Medienspiegel 22. Dezember 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Asylsuchender stirbt im Taxi – Familie erhebt Vorwürfe
Nach dem Tod des 41-jährigen Sezgin Dağ, der bis zu seinem Tod im November im Bundesasylzentrum in Lyss untergebracht war, werden die Behörden beschuldigt, falsch gehandelt zu haben. Das SEM weist die Vorwürfe zurück, bei der Staatsanwaltschaft liegt die Akte aber noch offen.
https://www.20min.ch/story/asylsuchender-stirbt-im-taxi-familie-erhebt-vorwuerfe-421065649943


Wer ist schuld am Tod von Sezgin Dağ?
Am 13. November starb Sezgin Dağ, ein Überlebender des IS-Anschlags von Pirsûs, unter ungeklärten Umständen in der Schweiz. Angehörige und Weggefährten fordern eine umfassende Aufklärung und Schritte, um Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.
https://avegkon.com/2020/12/21/wer-ist-schuld-am-tod-von-sezgin-dag
-> https://twitter.com/bwg_bern/status/1340740196954992646


+++BALKANROUTE
Flüchtlingseinsatz und ein trauriges Jubiläum
Die Flüchtlingskrise jährte sich in diesem Jahr zum fünften Mal. Linda Wachtarczyk aus Sundlauenen reiste 2015 nach Rigonce im östlichen Slowenien, sie wollte helfen zusammen mit ihrer Freundin Xenia Dürig. Ihre Erlebnisse hielten die beiden jungen Frauen in einer Reportage fest. Heute blickt Linda Wachtarczyk zurück und schildert ihre Gedanken am Ende des Textes.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/186920/


+++MITTELMEER
Rettungsschiff »Ocean Viking« wieder frei
Seenotretter dürfen nach fünf Monaten wieder aufs Mittelmeer – neuer Einsatz im Januar geplant
Die italienischen Behörden haben nach rund fünf Monaten das Rettungsschiff »Ocean Viking« wieder freigegeben. Die europäische Organisation SOS Méditerranée plant bereits den nächsten Einsatz.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1146090.seenotrettung-rettungsschiff-ocean-viking-wieder-frei.html


+++EUROPA
Frontex-Skandal: Seehofer deckte offenbar griechische Verbrechen
Griechische Grenzschützer setzen Flüchtlinge systematisch auf dem Meer aus. Ein internes Dokument legt nun nahe, dass Innenminister Horst Seehofer einen Rechtsbruch kaschierte. SPD-Vize Kühnert stellt ihm ein Ultimatum.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/frontex-skandal-horst-seehofer-deckte-offenbar-griechische-verbrechen-a-bd062e3f-e016-4f43-98a1-98cfe9757529


+++GASSE
Polizei kontrolliert Bettler, die eine Behinderung vortäuschen
In der Weihnachtszeit hat es in der Berner Innenstadt zahlreiche Bettlerinnen und Bettler, die an einer Krücke durch die Lauben gehen und so tun, als wären sie behindert. Kontrollen der Polizei haben nun ergeben, dass dies nur vorgetäuscht ist.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/polizei-kontrolliert-bettler-die-eine-behinderung-vortaeuschen?id=11900471


Obdachlos in Zeiten von Corona: Eine Notschlafstelle auf 3000 Quadratmeter
Asylsuchende, Drogensüchtige, Wanderarbeiter: Die Lausanner Notschlafstelle Le Répit bietet Randständigen während der Pandemie besonderen Schutz.
https://www.derbund.ch/eine-notschlafstelle-auf-3000-quadratmeter-354936359699



nzz.ch 22.12.2020

Die Stadt Zürich organisiert gemeinsam mit Restaurants Weihnachtsessen für Randständige

lkp. Die Weihnachtszeit ist eine emotionale Zeit – besonders für Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Dieses Jahr sind die Umstände besonders herausfordernd, weil wegen der Corona-Massnahmen viele Anlässe abgesagt wurden und sonst offene Türen geschlossen bleiben. Das Sozialdepartement der Stadt Zürich hat deshalb das Projekt «Gemeinsame Weihnachtstage» ins Leben gerufen, wie es in einem Communiqué mitteilt.

