen nicht in der Notschlafstelle übernachten

Die rumänischen Migranten dürften seit Anfang dieser Woche die Nacht in der Männer-Notschlafstelle verbringen. Doch sie nützen das Angebot bislang kaum. Das sind die Gründe.

Julia Schwamborn

Montag, 19.55 Uhr. Vor der Notschlafstelle an der Alemannengasse im Wettsteinquartier ist es still. Ab und an spazieren Bewohner vorbei, manchmal fährt ein Auto durch das Strässchen. Auf der Treppe, die in das unscheinbare Wohnhaus führt, sitzen zwei Frauen in langen Röcken, dick gegen die Kälte eingepackt, ihr Hab und Gut in zwei Plastiktüten gestopft. Dann werden sie von den Angestellten der Notschlafstelle hereingebeten. Sie müssen sich hier registrieren; die Personalien werden dann an das Justiz- und Sicherheitsdepartement weitergeleitet. Nicht nur wegen Corona, sondern auch, falls es zu Straftaten kommen sollte. 40 Franken kostet für Auswärtige die Übernachtung in der Notschlafstelle. Ein Preis, den die beiden Frauen aus Rumänien nicht zahlen können. Also übernimmt die Sozialhilfe für sie die Kosten.

Am 19. Januar hatte der Regierungsrat bekannt gegeben, dass Obdachlose aus dem EU-/Efta-Raum während der kalten Jahreszeit in der Notschlafstelle übernachten können. Diejenigen Personen, die sich normalerweise dort aufhalten, wurden in Hotelzimmern untergebracht. Ruedi Illes, Leiter Sozialhilfe, schreibt auf Anfrage, dass am ersten Abend alles sehr ruhig verlaufen sei. «Die beiden Personen haben am Morgen sogar das Zimmer aufgeräumt», sagt er. Eine Viertelmillion Franken hat der Kanton für dieses Unterfangen gesprochen. Ob das Angebot genutzt werde oder nicht, könne man voraussichtlich erst in ein bis zwei Wochen bilanzieren, so Illes.
Dienstag um die gleiche Zeit. Heute bin ich mit einem Dolmetscher vor Ort. Wir sind gespannt, ob sich das Angebot der Notschlafstelle herumgesprochen hat, ob heute mehr Bettlerinnen und Bettler kommen werden. Vorerst geschieht nichts. Doch wenig später trudelt eine Gruppe Roma um die Ecke. Die Frauen tragen wieder lange Röcke, die Männer sind mit Mützen und Daunenjacken ausgestattet. Man kennt diesen Anblick, die Bettelnden gehören seit dem Sommer zum Basler Stadtbild.

«Bună seara», sagt mein Dolmetscher und wird sofort mit einem mehrstimmigen «bună seara» zurückgegrüsst. Wir werden von der Gruppe umringt, interessierte Blicke, fragende Mimik: Die Familie nimmt meinen Dolmetscher sofort in Beschlag. Was sie hier erwarte, will ein Mann wissen. Ob sie hier etwas zu essen bekämen, fragt ein anderer. Eine Wolke Alkohol schwebt durch die Luft.

Wir kommen mit Robert ins Gespräch. Ein Mann Mitte 30 mit rundem Gesicht und dickem Bauch. Er ist in Redelaune, erzählt uns von despektierlichen Blicken, gehässigen Kommentaren. Er ist enttäuscht, dass ihn die Schweizer hier als ungewaschenen Gauner wahrnehmen. «Alles, was ich möchte, ist ein Bett zum Schlafen, eine Dusche, etwas zu essen und vor allem einen Job», sagt er. Zu Hause in Rumänien habe er Kinder, für die er nicht sorgen könne. Deshalb nutze er das Schengen-Abkommen aus, um hier in der Schweiz Geld zu verdienen. Er sei schon in England gewesen, habe für 300 Pfund im Monat Strassen gefegt. Er würde das Gleiche hier in Basel tun, würde jedes Angebot mit Handkuss annehmen. Doch bis jetzt sei er schwierig zu vermitteln. Ob es hier in der Notschlafstelle jemanden gebe, der ihm dabei helfen könne, fragt er.

Zweiwöchige Meldefrist beim Migrationsamt

Die Roma über das zweimonatige Angebot der Notschlafstelle aufgeklärt hat die Rumänisch sprechende Natalie Sigg. Sie ist Freelancerin beim Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter. Vergangene Woche ging sie auf die Strasse, um die Bettelnden persönlich über die Übernachtungsmöglichkeit zu informieren. Es seien derzeit mehrere Familien in Basel, um die hundert Personen, die miteinander in Kontakt stünden. Ihr erster Rundgang sei nicht auf positive Resonanz gestossen: «Die erste Reaktion war zwar sehr erfreut, aber als es dann um die daran geknüpften Bedingungen ging, kamen schnell Misstrauen und Enttäuschung auf.»

Die Personendaten würden nämlich einerseits an das Justiz- und Sicherheitsdepartement weitergeleitet. Andererseits hätten die Bettelnden von diesem Zeitpunkt an zwei Wochen Zeit, sich beim Amt für Migration zu melden, erklärt die Sozialarbeiterin. Spätestens ab dann laufe die dreimonatige Aufenthaltsbewilligung für EU-Bürger. Danach müssten die Roma die Schweiz verlassen. Viele seien jedoch im Vorfeld schon von der Polizei kontrolliert worden. Für jene laufe die Frist für den Aufenthalt also schon. In jedem Fall müssten die Roma die Schweiz früher oder später verlassen. Sollten sich die Bettelnden nicht innert zwei Wochen beim Amt melden, dürften sie auch das Angebot der Notschlafstelle nicht mehr nutzen.

