Medienspiegel 30. Januar 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Covid und Streichung des Nothilfegeldes
Im Rückkehrzentrum Aarwangen ist Covid 19, ausgebrochen. Seit Dienstag den 26. Januar dürfen die Bewohner*innen das Gebäude nicht mehr verlassen. Die Eingangstore zum Camp wurden geschlossen. Niemand kommt rein. Niemand darf raus. Am Mittwoch wurden auf 97 Bewohner*innen 1/3 positiv getestet. Am Donnerstag dann eine weitere Hiobsbotschaft.
https://migrant-solidarity-network.ch/2021/01/30/covid-und-streichung-des-nothilfegeldes/


Neue Vorwürfe an Betreiberin: Ganzes Rückkehrzentrum in Aarwangen in Quarantäne
Ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner im Rückkehrzentrum in Aarwangen hat sich mit dem Coronavirus infiziert. Trotz Quarantäne sind es seit Dienstag 13 mehr. Jetzt wird Kritik laut, dass die abgewiesenen Asylsuchenden zu wenig geschützt wurden.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/neue-vorwuerfe-an-betreiberin-ganzes-rueckkehrzentrum-in-aarwangen-in-quarantaene-140793633



bernerzeitung.ch 30.01.2021

Rückkehrzentrum Aarwangen: Neue Vorwürfe an Betreiberin nach massivem Corona-Ausbruch

Ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner des Rückkehrzentrums Aarwangen ist an Corona erkrankt. Nun werden Vorwürfe laut, dass die Betreiberin ORS diese zu wenig geschützt habe.

Lea Stuber, Christian Zeier

Ein ganzes Rückkehrzentrum steht unter Quarantäne. Seit Dienstag dürfen die 97 Bewohnerinnen und Bewohner in Aarwangen nicht mehr raus, nicht mehr rein. Sie werden jetzt mit Essen versorgt, denn die Gemeinschaftsküchen sind geschlossen.

Waren es am Dienstag noch 19 Leute, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben, sind es mittlerweile 32. Dies haben Tests bei den Bewohnenden gezeigt, wie der Kanton Bern am Freitag mitteilte. In einem Fall ist die Mutationsvariante bestätigt.

Wie konnte das passieren?

Die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern schrieb am Dienstag, dass einzelne Bewohnende des Zentrums die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus «selbst bei nachgewiesener Erkrankung missachtet» hätten. Ähnlich äusserte sich am selben Tag auch Lutz Hahn, Sprecher der Zentrumsbetreiberin ORS. Es sind Aussagen, die suggerieren, dass in erster Linie die Bewohnenden für die Corona-Eskalation verantwortlich sind.

Ein Bewohner wehrt sich

Das ärgert Saeed Frakhondeh (19). Seit drei Jahren lebt er, der vor acht Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern aus dem Iran in die Schweiz flüchtete, im Rückkehrzentrum Aarwangen. Hier wohnen Menschen mit einem negativen Asylentscheid, die die Schweiz verlassen müssten. Frakhondeh findet: Die ORS Service AG, die das Zentrum im Sommer von der Heilsarmee übernommen hat und seither betreibt, habe viel zu lange abgewartet und nichts unternommen.

«Ich will für meine Rechte kämpfen», sagt Frakhondeh am Telefon, «und für die Menschen im Rückkehrzentrum.» Wenn jemand ein Anliegen habe, komme er oder sie zu ihm. Und so weiss Frakhondeh gut, was in den letzten Monaten im Rückkehrzentrum alles los war.

Sein jüngerer Bruder (13) etwa sei schon vor zwei Wochen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Er sei im Keller in einem Zimmer isoliert worden. Er habe, wie auch zwei Familien, nach draussen auf eine Toitoi-Toilette müssen – obwohl es im Bereich, wo die Corona-positiven Menschen isoliert wurden, Toiletten gebe. Erst auf Frakhondehs Intervention hin hätten sie wieder die WCs drinnen benutzen dürfen.

Er und der Rest der Familie mussten sich in ihrem Zimmer in Quarantäne begeben. Erst habe es geheissen, dass sie die Duschen nicht mehr benutzen dürften. Dann, «nach langer Diskussion», wie Frakhondeh sagt, sei ihnen erlaubt worden, die Duschen nach 22 Uhr oder vor 6 Uhr zu benutzen. Es waren dieselben Duschen, die auch diejenigen nutzten, die nicht in Quarantäne waren.

Das Essen haben ihnen Bekannte und Freunde gebracht. «Doch was», fragte Frakhondeh, «wenn jemand niemanden findet, die oder der Essen bringt?» Von den Mitarbeitenden habe es geheissen: Die ORS sei dafür nicht zuständig.

Erster Fall bereits im Oktober

Es sei fraglich, ob man in einem solchen Zentrum überhaupt knapp 100 Personen Corona-konform unterbringen könne, sagt eine Person, die mit den Arbeitsprozessen im Zentrum Aarwangen vertraut ist. «Die Menschen kommen sich sehr nahe. Natürlich stecken sie sich an.»

Ein ehemaliger ORS-Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte, sagt: «Es war schon lange klar, dass die Gefahr von Ansteckungen besteht. Trotzdem waren wir im Zentrum überhaupt nicht vorbereitet.»

Konkret zeigt sich das an den ersten Ansteckungen im Oktober 2020. Nach ihrem positiven Test wurde eine Frau isoliert, ihre fünf Familienmitglieder aber erst am nächsten Tag. Als sie ihr Zimmer verlassen mussten, konnten sie nur Matratzen und Decken mitnehmen – für Kleider und sonstige Gegenstände blieb keine Zeit.

Am dritten Tag nach dem positiven Entscheid wurde die ganze Familie zum Test angemeldet, am fünften stand fest, dass weitere drei Familienmitglieder positiv waren. Weil die Betroffenen isoliert waren und kein Essen erhielten, musste sie letztlich selbst nach Langenthal einkaufen gehen. «Sie mussten ja irgendwie überleben», sagt der ehemalige Mitarbeiter.

Teilweise hätten sie gar ohne Schutz aus dem Haus gehen müssen. Zu diesem Zeitpunkt sei die Maskenausgabe durch die ORS streng limitiert gewesen; die Bewohnenden hätten nur knapp jede Woche eine chirurgische Maske erhalten. Zur Erinnerung: Nach offizieller Empfehlung des BAG sollten Hygienemasken ungefähr alle zwei Stunden ersetzt und kein zweites Mal getragen werden. Als der Kanton dann Schutzmittel lieferte, verbesserte sich die Situation – heute gibt es pro Tag zwei Masken. Hätten also die Menschen, die von acht Franken Nothilfe am Tag leben, bis dahin selber Masken kaufen sollen?

Obschon einzeln angefragt, koordinieren das zuständige Amt für Bevölkerungsdienste (Abev) und die ORS ihre Antworten. Der Kanton schreibt: «Hygienemasken stehen in ausreichenden Mengen zur Verfügung und werden bedarfsgerecht und auf Verlangen abgegeben.» Die Verpflegung der von Isolations- oder Quarantänemassnahmen betroffenen Personen sei in in jedem Fall sichergestellt. Die Aussagen der Bewohnenden und des ehemaligen Mitarbeiters seien daher falsch.

Frühe Warnungen

Für Saeed Frakhondeh bleibt es unverständlich, dass die positiv Getesteten von der ORS keine Unterstützung erhielten. «Erst als es richtig schlimm wurde und viele Leute Corona bekamen, haben sie sich ein wenig gekümmert», sagt er.

Der ehemalige Mitarbeiter bestätigt das. Mehrere Personen hätten früh gewarnt, doch die Zentrumsleitung habe die drohende Gefahr ignoriert. «Sie liessen die Situation eskalieren, bis der Kanton eingreifen und zahlen musste», sagt er. Dass der Kanton Bern die durch die Essenslieferung entstehenden Mehrkosten übernimmt, bestätigt das Amt für Bevölkerungsdienste auf Nachfrage. Man habe aber jederzeit die Isolations- und Quarantänemassnahmen sowie die Regeln betreffend Abstand und Hygiene umgesetzt.

So eskaliert die Corona-Situation – die Mehrkosten tragen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, und am Donnerstag weigerte sich die ORS, den Bewohnenden ihre acht Franken Nothilfe auszuzahlen. Nach Protesten von ihnen hiess es, sie würden am Freitag vier Franken erhalten. Dazu schreibt das Abev: «Da die Bewohnerinnen und Bewohner während der Dauer der Essenslieferungen keine Lebensmittel beschaffen können und müssen, wird der Auszahlungsbetrag während dieser Zeit um die Hälfte gekürzt.»