Zwischen dem 17. und dem 21. Dezember fanden in verschiedenen Restaurants, Bars und Klubs Weihnachtsessen statt. Am Projekt beteiligten sich die Bananenreiferei, das Café Boy, das X-tra und die Weihnachtsinsel auf dem Bauschänzli. Bezahlt wurden die Essen von der Stadt Zürich. Die Kosten beliefen sich auf rund 30 000 Franken.

Von den warmen Mahlzeiten profitieren konnten rund 600 Bedürftige, die persönlich eingeladen wurden. Zwei geplante Anlässe habe man wegen der schweizweit angeordneten Schliessung der Gastronomiebetriebe nicht mehr durchführen können, schreibt das Sozialdepartement. Die dafür ausgegebenen persönlichen Einladungen können ab dem 6. Januar im «Intake» des Sozialzentrums Helvetiaplatz in Lebensmittelgutscheine umgetauscht werden.

Der Sozialvorsteher Raphael Golta (sp.) freut sich, dass das Projekt so kurzfristig realisiert werden konnte. «Die Coronavirus-Krise ist auch eine soziale Krise. Viele Menschen fühlen sich einsam und perspektivlos. Wir konnten mit der Aktion einigen Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, ein schönes Erlebnis ermöglichen», lässt er sich in der Medienmitteilung zitieren.

Die städtischen und privaten Anlaufstellen sowie die Angebote der Hilfswerke bleiben auch über die Festtage unter Einhaltung der geltenden Abstands- und Hygieneregeln so weit als möglich geöffnet. So will man den Bedürftigen die Möglichkeit für Austausch und Begegnung geben – damit sie nicht gänzlich auf sich allein gestellt sind.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-stadt-organisiert-weihnachtsessen-fuer-randstaendige-ld.1593539)


+++MENSCHENRECHTE
Gerichtsentscheid: Schweizer Fernsehen durfte Tierschützer-Spot nicht verweigern
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält es für nicht zulässig, dass die SRG einen Werbefilm des Vereins gegen Tierfabriken verweigerte.
https://www.derbund.ch/schweizer-fernsehen-durfte-tierschuetzer-spot-nicht-verweigern-684323405035
-> https://www.srf.ch/news/panorama/europaeischer-gerichtshof-nicht-ausgestrahlter-werbespot-die-srg-unterliegt-in-strassburg


+++BIG BROTHER
Überwachungssoftware: Eine Waffe für die Falschen
Abhörprogramme sollen helfen, Drogenhandel und Terrorismus zu bekämpfen. In den falschen Händen gefährden sie das Leben Unschuldiger. Das belegt ein Fall in Mexiko.
https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2020-12/ueberwachungssoftware-mexiko-rcs-hackingteam-drogenkartell-puebla/komplettansicht


+++POLIZEI BS
Juristischer Graubereich: Basler Strafverteidiger sucht auf Twitter nach angeblich fehlbarem Polizisten
Der Strafverteidiger Andreas Noll sucht auf Twitter nach einem Polizisten und will damit eine Diskussion starten.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/juristischer-graubereich-basler-strafverteidiger-sucht-auf-twitter-nach-angeblich-fehlbarem-polizisten-140301703


+++POLIZEI DE
Rassismus in der Polizei: Traumatisiert von der Polizei
Bei einer Polizeikontrolle wurde John brutal vom Fahrrad gerissen. Seitdem kann er nicht mehr schlafen. Was macht Racial Profiling mit der Psyche von Betroffenen?
https://www.zeit.de/zett/politik/2020-12/rassismus-polizei-racial-profiling-psychische-folgen/komplettansicht


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Gute Geschäfte: Wie „Querdenken“ mit Verschwörungen Geld verdient
„Querdenken“-Gründer Michael Ballweg lässt sich offenbar für Auftritte bezahlen und sammelt „Schenkungen“ auf einem privaten Konto. Ein Aussteiger berichtet über sechsstellige Umsätze mit Busreisen zu Demos. Die Anti-Corona-Bewegung ist lukrativ.
https://www.belltower.news/gute-geschaefte-wie-querdenken-mit-verschwoerungen-geld-verdient-109233/


«Habe nicht mit Entlassung gerechnet»: Pfizer feuert den Organisator der Corona-Skeptiker-Demo
Patrick Jetzer, einer der Organisatoren von Corona-Skeptiker-Demos in der Schweiz, muss einen neuen Job suchen. Das Pharmaunternehmen Pfizer sah die Treuepflicht durch den Aussendienstmitarbeiter verletzt.
https://www.blick.ch/schweiz/habe-nicht-mit-entlassung-gerechnet-pfizer-feuert-den-organisator-der-corona-skeptiker-demo-id16260749.html


