Medienspiegel 26. Dezember 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Aktiv trotz allem: Helfende Hände in der Not
Die Covid-19-Pandemie verschlimmert die Lage armutsbetroffener Menschen in der Schweiz, insbesondere die von Sans-Papiers. Engagierte Menschen wie Amine, Tatiana und Louise springen in die Bresche.
https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2020-4/helfende-haende-in-der-not#


+++BALKANROUTE
Bosnien-Herzegowina: Migranten kehren in abgebranntes Lager zurück
Kurz vor Weihnachten brannte ein bosnisches Flüchtlingslager in Lipa ab. Die etwa 1.000 Bewohner fanden keine Alternative – und sind in das zerstörte Lager zurückgekehrt.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-12/bosnien-herzegowina-migranten-lager-schnee-abgebrannt


Nach Brand im Flüchtlingslager Lipa: Tausende der Natur ausgeliefert
Am Mittwoch brannte das Lager Lipa in Bosnien und Herzegowina nieder. Heftige Schneefälle erschweren die Situation der Menschen noch zusätzlich.
https://taz.de/Nach-Brand-im-Fluechtlingslager-Lipa/!5740514/


+++GASSE
«Tischlein deck dich»: Verteilaktion entlastet Haushalte an Weihnachten
Gerade die Festtage sind für Menschen mit knappem Budget eine Herausforderung. Hier knüpft der Verein «Tischlein deck dich» an. Er sammelt Lebensmittel, die entsorgt werden würden, und verteilt sie an Bedürftige. Eine solche Verteilaktion verschaffte am 23. Dezember 40 Haushalten ein Festessen.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/tischlein-deck-dich-verteilaktion-entlastet-haushalte-an-weihnachten-140331867


+++KNAST
Im Gefängnis
Stacheldraht und Überwachungskameras, Einbrecher und Mörder. Der Frutiger Simon J. arbeitet dort, wo andere Menschen eingesperrt sind. Unser Redaktor Pascal Müller hat ihn besucht. Ein Nachmittag hinter Gittern.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/186975/


+++POLIZEI DE
Kooperation Gegen Polizeigewalt Sachsen
Kooperation Gegen Polizeigewalt Sachsen Polizeiarbeit kontrollieren – Polizeikontrollen dokumentieren Im Jahr 2020 hat sich in Dresden die Kooperation gegen Polizeigewalt Sachsen gegründet. Als Reaktion auf Polizeigewalt, über die im Jahr 2020 global, aber auch ganz in unserer Nähe immer wieder berichtet wurde. Wir wollen bei Racial Profiling, anderen diskriminierenden Kontrollen, Übergriffen und Mord durch die Polizei nicht länger tatenlos zusehen. Angezeigte Fälle von Körperverletzung im Amt in Sachsen haben wir für Euch in diesem Beitrag statistisch aufgearbeitet. Selten werden diese Fälle weiterverfolgt. So kam es zum Beispiel bei den 308 Polizist*innen im Jahr 2019, welche wegen Körperverletzung im Amt angezeigt wurden, nur zu einer einzigen Verurteilung. Und die Dunkelziffer ist wohl noch deutlich höher!
https://www.youtube.com/watch?v=GoU3Hl1vAGM


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Angekündigter Rückzug von Initiator Ballweg: Wie geht es mit »Querdenken« jetzt weiter?
Michael Ballweg will bis auf Weiteres keine »Querdenken«-Demos mehr anmelden. Doch Experten warnen: Die Bewegung bleibt gefährlich.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/querdenken-ohne-initiator-michael-ballweg-wie-es-jetzt-weiter-geht-a-3ed57664-ed17-44f7-8302-1df89855317b


+++HISTORY
Ein Gespräch mit der Afrikanistin Anette Hoffmann über das Humboldt-Forum
»Das schafft nur schizophrene Museen«
Anette Hoffmann, Kulturwissenschaftlerin und Afrikanistin, über die Eröffnung des Berliner Humboldt-Forums und die Restitution kolonialer Raubkunst
https://jungle.world/artikel/2020/52/das-schafft-nur-schizophrene-museen


+++RASSISMUS
derbund.ch 26.12.2020

Forscherin und Autor diskutieren – «Wir können Rassismus aktiv verlernen»

Wie  weiter nach dem Black-Lives-Matter-Sommer? Schriftsteller Lukas  Hartmann und Forscherin Jovita dos Santos Pinto im Gespräch über  Vorurteile, Privilegien und Menschenhandel.