Dagegen wehrt sich Saeed Frakhondeh. «Das Geld ist nicht nur fürs Essen», sagt der junge Iraner. «Damit zahlen wir auch kleinere Rechnungen, Internetkosten oder Kleidung.» Am Freitagabend hätten sie die Hälfte des Betrags schliesslich bekommen: 28 Franken für sieben Tage.
(https://www.bernerzeitung.ch/neue-vorwuerfe-an-betreiberin-nach-massivem-corona-ausbruch-622541895066)


+++ST. GALLEN
tagblatt.ch 30.01.2021

«Der Mensch steht im Vordergrund»: Die neue Leiterin des Asylzentrums Thurhof in Oberbüren im Gespräch

Gerade einmal seit einem Monat war Stefanie Schmid Leiterin des Asylzentrums, als siebzehn Bewohner und drei Mitarbeiter sich mit Covid-19 infizierten.

Enrico Kampmann

Stefanie Schmid ist seit September vergangenen Jahres die neue Leiterin des Asylzentrums Thurhof in Oberbüren. Die heute 38-Jährige fing dort vor acht Jahren als Köchin an und arbeitete sich stetig nach oben. Nur wenige Wochen nach ihrem Antritt als Leiterin des Zentrums brach dort das Coronavirus aus.

Im September 2020 übernahmen Sie die Leitung des Asylzentrums Thurhof, Mitte Oktober brach das Virus bei Ihnen aus. Was für eine Feuertaufe. Wie haben Sie reagiert?

Stefanie Schmid: Als die ersten positiven Tests vorlagen, wurde der Thurhof unter Quarantäne gestellt und von Sicherheitsmitarbeitern abgesperrt. Die Bewohner durften nicht mehr raus und keine Besucher mehr rein. Es war eine grosse Herausforderung, innerhalb weniger Minuten so schwerwiegende Entscheidungen treffen zu müssen, und manchmal schwierig, den Bewohnern über die Sprachbarriere hinweg die Situation zu erklären.

Gab es Probleme?

Glücklicherweise hatten wir bereits im März, als alles losging, intern ein Team geschaffen, das sich mit Corona auseinandergesetzt und entsprechende Pandemiepläne erarbeitet hat. So waren wir, als im Oktober der Ernstfall eintraf, recht gut vorbereitet.

17 Bewohnerinnen und Bewohner und drei Mitarbeiter haben sich infiziert. Gab es auch schwere Verläufe?

Nein, zum Glück nicht. Wir hatten bereits im März Bewohner, die zu Hochrisikogruppe gehören, in einer von uns betreuten Wohnung in St.Gallen untergebracht, um sie besser zu schützen.

Welche Massnahmen werden im Thurhof getroffen, um das Virus in Schach zu halten?

Ausser auf den Zimmern herrscht überall Maskenpflicht. Die Personenanzahl bei jeglichen Aktivitäten wie Schule oder in den Beschäftigungsprogrammen ist auf maximal fünf reduziert und gewisse Sachen mussten wir ganz einstellen, wie zum Beispiel Sport. Das macht es nicht einfacher, Fussball ist unter den Bewohnern sehr beliebt. Es herrscht zudem ein Besuchsverbot und die bewilligten Absenzen am Wochenende sind gestrichen. Normalerweise ist es den Bewohnern erlaubt, am Wochenende auswärts zu übernachten.

Sorgt das für Unmut?

Die fehlenden bewilligten Absenzen machen einigen Bewohnern sehr zu schaffen, gerade denjenigen, die Familienangehörige in der Schweiz haben. Im November kam zum Beispiel eine Mutter mit Kindern aus Afghanistan bei uns an. Der Ehemann lebt schon länger in der Gemeinde, doch seine Familie darf ihn nicht besuchen und er sie auch nicht. Er kommt manchmal vorbei, um Essen und anderes für sie vorbeizubringen. Er übergibt uns die Sachen und seine Ehefrau nimmt sie danach entgegen. Am Wochenende dürfen sie sich während des Tages ausserhalb des Geländes sehen, aber bei ihm übernachten kann die Familie nicht.

Ist die Lage wegen Corona angespannter als sonst?

Nein, die Stimmung ist erstaunlich gut. Allgemein ist die Lage in den kälteren Monaten immer etwas angespannter, weil die Leute nicht raus können. Und natürlich sind sie auch coronamüde. Wir würden uns alle über Lockerungen freuen. Doch es ist sehr viel Verständnis von Seiten der Bewohner vorhanden.

In den Bundesasylzentren herrscht wegen Corona momentan akuter Platzmangel. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Momentan sind nur 63 der 120 verfügbaren Plätze belegt. So können wir die Leute gut aufteilen und es teilen sich nie mehr als zwei bis drei ein Zimmer. Natürlich gibt es etwas weniger Ausweichmöglichkeiten, aber wegen der geringen Auslastung sitzen die Menschen wenigstens nicht zu sehr aufeinander.

Sie arbeiteten vor der Übernahme der Leitung bereits 8 Jahre im Thurhof. Wie sind sie hier gelandet?

Ich bin gelernte Köchin und habe 2012 als Programmleiterin in der Küche angefangen. Dann habe ich mehrere Weiterbildungen im Führungsbereich gemacht und als 2015 eine Stelle in der Teamleitung frei wurde, durfte ich diese übernehmen. So bin ich immer weiter hochgerutscht und habe jede Abteilung hier einmal geleitet, von der Küche bis zur Nachtwache. Ich kenne den Betrieb wie meine Hosentasche.

Sie haben keine Ausbildung im sozialen Bereich?

Nicht im eigentlichen Sinne. Ich habe ein Certificate of Advanced Studies (CAS) in Leadership und Führung im Sozial- und Gesundheitswesen von der Ostschweizer Fachhochschule gemacht. Und während der acht Jahre hier habe ich viel von der Leitung mitbekommen und hatte zudem immer grosse Unterstützung vom Migrationsamt.

Was bewegte Sie als gelernte Köchin dazu, ins Asylwesen zu wechseln?

Meine Motivation war es, mit Menschen zu arbeiten. Klar hat man Budgetvorgaben – und nicht wahnsinnig hohe – und vielerlei Einschränkungen in dem, was man tun darf. Aber am Ende kann ich die Leute hier ein Stück weit in ihrem Leben begleiten und im Rahmen meiner Möglichkeiten schauen, dass es ihnen gut geht. Der Mensch steht hier im Vordergrund.

Ist es manchmal schwierig für Sie, wenn Bewohner nach einem langen Aufenthalt bei Ihnen keine Aufenthaltsbewilligung bekommen und gehen müssen?

Ja, am Anfang war das sehr belastend für mich. Manche Bewohner wachsen einem ans Herz. Und man weiss, dass es oft gefährlich ist, wo sie herkommen oder, dass sie keine Perspektiven haben. Einige Familien sind nach dem negativen Entscheid untergetaucht, vor Angst, in ihr Herkunftsland zurück zu müssen. Aber mit der Zeit bekommt man eine dickere Haut. Ich tue, was in meinen Möglichkeiten steht, mehr kann ich nicht. Es ist wichtig, dass einem das bewusst ist, wenn man an einem solchen Ort arbeitet.

Wo gibt es im Asylwesen noch Handlungsbedarf?

Das liegt nicht in meiner Kompetenz.

Und wenn es in Ihrer Kompetenz läge?

Bei der Aufenthaltsdauer der Menschen. Seit zwei Jahren sind wir ein Zentrum mit Integrationscharakter. Die Leute sind maximal sechs Monate bei uns, während sie darauf warten, dass über ihren Asylantrag entschieden wird. Das reicht nicht immer, um Personen mit einem Bleiberechtsentscheid so auf ein Leben in der Gemeinde und die Integration in unsere Gesellschaft vorzubereiten, wie ich es mir wünschen würde.

Was ist dabei das Problem?

