Medienspiegel 24. Dezember 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++DEUTSCHLAND
Brisanter Brief an Scheuer: Seehofer drang auf schärfere Regeln für Seenotretter
Ein internes Schreiben zeigt, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer Verkehrsminister Scheuer überzeugen wollte, deutsche Seenotretter stärker zu drangsalieren. Die Beziehungen zu Italien ständen auf dem Spiel.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/horst-seehofer-drang-auf-schaerfere-regeln-fuer-seenotretter-a-88fd2968-6a8f-494b-a5b8-39c5f21510a8
-> Brief: https://fragdenstaat.de/blog/2020/12/24/seehofer-scheuer-seenotrettung-brief/
-> https://fragdenstaat.de/dokumente/7997-seehofer/
-> https://sea-eye.org/seehofer/


+++GRIECHENLAND
Flüchtlinge im Lockdown – Flüchtlingshelferin: «Eine Stunde dürfen sie aus dem Camp»
Fanny Oppler ist Flüchtlingshelferin auf Lesbos. Sie spricht über die Situation der Flüchtlinge während des Lockdowns.
https://www.srf.ch/radio-srf-1/gast-am-mittag/fluechtlinge-im-lockdown-fluechtlingshelferin-eine-stunde-duerfen-sie-aus-dem-camp


Flüchtlingselend in Europa: Betroffenheit reicht nicht
Vier Monate nach dem Brand im Lager Moria hausen Geflüchtete auf Lesbos weiter unter katastrophalen Bedingungen. Die EU wird das Elend an ihren Rändern nicht auf Dauer ignorieren können, ohne selbst Schaden zu nehmen.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlingselend-auf-lesbos-betroffenheit-reicht-nicht-a-52008104-604b-43b0-8ab9-360050557233


+++MITTELMEER
Mindestens 20 Personen vor tunesischer Küste ertrunken
Fünf Überlebende – Suche wird fortgesetzt
Tunis – Bei einem Schiffsunglück vor der tunesischen Küste sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums mindestens 20 Flüchtlinge ums Leben gekommen. 20 Menschen aus Ländern südlich der Sahara hätten nur noch tot geborgen werden können, teilte ein Ministeriumssprecher am Donnerstag in Tunis mit. Fünf weitere Menschen seien lebend gerettet worden. Die Suche im Mittelmeer vor der Küstenstadt Sfax dauere an.
https://www.derstandard.at/story/2000122772739/mindestens-20-personen-vor-tunesischer-kueste-ertrunken?ref=rss


++++GASSE
Freiwillige kochen Suppe für Bedürftige an der Gassenweihnacht
In der Stadt Zürich sorgt ein Verein dafür, dass Menschen am Rande der Gesellschaft in der Weihnachtszeit nicht in Vergessenheit geraten. Während der Corona-Krise ist dies eine Herausforderung. Deshalb verteilen Freiwillige Geschenke und Suppe an betroffene Leute.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/freiwillige-kochen-suppe-fuer-beduerftige-an-der-gassenweihnacht-00147604/


Unterwegs mit der Gassenarbeit Luzern
https://www.tele1.ch/nachrichten/unterwegs-mit-der-gassenarbeit-luzern-140321471


Schweizer Forscher zählen zum ersten Mal Obdachlose
Auch in der reichen Schweiz gibt es Obdachlose. Aber wie viele? Eine erste landesweite Erhebung will die Antwort finden.
https://www.swissinfo.ch/ger/obdachlosigkeit-in-der-schweiz_schweizer-forscher-zaehlen-zum-ersten-mal-obdachlose/46239486


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
tagesanzeiger.ch 24.12.2020

Farbanschläge auf Zürcher Banken: Warum die Klimajugend jetzt Banken bemalt

Klimaaktivist  Dominik Waser verteidigt die jüngsten Farbanschläge. Die Lage sei  ernst. «Wir sind nicht bloss die herzigen Kinder, die Schilder bemalen.»

