Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++LUZERN
Die Dienststelle Asyl und Flüchtlinge kann ihrer Aufgabe nicht gerecht werden
Die Dienststelle Asyl und Flüchtlingswesen (DAF) ist zuständig für die
Betreuung, Unterbringung und Integrationsförderung von Asylsuchenden
(N), vorläufig aufgenommenen Personen (F) und anerkannten Flüchtlingen
(B). Aus verschiedenen Gesprächen ergaben sich Aussagen, die sich
mehrheitlich um das Gleiche drehen. Die Mitarbeitenden des
Sozialdienstes sind konstant überlastet: 110 Fälle bei einem
100-Prozentpensum zum Beispiel. Das ist zu viel, um der
Betreuungsaufgabe gerecht zu werden. Ein Dossier kann eine Einzelperson
betreffen oder eine achtköpfige Familie.
https://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/die-dienststelle-asyl-und-fluechtlinge-kann-ihrer-aufgabe-nicht-gerecht-werden
+++ST. GALLEN
tagblatt.ch 06.12.2020
«Es nützt nichts, wenn wir covidfrei sind, dafür alle depressiv»:
St.Galler Asylzentren sind wieder im Lockdown – Ein Rundgang in der
Landegg
Keine Besuche, keine freien Wochenenden und die diffuse Gefahr des
Virus. In den St.Galler Asylzentren gelten wieder dieselben Regeln wie
im März. Wie sich die Pandemie in der Asylunterkunft selbst entschärft –
und dennoch zu Konflikten führt.
Adrian Lemmenmeier-Batinić
Leere gähnt durch das Asylzentrum Landegg. Auf dem Billardtisch im
Aufenthaltsraum klacken keine Kugeln, eine Frau in Trainerhose ist die
einzige Person im Raum. Sie erbarmt sich des Fotografen und posiert für
ein Foto, das die Leere einfängt: Frau, allein, sitzt vor
nebelverhangener Fensterwand auf einem Sofa und sieht in die Ferne.
Draussen vor der Tür raucht jemand und spricht mit dem Koch.
Umtriebig unterwegs ist Luan Skenderi, seit zehn Jahren Leiter im
kantonalen Asylzentrum. Er führt durch sämtliche Gebäude, zeigt Küche,
Speisesaal, Büros und die Schulzimmer, wo eine Gruppe gerade Dialoge bei
einem Arztbesuch übt. Ansonsten wirkt das Zentrum ausgestorben. «Wegen
der Pandemie bleiben die Bewohner meistens auf ihren Zimmern», sagt
Skenderi. In der zweiten Welle gelten in den St.Galler Asylzentren
wieder dieselben Regeln wie im März: Besuchsverbot, keine freien
Wochenenden, Abstand halten – und nun auch Maskenpflicht.
An der Wand des Empfangszimmers hängt der Belegungsplan. Das Zentrum ist
wenig ausgelastet, nur 45 von 106 Betten sind besetzt. Corona hat die
globale Mobilität gebremst, was sich in der Asylstatistik zeigt:
Zwischen April und Oktober wurden in der Schweiz rund 5600 Asylgesuche
gestellt, gut 2700 weniger als im Vorjahr. In der Folge werden weniger
Leute auf die Kantone überwiesen. «Das kommt uns im Umgang mit dem Virus
entgegen,» sagt Skenderi. Weil wenig Asylsuchende da sind, kann man sie
besser verteilen und so die Ansteckungsgefahr verringern. So haben alle
Bewohnerinnen und Bewohner ein Einzelzimmer. Die Pandemie entschärft
sich hier also ein Stück weit selbst. Bis jetzt wurde niemand positiv
getestet. Dennoch will man vorbereitet sein. Ein Teil des Zimmerplans
ist mit weissen Zetteln überdeckt. «Isolationszimmer», steht darauf.