Fürs Anti-Terror-Referendum: Corona-Skeptiker eilen Jungparteien zu Hilfe
Das Unterschriftensammeln für das Referendum gegen das Anti-Terror-Gesetz läuft schleppend. Nun erhalten die links-grünen Jungparteien unerwartet Unterstützung – von Corona-Skeptikern. Ganz wohl ist ihnen dabei nicht.
https://www.blick.ch/politik/fuers-anti-terror-referendum-corona-skeptiker-eilen-jungparteien-zu-hilfe-id16260512.html


+++HISTORY
«So lange ich lebe, muss ich es erzählen»
Vor dem 2. Weltkrieg wohnten in Polen fast 3,5 Millionen Juden Nur etwa 10 Prozent haben den Krieg überlebt. Einer von ihnen ist Bronislaw Erlich. Der 97-jährige lebt im Wohnpark Elfenau und ist ein lebendes Geschichtsbuch.
http://www.journal-b.ch/de/082013/alltag/3782/%C2%ABSo-lange-ich-lebe-muss-ich-es-erz%C3%A4hlen%C2%BB.htm



tagesanzeiger.ch 22.12.2020

40 Jahre nach «Züri brännt» – «Wir hätten uns damals nie von einem Mann interviewen lassen»

Wyberrat,  «Kanzleila», Hodebädeler: Brigitta Fischer und Myriam Rudin erinnern  sich im Gespräch an den Feminismus, der aus der 1980er-Bewegung heraus  entstanden ist.

Thomas Wyss

Opernhauskrawalle,  Drogen, Eiszeit, AJZ, Punk – das sind typische Schlagworte in den  Retrospektiven über die unruhigen Zürcher 80er-Jahre. Kaum ein Thema ist  indes die neue feministische Bewegung, die sich ab 1984 manifestierte –  und die sich deutlich wilder und fordernder positionierte als die  vorangegangene Frauenbefreiungsbewegung FBB.

Mittendrin  statt nur dabei waren damals Brigitta Fischer und Myriam Rudin.  Erstgenannte jobbte sich nach der Kunstgewerbeschule «irgendwie durch  die ‹bewegten› Jahre», heute ist die 64-Jährige als Kinesiologin und  Paartherapeutin tätig – und dazu eine spannende Elektropoetin. Rudin, 70  Jahre alt, arbeitete lange als Erwachsenenbildnerin, darüber hinaus  engagierte sie sich beim kantonalen Nottelefon und im Nachtdienst der  Dargebotenen Hand. In der Freizeit intoniert sie «mit einer  Altweiber-Truppe politische Gesänge» und – damit sind wir wieder beim  Thema – führt feministische Stadtrundgänge durch.

Frau Fischer, welches war Ihr feministischer Schlüsselmoment in den 80er-Jahren?

Brigitta Fischer: Das war zweifelsohne die Aktion «Denk-mal an Frau» am frühen Abend des  2. Juli 1986. Wir haben in der ganzen Stadt männliche Statuen mit  Kopftüchern, Röcken und Schärpen in weibliche Denkmäler verwandelt. In  dieser Aktion war alles drin: Gemeinschaft, Kreativität, Wut, aber auch  Humor. Das Stadtbild war verändert, der «Tages-Anzeiger» und sogar die  «Emma» haben darüber berichtet.

Und bei Ihnen, Frau Rudin?

Myriam Rudin: Mein Schlüsselerlebnis fand am 24. Dezember 1980 statt, es war aber  kein rein feministisches. An jenem Tag fand auf dem späteren AJZ-Areal  eine friedliche Demo statt, mit dabei waren auch etliche Frauen mit  Kinderwagen. Plötzlich eskalierte es. Sofort schnappte ich mit ein paar  anderen Kinder und Mütter, um sie in Sicherheit zu bringen. Wir rannten  rüber zum Hotel Trümpy, das der Hotelier verbarrikadiert hatte. Als er  unsere Notsituation erkannte, liess er uns rein. Wir liefen hoch in den  sechsten Stock und warteten, bis alles vorbei war. Danach, so gegen 19  Uhr, gingen wir in eine WG und kochten Spaghetti. Niemand hatte sich  vorher gekannt, und plötzlich feierten 50 wildfremde jungen Frauen und  Männer gemeinsam Demo-Weihnachten. Der Zusammenhalt war beeindruckend,  wahrscheinlich bin ich da zur richtigen «Bewegten» geworden.