Kevin Brühlmann

Betreff: diverse Farbanschläge. Tatbestand: Sachbeschädigung (unbekannte Tatperson). Tatort: Stadt Zürich. Datum: 22. und 23. Dezember. Anzeigenerstatter: UBS, Credit Suisse et. al.

Laut  der Zürcher Stadtpolizei gingen «rund ein Dutzend» Anzeigen wegen  Sachbeschädigung ein. «Hauptsächlich betraf es Gebäude, in denen  Geldinstitute untergebracht sind.»

Dominik Waser, 22 Jahre alt und eines der Gesichter der Klimajugend, lud ein Foto der Farbanschläge auf Twitter hoch. Man erkennt die Fassade einer  Bankfiliale, die mit roten Händen bemalt ist. Darunter die Schlagworte  «Climate Justice Now» und «Merry Crisis».

Was hat es damit auf sich? Und schadet sich die Klimabewegung so nicht selber? Dominik Waser nimmt den Telefonhörer ab. Er ist gelernter Landschaftsgärtner und wohnt in Zürich, wo er eine Lebensmittelkooperative gegründet hat. Man hat noch seine Aussage von Anfang Oktober im Ohr, als er sagte: «Wir müssen andere Mittel einsetzen, um weiterhin  Aufmerksamkeit zu erhalten. Zum Beispiel Strassen und Quartiere  lahmlegen, mit friedlichen, gewaltlosen Aktionen. Zürich stilllegen.»

Herr Waser, beim letzten Gespräch kündigten Sie «andere Mittel» an. Sie hielten Wort.

Kann man so sagen. Merry Crisis – frohe Krise!

Danke. Haben Sie die Fassaden der Banken mit roten Händen bemalt?

Nein, ich war nicht daran beteiligt.

Die Zürcher Klimastreik-Bewegung, wovon Sie Teil sind, hat zu Aktionen «gegen die umweltschädlichen Machenschaften des Schweizer Finanzplatzes» aufgerufen.

Richtig, der Finanzplatz ist eines der grössten Probleme in Bezug auf die Klimakrise. Die Schweizer Banken haben einen riesigen Einfluss aufs  Klima. Mit ihren Investitionen in fossile Energien im Ausland sind sie  für 20-mal mehr CO₂-Emissionen verantwortlich als die ganze Schweiz  selbst.

Zudem schrieb die Klimastreik-Bewegung: «Wie legal das Ganze sein soll, ist zu 100 Prozent euch überlassen.» Sie riefen also dazu auf, das Gesetz zu brechen.

Es  gab verschiedene Aktionen, Plakate, aber auch zivilen Ungehorsam. Damit  nimmt man Gesetzesübertretungen in Kauf. Die roten Hände sollen zeigen,  dass Blut an den Händen der Grossbanken klebt. Credit Suisse und UBS  stecken weiterhin Milliarden in Kohle, Gas, Fracking – sie finanzieren  die Zerstörung unseres Planeten. Millionen Menschen leiden darunter, das ist um ein Vielfaches schlimmer, als eine Wand mit ein bisschen Farbe zu bemalen. Wenn ich ausserdem…

Ja, bitte?

Die Aktivistinnen benutzten Farbe, die mit Wasser und Seife abwaschbar ist. Die Aktion war gewaltlos, nichts wurde zerstört.

Die breite Bevölkerung wird die Aktion kaum verstehen.

Das Einzige, was bleibt, ist eine Rechnung für die Reinigung.

Werden Sie die Rechnung bezahlen?

Das kann ich noch nicht sagen. Wir werden sehen, was die Polizei und die Banken unternehmen.

Zurück zur Frage: Es gibt Stimmen, die sagen, Sie würden sich damit selber schaden.

Das  denke ich nicht. Schon als wir im September den Bundesplatz in Bern  besetzt haben – um das Parlament aufzufordern, den CO₂-Ausstoss bis in  zehn Jahren auf netto null zu senken –, schon damals wurde das  behauptet. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Die Öffentlichkeit  unterstützte uns. Und tut es immer noch.