Skenderi tritt nach draussen auf die Kantonsstrasse und blickt in die
Ferne. Hier, 300 Höhenmeter über Rorschach, ist der Bodensee kein
schmaler Streifen am Horizont, sondern ein fetter Balken. Die Wolken
hängen tief, das deutsche Ufer verschwimmt im Nieselregen. «Die Aussicht
ist in einem Asylzentrum sehr wichtig», sagt der 55-Jährige. «Befindet
sich ein Zentrum in einem Tobel, ist die Stimmung öfter bedrückt.» Der
offene Blick mache einen Unterschied.
Die Landegg ist ein föderalistischer Zwitter. Ein Drittel der 106 Plätze
stehen Appenzell Ausserrhoden zu, der Rest dem Kanton St.Gallen. Die
Gebäude des Zentrums befinden sich beidseits der Kantonsgrenze. Der
obere Fussgängerstreifen gehört dem einen Kanton, der untere dem
anderen. Wenn Skenderi mal die Polizei rufen musste, fragte sie jeweils
als erstes, auf welcher Strassenseite sich denn das Problem abspielte.
Die emotionale Fallhöhe ist riesig
Auf der St.Galler Seite der Strasse steht ein junger Mann mit
Millimeterschnitt und schwarz-weisser Camouflagehose. Er komme aus
Weissrussland, sagt er, habe als politischer Aktivist vor dem
Lukaschenko-Apparat fliehen müssen. Wie geht er mit der Pandemie und den
damit verbundenen Einschränkungen um? «Corona ist stressig», sagt er.
«Ob in einem Asylzentrum oder an einem anderen Ort.» Doch Asylsuchende
hätten neben der Pandemie noch viele andere Gründe, gestresst zu sein.
Die Trennung von Familie und Freunde, traumatische Erlebnisse,
Einsamkeit, unklare Zukunftsaussichten. Und dann dieses Virus: für viele
nur ein Tröpfchen im Meer der Verunsicherung. Doch auch das Tröpfchen
könne manchmal zu viel sein.
Das sieht auch Skenderi so. «Für einen Menschen, der nach einem Jahr
Wartezeit einen negativen Entscheid erhält, bricht die Welt zusammen. Er
hat dann vielleicht andere Prioritäten als Händehygiene und
Maskenpflicht.» Das führe schon manchmal zu Konflikten, die emotionale
Fallhöhe sei in Asylzentren riesig. Das gelte genauso für Menschen, die
Angst vor dem Virus hätten und deswegen zusätzlich gestresst seien.
Klar: «Es nützt nichts, wenn wir covidfrei sind, dafür alle depressiv.»
Doch im grossen Ganzen sei die Stimmung im Zentrum gut. Die Mehrheit der
Bewohner schätze die Coronaregeln und befolge sie vorbildlich. «Ihnen
ist klar, dass sie dem eigenen Schutz dienen.»
Doch hinter vorgehaltener Hand gibt es auch Kritik. Jemand findet, man
werde unnötig isoliert. Es sei unverständlich, wieso der Kontakt mit der
Aussenwelt dermassen eingeschränkt werde. Viele Leute hätten bereits
psychische Probleme. Jetzt dürften sie keinen Besuch empfangen und die
Wochenenden nicht auswärts verbringen, das sei schwierig. An den
Fenstern des Speisesaals hängen die Verhaltensregeln. «Wer das Zentrum
ohne Erlaubnis verlässt, muss zehn Tage in Quarantäne», steht da zum
Beispiel. Oder: «Ab sofort keine Besuche mehr.»
Ist es verhältnismässig, dass Asylsuchende keine Besuche erhalten
dürfen, in einem Kanton, wo gar Senioren im Altersheim täglich zwei
Besucher empfangen? Zehn Tage Quarantäne, wenn man das Zentrum verlässt,
ist das nicht übertrieben? Die Fragen gehen an Urs Weber, Leiter der
Asylabteilung beim Kanton St.Gallen. Nach dem Mittagessen lädt er in ein
Sitzungszimmer auf der Ausserrhoder Seite. «Aus Sicht des Einzelnen
kann ich verstehen, dass die Regeln eine Einschränkung darstellen.» Doch
es gehe nun mal darum, alle Bewohner und das Personal so gut wie
möglich zu schützen. Da wolle man auf der sicheren Seite sein. Und
schliesslich könnten sich die Bewohner nach wie vor im Freien mit
anderen Leuten treffen, sofern sie Abstand hielten.