«Es ist eine Hauruckübung»

Michel Steiner, Co-Geschäftsführer des Schwarzen Peters, findet die Lösung mit der Notschlafstelle pragmatisch. Zwar sei es sicher gut, dass der Kanton etwas unternehmen wolle. Das habe man schon im Frühling 2020 gesehen. Trotzdem hätte er sich eine bessere Absprache und einen «Realitätsabgleich» im Vorfeld gewünscht: «Es ist toll, dass man es wenigstens probiert. Es bleibt aber eine Abfertigung ohne grosse soziale Einbindung.» Die Roma wünschten sich lieber einen Diskurs als einen warmen Schlafplatz. Ein Mann habe gegenüber Natalie Sigg gesagt: «Sagt eurem Bürgermeister, dass wir arbeiten wollen, dass wir reden wollen.» In Rumänien hätten die Roma nicht unbedingt eine bessere Schlafsituation. Dort sei es im Winter deutlich kälter als die milden zehn Grad, die aktuell in Basel herrschten. Ausserdem seien die Hütten in den rumänischen Roma-Siedlungen heruntergekommen, der Boden sei manchmal sogar schlammig. Hier draussen zu schlafen, sei für sie also erträglicher, als nach Hause geschickt zu werden, sagt Sigg. «Wir versuchen, mit den Bettelnden einen regelmässigen Kontakt herzustellen, sodass wir in der Lage sind, auf deren Bedürfnisse einzugehen, und nicht von oben herab gut gemeinte Entscheide fällen, die im schlechtesten Fall niemandem etwas bringen.»

Einheimische Obdachlose geniessen die Zeit im Hotel

Positive Rückmeldungen gibt es aber von den hiesigen Obdachlosen, die momentan in zwei Hotels untergebracht sind. «Sie geniessen es, ein Zimmer für sich allein zu haben und nicht um acht Uhr früh auf die Strasse gestellt zu werden, wie es sonst in der Notschlafstelle üblich ist», sagt Michel Steiner schmunzelnd.
(https://www.bazonline.ch/bettler-wollen-nicht-in-der-notschlafstelle-uebernachten-915247442457)


+++SEXWORK
Meilenstein für die Rechte von Sexarbeitenden – Rendez-vous
Wird eine Prostituierte von ihrem Freier um ihren Lohn geprellt, kann sie das Geld nicht vor Gericht einfordern, weil ihre Arbeit als sittenwidrig gilt. Diese langjährige Praxis der Schweizer Gerichte wirft das Bundesgericht nun mit einem wegweisenden Urteil über den Haufen.
https://www.srf.ch/play/radio/rendez-vous/audio/meilenstein-fuer-die-rechte-von-sexarbeitenden?id=fbdc5d02-1b54-49ec-9fb6-a6c6fea976db
-> Medienmitteilung Bundesgericht: https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/6b_0572_2020_2021_02_04_T_d_11_10_37.pdf
-> Urteil Bundesgericht: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://08-01-2021-6B_572-2020&lang=de&zoom=&type=show_document
-> https://www.derbund.ch/wegweisendes-urteil-wer-sexarbeit-in-anspruch-nimmt-muss-zahlen-676862442135
-> https://www.republik.ch/2021/02/04/auch-vertraege-mit-prostituierten-gelten
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/justiz-das-bundesgericht-bestaetigt-wer-die-arbeit-einer-prostituierten-in-anspruch-nimmt-muss-zahlen-ld.2094675
-> https://www.blick.ch/schweiz/zweimal-sex-ohne-zu-zahlen-bundesgericht-verurteilt-betrueger-freier-id16329086.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/justiz/642439424-freier-hat-prostituierte-nicht-bezahlt-wegen-betrugs-verurteilt
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/play/radio/echo-der-zeit/audio/wichtiger-schritt-zur-gerechten-behandlung-der-sexarbeiterinnen?id=aa4e51d2-f529-49eb-bbd7-f5d039b67c32
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/bundesgericht-lohn-fuer-sexarbeit-kann-eingefordert-werden?urn=urn:srf:video:a871448f-5066-49ac-805e-5f23d8ed8787
-> https://www.luzernerzeitung.ch/schweiz/bundesgericht-prostitution-verstoesst-nicht-mehr-gegen-sittlichkeit-dieses-urteil-war-seit-jahrzehnten-ueberfaellig-ld.2094976
-> https://www.luzernerzeitung.ch/meinung/kommentare/kommentar-es-brauchte-einen-dreisten-betrueger-damit-sexarbeiterinnen-endlich-zu-ihrem-recht-kommen-ld.2094977



nzz.ch 04.02.2021

Wer Sexarbeit beansprucht, muss zahlen

Ein Mann, der einer Frau das für Sex mit ihr versprochene Geld nicht zahlte, ist wegen Betrugs verurteilt worden. Sein Argument, ein Prostitutionsvertrag sei sittenwidrig und begründe deshalb keinen Anspruch auf die Zahlung, hielt vor Bundesgericht nicht stand.

Frank Sieber

2000 Franken hatte der Mann 2016 in einem Online-Inserat jungen Frauen in Aussicht gestellt. Worum es genau ging, teilte er einer Interessentin per Mail mit: Er wolle eine Nacht mit ihr verbringen und Sex haben. Er versicherte der Frau, das Geld zu haben, und überredete sie später auf dem Weg zum Hotel dazu, entgegen ihrem Wunsch erst nach dem Sex bezahlen zu können. Die Frau liess sich schliesslich darauf ein. Der Mann allerdings machte sich nach dem Geschlechtsverkehr aus dem Staub, ohne ihr die vereinbarte Summe zu überlassen. Das Kreisgericht St. Gallen und auch das Kantonsgericht erkannten darin einen Betrug und verurteilten ihn zu einer bedingten Geldstrafe.