Calum MacKenzie

Was in der Schweiz bisher wenig beachtet oder verdrängt wurde, ist 2020 unter dem Druck der Black-Lives-Matter-Bewegung zum breit diskutierten  Thema geworden: Rassismus im Alltag, in der Sprache, in der Geschichte.  Die Debatte über die Rolle der Schweiz im Kolonialismus führte dazu,  dass Beizennamen wie «Colonial Bar» verschwanden und Denkmäler wie jenes  des Neuenburger Bankiers David de Pury, der sich am Sklavenhandel bereicherte, ins Wanken gerieten.

Doch wie definiert man eigentlich Rassismus? Wie funktioniert er? Der Berner Lukas Hartmann befasst sich damit in seinem literarischen Schaffen; die an der Universität Bern forschende Jovita  dos Santos Pinto setzt sich damit wissenschaftlich auseinander. Führen  die unterschiedlichen Zugänge zu gleichen Einsichten?

Frau Pinto, Herr Hartmann, was ist Rassismus?

Jovita dos Santos Pinto: Rassismus  ist, wenn Menschen wegen rassisierten körperlichen Merkmalen wie Haut,  Augen oder Haare und vermeintlichen oder tatsächlichen kulturellen  Eigenschaften als minderwertig betrachtet werden. Aufgrund dessen werden  sie benachteiligt. Das passiert im Alltag, sei es im Privaten, auf der  Strasse, in Institutionen oder in Gesetzen. Umgekehrt werden andere  Menschen im Alltag privilegiert. Rassismus ist strukturell: Das zeigt  sich etwa in unterschiedlichen Lebenserwartungen, in  Bildungsmöglichkeiten oder auf dem Arbeitsmarkt.

Lukas Hartmann: Rassismus steckt tief in uns drin – in  Form der Befremdung gegenüber Menschen, die nicht den eigenen  Vorstellungen entsprechen. Um 1948, als ich drei Jahre alt war, sass ich  mit meiner Mutter in Bern im Tram. Da ist ein schwarzer Mann  zugestiegen und hat sich gegenüber von uns hingesetzt. Weder meine  Mutter noch ich hatten je eine schwarze Person gesehen. Sie erschrak,  ich war verängstigt. Als der Mann mich anlächelte, fing ich an zu  weinen.

Was sagt uns das über Rassismus?

Hartmann:  Ich denke, das war eine ganz grundlegende Reaktion. Im Laufe der  Entwicklung muss man lernen, dass es eine Vielfalt der Menschen gibt,  und lernen, sie zu schätzen. Vielfalt ist eines der besten Mittel gegen  Rassismus.

Pinto: Voneinander lernen ist wichtig, aber das ist noch kein Garant, dass es  keine Diskriminierung gibt: Wir sind ja auch mit Frauen aufgewachsen,  trotzdem gibt es Sexismus. Es handelt sich um ein Machtverhältnis. Erst  mit dem Beginn der Moderne, etwa zeitgleich mit der kolonialen  Unterwerfung und Versklavung, die von Europa ausging, wurde der Wert  eines Menschen an seiner Hautfarbe festgemacht. Schwarz wird hier in  Europa mit Negativität verbunden, mit Kriminalität, mit Unreinheit. Die  Angst vor schwarzen Menschen ist nicht naturgegeben, sondern ist  historisch entstanden und aufrechterhalten worden. Die positive  Schlussfolgerung: Es ist veränderbar. Wir können das aktiv verlernen.

Wie verlernt man rassistische Muster?