Weber betont, er sei froh, seien die Zentren derzeit wenig ausgelastet.
«Wenn der Platz in den Zentren des Bundes eng wird, kann der Bund
Reservezentren eröffnen.» Auf kantonaler Ebene sei das nicht so einfach.
«Es ist ja bekannt, wie schwierig es ist, neue Asylzentren
einzurichten.»
Auch die Landegg ist dieses Jahr wieder zum Zankapfel geworden. Das
kantonale Zentrum soll bis Ende März nach Walzenhausen umziehen. Danach
wollen die St.Galler Gemeinden die Landegg als Internat für
minderjährige Asylsuchende nutzen, was den Einwohnern der Ausserrhoder
Gemeinde Lutzenberg sauer aufstösst. Auch dem jungen Mann mit
Millimeterschnitt ist aufgefallen, dass die Leute in der Gegend
abwehrend auf die Asylsuchenden reagieren. «Schade», sagt er nur.
Zentrumsleiter Skenderi führt zurück auf die Strasse. Für ihn ist die
Coronapandemie nicht die erste Ausnahmesituation in seinem Beruf. Vor
fünf Jahren, als Flüchtlinge in grosser Zahl über das Mittelmeer und die
Balkanroute kamen, war die Landegg dermassen überbelegt, dass er nicht
wusste, wo er die Leute unterbringen sollte. Doch die Herausforderung
war eine andere. «Damals konnte man die Flüchtlinge emotional abholen,
mit ihnen an einem Strick ziehen.» Überfüllte Boote, Menschenmengen vor
Grenzzäunen: Die Bilder der Bedrohung seien klar gewesen. Heute sei die
Gefahr unsichtbar. Der Umgang damit individuell. Und alles irgendwie
diffus.
–
Thurhof und Sonnenberg vorübergehend abgeriegelt
In zwei von vier St.Galler Asylzentren gab es in der zweiten Welle
Coronafälle. Sowohl im Thurhof in Oberbüren als auch im Ausreise- und
Nothilfezentrum Sonnenberg in Vilters waren zwischenzeitlich mehrere
positiv Getestete in ihren Zimmern isoliert. Im Thurhof waren es acht
Fälle. Im Sonnenberg zwei. (al)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/reportage-es-nuetzt-nichts-wenn-wir-covidfrei-sind-dafuer-alle-depressiv-stgaller-asylzentren-sind-wieder-im-lockdown-ein-rundgang-in-der-landegg-ld.2066815)
+++ZÜRICH
«Züri-City-Card» stösst im Kantonsrat auf Kritik
Eine städtische Identitätskarte soll die rund 10’000 Sans-Papiers in
Zürich besser in die Gesellschaft integrieren. Die kantonale SVP will
das verhindern – laut Kantonsrat René Isler wäre ein solcher Ausweis
nicht gesetzeskonform.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zueri-city-card-stoesst-im-kantonsrat-auf-kritik-00146343/
+++DEUTSCHLAND
Bundesregierung will Kurden nach Bulgarien abschieben
Linkspartei befürchtet Kooperation bulgarischer und türkischer Behörden bei Bekämpfung von Oppositionellen
Bulgarien schiebt in die Türkei ab, bevor Gerichte über Asylverfahren
entscheiden können. Die Linken-Abgeordnete Sommer fordert die
Bundesregierung zur Änderung der Überstellungspraxis auf.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1145422.abschiebung-bundesregierung-will-kurden-nach-bulgarien-abschieben.html
+++GRIECHENLAND
Die alltägliche Katastrophe
Der Journalist Jan Theurich über die Flüchtlingslager auf Lesbos und die Einschränkung der Pressefreiheit
Es gibt viel zu wenig Aufmerksamkeit. Die großen Medien sind nur in der