Solche Harmonie und Solidarität unter den Geschlechtern war aber wohl kaum alltäglich.

Fischer: Nein,  überhaupt nicht. Eigentlich galt unter radikalen Feministinnen die  Losung «Jeder Typ ist ein Macker». Darum hätten wir uns damals auch nie  von einem Mann interviewen lassen. (lacht)
Rudin: Es gilt allerdings anzufügen, dass es unter den Männern in der  80er-Bewegung schon auch sehr unterschiedliche Fraktionen gab. Die  Hodebädeler-Gruppe…

Die wer?

Rudin (lacht): Die Hodebädeler. Das waren die Softies, die Frauenversteher. Alles andere als Machos.
Fischer: Und doch standen selbst starke Heti-Frauen oftmals eher auf Mackertypen. Wohl weil die so «verboten» waren.

Und wie war das Verhältnis unter den Frauen? Gab es – ein Äxgüsi für den Ausdruck – Zickenkriege?

Fischer: Beim Zickenkrieg geht es doch um den Bock! Als ich 1982 vom Zürichsee  in die Stadt zog, fühlte ich mich in der Szene nicht wirklich  willkommen. Aber später, im Wyberrat, war ich sofort zugehörig.

Was genau war dieser Wyberrat?

Rudin: Der Wyberrat wurde am 6. Februar 1985 gegründet. Er bestand aus rund 25  Gruppen, alles in allem gehörten wohl etwa 200 Frauen dazu. Diese  Gruppen kamen einmal pro Monat im Kanzlei-Schulhaus, das uns die Stadt  als selbst verwaltetes Kulturzentrum überliess, zusammen. Zuerst hatten  wir nur ein Zimmer, später erkämpften wir uns dann die Frauenetage. Da  trafen Lesben auf Heteras, schüchterne Landeier auf forsche  Politaktivistinnen oder radikale Künstlerinnen. Dementsprechend war der  Wyberrat radikal und wild, aber eben auch kreativ und inspirierend. Und  wie Brigitta sagte: Es gab eigentlich nie Zoff.
Fischer: Die  Forderungen und Ziele waren wichtiger als die Differenzen. Es  existierte auch kein Führerinnenkult. Es war wirklich anders als mit  Männern: Mehr Redezeit, auch für leisere Stimmen.

Welches waren diese konkreten Ziele?

Rudin: Die  Definitionsmacht zurückzuerobern, Augenhöhe zu erreichen – sowohl auf  philosophisch-spiritueller als auch auf gesellschaftlich-politischer  Ebene. Fürs Letzteres entstand aus dem Wyberrat heraus dann die Frap!,  die als politische Partei Sitze im Gemeinderat, Kantonsrat und gar im  Nationalrat eroberte. Es gab aber eben auch die Sponti-Frauen und die  Spiri-Frauen.
Fischer: Und Anliegen, die immer schon da gewesen waren. Eine neue feministische  Bewegung baut ja auf der vorherigen auf. Freiraum für Frauen-exklusive  Anlässe war zum Beispiel eine solche Forderung.

Sie wurde mit der «Kanzleila»-Reihe ab 1987 eingelöst.

Fischer: Los  ging das bereits im Sommer 1986 mit Kanzleila’s Night Special. Die  Euphorie in dieser Nacht war extrem, darum war klar: So etwas muss es  regelmässig geben. Ab 1987 fand Kanzleila jeden ersten Sonntag in der  Kanzlei-Turnhalle statt. Es war aber nicht einfach eine Party, wir haben  zusammen gegessen, es gab auch Diskussionspodien. Später wurde der Name  in Tanzleila geändert, er existiert noch heute, findet aber nun im Club  Exil statt.

Kam es zu Konflikten mit renitenten Männern?

Rudin: Oh  ja! Und ich war als Türfrau gar nicht geeignet, weil ziemlich  verkrampft und darum oft zu schroff im Ton. Brigitta jedoch war spitze,  sie hat die Männer mit Witz und kecken Sprüchen wegbeordert, total  souverän, wir anderen haben sie dafür bewundert.
Fischer: Ehrlich? Das war mir gar nicht bewusst.
Rudin: Du hattest auch mehr Flair fürs Modische, einen anderen, frecheren Stil, keine lila Latzhosen. (lacht)
Fischer: Ich glaub, ich hab einfach ausprobiert, wie viel Erotik geht, ohne dass ich angefeindet werde.