Aber man kann von einer Radikalisierung in der Klimabewegung sprechen, nicht?

Radikal bedeutet «von der Wurzel». Wir wollen einen grundlegenden Wandel.

Die Klimabewegung hat einen grossen Trumpf, die Unschuld der Jugend. Der wird jetzt gefährdet.

Kein  Mensch und kein Tier wird je unter unseren Aktionen leiden. Zivilen  Ungehorsam, der niemandem schadet, wird es in Zukunft öfter geben. Immer  mehr Menschen in unserer Bewegung halten diese Mittel für legitim und notwendig. Wir werden sonst nicht gehört.

Was ist mit den Klimastreiks?

Das haben wir jetzt zwei Jahre lang gemacht. Passiert ist wenig. Wir sind nicht bloss die herzigen kleinen Kinder, die Kartonschilder bemalen und auf  die Strasse gehen. Dafür ist die Lage zu ernst. Mit jedem Tag verlieren  wir Zeit. Mit jedem Tag kommt der Kollaps der Ökosysteme näher.

Die  Bewegung hat doch in diesen zwei Jahren mehr erreicht als alle  Generationen vor ihr. Das Klima wurde zum dominierenden Thema in der  Politik.

Das mag sein. Aber es genügt einfach nicht. Wir sind viel zu langsam.

Selbst Grossbanken haben den Begriff «Nachhaltigkeit» in ihr Repertoire aufgenommen.

Sie  sagen es ja selbst, es geht nur um den Begriff. Sie malen sich grün an –  reines Marketing. Tatsächlich pumpen sie weiterhin Milliarden in  fossile Energien. Nur für das schnelle Geld. Ohne Rücksicht auf  Verluste. Ich weiss: Indem man rote Hände auf die Fassaden von Banken malt, rettet man das Klima nicht. Aber man schafft Aufmerksamkeit für das Problem. Im nächsten Jahr wird eine Volksinitiative lanciert.

Und was fordern Sie darin?

Der Schweizer Finanzplatz, so viel kann ich verraten, soll reguliert werden. Dann läuft auch politisch endlich etwas.
(https://www.tagesanzeiger.ch/warum-die-klimajugend-jetzt-banken-bemalt-194152897394)



nzz.ch 23.12.2020

Farbanschläge in der Stadt Zürich: Die Parolen deuten darauf hin, dass Klimaaktivisten dahinterstecken

In der Stadt Zürich wurden seit Dienstag mehrere Fassaden und Geldautomaten mit Farbe beschmiert und versprayt.

ran. Die  Stadtpolizei Zürich hat in den vergangenen beiden Tagen rund ein  Dutzend Anzeigen wegen Farbanschlägen erhalten. Dies geht aus einer Medienmitteilung der Polizei hervor. Betroffen sind vor allem Mauern von Gebäuden, in denen Finanzinstitute untergebracht sind.

So  wurden Fassaden und Geldautomaten in den Kreisen 1, 4, 9, 10 und 11 von  Unbekannten beschmiert und versprayt. Verschiedene Banken sind  betroffen, wie Judith Hödl, Mediensprecherin der Stadtpolizei Zürich,  auf Anfrage der NZZ bestätigt.

Laut Polizei kann die Höhe des Sachschadens noch nicht beziffert werden. Sie sucht nach Zeugen.

    — dominik waser (@domiwaser) December 22, 2020#MerryCrisis Züri! @klimastreik @KlimastreikZH #climatejusticeNOW pic.twitter.com/ABuU6WQf82

Am  Dienstag veröffentlichte Dominik Waser von den Jungen Grünen auf  Twitter das Foto eines beschmierten Geldautomaten. «Merry crisis» wurde  an die Wand gesprüht. Das Schweizer Klimastreikkollektiv  climatestrike.ch hatte Ende Oktober auf seiner Website die Aktionstage «Merry Crisis» angekündigt. In dem Schreiben riefen sie  zu Aktionen «gegen die umweltschädlichen Investitionen der Schweizer  Banken» auf.