Das A und O ist die Sprache. Hier haben sie täglich Unterricht, aber wenn sie einmal aus dem Zentrum ausgetreten sind, ist die Gemeinde zuständig. Zudem sind die interkulturellen Anpassungen auch bei der vorwiegend grossen Integrationsbereitschaft der Bewohnenden sehr herausfordernd und benötigen Schulung und Zeit.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wil/der-mensch-steht-hier-im-vordergrund-die-neue-leiterin-des-asylzentrums-thurhof-in-oberbueren-im-gespraech-ld.2091149)


+++SCHWEIZ
nzz.ch 30.01.2021

Strenge SVP, milde SP: Beim Asylrecht entscheiden Richter politisch

Bisher wurde gemunkelt, jetzt zeigt eine Studie: In den Asylabteilungen des Bundesverwaltungsgerichts entscheiden Richterinnen und Richter mitunter parteipolitisch. Das Resultat ist brisant.

Kathrin Alder

Urteilen sie politisch oder nicht? Bis jetzt waren Berichte über Richterinnen und Richter, die das Parteibuch zuweilen über das Recht stellen, eher anekdotischer Natur. Man hörte sie von Eingeweihten, allen voran von betroffenen Anwälten. Doch nun liegt erstmals eine rechtswissenschaftliche Studie vor, die belastbare Zahlen liefert – und die zu ähnlichen Schlüssen kommt wie eine Datenrecherche des «Tages-Anzeiger» aus dem Jahr 2016. Sie zeigt, dass die Parteizugehörigkeit bei der Rechtsprechung sehr wohl eine Rolle spielt, zumindest in den beiden Asylabteilungen des Bundesverwaltungsgerichts. Der mildeste Richter heisst dort Beschwerden dreimal so häufig gut wie die strengste Richterin, wobei die politische Gesinnung der Richter «messbar entscheidrelevant» ist. Ein Fazit der Studie lautet: «Im Vergleich zu SVP- und FDP-Richtern und Richterinnen heissen SP-Richter und -Richterinnen Asylbeschwerden etwa doppelt so häufig gut.»

Das wirft Fragen auf. In jüngster Zeit wurde vermehrt über die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern diskutiert, sei es wegen der Justiz-Initiative oder im Nachgang zur Aktion der SVP, die ihrem Bundesrichter Yves Donzallaz vergangenen Herbst die Wiederwahl verweigerte, weil er zu wenig «auf Linie» urteile. Die Schweiz wird im Ausland zudem regelmässig dafür kritisiert, dass (die höchsten) Richterinnen und Richter in der Regel einer Partei angehören und zur Wiederwahl im Parlament antraben müssen – am lautesten von der Staatengruppe des Europarats gegen Korruption (Greco). Der Europarat setzt sich schon lange für eine umfassende Entpolitisierung der Justiz ein.

Vor diesem Hintergrund ist die Studie zur richterlichen Unabhängigkeit Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Publiziert wurde sie in der aktuellen Ausgabe des «Schweizerischen Zentralblatts für Staats- und Verwaltungsrecht», verfasst hat sie Gabriel Gertsch. Der Jurist hat am Center for Law and Economics an der ETH Zürich kürzlich eine Dissertation zum Thema eingereicht. Während der Zusammenhang von Justiz und Politik etwa in den USA relativ breit erforscht und empirisch belegt sei, gebe es in der Schweiz kaum quantitative Studien zur Bedeutung der politischen Überzeugung in der Rechtsprechung. Die einzige Studie, die er gefunden habe, sei ein Arbeitspapier der beiden Professoren Dominik Hangartner und Benjamin Lauderdale sowie der Dozentin Judith Spirig.

Berichten die Zeitungen, werden die Richter strenger

Die drei untersuchten sämtliche Asylentscheide des Bundesverwaltungsgerichts, die zwischen 2007 und 2015 ergangen sind. Auch ihre Studie weist einen «statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Parteizugehörigkeit und dem Urteilsausgang» nach: Während SVP-Richterinnen durchschnittlich 5 Prozent aller Beschwerden gutheissen, sind es bei Richtern der SP und der Grünen 20 Prozent. Doch nicht nur der politische Druck beeinflusst die Rechtsprechung. Auch die mediale Berichterstattung geht nicht spurlos an den Asylrichterinnen und -richtern vorbei. So zeigt Judith Spirig in einer anderen Studie auf, dass diese weniger Beschwerden gutheissen, wenn Zeitungen besonders viel zum Thema Asyl publizieren – und zwar unabhängig davon, welcher Partei sie angehören.

Gabriel Gertsch interessierte sich indes nicht nur für den Bereich Asylrecht. Er wollte wissen, ob die Parteizugehörigkeit auch in anderen, politisch ähnlich aufgeladenen Rechtsbereichen eine Rolle spielt, namentlich im Ausländer- und im Sozialversicherungsrecht. Während er im Bereich Asylrecht einzig die Entscheide aus dem Jahr 2007 berücksichtigt hat, da ab 2008 das vereinfachte Verfahren eingeführt wurde, ist der Datensatz in den Bereichen Ausländer- und Sozialversicherungsrecht breiter. Er umfasst Entscheide aus den Jahren 2007 bis 2019.

Erstaunlicherweise kam Gertsch in diesen Bereichen zu anderen Schlüssen als im Asylrecht. Zwar heissen auch im Sozialversicherungsrecht die mildesten Richter die Beschwerden doppelt so häufig gut wie die strengsten. Doch lässt sich dies nicht auf die Parteizugehörigkeit zurückführen. Mit anderen Worten: Die Richterinnen und Richter urteilen im Sozialversicherungsrecht zwar unterschiedlich streng, aber – anders als im Asylbereich – nicht parteipolitisch. Im Ausländerrecht konnte Gertsch keine «statistisch signifikanten Unterschiede» ausmachen.

Politische Überzeugungstäter in den Asylabteilungen

Gertsch hält fest, dass in den Bereichen Asyl- und Sozialversicherungsrecht lediglich 4 Prozent der Urteile anders ausfielen als wenn alle Richter und Richterinnen gleich urteilten. Trotzdem gilt für den Asylbereich am Bundesverwaltungsgericht: Es gibt Fälle, die unterschiedlich beurteilt werden, und die Parteizugehörigkeit spielt dabei eine Rolle. Dies tangiert in mehrerer Hinsicht die Verfassung. Betroffen sind etwa die Grundrechte auf ein «unabhängiges und unparteiisches Gericht» oder auf «gleiche und gerechte Behandlung» vor Gericht, aber auch der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit sowie das Rechtsgleichheitsgebot. Gleiche Sachverhalte müssen schliesslich gleich entschieden werden.

Natürlich ist das Asylrecht hochgradig «verpolitisiert». Seit 2007 traten drei Revisionen des Asylgesetzes in Kraft, über alle wurde zuvor abgestimmt. Das Thema ist ein Dauerbrenner, in Bundesbern wie in den Medien. Gertsch sieht in seiner Studie aber noch andere mögliche Erklärungen für die Häufung politischer Urteile im Asylbereich. Während Entscheide in den Bereichen Ausländer- und Sozialversicherungsrecht an das Bundesgericht weitergezogen werden können, urteilt das Bundesverwaltungsgericht im Asylrecht in letzter Instanz. Die Gefahr einer Kassation und damit einer kritischen Überprüfung besteht also nicht. Dazu passt die Beobachtung, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsgebieten möglicherweise auch auf eine «richterliche Selbstselektion» zurückzuführen seien. Konkret: Die Parteien achten beim Asylrecht stärker als in anderen Rechtsbereichen darauf, politische Überzeugungstäter als Richterkandidatinnen und -kandidaten aufzustellen. Schliesslich ist auch der Sachverhalt von Asylfällen oft wenig eindeutig, und das Gericht muss aufgrund von Indizien entscheiden, ob jemand seine Flüchtlingseigenschaft glaubhaft machen kann. Das gibt den Richterinnen und Richtern Spielraum.

Bundesverwaltungsgericht sieht keinen Handlungsbedarf

So oder so: Steht das Verdikt einer politischen Rechtsprechung erst einmal im Raum, geraten die Richtergremien in den Fokus. Umso wichtiger wäre es, dass diese ausgewogen zusammengesetzt sind. Doch bei der Bildung des so genannten Spruchkörpers hapert es beim Bundesverwaltungsgericht, wie die SRF-Sendung «Rundschau» berichtete. Grundsätzlich urteilt das Gericht in Dreierbesetzung, der computergesteuerte Zufallsgenerator «Bandlimat» bestimmt den Spruchkörper – benannt ist er nach dem Gerichtspräsidenten, der das Programm einst einführte. Gemäss «Rundschau» generiert dieser aber oft Spruchkörper, in denen Richter derselben Partei sitzen. Dies deckt sich mit den Resultaten von Gertsch: Im Jahr 2007 war in 42,4 Prozent aller Asylfälle eine Partei in der Mehrheit. In 1,8 Prozent stammten gar alle drei Richterinnen aus derselben Partei.