Zeit des Brandes gekommen, jetzt sind alle wieder weg«, erzählt Jan
Theurich im Interview. Er ist einer der wenigen, die weiter von Lesbos
aus über Moria berichten – und wird in seiner Arbeit zunehmend von den
griechischen Behörden behindert.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1145423.lesbos-die-alltaegliche-katastrophe.html
+++SYRIEN
»Wir können sie nicht verhungern lassen«
Caritas-Chef Müller über die Notwendigkeit und die Grenzen humanitärer Hilfe in Syrien
Nach fast zehn Jahren Krieg steht Syrien am Abgrund. Millionen Menschen
sind auf der Flucht, leiden Hunger und leben in Ruinen oder
Notunterkünften. Die Caritas versucht zu helfen, kommt aber an ihre
Grenzen. Leiter Oliver Müller erklärt im Interview, warum man sich
trotzdem engagieren muss.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1145416.syrien-wir-koennen-sie-nicht-verhungern-lassen.html
+++GASSE
Bern: Über 300 Personen von Bundesterrasse weggewiesen
In der Nacht auf Sonntag musste zur Auflösung einer Schlägerei auf der
Bundesterrasse in Bern kurzzeitig Pfefferspray eingesetzt werden. Zudem
mussten insgesamt rund 300 Personen aufgefordert werden, die Örtlichkeit
zu verlassen, weil die Vorgaben zum Schutz vor dem Coronavirus nicht
eingehalten worden waren.
https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=f3ab3e86-e77c-45b1-9a02-d7cdce3f64a7
-> https://www.derbund.ch/schlaegerei-auf-der-bundesterasse-300-menschen-werden-weggewiesen-969412791025
-> https://www.bernerzeitung.ch/polizei-loest-schlaegerei-auf-bundesterrasse-auf-418277157348
-> https://www.20min.ch/story/schlaegerei-auf-der-bundesterasse-300-menschen-werden-weggewiesen-969412791025
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/ueber-300-personen-weggewiesen-wueste-schlaegerei-auf-bundesterrasse-in-bern-id16231944.html
Kleider und Essen für Arme: «Haus Zueflucht» unterstützt Bedürftige während Corona-Krise
Die Coronapandemie hat viele, welche bereits finanzielle Engpässe
hatten, fast in den Ruin getrieben. Nun kommen auch noch eisige
Temperaturen dazu. Das Hilfsprojekt der Franziskanischen Gassenarbeit
«Haus Zuflucht» will Gegensteuer geben und verteilt vor der St. Jakobs
Kirche Kleidung und eine warme Mahlzeit an Bedürftige.
https://www.telezueri.ch/zuerinews/kleider-und-essen-fuer-arme-haus-zueflucht-unterstuetzt-beduerftige-waehrend-corona-krise-140133530
+++REPRESSION DE
Gemeinschaftlich gegen Repression
Proteste gegen Verschärfung des Demonstrationsrechts im Zuge der G20-Verfahren gehen über die linke Szene hinaus
https://www.heise.de/tp/features/Gemeinschaftlich-gegen-Repression-4981589.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/391968.rondenbarg-prozess-nebenwirkung-solidarit%C3%A4t.html
+++KNAST
Hat ein Gefängniswärter einen Häftling gewürgt? Die schwierige Suche nach der Wahrheit
Es gibt keine unabhängigen Zeugenaussagen und keine objektiven Beweise
im Fall von drei Aargauer Gefängniswärtern, die einen Häftling
misshandelt haben sollen. Bei der Urteilsfindung stellt sich die die
Frage, wem die Richterin glaubt: dem Gefangenen, den
Vollzugsangestellten oder dem Kantonspolizisten?