Hartmann: Wenn  man etwas verändern will, gehört es für Weisse dazu, sich selbst  infrage zu stellen: Wo habe ich unglücklich reagiert? Das passiert mir  ab und zu. Auf meinen Reisen in Indien landete ich einmal in einem Dorf,  in dem ich die einzige weisse Person weit und breit war. Ich merkte,  dass mir inmitten der tamilischen Bevölkerung unwohl war. Ich hatte das  Gefühl, sie lachen mich aus. Da wurde mir bewusst: Das sind meine  Vorurteile, die mich sozusagen überrollen. Die Leute waren eigentlich  sehr freundlich und wollten mir helfen. Das war eine sehr lehrreiche  Situation über alte Muster, die ich offenbar eingelernt hatte. Es lohnt  sich, sich im Moment zu fragen: «Was mache ich gerade, und ist das die  richtige Reaktion?» Es braucht aufseiten der weissen Bevölkerung auch  Anstrengungen, unter Umständen auf Privilegien zu verzichten, was für  Menschen in entwickelten Ländern oft sehr schwierig ist.

Pinto: In  der Schweiz braucht es ein besseres Bewusstsein, dass Rassismus die  ganze Gesellschaft mitprägt. Manchmal ist es etwas schwieriger, als zu sagen, «ich nehme mir das Privileg», oder «ich lege das Privileg ab».

Was meinen Sie damit?

Pinto: Dazu habe ich ein Beispiel: In  einer WG, in der ich gewohnt habe, hat mich der Hausbesitzer  beschuldigt, Sexpartys veranstaltet zu haben und schlecht integriert zu  sein. Er überlege sich, mich aus der Wohnung zu werfen. Ich habe  erfolglos das Gespräch gesucht. Dann ging meine weisse Mitbewohnerin zu ihm und erklärte, «Jovita studiert, sie arbeitet bei einer Zeitung und ist gut integriert.» Darauf hat er sich bei mir entschuldigt. Bei dieser Geschichte geht es  mir weniger um den Hausbesitzer als um die Rolle meiner Mitbewohnerin.  Er hat sie als weisse Person als Gesprächspartnerin anerkannt und ihr  zugehört. Mir nicht. Sie hat ihr Privileg genutzt, um etwas zu  verändern. Aber man kann dieses Privileg nicht einfach ablegen, weil man  nicht beeinflussen kann, ob man als weiss oder nicht weiss gesehen wird.

Wie bekämpft man solchen strukturellen Rassismus?

Hartmann:  Ich kenne viele Leute, die sich dagegen wehren, etwa indem sie die  Menschen in ihrem Umfeld sensibilisieren. Es gibt auch viele in der  Politik, die etwas bewegen wollen, aber sie stossen auf Widerstände. Hat  man einen bequemen Job, ist es schwer, seine eigene Position infrage zu  stellen. Der zivilgesellschaftliche Druck ist wichtig, man kann nicht  alles von oben verordnen.

Pinto:  Man muss auch wegkommen von der Idee der Fürsprache. In den letzten  Jahren hat eine Verschiebung auch stattgefunden, weil People of Colour  in der Schweiz Druck machen, dass man ihnen zuhört. Wenn man  rassistische Strukturen abbauen will, müssen in Diskussionen über  Rassismus die Perspektiven von Menschen of Colour, Schwarzen,  muslimischen oder illegalisierten Menschen zentriert werden. Im  vergangenen Frühling und Sommer war es für viele zum ersten Mal ein  wenig vorstellbar, wie die Diskussion dann aussehen könnte. Aber es  beginnen immer noch zu viele Medienbeiträge zum Thema mit der Frage  «Gibt es Rassismus in der Schweiz?» oder «Was ist Rassismus?». Diese  Herangehensweise ignoriert die vielen Rassismus-Erfahrungen, die People  of Colour in der Schweiz gemacht haben.

Wie gehen die Schweizer Medien sonst mit dem Thema Rassismus um?

Pinto: Im Sommer gab es viele Berichte über Diskriminierung gegen nicht weisse Menschen in der Schweiz. Oft ist das die Art, wie People of Colour überhaupt erst in die Medien kommen: um  über Rassismus zu sprechen. Vom Antirassismus spricht man dann als  persönliche Verantwortung, dabei geraten der institutionelle Rassismus  und die gesamtgesellschaftliche Dimension aus dem Blick. Rassismus wird  so bagatellisiert. Das ist ein Muster, das immer wieder vorkommt.