«Das entspricht nicht dem Grundgedanken, wonach die Justiz politisch ausgewogen zusammengesetzt sein soll», sagt Benjamin Schindler, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen, auf Anfrage. «Bei den Richterwahlen achtet man pedantisch darauf, dass auch die politische Zusammensetzung stimmt. Bei den Spruchkörpern ist diese aber nicht mehr relevant. Das geht für mich nicht zusammen.» Auch Gertsch ortet Handlungsbedarf bei der Zusammensetzung der Spruchkörper. Er schlägt vor, den «Bandlimat» so umzuprogrammieren, dass er künftig politisch ausgewogene Spruchkörper generiert. Oder aber den Spruchkörper gestaffelt zu bestimmen. Dies würde die Möglichkeit des Instruktionsrichters schmälern, seinen Urteilsentwurf auf die beiden übrigen Richterinnen abzustimmen. Generell erachtet es Gertsch als wünschenswert, dass Gerichte die Kriterien der Spruchkörperbildung in öffentlich zugänglichen Reglementen definieren müssen.

Das Bundesverwaltungsgericht teilt auf Anfrage mit, die Richterinnen und Richter übten ihr Amt unabhängig aus. «Sie wenden Verfassung und Gesetz an und sind an die koordinierte Rechtsprechung gebunden», schreibt der Medienbeauftragte Rocco R. Maglio. Die Richterinnen und Richter seien unabhängig und einzig dem Recht verpflichtet. Deshalb sei die Parteizugehörigkeit auch nicht im «Bandlimat» hinterlegt. Gestützt auf die Erfahrung der letzten 14 Jahre, in denen knapp 110 000 Fälle erledigt worden seien, sehe man bis anhin keinen Handlungsbedarf, die Parteizugehörigkeit bei der Spruchkörperbildung zu berücksichtigen – weder für das gesamte Gericht noch für einzelne Rechtsgebiete.
(https://www.nzz.ch/schweiz/beim-asylrecht-entscheiden-richter-politisch-ld.1598889)



nzz.ch 30.01.2021

Kommentar: Ein Gericht ist kein Glücksrad

Asylrichterinnen und Asylrichter am Bundesverwaltungsgericht entscheiden mitunter politisch. Besonders fatal ist dies, weil auch die Richtergremien oft unausgewogen sind. Das muss sich ändern.

Kathrin Alder

Richterinnen und Richter sehen sich gerne als Justitia: immun gegen jegliche Einflussnahme, auch gegen politische. Und sie verdeutlichen es, indem sie die Verfassung zitieren und auf den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verweisen: In ihrer Tätigkeit seien sie einzig dem Recht verpflichtet. Dass es auch eine Garantie für einen verfassungsmässigen Richter gibt, lassen sie meist unerwähnt. In der Verfassung steht nämlich auch, dass jede Person einen «Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht» hat. Dass man es mit diesem Grundsatz jedoch nicht immer so genau nimmt, verdeutlicht eine kürzlich publizierte wissenschaftliche Studie.

So wird am Bundesverwaltungsgericht in den Bereichen Sozialversicherungsrecht und Asylrecht unterschiedlich streng geurteilt. Besonders brisant: Im Asylrecht spielt dabei die parteipolitische Gesinnung eine Rolle. Besteht das Richtergremium – also der Spruchkörper – mehrheitlich aus SP-Richtern, ist die Chance, dass eine Asylbeschwerde gutgeheissen wird, doppelt so hoch, wie wenn das Gremium von SVP- oder FDP-Richterinnen beherrscht wird. Dass eine Partei den Spruchkörper dominiert, kommt relativ häufig vor.

Auch wenn die Zahl der Entscheide relativ klein ist, bei denen Richterinnen und Richter einen anderen Massstab anlegen: Jeder politische Richterspruch ist einer zu viel. Nur schon der Anschein von Befangenheit schadet einem Gericht, erst recht einem eidgenössischen. Gerichte ziehen ihre Legitimität daraus, dass man ihnen vertraut. Die Bevölkerung muss davon ausgehen können, dass jeder und jede vor Gericht gleich behandelt wird. Dass gleiche Sachverhalte gleich beurteilt werden. Und dass Parteipolitik nicht relevant ist.

In der Schweiz gehören die höchsten Richterinnen und Richter in aller Regel einer Partei an, gewählt werden sie von der Vereinigten Bundesversammlung. Das Parlament bemüht sich darum, die politischen Verhältnisse auch an den Gerichten abzubilden. Es wird Rücksicht genommen auf den Parteienproporz. Man kann dieses System gut finden oder kritisieren: Solange es besteht, muss dafür gesorgt werden, dass auch die Spruchkörper ausgewogen zusammengesetzt sind. Es kann nicht sein, dass bei Richterwahlen peinlich genau auf den Parteienproporz geachtet wird, die politische Ausgewogenheit bei der Rechtsprechung aber keine Rolle mehr spielt.

Die Bildung des Spruchkörpers ist Sache der Rechtsprechung, wobei die Praxis der Gerichte in der Schweiz sehr unterschiedlich ist. Auch im Vergleich zu Österreich oder Deutschland geht die Schweiz relativ locker um mit der Zusammenstellung der Richtergremien. Es gibt wohl einige Vorgaben des Bundesgerichts, abgeleitet aus der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Einheitliche Regeln bestehen jedoch nicht. Das Bundesverwaltungsgericht verwendet für die Bildung des Spruchkörpers den sogenannten «Bandlimat», ein computergesteuerter Zufallsgenerator. Doch wie sich nun zeigt, garantiert dieses Programm nicht automatisch auch politische Ausgewogenheit.

Das muss sich ändern. Der Studienautor schlägt vor, den «Bandlimat» so umzuprogrammieren, dass er künftig ausgewogene Spruchkörper generiert oder diese gestaffelt bestimmt. Zudem sollen die Kriterien, nach denen ein Richtergremium gebildet wird, transparenter gemacht werden. Man könnte gar noch weiter gehen und dafür sorgen, dass die Bildung der Spruchkörper regelmässig kontrolliert wird – gerichtsintern, aber von jemandem ausserhalb der jeweils betroffenen Abteilung etwa. Auf jeden Fall muss der Vorgang jederzeit nachvollziehbar und überprüfbar sein.

Es ist nun am Bundesverwaltungsgericht, diese Ideen ernsthaft zu prüfen. Es darf nicht sein, dass der Gang ans Gericht für Asylsuchende einem Dreh am Glücksrad gleichkommt.
(https://www.nzz.ch/meinung/asylrichter-entscheiden-politisch-ein-gericht-ist-kein-gluecksrad-ld.1599049)


+++BALKANROUTE
Flüchtlingslager Bosnien: Miserable Zustände – trotz Hilfsgelder – Tagesschau
Migranten und Flüchtlinge leben seit dem Brand im nordbosnischen Lager Lipa bei bitterer Kälte in Wäldern und Ruinen. Wohin flossen die 90 Millionen Euro Hilfsgelder der Europäischen Union?
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/fluechtlingslager-bosnien-miserable-zustaende—trotz-hilfsgelder?urn=urn:srf:video:d6949818-8f7e-40c0-9ef4-1b03bfd44d2d


+++GRIECHENLAND
Wenn Abschreckung selbst zum Fluchtgrund wird
Oberverwaltungsgericht NRW untersagt vorerst Abschiebung von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten: Dort würden “elementarste Bedürfnisse” nicht erfüllt
https://www.heise.de/tp/features/Wenn-Abschreckung-selbst-zum-Fluchtgrund-wird-5041314.html


+++FREIRÄUME
«Familie Eichwäldli» demonstriert für ihr Bleiberecht
https://www.tele1.ch/nachrichten/familie-eichwaeldli-demonstriert-fuer-ihr-bleiberecht-140793546
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/eichwaeldli-luzerner-stadtrat-verlaengert-frist-fuer-auszug-aus-der-soldatenstube-ld.2091949
-> https://www.zentralplus.ch/eichwaeldli-bleibt-300-demonstranten-trotzen-dem-regen-1998977/
-> https://barrikade.info/article/4146
-> https://resolut.noblogs.org/post/2021/01/19/demo-eichwaeldli-bleibt/