Gegen dieses Verdikt zog der Mann vor Bundesgericht. Er machte in seiner Beschwerde unter anderem geltend, der Prostitutionsvertrag sei gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts sittenwidrig. Die Frau habe deshalb keinen Anspruch auf das Geld. Weil ihr kein Vermögensschaden entstanden sei, sei der Betrugstatbestand nicht erfüllt.

Das Bundesgericht allerdings sieht es anders, wie aus dem am Donnerstag publizierten Urteil hervorgeht. Der Anspruch der Frau auf Entschädigung sei strafrechtlich geschützt. Grundsätzlich sei das Erwerbseinkommen aus Prostitution als rechtmässig anerkannt – so unterliege die Prostitution beispielsweise der Einkommens- und der Vermögenssteuer und der AHV. Zudem handle es sich um «eine sozialübliche und zulässige Tätigkeit», die entsprechend auch durch die Wirtschaftsfreiheit geschützt sei. Zumindest teilweise messe die Rechtsordnung dieser Dienstleistung damit einen Vermögenswert bei.

Von uneingeschränkter Sittenwidrigkeit eines einschlägigen Vertrags kann also nicht die Rede sein, zumal der Verkauf einer Sexdienstleistung «nicht in jeder Hinsicht» den Wertmassstäben der Gesamtrechtsordnung widerspricht, wie das Bundesgericht festhält.

Schliesslich erkannte das Bundesgericht beim Beschwerdeführer auch die Arglist, die ihn strafrechtlich zum Betrüger macht. Der Frau, die sich von ihm täuschen liess, könne hingegen kein leichtfertiges Verhalten vorgeworfen werden. Zwar möge sie leichtgläubig gewesen sein, als sie nicht auf der vorgängigen Bezahlung bestanden habe. Allerdings führe selbst ein erhebliches Mass an Naivität oder Leichtsinn des Opfers nicht zwingend zur Straflosigkeit des Täters, schreibt das Bundesgericht.

(6B 572/2020)
(https://www.nzz.ch/schweiz/sexarbeit-bundesgericht-bestaetigt-anspruch-auf-entgelt-ld.1599913)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Appel : Semaines d’action pour la Liberté d’Abdullah Öcalan
La campagne pour la libération de Abdullah Öcalan est en cours depuis plusieurs mois. La coordination Riseup4Rojava se joint à l’appel internationale. Semaines de mobilisations et d’action du 1 au 15 février 2021
https://renverse.co/infos-d-ailleurs/article/appel-semaines-d-action-pour-la-liberte-d-abdullah-ocalan-2907


Lebensraum verteidigen – Eichwäldli bleibt!
Am Samstag, 30.01.21, demonstrierten wir in Luzern zu 400st für Freiraum, für lebendige Quartiere. Für eine Stadt, geformt durch die Menschen, die sie beleben. Und dafür, dass das Eichwäldli bleibt.
https://barrikade.info/article/4180


+++POLIZEI SO
solothurnerzeitung.ch 04.02.2021

Revidiertes Polizeigesetz: Das steht in der 58-seitigen Beschwerde ans Bundesgericht

Auch wenn die Solothurnerinnen und Solothurner dem revidierten Polizeigesetz deutlich zugestimmt haben: Juristisch ist der Fall umstritten, wie eine Beschwerde ans Bundesgericht zeigt.

Balz Bruder

Scharfes Geschütz gegen das Kantonspolizeigesetz, das der Solothurner Souverän in einer Referendumsabstimmung am 29. November mit grosser Mehrheit sanktioniert hat: Dieser Zeitung liegt die 58-seitige öffentlich-rechtliche Beschwerde gegen die Änderung des Gesetzes vor. Dabei geht es um eine sogenannte abstrakte Normenkontrolle, mit der die Rechtmässigkeit des Erlasses höchstrichterlich geprüft wird.

Das ist ein schwerer Schlag für die Regierung, die am 12. Januar beschlossen hat, das revidierte Gesetz Anfang März in Kraft zu setzen. Damals noch in Unkenntnis der Beschwerde, die vom 19. Januar datiert. Ob das Gesetz tatsächlich im kommenden Monat gelten wird, ist derzeit noch offen. Advokat Markus Husmann aus Liestal, der die aus dem Kanton Solothurn stammenden Beschwerdeführer vertritt, hat zum heutigen Zeitpunkt auf einen Antrag auf aufschiebende Wirkung verzichtet, könnte diesen aber jederzeit stellen, wenn es sich als notwendig erweisen sollte.

Regierung soll Inkraftsetzung sistieren

Der Baselbieter Rechtsanwalt hofft einstweilen darauf, dass die Regierung ein Einsehen haben wird – ähnlich wie im Kanton Bern. Nachdem eine Beschwerde gegen das dortige Polizeigesetz eingereicht worden war, setzte die Regierung die Inkraftsetzung aus eigenem Antrieb aus. Ein Schritt, der sich insofern als richtig erwies, als das Bundesgericht in der Folge eine Vielzahl der vorgesehenen Bestimmungen aufhob.

Just dies müsste nach Ansicht der Beschwerdeführer auch im Fall des Solothurner Polizeigesetzes so geschehen. Ob verdeckte Observation, verdeckte Vorermittlung, verdeckte Fahndung, automatisierte Fahrzeugfahndung oder Drohnenverbot: Die Bestimmungen sollen samt und sonders aufgehoben werden. Nach Ansicht der Beschwerdeführer werden das Grundrecht auf persönliche Freiheit sowie das Recht auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung ebenso verletzt wie das Fernmeldegesetz.