Aufgrund der aktuellen Corona-Lage wurden die Aktionen laut der Website merrycrisis.ch «nicht im geplanten Rahmen» durchgeführt. Für Interessierte wurde auf  der Website eine Karte mit allen Finanzinstituten in Zürich und Umgebung  aufgeführt.
(https://www.nzz.ch/zuerich/farbanschlaege-in-der-stadt-zuerich-die-parolen-deuten-darauf-hin-dass-klimaaktivisten-dahinterstecken-ld.1593701)
-> https://merrycrisis.ch/



Farbe gegen LafargeHolcim
In  der Nacht auf den 23. Dezember haben wir den Sitz des Zementkonzerns  LafargeHolcim in Zürich-Oerlikon mit Farbe markiert, um auf seine  weltweiten Verbrechen an Menschen und Umwelt aufmerksam zu machen und  uns mit den Kämpfen für Klimagerechtigkeit von Zürich über Eclépens bis  nach Rojava zu solidarisieren.
https://barrikade.info/article/4104


+++ANTITERRORSTAAT
Polizei stört Referendum gegen PMT – Verfassungsfreunde erstatten Anzeige
Die Berner Polizei stört ausgerechnet jene Unterschriftensammlung, welche sich gegen Polizeiwillkür richtet.
https://verfassungsfreunde.ch/Die-Verfassungsfreunde-schalten-einen-Anwalt-ein


+++POLIZEI SZ
Schwyzer Polizisten erneut vom Vorwurf der Freiheitsberaubung freigesprochen
Das Schwyzer Kantonsgericht bestätigt das Urteil der Vorinstanz. Demnach haben sich die vier Polizisten bei der Kontrolle eines Mannes nicht schuldig gemacht. Der Privatkläger überlegt sich ein Weiterzug.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/gerichtsurteil-schwyzer-polizisten-erneut-vom-vorwurf-der-freiheitsberaubung-freigesprochen-ld.2080000


+++POLIZEI ZH
Politiker wollen Antworten zu rechtsextremen Strukturen in Zürcher Polizei
Zwei Vorfälle im Zusammenhang mit Rechtsextremismus bei der Zürcher Polizei haben in jüngster Zeit für Fragen gesorgt. Jetzt wollen drei Zürcher Kantonsräte Antworten. Sie haben einen Vorstoss eingereicht und fordern, dass die Zürcher Polizei auf allfällige rechtsextreme Strukturen überprüft wird.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/politiker-wollen-antworten-zu-rechtsextremen-strukturen-in-zuercher-polizei-00147560/


«Police Navidad»: Stadtpolizei Zürich mit ulkigem Weihnachts-Gag
Die Stadtpolizei Zürich hat sich für die Corona-Festtage etwas Besonderes ausgedacht. Mit einer ungewöhnlichen Twitter-Aktion wünschen sie frohe Weihnachten.
https://www.nau.ch/news/schweiz/police-navidad-stadtpolizei-zurich-mit-ulkigem-weihnachts-gag-65841939


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Für Weihnachten: So begegnest du den «Fakten» deines Onkels, des Corona-Skeptikers
Ob über WhatsApp, auf Facebook oder sogar beim Essen: Fake News zum neuen Coronavirus erreichen uns überall. Damit du den Skeptikern in der Familie zu den Weihnachtsgrüssen auch ein paar Fakten mitschicken kannst, hier ein Argumentarium.
https://www.watson.ch/wissen/coronavirus/266843175-faktencheck-corona-21-behauptungen-zu-impfung-und-coronavirus-im-check


Wegen Maskenpflicht: Strafanzeige gegen St.Galler Bildungsdirektor eingereicht
Gegen den St.Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker sind vier Strafanzeigen eingegangen. Grund dafür ist offenbar die verhängte Maskenpflicht an der Oberstufe. Diese verstosse laut den Strafanzeigen gegen die Menschenrechte.
https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/wegen-maskenpflicht-strafanzeige-gegen-stgaller-bildungsdirektor-eingereicht-00147587/