+++GASSE
Jugendarbeit: «Für viele Jugendliche fällt das zweite Wohnzimmer weg»
Die Jugendtreffs in der Stadt Basel sind zu. Im Baselbiet hingegen sind sie weiterhin offen. Wie kann das sein?
https://telebasel.ch/2021/01/30/fuer-viele-jugendliche-faellt-das-zweite-wohnzimmer-weg


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Aux interpellé.e.x.s de la Critical Mass – Conseils Antirep
En mai, la Critical Mass avait été empêchée par la police. En juin, 23 interpellations étaient effectuées. En juillet, au moins 9 interpellations ont été effectuées par les flics. Ce vendredi, le 29 janvier 2021, la première Critical Mass de l’année a elle aussi été victime de la répression. Voici quelques conseils antirep pour organiser une défense collective.
https://renverse.co/infos-locales/article/aux-interpelle-e-x-s-de-la-critical-mass-du-31-juillet-2020-conseils-antirep-2719


+++REPRESSION DE
Der niedersächsische Innenminister will ein Verbot von Antifa-Gruppen prüfen
Sozialdemokratische Anti-Antifa
Nach Anschlägen auf zwei Landesaufnahmebehörden in Braunschweig und Hannover will der niedersächsische Innenminister ein Verbot von Antifa-Gruppen zu prüfen.
https://jungle.world/artikel/2021/04/sozialdemokratische-anti-antifa


BARRIKADE // Der erste Trailer
Über ein Jahr lang war der Dannenröder Forst von Umweltaktivist.innen besetzt, um den Ausbau der A49 Trasse zu verhindern. Am 08.12.2020 wurde das letzte Baumhaus geräumt und die Rodung des Abschnittes beendet. Was hat die Menschen bewegt, z.T. ihr Leben für die Verkehrswende zu riskieren und wie wird ihr Kampf weitergehen? BARRIKADE begleitet Aktivist.innen ein halbes Jahr lang durch die Besetzung und zeigt ihre gelebte Vision einer Utopie.
https://vimeo.com/488595036


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Corona-Skeptiker in Zürich: Hunderte Personen ohne Maske an Demo – mehrere Festnahmen
Corona-Skeptiker haben sich in Zürich zu einem «Spaziergang» versammelt. Es ist zu mehreren Festnahmen gekommen.
https://www.20min.ch/story/hunderte-personen-ohne-maske-an-demo-mehrere-festnahmen-832565868017
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/corona-demo-mit-mehreren-hundert-teilnehmern-in-zurich-65862252
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/mehrere-verhaftungen-corona-demo-in-zuerich-mit-mehreren-hundert-teilnehmern-id16320742.html
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/stadt-zuerich-mehrere-hundert-personen-ohne-maske-an-demonstration-00150650/
-> https://twitter.com/__investigate__



tagesanzeiger.ch 30.01.2021

Illegale Demonstration in ZürichPolizei verhaftet Lockdown-Gegner

Einige Hundert Personen gehen am Samstagnachmittag unter dem Motto «Schluss mit Lockdown» auf die Strasse. Obwohl alles friedlich blieb, kam es zu mehreren Verhaftungen.

Thomas Zemp

Kurz bevor sich die Lockdown-Gegner und Corona-Skeptiker um 13 Uhr bei der Münsterbrücke im Kreis 1 formieren wollen, fährt ein weisser Kastenwagen der Polizei vor. Per Lautsprechern ertönt die Warnung: «Das ist eine unbewilligte Demonstration. Sie müssen mit Personenkontrollen rechnen.» Es müssten alle eine Maske tragen und es dürften sich auch nicht mehr als zehn Personen versammeln, heisst es weiter.

Sogleich kommen die ersten Rufe: «Losmarschieren! Losmarschieren!»

Als sich der Umzug trotz Warnung in Bewegung setzt, strömen plötzlich immer mehr Menschen hinzu. Sie hatten im Trockenen beim Eingang des Stadthauses oder im Kreuzgang der Fraumünster-Kirche gewartet. Junge Erwachsene sind ebenso dabei wie Seniorinnen und Senioren. Einige Familien mit Kindern im Primarschulalter gesellen sich auch dazu.

Keiner trägt eine Maske

Eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie tragen keine Schutzmaske. Doch auch kaum eine Tafel mit Parolen oder Slogans ist zu sehen. Aussenstehende erfahren deshalb nicht, warum so viele Menschen auf einmal durch die Stadt ziehen.

Weit kommt der Umzug allerdings nicht. Die Polizei hat das Ende der Münsterbrücke beim Helmhaus abgesperrt und lässt niemanden durch. Gleiches geschieht auf der anderen Brückenseite. Einzelne Verhaftungen an beiden Orten quittiert die Menge mit Rufen wie «Staatsterrorismus» oder «Nazibande».

Die meisten entziehen sich dem Zugriff durch die Polizei. Sie nehmen die Treppe hinunter zur Wühre, gehen zur Gemüsebrücke und gelangen so wie auf dem Demonstrationsaufruf vorgesehen ins Niederdorf. Doch die Polizei sperrt einige Gassen, die Menge splittert sich auf. Schliesslich treffen sich einige Dutzend wieder beim Helmhaus.

Polizei mit schwerer Schutzkleidung

Polizisten mit schwerer Schutzbekleidung und Tränengaspistolen in den Armen sorgen ohne Gewalt dafür, dass sich die Menschenmenge immer mehr auflöst. Im Vergleich zum vergangenen 1. Mai hält sich die Polizei sehr zurück bei diesem Einsatz.

Zu diesem «Spaziergang durch Zürich» hatten die Lockdown-Gegner vor allem auf internen Kanälen von Social Media aufgerufen worden. Ein Spaziergang sei nicht bewilligungspflichtig, hiess es auf den Flyern. Wie viele Personen schliesslich teilgenommen haben, ist schwer zu sagen, da sich dem Trupp immer mehr Menschen anschlossen. Es dürften einige Hundert gewesen sein.

Bei einer vergleichbaren Demonstration im August hatten sich über 1000 Menschen auf dem Helvetiaplatz zusammengefunden. In der darauffolgenden Nacht war es zu Scharmützeln gekommen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/polizei-verhaftet-lockdown-gegner-635840426283)



In der Echokammer
Diffus, kleinteilig und politisch verzettelt: Die Anti-Coronamassnahmen-Szene in St.Gallen ist seit Mai 2020 regelmässig aktiv, aber schwer zu überschauen. Versuch einer Auslegeordnung.
https://www.saiten.ch/in-der-echokammer/


Corona-Skeptiker widerlegt: Das steht wirklich im WHO-Schreiben über PCR-Tests
PCR-Tests sind nicht aussagekräftig und Corona-Infizierte ohne Symptome nicht ansteckend – das behaupten derzeit wieder einmal viele Corona-Skeptiker. Dabei stützen sie sich auf eine Mitteilung der Weltgesundheitsorganisation WHO, allerdings zu Unrecht.
https://www.20min.ch/story/das-steht-wirklich-im-who-schreiben-ueber-pcr-tests-438301236724


Mit geistiger Heilkraft gegen Corona: Das goldene Zeitalter der Esoteriker
Spirituelle Sucher flüchten in eine spirituelle Parallelwelt – und leugnen die Gefahren der Pandemie.
https://www.watson.ch/!648854702



nzz.ch 30.01.2021

Gansers Jünger

Lange bevor Corona-Leugner durch die Strassen zogen, säte Daniele Ganser Zweifel an den «Mainstream-Medien» und fand damit nicht nur unter klassischen Verschwörungstheoretikern Anklang. Eine Reise durch das Universum seiner Fans im Jahr der Pandemie.

Ruth Fulterer, Text; Cornelia Gann, Illustrationen

Im vergangenen Frühling waren sie plötzlich überall, füllten Plätze und Strassen, sprachen von Bevormundung, Lügen und unterdrückten Bürgerrechten: die «Zweifler», die ihre eigenen Erklärungen für die Pandemie finden und sich auf alternativen Kanälen informieren. Es erstaunte, wie zahlreich sie waren. Wie unterschiedlich. Und wie schlagkräftig. Zeitweise kaperten sie den öffentlichen Diskurs.