Wörtlich heisst es in den Ausführungen zur verdeckten Vorermittlung, die zur Erkennung und Verhinderung von Verbrechen und Vergehen angeordnet werden kann, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine strafbare Handlung vor der Ausführung steht: «Die Bestimmungen schaffen in einem hochsensiblen Bereich eine erhebliche Missbrauchsgefahr, begründen eine nicht gerechtfertigte Wertungsinkongruenz» – also eine Diskrepanz mit übergeordnetem Recht – «zudem fehlt es an angemessenen und wirksamen Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten.»

Auch politische «Beweise»

Interessanterweise zieht Advokat Husmann bei seinen Erwägungen nicht nur Rechtliches ein, sondern reflektiert auch die kantonsrätliche Debatte, in der die zuständige Regierungsrätin Susanne Schaffner ebenso wie die Unterstützer der Vorlage aufschlussreiche Ausführungen über die extensive Auslegung der Bestimmungen machten.

Zum Beispiel in Bezug auf die Anwendbarkeit für nicht zugängliche Internet-Plattformen, Chat-Rooms sowie verschlüsselte Kommunikationsdienste. Das war und ist zwar explizit der Wille des Gesetzgebers – nur steht das so im Erlass selbst. Just dies müsste laut Husmann aber ebenso der Fall sein wie die hinreiche Einschränkung des Anwendungsbereichs. Dieser ist aufgrund der Unbestimmtheit der Tatbstandselemente sehr weit gefasst.

Die Kritik der Beschwerdeführer erfasst in ähnlicher Weise auch die verdeckte Fahndung und Observation. Kritisiert werden nicht nur die Eingriffe in die Grundrechte, sondern auch die Verfahrenswege und der Rechtsschutz. Insgesamt entsteht bei der Lektüre der Beschwerde das Bild eines Erlasses, der im Faustschen Sinn das Gute, den Schutz nicht zuletzt von Kindern vor Missbrauch im Netz beispielsweise, will – und das Böse schafft, in diesem Fall den unzureichend gewährleisteten Schutz der Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise vor missbräuchlichen und unzureichend begründeten polizeilichen Eingriffen. Oder, um ein geflügeltes Wort aus dem Abstimmungskampf zu bemühen: Die Ankunft des Überwachungsstaats als wahren Sinn des Gesetzes.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/kanton-solothurn-revidiertes-polizeigesetz-das-steht-in-der-58-seitigen-beschwerde-ans-bundesgericht-ld.2094145)


+++POLIZEI ZH
Soll die Polizei die Herkunft von Tätern nennen?
Die Nationalität von Straftätern soll in Polizeimeldungen mitgeteilt werden. Die Mehrheit des Kantonsparlaments unterstützt diese Forderung. Die SVP geht in ihrer Volksinitiative aber noch einen Schritt weiter: Es soll auch ein allfälliger Migrationshintergrund genannt werden. Recht auf Information oder Schüren von Vorurteilen? Die hitzige Diskussion heute live im «TalkTäglich».
https://www.telezueri.ch/talktaeglich/soll-die-polizei-die-herkunft-von-taetern-nennen-140623585


+++POLIZEI DE
‘Gefährliche Orte’ & Defund the Police, Interview mit Biplab Basu von KOP Berlin/ReachOut
Am 26. Januar feierte die Polizei Berlin in einer Pressemitteilung das einjährige Bestehen einer neuen Brennpunkt- und Präsenzeinheit. Sie arbeitet an sogenannten ‚kriminalitätsbelasteten Orten‘ wie dem Görlitzer Park/Wrangelkiez und wurde dort 2020 massiv aufgestockt. Das Konzept dieser Orte wird von antirassistischen Initiativen jedoch seit Jahren kritisiert.
Wir haben Biplab Basu von KOP Berlin und ReachOut eingeladen, um zu fragen: Um wessen und welche Formen von Sicherheit geht es hier? Wie sollen sie realisiert werden?1 Ausgehend davon stellen wir uns die Fragen: Wie können Ressourcen umverteilt werden, um ein soziales Sicherheitsversprechen jenseits rassistischer Polizeipraktiken einzulösen? Was können wir dabei von ‚Defund the Police‘ lernen?
https://archive.org/details/2021-02-03-interview-david-mit-kopberlin-biblap-basu-gefaehrliche-orte-defund-th
9.04


Kleve: Ermittlungen im Fall von unschuldig inhaftiertem Syrer eingestellt
Amad A. wurde mit einem Mann aus Mali verwechselt und starb bei einem Brand in seiner Zelle in Kleve. Vorwürfe gegen einen Polizisten werden nun nicht weiter verfolgt.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-02/kleve-ermittlungen-eingestellt-brand-zelle-amad-a


+++RASSISMUS
Rassistische Sprache ist sichtbar geworden
25 Jahre Rassismus-Strafnorm: Gerichtsurteile zeigen keine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit.
https://www.infosperber.ch/freiheit-recht/justiz/rassistische-sprache-ist-sichtbar-geworden/


Faschismus und Rassismus
Donna Murch (USA), Autorin und Professorin an der Rutgers University. Mitschnitt von der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2021
Donna Murch, Politikprofessorin in New Jersey, erläuterte auf der XXVI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz 2021 die Geschichte des »Rassenfaschismus« in den USA. Trump ist kein Zufall, sondern wird davon getragen. Die weiße Mittelschicht steigt ab, ihre »Herrenvolkdemokratie« bröckelt, ihre Lebenserwartung sinkt massiv. Gleichzeitig entstehen Bewegungen wie »Black Lives ¬Matter« mit fünf bis sechs Millionen Anhängern.
https://www.jungewelt.de/artikel/395244.rlk-video-faschismus-und-rassismus.html