+++HISTORY
Doppelmord an Heiligabend: Als ein Rechtsextremer im Aargau einen Grenzwächter und einen Polizisten erschoss
Vor 40 Jahren, am 24. Dezember 1980, erschoss ein deutscher Neonazi einen Grenzwächter und einen Polizisten in Rietheim respektive Koblenz. Die Bluttaten machten schweizweit Schlagzeilen und führten zu einer stundenlangen Verfolgungsjagd nach dem Täter – Zeitzeugen erinnern sich.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/zurzach/doppelmord-an-heiligabend-als-ein-rechtsextremer-im-aargau-einen-grenzwaechter-und-einen-polizisten-erschoss-140316997


++KNAST
tagesanzeiger.ch

Reportage aus dem Frauengefängnis«Messerstecherinnen teilen wir nicht in der Küche ein»

Etwas vom Ersten, was die ankommenden Frauen in der Haftanstalt Dielsdorf tun: ausziehen, duschen, sich nackt zeigen. Dann werden Trainer verteilt. Und in diesen Tagen auch Chlaussäckli.

Tina Huber

Kleine Momente nur, die einen die Härte dieses Orts spüren lassen. Gefängnisleiterin Simone Keller-da Cunha Sarandão führt in die Küche. Vor der Tür klappt sie das Sichtfenster hoch und späht hinein. «Könnte ja eine Insassin mit erhobener Pfanne hinter der Tür stehen.» Sie tritt ein. Drinnen steht eine Gruppe Frauen und stampft Kürbis für eine Suppe, die Stimmung ist gelöst. Auf die Frage, ob es vertretbar sei, sie mit Küchengeräten hantieren zu lassen, sagt Keller-da Cunha Sarandão: «Frauen greifen ihre Opfer in der Regel nicht ohne bestimmten Anlass an, ihre Taten haben eine Vorgeschichte.» Aber klar, «eine Messerstecherin, die willkürlich auf Personen losgeht, würden wir nicht in die Küche einteilen».

Der Umgang mit Frauen im Gefängnis sei komplexer als derjenige mit Männern, wird eine Aufseherin später sagen. Hier in Dielsdorf ZH ist man auf sie spezialisiert: Es gibt Platz für Kleinkinder; Tampons und Binden sind gratis, und viele Aufseherinnen – man spricht hier von Betreuerinnen – sind weiblich. 33 Inhaftierte sind an diesem Tag in Dielsdorf untergebracht. Die meisten sind in Untersuchungshaft, andere sitzen kurze Strafen für Diebstähle oder Drogendelikte ab.

Gefängnisse sind für viele eine faszinierende Welt. True-Crime-Sendungen boomen, und als die Stadt Zürich im Sommer Aufsichtspersonal suchte, meldeten sich über 800 Personen für 100 Jobs. Woher die Faszination? Vielleicht ist es das Rohe, Pure. Im Gefängnis fällt von einem Menschen alles ab, was uns draussen ausmacht: der Job, die Wohnung, das soziale Umfeld. Etwas vom Ersten, was die ankommenden Frauen hier tun: sich ausziehen, duschen. Sie zeigen sich nackt einer Aufseherin, erst den Oberkörper, dann den Unterkörper. Dann werden Trainer verteilt. Und in diesen Tagen Chlaussäckli. Vielleicht ist es auch das, was den Justizvollzug so besonders macht: Das stetige Hin und Her zwischen Härte und Menschlichkeit. An Weihnachten wird das besonders augenfällig.