Die Anti-Corona-Bewegung konnte so schnell so laut werden, weil sie im Kern nicht neu ist. Sie wuchs nur lange Zeit im Stillen, genährt von eigenen Experten, die ihr Publikum gegen den «Mainstream» einschworen. Einer der bekanntesten unter ihnen ist Daniele Ganser, Schweizer Historiker, bekannt auch in Deutschland und Österreich. Sein Buch «Imperium USA» war nach der Veröffentlichung im April des vergangenen Jahres wochenlang das meistverkaufte Sachbuch im deutschsprachigen Raum.

Ganser war lange Zeit ein renommierter Friedensforscher. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt, als er behauptete: Die amerikanische Regierung hatte selbst mit den Attentaten vom 11. September zu tun. Seither schrieb er weitere Bücher über Ressourcenkriege und Geheimdienste. Ständiger Subtext: Die Bevölkerung wird manipuliert.

Ganser scharte so eine beachtliche Gefolgschaft um sich. Er verkauft nicht nur Bücher, sondern tourt mit Vorträgen durch Deutschland, die Schweiz und Österreich. Was bewegt jene, die ihm zuhören? Eine Reise durch das Universum der Ganser-Fans im Corona-Jahr.

1. Die Erwachten

Es ist Mitte Februar, und Menschen dürfen sich noch in Mengen drängen. Das tun sie bei den Wohlfühltagen in Luzern. Weniger bei den Ständen für Lichttherapie und Granderwasser, mehr bei Gansers Vortrag «Warum Achtsamkeit wichtig ist, wenn man Kriegslügen aufdeckt». Das Thema ist nicht gerade lebensnah, trotzdem müssen Extrastühle in den Vortragssaal der Messehallen gebracht werden. Mein Sitznachbar fragt mich, ob auch ich eine «Erwachte» sei.

Neunzig Minuten lang staunt, lacht und empört sich das Publikum mit Ganser, der einen Bogen spannt von Galileo Galilei, der verfolgt wurde, weil er die Wahrheit über die Sonne und die Erde sagte, bis zu ihm, Ganser, und der Unterdrückung seiner Forschung.

Ganser sagt: «Das Prinzip der Kriegspropaganda ist es, bei einem Menschen die Erinnerung daran auszulöschen, dass der andere zur Menschheitsfamilie gehört. 9/11 war das extremste Beispiel, aber es war immer so.»

Hinter Ganser erscheinen an der Wand Schlagzeilen der «Bild»-Zeitung: Biowaffen, Raketenbunker, der Irak.

Um sich gegen die Propagandamaschine zu wappnen, sei Training nötig: Ganser rät, den Blick weg von den Nachrichten und nach innen zu wenden. Er erklärt, was man tun kann, wenn einen Freunde wegen der eigenen Haltung kritisieren. Es sei ähnlich, wie wenn man kalt dusche: «Zuerst fühlt es sich schlecht an, aber dann wird man stärker. Man wird immun.»

Der Abend hat die Dynamik eines Rockkonzertes, die Fans können die Hits beinahe auswendig. Pointen braucht Ganser nur mehr anzudeuten. «Wikipedia, die ‹freie› Enzyklopädie.» Lachen im Saal. Alle hier wissen: Wikipedia ist einseitig, manipuliert. Beim Eintrag zu Daniele Ganser steht: «Er verbreitet Verschwörungstheorien.»

Nach dem Vortrag bildet sich vor dem Signiertisch eine Schlange. Ich versuche, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Aber wenn ich mich als Journalistin vorstelle, will keiner reden, weder trainierte Mittzwanziger noch ältere Ehepaare in Anoraks. Also verschweige ich es. Eine Frau in der Schlange raunt, neben ihr sei ein Journalist im Publikum gewesen. «Ah, woran haben Sie denn das erkannt?» – «Der hat so komisch geschaut. Und nicht mitgelacht.»

Ein paar Leute reden dann doch, auch nachdem ich erwähnt habe, dass ich Journalistin sei. Sie erzählen, dass sie Ganser schon oft auf Youtube gesehen hätten. «Tagesschau» schauten sie nicht mehr, damit die Propaganda sie nicht erreichen könne. Ein junger Mann, der sich als ehemaliger Soziologiestudent vorstellt, gibt mir seine Kontaktdaten und verspricht, am Telefon mehr zu erzählen. Sie alle eint: Sie glauben Ganser und seinen Thesen, obwohl kaum ein seriöser Wissenschafter diese teilt.

Oft drehen sich Verschwörungserzählungen um einschneidende Ereignisse: der Mord an John F. Kennedy, die Mondlandung, der 11. September. Die Welt wird kollektiv erschüttert, und innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen kann man etwas beobachten, was sich meist abseits der Aufmerksamkeit weiterentwickelt: Weltgeschichte.

Und dann soll da, hinter dieser einschneidenden Veränderung, einfach eine banale Ursache stehen? Ein Verrückter, Glück, ein paar Terroristen? Gar der Zufall? Kann das wirklich sein?

Wenige Wochen nach dem Vortrag von Ganser ruft die WHO die Pandemie aus. Es ist die Geburtsstunde einer ganzen Familie neuer Verschwörungstheorien. Auch viele von Gansers Jüngern werden ihnen glauben. Weil sie bei Ganser bereits eingestimmt wurden.

2. Der Anti-Amerikaner

Julian, der wie alle, die einverstanden waren, mit mir zu reden, in Wirklichkeit anders heisst, ist ein Arzt Anfang dreissig und der Freund eines Freundes von mir. Er kommt aus Deutschland und arbeitet in einem Krankenhaus in der Schweiz. Von den Fans, die ich treffen werde, ist er der einzige, der Ganser nicht nur von Youtube-Videos kennt, sondern seine Bücher tatsächlich gelesen hat. «Imperium USA», Gansers jüngstes Buch, hat Julian gleich bestellt, als es erschienen ist.

«Imperium USA» ist eingängig geschrieben. Aber auch einseitig: Es zeichnet ein Bild von den USA als Unrechtsstaat, der von Anfang an nur ausbeutete: die Indigenen, Südamerika, den Nahen Osten.

Vieles ist interessant, vieles ist belegt. Julian lobt immer wieder die Quellenarbeit. Das tun viele von Gansers Fans, weil seine Bücher und Vortragsfolien voller Fussnoten sind.

Leider wird gerade dort, wo der Inhalt misstrauisch stimmt, die Quellenlage dürftig. Zum Beispiel schreibt Ganser, die Regierung der USA sei über die Pearl-Harbor-Anschläge bereits im Vorfeld informiert gewesen, habe die dort stationierten Soldaten aber geopfert, um die amerikanische Bevölkerung gegen Japan aufzuhetzen.

Es ist eine bekannte Verschwörungstheorie. In Gansers Buch kommt sie scheinbar fundiert daher. Schliesslich behauptet er das nicht selber. Er stützt sich auf Quellen, ein, zwei Bücher. Er verschweigt, dass die meisten Historiker davon ausgehen, dass es sich für die Regierung nicht ausgezahlt hätte, einen so grossen Teil der Streitkräfte zu opfern, zumal die Mehrheit im Kongress sowieso hinter dem Präsidenten gestanden habe.

Oft folgt nach einer minuziösen Beschreibung seiner Variante eines historischen Ereignisses eine Relativierung à la «So könnte es auch gewesen sein». Julian findet Gansers Schreibstil wissenschaftlich. Auch zu 9/11 zeige Ganser nur die verschiedenen Theorien auf, sagt Julian, von «make it happen» bis «let it happen». Ganser stelle nur Fragen.

«Aber denkst du wirklich, dass es möglich wäre, dass so viele Leute zusammenarbeiten und Tausende Landsleute umbringen als Vorwand für einen Krieg?», frage ich.

«Ich traue es den Amis schon zu», sagt Julian. Amerikaner, das seien die, die nach einem Flug aufstünden, während das Flugzeug noch rolle, und in Südafrika respektlos mit schwarzen Kellnern umgingen. Julian findet sie schamlos. «Kann sein, dass mir Ganser deshalb gefällt», sagt er.

Ein Vortrag über Erdöl und Kriege hat ihn auf Ganser gebracht. Dieser habe eine ganz neue Perspektive auf die Weltgeschichte geboten, eine Alternative zur Erzählung, dass der Westen prinzipiell gut sei und die anderen böse. Gansers Buch «Illegale Kriege» las er mit Begeisterung. «Ganser ordnet die Dinge ein, zu denen die ‹Tagesschau› nur eine Momentaufnahme bietet. In der Schule hatte ich beim Nationalsozialismus das Gefühl, richtig verstanden zu haben, was da gesellschaftlich passiert ist. Aber wenn es um Iran geht oder um Ghadhafi, dann fehlte mir jeder Kontext.»