+++RECHTSPOPULISMUS
„Politisierende Kirchen“: Ein Gespenst mit rassistischem Erbe
In der ganzen Schweiz warben Kirchen für die Annahme der Konzernverantwortungsinitiative. Dafür ernteten sie Kritik von rechts – wie vor 30 Jahren, als Exponent:innen der Kirche Geflüchtete versteckten oder sich gegen das Apartheidregime in Südafrika engagierten. Zur jüngeren Geschichte eines alten Unbehagens.
https://daslamm.ch/politisierende-kirchen-zur-juengeren-geschichte-eines-alten-unbehagens/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Ku-Klux-Klan noch immer in Deutschland aktiv
In der Bundesrepublik gibt es vier Gruppierungen des Rassistenklubs, schätzt die Bundesregierung. Kreuze brennen, Straftaten werden mit dem Klan in Verbindung gebracht – Behörden sprechen von einer “abstrakten Gefährdung”.
https://www.sueddeutsche.de/politik/ku-klux-klan-deutschland-rechtsextremismus-1.5194291


Rainer Meyer: Markierte Zielpersonen
Ist der Blogger Don Alphonso dafür verantwortlich, dass Menschen, über die er schreibt, anschließend von Rechten bedroht werden?
https://www.zeit.de/2021/06/rainer-meyer-don-alphonso-blog-rechte-gewalt-rechtsextremismus/komplettansicht


Warum Tweets von WELT-Autor Don Alphonso immer noch zu Hass & Morddrohungen führen
Wenn der WELT-Autor Don Alphonso twittert, führt das immer noch regelmäßig zu Morddrohungen und Hasskampagnen. Wir analysieren die neusten Diskussionen rund ums Thema und erneuern unsere Twitter-Daten-Analyse von letztem Jahr, die erneut zeigt warum das so ist: Don Alphonsos Twitter-Blase ist immer noch voll mit Rechtsradikalen. Er weigert sich nach wie vor, diese zu blocken.
https://www.volksverpetzer.de/kommentar/don-alphonso-morddrohungen/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
«Alain du läbsch gföhrlich» gepostet: Fedpol schickt Coronaskeptiker Warnbrief
Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) warnt Corona-Skeptiker, die im Internet mit Drohposts auffallen, per Brief. Ein solches Schreiben landete nun auf Telegram.
https://www.blick.ch/schweiz/alain-du-laebsch-gfoehrlich-gepostet-fedpol-schickt-coronaskeptiker-warnbrief-id16328130.html
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/drohungen-gegen-bundesraete-und-amtspersonen?urn=urn:srf:video:685ad9e8-64b3-4930-9a07-e296a16cc3e3
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/mehr-als-vervierfacht-drohungen-gegen-bundesraete-nehmen-zu


Corona-Skeptiker proben den Aufstand gegen Fernseh-Gebühren
Corona-Kritiker sind mit der Berichterstattung von SRF nicht einverstanden und wollen die Gebühren nicht bezahlen. Es kursieren Bilder von brennenden und «verschönerten» Rechnungen.
https://www.20min.ch/story/corona-skeptiker-proben-den-aufstand-gegen-fernseh-gebuehren-117080326443


Primarlehrerin attackiert Aktivisten hinter der Corona-Schulkarte
Eine Zürcher Lehrerin machte mit einem Post mobil gegen eine Website, die Corona-Ausbrüche in Schulen erfasst. Damit verletze sie die Standesregeln ihres Berufs, so ein Experte.
https://www.20min.ch/story/primarlehrerin-attackiert-aktivisten-hinter-der-corona-schulkarte-375733790064



landbote.ch 04.02.2021

Telegram-Chat aus Winterthur: Am Stammtisch der Skeptiker

Über einen Telegram-Chat tauschen sich die Corona-Skeptiker aus der Region über maskenfreien Unterricht aus und wappnen sich mit einem Lebensmitteldepot gegen die neue Weltordnung.

Delia Bachmann, Mirko Plüss

Sie verteilen Flyer in Briefkästen, sammeln Unterschriften, spazieren mit Fackeln durch die Altstadt oder schreiben Protestbriefe an Lehrer und Schulleiterinnen. Über die letzten Monate wurde die Szene der Corona-Skeptiker in Winterthur sichtbarer. Ihre wichtigste Echokammer bleibt aber der Telegram-Chat «Stammtisch Winterthur». Er zählt über 150 Mitglieder und scheint eine Art virtuelles Basislager zu sein.

Hier werden nicht nur Treffen und Verteilaktionen geplant, sondern auch Videos von prominenten Corona-Leugnern wie dem Vegan-Koch Attila Hildmann oder dem Querdenker-Arzt Bodo Schiffmann ausgetauscht. Verbreitet werden auch die bizarren Verschwörungstheorien der QAnon-Bewegung mit Ursprung in den USA. Etwa dass eine geheime Elite den Menschen mit der Corona-Impfung heimlich Mikrochips implantiert, um sie zu kontrollieren und die Weltherrschaft zu erlangen.

Wer mit am Tisch sitzt

Nach einer ersten Mahnwache gegen die «Corona-Diktatur» im Mai in der Steinberggasse verschwanden die Gegner wieder aus dem öffentlichen Blick. Am 24. Juni gründete eine Kindergärtnerin den Telegram-Chat, den sie zusammen mit einer Heilpädagogin moderiert. Nach ersten Beiträgen über Erdfrequenzen, Dunkelkräfte, 5G, Trump und angebliche Corona-Heilungen durch UV-Licht mahnt die Gründerin zur Zurückhaltung: «Ich möchte, dass sich alle wohlfühlen und wir keine ‹vergraulen›.» Zensiert wird im Chat aber nichts, einzig Gewaltaufrufe sind tabu.