Lorena P. (Name geändert) sagt: «Wer behauptet, es sei einfach, der lügt.» Sie sitzt seit sechs Monaten in U-Haft. Per Ende Januar, hofft sie, werde sie auf freiem Fuss sein. Sie ist 22 Jahre alt, man kann sie sich gut vorstellen hinter dem Coiffeurstuhl, an den sie zurückkehren will, wenn sie hier raus ist. Aber im Gefängnis? Wir dürfen nicht fragen, warum sie in Haft ist – es ist ein laufendes Verfahren. Als Lorena P. im Frühsommer morgens um 6 Uhr verhaftet wurde, vermisste sie als Erstes ihre Airpods. Heute hat sie seit einem halben Jahr kein Handy benutzt und findet anderes schlimm: Die Gefangenentransporte, mit denen sie zu externen Terminen gefahren wird, «mit Handschellen im Gitterverlies, wie in einem Hundekäfig». Ihr fehlen die Eltern, die Geschwister, der Freund; er darf sie zweimal im Monat eine Stunde besuchen.

Später kommen wir an ihrer Zelle vorbei. Kalter Zigarettenrauch hängt in der Luft, auf dem Kajütenbett reihen sich wie auf einem Gabentisch Süssigkeiten aneinander. Draussen vor dem Fenster lagern, mangels Kühlschrank, weitere Fressalien: Mayonnaise, Landjäger, Schmelzkäse, daneben hängen Unterhöschen an den Gitterstäben. Die Naschereien sind via Besucherpakete ins Gefängnis gelangt und vielleicht das Wertvollste, was Lorena P. und ihre Zellengenossin hier haben: der Beweis, dass draussen jemand an sie denkt.

Obwohl die Unschuldsvermutung gilt, ist das Regime in der Untersuchungshaft härter als im Strafvollzug. Es gilt ein Beinahe-Kontaktverbot nach aussen. Offiziell, damit Inhaftierte sich mit niemandem absprechen und keine Beweise vernichten; Kritiker sprechen von Zermürbungstaktik. Das Schwierigste: nie zu wissen, wie lange die Haft noch andauert. Die Staatsanwaltschaft öffnet alle Briefe und Pakete, liest mit und leitet manches nicht weiter. Besuche sind nur hinter Trennscheiben erlaubt, Telefonieren ist verboten. Die Zahl, die in Verbindung mit der U-Haft oft genannt wird – 23 Stunden pro Tag allein in der Zelle –, treffe in Dielsdorf jedoch nicht zu, stellt Keller-da Cunha Sarandão klar. Seit zwei Jahren gilt hier Gruppenvollzug: Die Türen der Zellen sind über Mittag geöffnet, die Insassinnen können sich im Gang oder im Spazierhof frei bewegen. Insgesamt halten sich die Frauen so bis zu sechs Stunden pro Tag ausserhalb der Zelle auf.

Doch die Adventszeit ist schmerzhaft. Die Anstaltsleiterin sagt: «Im Gefängnis ist Weihnachten noch viel wichtiger als draussen.» Um Gemeinschaft zu spüren, an der Welt teilzunehmen. In Dielsdorf wird einige Tage vor Heiligabend gefeiert, Seelsorger erzählen eine Adventsgeschichte, dazu gibts Punsch und Guetsli, jede Insassin darf etwas beitragen, «letztes Jahr hat eine ‹Halleluja› gesungen, dass es mir kalt den Rücken runtergelaufen ist», sagt Keller-da Cunha Sarandão.

Adelina L. (Name geändert) ist zwar Muslimin, für sie war das traditionelle Fest des Fastenbrechens im Frühling – das in Dielsdorf ebenfalls gefeiert wird – am schmerzhaftesten. Aber auch ihre Stimme wird mürbe, wenn man sie auf Weihnachten anspricht. «Phu, das wird schwierig», sagt sie. Ihr älterer Sohn hat am 25. Dezember Geburtstag, er wird 13. Vor knapp einem Jahr ist sie verhaftet worden, auch sie darf nicht sagen, warum. Sie hat dunkle Schatten unter den Augen. Mittlerweile gehe es besser, sie schlafe ohne Pillen, habe Appetit. «Mit der Zeit wird es leichter, ich kenne die Aufseher, manchmal können wir auch lachen.» Bald wird sie 39-jährig, dann wird sie einen Kuchen bestellen, alle werden singen.