Als ich nachfrage, was ihn im Unterricht bei Ghadhafi und Iran gestört habe, weiss er es auch nicht mehr. Könnte er sich erinnern, hätte ich wohl wenig dagegenzuhalten. Dazu fehlt mir das Detailwissen.

Das Gespräch mit Julian gibt mir das Gefühl, dass er zuhören würde, wenn ich genug wüsste. Er hängt nicht an Ganser und ist durchaus bereit, sich kritischer mit ihm zu befassen.

Bisher hat er keinen Grund dafür gesehen. Auch nicht in dessen Umgang mit dem Coronavirus.

Dieses hat sich inzwischen in Europa ausgebreitet, mit ihm Eindämmungsmassnahmen und mit denen wiederum Verschwörungstheorien: Das Virus sei gar nicht gefährlich. Die Regierungen benutzten es, um die Bürger einzusperren. Aber Julian hat keine Zweifel an Existenz oder Gefährlichkeit des Virus, dafür landeten genug Opfer auf seinem Seziertisch im Krankenhaus.

Julian sagt: «Meines Wissens hat sich Ganser zum Virus nicht festgelegt.»

Tatsächlich sagte Ganser, als alternative Medien ihn im Frühling zum Coronavirus befragten, als Historiker wolle er sich erst einmal zurückhalten. Und warnte im nächsten Satz davor, abweichende Meinungen zu «diffamieren». Sophie Scholl, Luther und Galilei hätten auch keine Mehrheiten hinter sich gehabt.

3. Der Altlinke

Anton nennt sich einen «Internationalisten». Ich treffe ihn im August im Gastgarten eines Cafés in Bozen in Südtirol. Er ist ein zierlicher Mann mit buschigen Augenbrauen, ein pensionierter Lehrer – und er findet Ganser gut.

Er kennt Ganser von den Portalen alternativer Medien, die er regelmässig konsultiert, und von Gansers Videos.

Anton erzählt, schon in den 1970er Jahren habe er gegen die Kriege der USA demonstriert. Recht schnell folgt in seiner Argumentationskette auf die Lügen über Massenvernichtungswaffen im Irak die Mutmassung, Russland habe nichts mit dem Giftanschlag auf den Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter zu tun. «Das waren nur Vorwürfe, und es ist ja nichts herausgekommen», sagt Anton. In solchen Dingen traut er den «Standardmedien» nicht. Die NZZ sei da zum Beispiel «rein imperialistisch».

Mit Bekannten spricht er nicht so oft über diese Themen. Auch online interagiert er nicht. Aber er schaut Videos und liest viel. Was ihm interessant scheint, speichert er in einem eigenen Ordner ab.

Er schickt mir nach meinem Gespräch immer wieder Artikel aus alternativen Medien und Blogs. Als Alexei Nawalny vergiftet wird, erhalte ich von ihm per Whatsapp Links zu Artikeln, die behaupten, dass vor allem der Westen von Nawalnys Vergiftung profitieren würde. Man könne nicht wissen, was genau geschehen sei.

Über Nervengift wüssten auch westliche Geheimdienste Bescheid, da sei es «auffällig», dass alle Putin beschuldigten. Anton schreibt: «Ohne klare Beweise sind Mutmassungen günstig für den Wahlkampf – reiner Opportunismus, um der eigenen Seite einen Persilschein zu besorgen für die ‹deep questions›!»

Enttäuschte «Altlinke» wie Anton sind ein wichtiger Teil von Gansers Fan-Basis. Psychologen sagen, dass enttäuschtes politisches Engagement für Verschwörungstheorien empfänglicher machen könne: Wenn sich trotz so viel Einsatz nichts ändert, dann muss doch «etwas faul sein».

Die Corona-Pandemie nimmt Anton ernst. Umständlich entschuldigt er sich dafür, dass er seine Maske vergessen hat, obwohl wir draussen sitzen. Trotzdem klagt er die Berichterstattung über die Anti-Corona-Demos an. Er sagt, die Medien hätten zum Beispiel die Demonstration in Berlin kleingeredet und die Teilnehmer auf Nazis und «Covidioten» reduziert. Obwohl er selbst nicht auf so eine Kundgebung gehen würde, fühlt er sich den Demonstranten verbunden. Er teilt mit ihnen Informationsquellen, Werte, Helden.

Auch Ganser ist dabei, als in Berlin am 1. August Esoteriker mit Reichsflaggenschwenkern marschierten, mit Plakaten, auf denen «Niemand hat das Recht zu gehorchen» stand und «Wir sind die zweite Welle».

Demonstranten umringen ihn und machen Selfies, als sie ihn entdecken. Ein Fan filmt die Szene und veröffentlicht das Video auf Youtube.
-> https://www.youtube.com/watch?v=ojUxUUii-UA

4. Der Einzelkämpfer

Jener junge Mann, der mir nach dem Vortrag seine Kontaktdaten gab, nennen wir ihn Ben, arbeitet als Sozialarbeiter an einer Schweizer Schule. Er trägt einen etwas zotteligen Bart, Ohrring und streut gern Zitate ins Gespräch ein, etwa von Max Weber. Beim Vortrag damals hatte er auch Mutter und Freundin dabei. Sie hingen an Bens Lippen.

Wir telefonieren nicht lange nach meinem Treffen mit Anton. Ben sagt, dass er ein Arbeiterkind und früher dick gewesen sei. In der Schule sei er gehänselt worden. Er weiss, was es heisst, wenn man nicht ganz dazugehört: «Diese Gemeinsamkeit hat mir Ganser gleich sympathisch gemacht.»

Er meint den Bruch in Gansers Karriere: jenen Moment, in dem aus einem respektablen Wissenschafter ein Ausgegrenzter wurde. Vor einigen Jahren arbeitete Ganser noch für die ETH, die Uni St. Gallen und Avenir Suisse. Die akademische Karriere scheiterte an seinen Thesen zum 11. September und der Vermischung von Fakten und verschwörerischen Inhalten.

Eine «Arena»-Sendung im Jahr 2017, zu der er als «umstrittener Publizist» eingeladen war und bei der er in einen Streit mit dem Moderator geriet, besiegelte sein Bild in der Öffentlichkeit: Vielen gilt er seitdem als Verschwörungstheoretiker.

Für Ben wurde er damals zum Helden. Zum Vorkämpfer gegen Marionettenmedien.

«Fies» und «tendenziös» sei der Beitrag gewesen. Er habe die «Arena» an jenem Abend live geschaut. «Dass man jemanden wie Ganser nicht einmal seine Thesen erörtern lässt – der hat schliesslich einen Doktortitel!»

Wissenschafter sagen, Anhänger von Verschwörungserzählungen hätten oft eine narzisstische Sehnsucht: Sie geniessen es, sich wissender als die anderen zu fühlen. Besonders.

Ben sagt, er interessiere sich nicht nur für das, was Ganser erzähle, sondern auch für den Umgang mit ihm. Dafür, wie es komme, dass Meinungen vom Diskurs ausgeschlossen würden. Ben ist überzeugt: Ganser wurde ausgeschlossen, weil er unangenehme Wahrheiten verbreitet.

Ähnlich skeptisch ist Ben gegenüber klassischen Medien beim Thema Corona.

Er informiere sich dazu viel auf Youtube, sagt er. An der Sinnhaftigkeit der Massnahmen des BAG zweifelt er. Und er versucht, andere von seinen Ansichten zu überzeugen. Viele Freunde hörten auf ihn. Zu Hause habe es aber Konflikte gegeben: Sein Vater sei Hochrisikopatient. Später schickt er mir ein Bild, das in einer Tabelle zeigt, wie viel die reichsten Milliardäre während der Corona-Krise verdient haben. Bill Gates: 16 Milliarden Dollar. «Diese Grafik spricht eine deutliche Sprache. Wer profitiert von der Situation?», schreibt Ben.

5. Die Verunsicherten

Im August 2020 sitze ich im Zug und lese weiter in «Imperium USA». Es ist mir etwas peinlich, in der Öffentlichkeit Gansers neues Buch zu lesen – hoffentlich denkt keiner, ich sei Verschwörungstheoretikerin. Prompt spricht mich das Paar, das mir gegenübersitzt, an. Die beiden tragen zwar Masken, sehen aber aus, als kämen sie direkt von einer Corona-Demo. Vor allem die Frau: Sie hat die Haare zu einer aufwendigen Mittelalterfrisur geflochten und trägt ein Stirnband mit einem geschwungenen Symbol an der Stirn. Ich sage, ich fände Gansers Buch so mittel, es sei historisch nicht ganz sauber.