Der Stammtisch ist ein Sammelbecken für alle möglichen Kräfte, das Spektrum reicht von Massnahmenkritikern über Esoteriker bis hin zu Verschwörungstheoretikern. Darunter sind auffällig viele Frauen: «Es soll möglichst viele Untergruppen geben, damit wir uns ergänzen und stärken können», schreibt die Gründerin im Juli. Ein anderes Mitglied sagt es so: «Der kleinste gemeinsame Nenner am Stammtisch ist der (vermutlich) grösste gesellschaftliche blinde Flecke, den es je gab.»

Für diesen Artikel kontaktierte der «Landbote» letzte Woche die Gründerin des Stammtischs. Auf ihren Wunsch stellten wir ihr die Fragen am Dienstagmorgen schriftlich zu. Es ging unter anderem darum, ob tatsächlich eine Mehrheit der Mitglieder glaubt, die Pandemie sei nicht echt, oder ob Sie sich in der Verantwortung sieht, wenn Leute aufgehetzt oder zum Verstoss gegen die Corona-Massnahmen angestiftet werden. Am Mittwoch schrieb sie: «So sehr wir das bedauern, es ist uns leider nicht möglich, unter Zeitdruck Ihre Fragen zu beantworten.»

Schlafschafe vs. Aufgewachte

Was die Gruppe eint, scheint ein Groll gegen die gemeinsamen Gegner zu sein: Dazu gehören der Staat, den manche für eine Firma halten, die «Mainstream-Medien» oder Bill Gates. Ihr Ziel ist es, die «Schlafschafe» aufzurütteln. So bezeichnet die Szene jene, die Covid-19 für eine Krankheit und nicht für ein Komplott von finsteren Mächten halten. Dieser Glaube ist so tief, dass sich eine Frau freut, als eine Verwandte auf dem Weg zum Impftermin einen Autounfall – «nur Blechschaden» – hat.

Im Chat gibt es wenige Vielschreiber und viele Mitleser. Dass diese Theorien von allen geglaubt werden, darf bezweifelt werden. Zumal es vereinzelt auch Widerspruch gibt: «Ist doch völliger Blödsinn», antwortete ein Mitglied, als Christian Frei im Juli behauptete, dass das Teststäbchen «einen direkten Eingang zum Gehirn für jede Infektion» schafft. Der Tibits-Mitgründer sorgte kürzlich für Schlagzeilen, weil er den stellvertretenden Armeechef aufforderte, den Bundesrat zu verhaften. Im Chat mahnte der Widersprechende: «Wenn ihr nichts prüft und einfach nur weiterleitet, dann richtet ihr nur noch mehr Schaden an.»

Politik und Proteste

Im September schloss die Polizei den Veganer-Laden Tofulino, was für grosse Aufregung sorgte: «Wie im Dritten Reich», schrieb ein Mann. Die Gruppe reagierte mit einer Solidaritätsaktion: Gemäss Chat verteilten sie die übrig gebliebene Suppe und Umarmungen auf der Strasse. Das «Umarmungskit» aus Maske, Regenschutz und Handschuhen sollte nach jeder Umarmung desinfiziert werden.

Zu dieser Zeit wurde die Gruppe vermehrt politisch aktiv. In der Altstadt sammelte sie Unterschriften für die Referenden gegen das Covid-19-Gesetz und das Anti-Terror-Gesetz. Seit neuem auch für eine Initiative, die eine mögliche Impfpflicht quasi präventiv verhindern will. Zudem fing sie an, Flyer im BAG-Stil zu verteilen. Zuerst gegen die Massnahmen, dann gegen die Impfung. Die Flugblätter lagern heute offenbar in einem offenen Schopf in Veltheim.

Die Szene ist nicht nur über unzählige Telegram-Kanäle vernetzt, sondern auch im echten Leben. Aus dem Stammtisch-Verlauf geht hervor, dass ein eigentlicher Protest-Tourismus stattfindet: Um an Kundgebungen teilzunehmen, reisten Mitglieder des Chats nach Bern, Zürich, Genf, Konstanz oder Büren an der Aare. Ein Mann aus dem Speckgürtel von Winterthur fuhr mit einem Reisebus sogar an eine Demo in Berlin.

Mit Fackeln und Glühwein

Im Advent beginnen die Abendspaziergänge, die erst beim Tibits und später bei der Stadtkirche starten. Mit Laternen oder Fackeln, Tee, Punsch oder Glühwein. Beim ersten nahmen gemäss Chat zwischen 20 und 25 Personen teil. Es gibt aber auch private Treffen: Ein Mann lädt zum «maskenfreien Sein» bei sich mit Süssmost ein und will bei der Gelegenheit noch handgemachte Bioseifen verkaufen. Eine Coiffeuse bietet bei sich zu Hause ihre Dienste an: «Es muss natürlich niemand eine Maske tragen.» Und ein Ladenbesitzer verkauft in seinem Geschäft impfkritische und coronakritische Fahnen.

«Unser Netzwerk ist in diesen Monaten massiv gewachsen», schreibt die Gründerin zu der Zeit. Weil sie wissen, dass Polizisten und Journalisten mitlesen, werden sie vorsichtiger. So sollen «Listen von vernünftigen Ärzten» nur unter der Hand ausgetauscht werden. Neu gilt auch: «Die wichtigen Informationen werden ausschliesslich per E-Mail kommuniziert.»