Da wir grad bei Stilfragen sind: Wer hat eigentlich Lila zur Farbe des Feminismus gemacht? Und wann?

Fischer: Da bin ich überfragt. Weisst du das, Myriam?
Rudin: Nein, aber es ist eine interessante Frage, dem müsste man mal nachgehen.

Nochmals  zum Kanzlei. Da war ja auch noch die Kinobar Xenia. Unter jungen  Männern zirkulierte dazu der Spruch: «Wer da reingeht, wird von den  versammelten Kampflesben auf der Stelle entmannt.»

Fischer (lacht herzlich): Ein Mythos, doch er hat funktioniert, die Xenia-Frauen wurden in Ruhe gelassen.
Rudin: Ich  kann mich übrigens erinnern, dass selbst ich als Frau und Mithelferin  im Kanzleila manchmal ein bisschen Schiss hatte, einige der Lesben waren  mir irgendwie unheimlich.

Von unheimlichen zu bewunderten Frauen: Welches waren die Heldinnen der Feminismus-Bewegung?

Fischer: Kollektive Heldinnen? So was gab es bei uns nicht, das hätte  gelangweilt. Je nach Alter und Orientierung der Frauen unterscheiden  sich ihre Vorbilder. Ich erfuhr die Initiation durch Verena Stefan, ihr  Roman «Häutungen» war das erste feministische Buch, das ich gelesen  habe.
Rudin: Unsere Idole, wenn man so will, waren eher Frauen wie die junge Inderin  Giti Thadani, die als lesbische Spiritualistin Vorträge hielt. Als sie  nach Zürich kam, war das für uns ein Ereignis.

Ein  Ereignis hätten 2020 auch die «Züri brännt»-Gedenken werden sollen,  Corona hat das verhindert. Dennoch die Frage: Welchen Nachhall hat der  damalige Feminismus erzeugt?

Rudin: Er bereitete den Boden für den ersten nationalen Frauenstreik vom 14.  Juni 1991. Dieser Tag wiederum schuf ein neues feministisches  Selbstbewusstsein – es ist nun selbstverständlich, auf die Strasse zu  gehen und zu sagen, was einem nicht passt.
Fischer: Ebenso  ist es heute normal, dass Frauen in «Männerberufen» tätig sind, dass  sie hohe politische Ämter bekleiden, in Managements Einsitz haben. Dass  Zeitungen auf eine geschlechterneutrale Sprache achten. Okay, sagen wir:  gewisse Zeitungen. (lacht)

Salopp gesagt: Job done?

Rudin: Eine Freundin von mir hat es so formuliert: Ich war in der Psychi, dann  hat mich der 80er-Jahre-Feminismus zum Leben erweckt, nun bin ich  wieder in der Psychi. Was sie damit meint: Die damalige Zeit war  aussergewöhnlich, im positiven Sinn extrem intensiv, emotionell wie  intellektuell. Und dies nicht nur an einzelnen Ereignissen, sondern Tag  für Tag. Diese Intensität gibt es heute nicht mehr, wohl auch, weil der  ökonomische Druck viel grösser ist.



Das neue Album von Brigitta Fischer

Da sind elektronische Beats, melodiöse Tupfer, wogende  Stimmensamplings. Da ist ein klarer, warmer, auch mal Hörbuch-artiger  Sprechgesang, der bisweilen in wehmütigen Singsang mündet. Da sind  Texte, Geschichten, Fragmente, Gedanken, die Namen haben wie «Je nach  Befund» oder «Sylvie was here» oder «Pause» oder «Spinnen am Cabo de  Gata», und die gern das Kunststück präsentieren, im selben Moment  melancholisch und witzig zu wirken. Oder existenzialistisch und  dadaistisch. Und ja, da ist noch «Slow» von Grossmeister Cohen, ihn zu  covern, braucht Können und Mut. In der Summe ergibt dies «Meinen Knoten  löst der Wind», das eindrückliche neue Album von Elektropoetin Brigitta  Fischer alias Fischerin. (thw)
(https://www.tagesanzeiger.ch/wir-haetten-uns-damals-nie-von-einem-mann-interviewen-lassen-773349821611