Ich meine damit Stellen wie jene über die Zwischenkriegszeit. Der 14-Punkte-Friedensplan des amerikanischen Präsidenten Wilson, an den ich mich aus der Schulzeit erinnere, fehlt einfach. Ganser übergeht ihn, wohl weil er nicht ins Narrativ passt, dass die USA durch die harte Bestrafung Deutschlands Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trügen.

Die Frau mir gegenüber nickt wissend. Auch in ihrem Feld – Pflanzentherapie – gebe es immer wieder Leute, die in ihren Versprechen einen Schritt zu weit gingen und sich nicht mehr an die Fakten hielten.

Sie und ihr Begleiter zupfen immer wieder an ihren Masken, während wir sprechen. Dass ich Ganser lese, macht mich in ihren Augen zu einer Verbündeten. Sie äussern ihre Zweifel an der Pandemie. Ich erzähle von Bekannten, die erkrankt sind, von überlasteten Spitälern in Italien. Das sei doch echt. Die Antwort: In Italien seien die Krankenhäuser doch immer überlastet.

Wir wechseln das Thema. Die beiden wirken ehrlich interessiert an der Welt. Und scheinen voller Sorge zu sein. Die Frau wegen des Klimawandels, der Mann wegen des Finanzmarkts. Als sie erfahren, dass ich als Journalistin über Wirtschaftsthemen schreibe, wollen sie Auskünfte. Ich erkläre, warum ich nicht von einer kommenden Hyperinflation ausgehe. Er widerspricht mit Argument-Bruchstücken, die ich später im Netz wiederfinde. Sie stammen von Männern, die den nächsten Finanz-Crash prophezeien, wie dem Autor Marc Friedrich oder dem Spieltheorie-Professor Christian Rieck.

Dann sagt die Frau: «In unsicheren Zeiten wie diesen profitiert einer wie Ganser natürlich.» Wieder so ein Moment in dieser Recherche, wo jene, die für mich absurde Dinge glauben, plötzlich sehr reflektierte Dinge sagen.

6. Der Schattenfechter

Am Ende treffe ich Ganser persönlich. Es ist Spätsommer, noch sind die Restaurants offen, und Ganser federt fröhlich ins Tibits in Basel, sein Hemd ist locker aufgeknöpft. Er macht, wie ich, ein Aufnahmegerät an. Trotzdem gibt er sich überrascht, als die Fragen kritischer werden.

Ich frage nach seinen Fans. Er sagt: «Ich erlebe mein Publikum als sehr mündig, es sind keine Fans, sondern Menschen, die selber nachdenken.»

Reichsflaggen auf der Corona-Demo? «Keine gesehen.»

Vorträge von ihm werden in Reichsbürger-Chats geteilt? «Was mit Ihren Videos passiert, können Sie nicht kontrollieren.»

«Und wenn Sie öffentlich sagen würden, dass Sie das nicht gut finden?» – «Ich bin klar gegen Gewalt und Rassismus und sage das immer wieder. Ich finde es wichtig, niemanden auszuschliessen aus der Menschheitsfamilie. Das betone ich auch immer wieder. Das ist klar genug.»

Er erzählt, wie überrascht er am Anfang über den Erfolg seiner Videos war: «Ich habe früher gedacht, Youtube sei nur für Katzenvideos da. Wie ich mich irrte. Nur dank Youtube konnte ich bekannt genug werden, um meine Arbeit ganz durch mein Publikum zu finanzieren.»

Ganser nennt sich oft einen unabhängigen Historiker. Unabhängig heisst in dem Fall, dass Ganser keine Uni oder kein Institut hat, die ihn bezahlen. Gansers Einkommen hängt von seinem Publikumserfolg ab. Und er hat keine Bedenken, diesen zu maximieren.

Indem er zum Beispiel in der deutschen Ausgabe des russischen Staatssenders Russia Today (RT Deutsch) auftritt oder als Gast in der Sendung KenFM. Die betreibt Ken Jebsen, der den Holocaust als PR-Aktion bezeichnete und heute verbreitet, dass Bill Gates, vermittelt durch die WHO, die deutsche Regierung kontrolliere.

Es ist eine Strategie der «Experten» der Gegenöffentlichkeit, gemeinsam aufzutreten und sich so Fans zuzuschieben. Ganser, eloquent und nie ohne Anzug unterwegs, immer mit Doktortitel vor dem Nachnamen, bringt einen Hauch von Elitarismus in eine Bewegung, die gegen Eliten aufbegehrt.

Ich will wissen, ob er ein schlechtes Gewissen hat ob der Verunsicherung, die er sät: «Ist es nicht fahrlässig, so zu tun, als wäre Russia Today eine ähnlich gute Quelle wie die ‹Tagesschau›?»

Ganser erzählt, wie er von SRF und «Spiegel» schlecht behandelt wurde. Er wirkt gekränkt. Die Arbeit von RT Deutsch habe er hingegen als professionell erlebt. Er sagt: «Es gibt immer verschiedene Sichtweisen. Zum Beispiel in Weissrussland: Der Westen sagt, dass Demokraten demonstrieren, die Russen glauben an westliche Koordination.»

Gansers Relativismus könnte eine Strategie sein, um sich gegen den Vorwurf zu wehren, er legitimiere fragwürdige Medien. Aber im Gespräch wirkt es so, als meinte er das alles ernst.

Am 15. Dezember lässt Daniele Ganser in einem Videointerview auf einer österreichischen unabhängigen Medienplattform das Jahr 2020 Revue passieren. Sein Fazit zur Corona-Krise: Es gibt Leute, die haben vor dem Virus Angst, und es gibt Leute, die sorgen sich um ihre demokratische Freiheit. Beide Seiten hätten recht.

Er beklagt die Internetzensur, es bereite ihm Sorgen, dass der Kanal von Ken Jebsen von Youtube gesperrt worden sei. Die Videoplattform hatte sich an der Verbreitung von Fehlinformationen zur Pandemie gestört. Jebsen hatte dort 500 000 Abonnenten. Vier Mal so viele wie Ganser.

Der hat sich im Herbst schon einmal auf der Nachrichten-App Telegram einen öffentlichen Kanal zugelegt. Dort wird man nicht so schnell gesperrt. Ganser sagt, Bürger sollten doch Zugang zum ganzen Spektrum der Meinungen haben. Dass seine Interviewerin behauptet, es würden ja schon seit Jahren Ärzte zensiert und teilweise umgebracht, vielleicht vom Staat, weil sie Naturheilmittel gegen Krebs propagierten, lässt er unkommentiert.

Zum Schluss wünscht er allen ein 2021 voller friedlicher, wertschätzender Kommunikation.

Am 15. Januar postet Daniele Ganser auf seiner Facebook-Seite einen Blog-Artikel zu einem 91-jährigen Schweizer, der fünf Tage nach der Corona-Impfung gestorben ist. «­Unstrittig ist, dass der betagte Patient nach der Verabreichung der Impfung gestorben ist», so zitiert er einen Schweizer Journalisten. Ganser spielt den Impfskeptikern in die Hände. Aber er wäre nicht Ganser, wenn er sich nicht absichern würde. Und so folgt bei ihm gleich der Satz: «Swissmedic erklärte aber, es sei ‹höchst unwahrscheinlich›, dass die Impfung zum Tod geführt habe.»

Wären Verschwörungstheoretiker Drogen, wäre Ganser das Marihuana. In jungen Jahren probieren es viele aus, die meisten hören wieder auf. Ganser-Fans, die nachher Geschichte studieren, werden ihn anzweifeln, jene, die wie mein Arzt-Freund viele andere Interessen haben, lesen ihn und legen das Thema auch wieder weg.

Manche aber bleiben hängen. Für sie ist der seriöse Ganser mit seinen «kritischen Fragen» der Einlassschein für eine Welt, in der sicher geglaubte Wahrheiten verschwinden und Prediger erklären, was «die da oben» eigentlich vorhaben. Zurück bleibt das diffuse Gefühl, dass man dem System nicht trauen kann.
(https://www.nzz.ch/gesellschaft/wie-daniele-ganser-der-corona-skepsis-den-boden-bereitete-ld.1598675)