Der «Wir machen auf»-Leerlauf

Für grosse Enttäuschung sorgte am Stammtisch die «Wir machen auf»-Aktion. Am 11. Januar öffneten in der Schweiz einige Restaurants und Cafés ihre Türen aus Protest gegen die Corona-Massnahmen. Winterthur fehlte lange auf der Liste. Sie sei nach wie vor eine passive Stadt, hiess es im Chat: «Heute hat es sehr viele Ausländer, die sich nichts trauen. Ich hoffe, mit unserem Löwen im Wappen wachen sie auf.» Die Gruppe schrieb deswegen auch dem städtischen Wirteverband, doch dieser distanzierte sich von der Aktion.

Am Tag selbst ging eine Gruppe in der Altstadt auf einen Streifzug und suchte vergeblich nach den drei offenen Cafés: «Es bringt überhaupt nichts, wenn man nicht weiss, wohin. Schade, schlecht organisiert», lautete das Fazit einer Teilnehmerin. Eine andere Gruppe hatte offenbar mehr Glück und fand ein «Café im Westen». Die Stadtpolizei hat keine Kenntnis von einem Regelverstoss in Winterthur.

Die Solidarität mit dem Gastgewerbe gilt allerdings nicht uneingeschränkt. Der Aufschrei war gross, als Christian Frei – ein Stammtisch-Mitglied der ersten Stunde – von seinen Brüdern aus der Tibits-Geschäftsleitung geworfen wurde: «Pfui Teufel, so eine Familie braucht man nicht. Wir hoffen, die gehen pleite», heisst es in einer weitergeleiteten Nachricht der Corona-Rebellen. Dazu ein Aufruf, die «moraltragenden Gutmenschen» anzurufen oder ihnen zu schreiben.

Lebensmittel-Depot beschützen

Fieberhaft wird im Chat auch überlegt, wie man das bestehende Wirtschaftssystem umgehen könnte. Die Rede ist dann vom Direktbezug von Lebensmitteln vom Bauern bis hin zur Etablierung einer eigenen Währung. Ebenfalls im Raum steht die Idee, selbst einen Hof zu pachten und zu bewirtschaften: «Wir haben ein grosses Stück Land, das man zu einem Garten umfunktionieren kann», schreibt eine Frau aus dem Weinland. Einmal wird von einer Vorbereitung «auf die Zeit» gesprochen, ein anderes Mal von einer siebenjährigen «Übergangsphase» bis zur «digitalen Total-Erfassung». Befürchtet wird etwa ein «kommendes Bargeldverbot».

Aus diesen Überlegungen heraus schien dann das Projekt «Lebensmitteldepot» zu entstehen. Vom alten Busdepot Deutweg aus soll, mutmasslich im Krisenfall, die Gruppe versorgt werden. Doch daraus resultierten schon wieder neue Diskussionen: «Was machen wir, wenn die Lebensmittel tatsächlich knapp werden? Steht dann eine bewaffnete Delegation vor dem Schuppen?»

Ohne Maske in die Schule

Die Überzeugungen der Stammtisch-Mitglieder führte zudem immer wieder zu Konflikten mit den Schulen. Im Oktober klagen zwei Lehrpersonen, dass sie ohne Maske nicht mehr unterrichten dürfen. Im Chat «Eltern & Schule stehen auf» bietet eine später ihre Dienste für Familien aus der Region Winterthur an, die ihre Kinder nicht in eine «Masken-Kita» oder in einen «Maskenkindergarten» schicken wollen.

Seit dem 25. Januar gilt die Maskenpflicht auch für die Mittelstufe. An jenem Montag schreibt eine Frau, die offenbar ebenfalls an einer Schule arbeitet, dass sich viele Kinder beschwert hätten: Es sei zu heiss, und sie bekämen zu wenig Luft. Die Frau, die gemäss eigenen Angaben selbst keine Maske im Schulzimmer trägt, schreibt: «Ich habe zu ihnen gesagt, sie sollen die Maske abziehen und dringend mit den Eltern sprechen.»

Auch Eltern machen Druck auf die Schulen: Im Chat berichten Mütter und Väter, wie sie versuchen, ihre Töchter und Söhne von der Maskenpflicht auszunehmen. «Ich habe es grad geschafft, dem Lehrer zu erklären, er sei nicht befugt, das ärztliche Attest meines Kindes einzusehen», teilt eine Mutter der Gruppe mit. Ein Vater stellt sein Mail an die Schulleitung rein. Er werde der Tochter raten, aus gesundheitlichen Gründen keine Maske zu tragen: «Ich würde aber ihren freien Willen unterstützen, falls sie die Einzige in der Schulklasse ist und es als eine noch stärkere Belastung empfindet, aufzufallen, weil sie keine Maske trägt.»

«Unseren Kindern wird trotz Attest der Schulbesuch verweigert», schreibt eine Mutter in den Chat «Eltern & Schule stehen auf», der über 2000 Mitglieder zählt. Sie und ihr Partner hätten bei der Staatsanwaltschaft Winterthur eine Anzeige gegen den Lehrer eingereicht. Zudem ruft sie andere Eltern dazu auf, es ihnen gleichzutun. Die Staatsanwaltschaft will die Anzeige aufgrund der zu vagen Angaben weder bestätigen noch dementierten. Bei zwei Vorfällen werden die Schulhäuser – Gutschick in Mattenbach und Guggenbühl in Oberwinterthur – namentlich genannt.