Hartmann: Institutionen wie Medien müssten aktiv nicht weisse  Menschen integrieren, die ihre Sicht einbringen können. Das wird viel  zu wenig gemacht. Ich weiss von meiner Partnerin, die eine leitende  Funktion hat, dass es schwer ist, solche Leute zu finden, wenn man nicht  aktiv sucht: Viele bewerben sich auch gar nicht, weil man ihnen diese  Funktionen oft eben nicht zutraut. Es ist aber unerlässlich, dass sich  unsere Bevölkerung etwa in der Beamtenschaft besser widerspiegelt.

Pinto:  Personelle Fragen sind zentral. Institutionen müssen sich auch fragen,  wer Zugang zu ihren Diensten hat und wo Leute ausgeschlossen werden.  Dann kann man beginnen, die Institution umzustrukturieren. Idealerweise  würden Stellen geschaffen für Leute, deren Beruf es ist, diesen Umbau zu  begleiten. Es braucht aber auch ein Verständnis dafür, dass wohl nicht  jegliche Diskriminierung vorhersehbar ist. Die Institutionen müssen  darum ein Klima schaffen, in dem Diskriminierung angesprochen werden  kann. Und man muss sicher sein, dass darauf auch eine Reaktion oder eine  Handlung folgt.

Wie wichtig ist es, die Schweizer Kolonialgeschichte aufzuarbeiten?

Hartmann:  Der Kolonialismus ist aus Schweizer Sicht bedrängend, weil wir unsere  Rolle darin so lange nicht wahrnehmen wollten. Wir sind sehr resistent  gegen die Vermutung, dass es hier Rassismus gibt, auch weil viele Leute  ablehnen, dass wir eine rassistische Geschichte haben. Seit Jahren sage  ich schon, dass wir merken müssen, wo die Schweiz von ihrer scheinbar  neutralen Position profitiert und an Unrecht teilgenommen hat. Schweizer  Missionare haben Zwangsarbeit gedeckt, Schweizer Söldner haben etwa in  französischen Diensten den Kolonialismus gestützt, Schweizer Firmen  haben vielfach die Sklaverei mitfinanziert. Das zieht nur sehr langsam  ins öffentliche Bewusstsein ein.

Pinto:  Der Kolonialismus, die imperiale Unterwerfung und Versklavung sind der  Anfang einer rassistischen Hierarchisierung, die auch heute noch  weiterwirkt – in  unseren globalen Beziehungen, aber auch im Lokalen. Bei der  Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte geht es nicht nur um  die Vergangenheit, sondern darum, wie wir uns das gegenwärtige  Zusammenleben vorstellen und welche Zukunft wir uns wünschen.

Herr  Hartmann, Sie haben 1995 einen Roman geschrieben über eine ehemalige  Versklavte. Im 18. Jahrhundert wird sie von einem Berner Patrizier in  die Schweiz verschleppt, wo sie den unehelichen gemeinsamen Sohn  aufzieht. Das Buch trägt den Titel «Die Mohrin». Würden Sie heute noch  denselben Titel wählen?

Hartmann: Der  Titel ist eine bewusste Provokation, weil der Begriff doppeldeutig ist.  Der edle Mohr ist ursprünglich einer der Heiligen Drei Könige aus dem  Morgenland. Er wurde bis ins Spätmittelalter hochgeachtet. Erst mit dem  Beginn der Sklaverei ist er nicht mehr edel, sondern ein  Arbeitsinstrument, das man misshandeln kann. Ich finde die  Begriffsverwandlung sehr interessant und habe den Titel deshalb gewählt,  weil er etwas bewegt.

Sie würden heute also denselben Titel setzen?

Hartmann:  Ja, das würde ich. Ich erhalte heute noch viele Reaktionen zu diesem  Buch, vor allem von jungen Leuten. Es bewegt also immer noch.