Ein einziges Mal in dem Jahr hat sie ihre drei Kinder gesehen, wegen Corona durfte sie nur die beiden Jüngeren umarmen, 8 und 11 Jahre alt. Verstörend sei das Gefängnis für sie gewesen, sagt Adelina L., sie hätten geweint. So schickt sie ihnen eben Geld; 12 Franken pro Tag verdient sie bei der Arbeit in der Anstalt.

Die meisten anderen kaufen sich mit ihrem Lohn Zigaretten oder andere Extras im «Gefängnis-Kiosk»: Bodylotion, Schokolade, Pflegemittel für die Haare. Viele Untersuchungsgefangene stammen aus Osteuropa und Lateinamerika. Doch Corona verändert auch dies. «Seit der Direktflug aus São Paulo seltener landet, kommen weniger Drogenkurierinnen zu uns», sagt Simone Keller-da Cunha Sarandão.

Man hat als Besucherin die Übersicht längst verloren in den langen Gängen, es fühlt sich an wie in einem Parkhaus, in dem alles gleich aussieht. Alle paar Meter greift Simone Keller-da Cunha Sarandão zu ihrem klischeehaft grossen Schlüsselbund und schliesst eine Tür auf. Bevor sie eine Zelle betritt, klopft sie an, dann öffnet sie die Sichtklappe, um zu erkennen, wo sich die Insassin aufhält. «Sehr selten kann es vorkommen, dass einem sonst ein Schwall heisses Wasser entgegenfliegt.» Wieder so ein Moment. Doch der Umgangston zwischen Personal und Gefangenen ist wärmer, umsichtiger, als man sich dies vielleicht vorgestellt hätte. In einer freien Minute spielen zwei Aufseherinnen mit Gefangenen Volleyball, daneben verteilt eine Kollegin gebrannte Mandeln, die sie abgepackt und mit Schleifchen verziert hat.

In Frauengefängnissen, sagt Keller-da Cunha Sarandão, gebe es mehr Zärtlichkeiten und Umarmungen zwischen Insassinnen, aber auch tendenziell mehr Aufwand, um Streit zu schlichten. Vor ihrem Büro hängt ein Rapport: Eine Insassin in U-Haft – Delikt: Tötungsversuch – wird verdächtigt, einer Mitinsassin den Rasierer geklaut zu haben. Weibliche Gefangene verlangten intensivere Betreuung: «Sagt man einem Mann, in zwei Wochen hast du Bescheid, sagt er ‹Okay›. Eine Frau kommt jeden Tag und fragt nach.» Während männliche Inhaftierte zudem eher gegen Dritte gewalttätig werden, richte sich die Gewalt bei Frauen stärker nach innen. Suizidversuche und psychische Probleme sind häufiger. Viele Insassinnen in Dielsdorf nehmen Medikamente: Schlaftabletten, Beruhigungsmittel, HIV-Medikamente, Methadon.

Was wünscht man sich an einem solchen Ort? Lorena P. freut sich darauf, mal wieder selber eine Tür zu öffnen. Nicht mehr auf das Klopfen der Aufseherin warten zu müssen. Und Adelina L. will ihren Sohn von der Schule abholen. An dem Tag, an dem sie entlassen wird.



Frauen und Freiheitsentzug

2020 befanden sich in der Schweiz 401 Frauen in Untersuchungshaft oder im Straf- und Massnahmenvollzug. Damit entfielen nur knapp 6 Prozent der Freiheitsentzüge auf Frauen – den allergrössten Teil machen die Männer aus. Trotzdem fehlen in der Schweiz 20 spezialisierte Plätze für Frauen im Straf- und Massnahmenvollzug, wie die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren festhält. Rund dreissig Anstalten in der Schweiz bieten Plätze für beide Geschlechter an – doch nur zwei Einrichtungen spezialisieren sich ausschliesslich auf Frauen: Neben dem Gefängnis Dielsdorf ZH ist dies die Justizvollzugsanstalt in Hindelbank BE. (thu)
(https://www.tagesanzeiger.ch/punsch-guetsli-und-handschellen-982529544556)