Am 25. Januar nahmen auch Mitglieder des Stammtisch-Chats an einer Kundgebung vor der Zürcher Bildungsdirektion teil. Die Teilnehmer sollten «etwas Lautes» wie «Rasseln, Rätschen oder Pfannendeckel» mitbringen, hiess es im Aufruf. Dort war zudem die Übergabe eines offenen Briefs an Silvia Steiner geplant. Der Brief, der auch an die Redaktion des «Landboten» ging, enthält Fragen zu den Grundlagen für die Ausdehnung der Maskenpflicht und deren Verhältnismässigkeit. Weiter wird gefragt, wer die Unversehrtheit der Kinder gewähre und wer Verantwortung bei allfälligen Gesundheitsschäden der Kinder übernehme. Unterzeichnet wurde das Schreiben von über 160 Personen.

Die Schulen schweigen

Die Maskengegner und Corona-Skeptiker unter Eltern und Lehrpersonen sind dem Schuldepartement offenbar unangenehm. Es verweist an die einzelnen Kreisschulpflegen. Diese setzen darauf am Mittwoch eine gemeinsame Sitzung zum Thema an und sagen dann doch nichts: «Die speziellen Einzelfälle regeln wir intern, diese sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.» Auch die allgemeinen Fragen zur Häufigkeit solcher Vorfälle und zur Zahl der coronakritischen Lehrkräfte bleiben mit Verweis auf den Datenschutz unbeantwortet. Stattdessen spielen die Kreisschulpflegen den Ball ans Volkschulamt weiter.

«Dazu muss sich das Schuldepartement Winterthur äussern», antwortet Myriam Ziegler vom Volksschulamt auf die Frage nach der Häufigkeit solcher Vorfälle. Unklar ist auch, wie viele Lehrpersonen das Tragen einer Maske trotz fehlendem Attest verweigern: «Wir gehen aber von Einzelfällen aus.» Es handle sich um einen Verstoss gegen eine personalrechtliche Weisung und könne theoretisch bis zur fristlosen Kündigung führen. Doch auch unbezahlter Urlaub ist möglich.

Während der Corona-Pandemie hätten sich immer wieder Eltern an die Bildungsdirektion gewandt: «Mit Abstand die grösste Reaktion hat, wie in anderen Kantonen auch, die Ausdehnung der Maskenpflicht auf die vierte Primarklasse ausgelöst», sagt Ziegler. Die Reaktionen kämen per Mail, Brief oder Telefon, würden aber weder gezählt noch nach dem Anteil von Corona-Skeptikern ausgewertet: «Auch wenn es aktuell zu einer ungewohnten Vielzahl von Reaktionen kommt, muss man diese in Relation setzen zu den über 160’000 Schülerinnen und Schülern im Volksschulalter.

Weitere Hinweise gibt ein Merkblatt des Volkschulamts: «Viele Schulen werden durch Eltern mit Attesten von Rechtsanwalt Heinz Raschein konfrontiert. Das Schreiben kann ignoriert werden, und eine Unterschrift erübrigt sich. Ein ärztliches Zeugnis ist die einzige zulässige Abweichung von der Maskentragepflicht», heisst es da. Der Name des Bündner Anwalts kursiert in diversen Telegram-Chats. Sein eigener Kanal zählt fast 11’000 Abonennten.

Polizei konsultiert den Chat

«Wir kennen den Chat», sagt Stadtpolizei-Sprecher Michael Wirz. «Es handelt sich dabei um eine von vielen Onlinequellen, die wir regelmässig aus präventiven Überlegungen heraus konsultieren.»

Wirz bestätigt zudem, dass die Polizei aufgrund von Nachrichten im Telegram-Chat bei den Organisatoren eines «Winterpicknicks» interveniert hat. Geplant war, dass sich Anfang Februar zahlreiche Menschen mit einem Stuhl und Take-away-Essen in der Marktgasse platzieren. Die Aktion wurde dann wieder abgesagt. «Wir haben die Organisatoren kontaktiert und auf die rechtlichen Bestimmungen hingewiesen wie beispielsweise die Personenobergrenze und die grundsätzliche Bewilligungspflicht für eine solche Aktion», sagt Wirz. Dies habe man in der Vergangenheit auch schon bei ganz anderen geplanten Kundgebungen getan.

Der Chat habe bisher zu keinen polizeilichen Ermittlungen geführt. Der Aufruf, keine Maske zu tragen, reiche dafür auch nicht aus, sagt Wirz. «Wir sind keine Meinungspolizei.» Und juristisch sei die Sache ohnehin kompliziert: «Eine versuchte Anstiftung zu einer Übertretung ist nicht strafbar.» Klar wäre die Sache hingegen, wenn zu schwereren Delikten aufgerufen würde.

Dennoch sieht Wirz eine gewisse Gefährdung durch den Chat: «Die Corona-Massnahmen funktionieren nur, wenn alle mitmachen. Wenn das nun Leute aktiv torpedieren, kann das natürlich eine gewisse Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen.»
(https://www.landbote.ch/am-stammtisch-der-skeptiker-362443336730)
-> https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/polizei-beobachtet-chat-von-winterthurer-corona-skeptiker-00151071/


+++HISTORY
Kolonialverbrechen – Wie deutsche Ärzte in Afrika mit Menschen experimentierten
Bis 1960 wurden Menschen in Afrika für Medikamenten-Tests missbraucht – vor allem von deutschen Ärzten. Bis heute wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/kolonialverbrechen-wie-deutsche-aerzte-in-afrika-mit-menschen-experimentierten


Fliegen die Bronzen bald nach Benin City?
Knapp 100 Objekte aus dem alten Königreich Benin befinden sich in Schweizer Museen, davon acht in St.Gallen. In einem vom Bund finanzierten Projekt soll nun deren Provenienz systematisch geklärt werden. Die hierfür gegründete Benin-Initiative Schweiz ist in Restitutionsfragen «offen» für den Dialog.
https://www.saiten.ch/fliegen-die-bronzen-bald-nach-benin-city/