Pinto: Das M-Wort bewegt nicht nur, sondern verletzt auch. Da fällt mir der Dokumentarfilm mit der SRF-Moderatorin Angélique Beldner ein, der jüngst ausgestrahlt wurde. Sie ist als schwarzes Mädchen in  den 80er-Jahren im Berner Oberland aufgewachsen. Sie erzählt im Film,  was dieses Wort damals in ihrem Umfeld bedeutet hat und welche  Verletzungen mit diesem Wort einhergegangen sind. Es wurde klar als  Schimpfwort verwendet. Wenn man sich für das Wort entscheidet, nimmt man  in Kauf, diese Verletzungen wieder auszulösen. Im Gymi habe ich mich  auf Ihr Buch gestürzt, weil die versklavte Marguerite die einzige  schwarze literarische Figur war, von der ich im Schweizer Kontext gehört  hatte. Wenn ich an meine Nichte denke, bin ich froh darum, dass sie heute eine grössere Vielfalt hat, beispielsweise auch aus der Hand von schwarzen Autorinnen.

Hartmann:  Ich kann das akzeptieren, bleibe aber bei meiner Meinung. Bei diesem  Wort schwingt einiges mit – der edle König, den wir am Dreikönigstag  feiern, hat nichts zu tun mit dem Bild des verwahrlosten Sklaven. Diese  Bedeutung will ich nicht aufgeben, ich will sie beschützen, weil sie  auch eine schmerzhafte Spannung aufzeigt.

Pinto:  Sprache ist einfach ein Teil davon, von rassistischen Strukturen  wegzukommen. Wir suchen eine Sprache, die die Art und Weise reflektiert,  wie wir miteinander umgehen wollen. Im schwarzen Feminismus spricht man  vom «afterlife of slavery», dem Nachleben der Versklavung. Das gilt  auch für entmenschlichende Sprache. Gewisse Wörter tragen eine bis heute  wirkende Gewalt in sich. In Ihrem Buch wird eine Geschichte der  Ausbeutung und Entmenschlichung erzählt, und ich finde, in der Sprache  wird dies manchmal thematisiert, manchmal eher fortgeführt.

Hatten Sie, als Sie das Buch verfassten, die Gratwanderung zwischen Thematisieren und Fortführen im Hinterkopf?

Hartmann: Das  war eine dauernde Frage, auch, als ich das Buch Freunden zum Gegenlesen  gegeben habe. Ich bin auch nur bedingt einverstanden, dass diese  Ausbeutung mittransportiert wird. Diese Sprache kann auch aufdecken,  Reaktionen und Selbstkritik provozieren, etwa die Frage «was ist meine  Stellung dazu?». Ich hoffe, mit dem Buch einige fruchtbare Fragen  angeregt zu haben.

Sie  haben beide mit Quellenmaterial zu schwarzen Frauen in der Schweiz im  18. und 19. Jahrhundert gearbeitet. Was sagen uns diese Quellen über den  Schweizer Kolonialismus?

Hartmann:  Es gab einige Frauen, die vermeintlich aus der Sklaverei befreit, in  der Schweiz aber in totaler Abhängigkeit als Dienerinnen gehalten  wurden. Dabei waren auch einige Kinder – offenbar auch in der  Vergangenheit meiner eigenen Familie. Hinter vorgehaltener Hand hat man  von einem schwarzen Kind in unserem Stammbaum gesprochen. Die Quellen  haben das zwar nicht belegt. Aber es hat mich brennend interessiert, und so bin ich auf die Geschichte gekommen, die ich in meinem Buch erzählt habe.

Pinto:  Die Quellen stellen das Narrativ der weissen Schweiz noch einmal  infrage. Die Vielfalt beginnt hier nicht erst in den 1970ern. Und sie  zeigen, dass das Unrecht der Schweizer Kolonialgeschichte nicht nur in  anderen Ländern geschehen ist, sondern dass es auch hier Menschenhandel  gab. Man lernt zudem, dass Schwarzsein auch in der Schweiz ein Grund  war, jemanden nicht einzubürgern: Samuel Buisson aus Yverdon etwa,  dessen Mutter eine schwarze versklavte Frau war, wurde deswegen um das  Jahr 1800 die Einbürgerung verwehrt.

Was lernt man denn über die Frauen selbst?

Pinto:  Die Mutter, Pauline Buisson, wird in den Gerichtsakten mit jeglichen  rassistischen Fantasien beschrieben – etwa als «entflammbare Materie».  Aber zu ihren eigenen Ansichten und Erlebnissen hat man keinen Zugang.  Das heisst, das einzige Zeugnis, das wir von den Buissons haben, ist  eines, das sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Wollen Geschichtsforschende  dies nicht so fortführen, können sie aus der Fiktion lernen. Denn bei  dieser gewaltvollen Unterwerfung ist es wichtig, uns vorzustellen, dass  diese Menschen auch gedacht, empfunden, gelitten, aber vielleicht auch mal gelacht haben.

Hartmann:  Das ist auch mein Ansatz. Man kann die Vergangenheit nicht  rekonstruieren, sondern nur wiedererfinden. Ich will eine Epoche  vergegenwärtigen, wie sie gerochen hat, wie die Leute sich bewegt und  gefühlt haben – im Bewusstsein, dass es nicht eins zu eins stimmen muss.

Wie sähe eine Gesellschaft aus, in der die Hürden des Rassismus überwunden sind?

Pinto: Diese Frage wird oft gestellt: Noch bevor die Auseinandersetzung begonnen hat, wünscht man sich den Rassismus bereits überwunden. Aber ich wünsche mir  eine rassismuskritische Gesellschaft, die anerkennt, dass rassistische  Strukturen existieren, und dagegen handelt. Aber anknüpfend ans Thema Fiktion kommt mir ein Gedicht von Zoe Leonard in den Sinn. In einem Video von Performance Artist Mykki Blanco ist es vor den US-Wahlen wieder zirkuliert.  Es heisst «I want a dyke for president», ich möchte eine Lesbe als  Präsidentin. Darin wird eine Reihe von Personen als Präsident  imaginiert: eine Person mit Aids,  eine Person ohne Grundversicherung, eine Person, die in einer  verschmutzten Umwelt aufgewachsen ist. Sich alle diese marginalisierten  Menschen in Machtpositionen vorzustellen, öffnet den  Vorstellungshorizont. Was müsste sich in der Schweiz verändern, damit  eine schwarze, illegalisierte, queere Frau Bundespräsidentin werden  könnte?

Hartmann:  Da kommt mir auch ein Lied in den Sinn, den Urheber kenne ich nicht.  Auf dem Petersplatz in Rom warten Tausende auf die Wahl eines neuen  Papstes. Der neue Papst tritt an die Brüstung, riesiger Jubel, dann  kommt die letzte Zeile: «Und sie war schwarz». Das finde ich eine  substanzvolle Utopie, wie man sie fast nicht besser in einer Zeile  beschreiben kann.



Jovita dos Santos Pinto

Kulturwissenschaftlerin Jovita dos Santos Pinto doktoriert am Inter­disziplinären Zentrum für Geschlechter­forschung der  Universität Bern mit den Schwerpunkten Postkolonialismus und Schwarzer  Feminismus. Sie ist Mitgründerin von Bla*Sh, einem Netzwerk für schwarze  Frauen in der Schweiz. Im Juni diskutierte sie in der zweiten Rassismus-Ausgabe der SRF-«Arena» mit. Dos Santos Pinto hat eine historische Einleitung zum kürzlich erschienenen Buch «I Will Be Different Every Time. Schwarze Frauen in Biel» verfasst.



Lukas Hartmann ist Schriftsteller und wohnt in Bern. Nach der Ausbildung am Lehrerseminar studierte er Germanistik und Psychologie. Für seine historischen Romane wurde Hartmann mehrfach ausgezeichnet. In «Die Mohrin», «Die Tochter des Jägers» oder «Bis ans Ende der Meere» behandelt er den Kolonialismus und wie die Schweizer und Berner Geschichte davon geprägt sind. Im Frühling erscheint sein neuer Roman «Schattentanz – Die Wege des  Louis Soutter». Hartmann ist mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga  verheiratet.
(https://www.derbund.ch/wir-koennen-rassismus-aktiv-verlernen-980109067009)