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/hat-ein-gefaengniswaerter-einen-haeftling-gewuergt-die-schwierige-suche-nach-der-wahrheit-140110575
+++POLICE FR
Proteste eskalieren, Präsident Macron wirkt zunehmend machtlos: Frankreich in der Gewaltspirale
Spur der Verwüstung in Paris: Demonstrationen gegen ein
Polizei-Übergriffe schlagen in der französischen Hauptstadt in Krawalle
um.
https://www.tagblatt.ch/international/polizeigesetz-proteste-eskalieren-praesident-macron-wirkt-zunehmend-machtlos-frankreich-in-der-gewaltspirale-ld.2072547
-> https://taz.de/Gewalt-in-Frankreich/!5731031/
-> https://taz.de/Journalismus-in-Frankreich/!5731042/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/391979.neoliberales-frankreich-ordnung-und-atomkraft.html
—
NZZ am Sonntag 06.12.2020
«Ich schäme mich für diese Polizisten»
Christophe Korell, Blogger und selber Polizist, erklärt, warum es in Frankreich so häufig zu Gewalt von Ordnungshütern kommt.
Aufgezeichnet von Christine Longin, Paris
Die Bilder des schwarzen Musikproduzenten Michel Zecler, der in Paris
von Polizisten rassistisch beschimpft und verprügelt wurde, sind
schrecklich. Ich bin 45 und seit mehr als 20 Jahren Polizist, aber mir
fehlen die Worte. Wie kann man jemanden mit solcher Gewalt behandeln,
nur weil er ohne Maske erwischt wurde? Er ist doch weder ein Dieb noch
ein Terrorist.
Ich denke, bei dem Einsatz gab es einen Tunneleffekt: Die vier
Polizisten waren darauf fixiert, Zecler festzunehmen, und wollten das
unbedingt zu Ende bringen, statt sich ab einem gewissen Moment zu
sagen, dass ein Rückzug besser wäre. Ihre Vorgesetzten hätten genau
dies anordnen sollen. Sie hätten eingreifen und sagen müssen: Wir gehen
zu weit. Wir stoppen den Einsatz, mit dem wir nur Schlimmeres
anrichten.
Doch bei der Pariser Polizei fehlt es an Führungskräften. Ausserdem
wird in der Ausbildung nicht gelernt, sich zurückzuziehen, wenn der
Einsatz mehr schadet als nützt.
Ich selbst bin nie Zeuge rassistisch motivierter Gewalt der Polizei
geworden. Fast meine ganze Karriere habe ich als Ermittler bei der
Kriminalpolizei gemacht, und da hat man nicht denselben Kontakt zu den
Menschen wie bei der Bereitschaftspolizei.
Polizisten werden nicht gewalttätig geboren. Sie können es aber werden,
wenn sie nicht die richtige Ausbildung erhalten. Die Gesellschaft ist
insgesamt gewalttätiger geworden.
Gründe für Polizeigewalt und rassistisches Verhalten gibt es viele. Zu
Anfang des Jahrtausends schaffte Nicolas Sarkozy als Innenminister die
sogenannte Nachbarschaftspolizei ab, also jene Polizei, die in den
Problemquartieren präsent war, die täglich den Kontakt zur Bevölkerung
pflegte und die mit den Jugendlichen Sport trieb, um mit ihnen zu
kommunizieren und Vertrauen aufzubauen.
Stattdessen setzte man auf Polizisten, die nur für den Einsatz im
Ernstfall ausgebildet wurden. Die Polizei muss jedoch ein Gleichgewicht
zwischen Prävention und Repression haben.
Viel zu kurze Ausbildung
Auch die Ausbildung ist ein Problem. Sie ist viel zu kurz und lässt
viel zu viele Bereiche aus, Soziologie und Religionswissenschaften zum
Beispiel. Auch die Geschichte der Banlieues, mit der die angehenden
Polizisten verstehen würden, wo sie später zum Einsatz kommen und wem
sie gegenüberstehen.
Der Kinofilm «Les Misérables», der die Spannungen zwischen Polizisten
und Jugendlichen in einer Pariser Problemvorstadt zeigt, ist sicher
übertrieben. Aber er zeigt auch etwas Wahres. In der Polizei gibt es
die Tendenz, Problemviertel als Orte anzusehen, wo alle kriminell
sind. Dabei gibt es dort Jugendliche, die einfach nur das Pech hatten,
in einem solchen Quartier geboren worden zu sein.
Meine erste Stelle hatte ich 1996 in Asnières-sur-Seine, einer Banlieue
von Paris. Auch dort gab es in diesem Sommer einen rassistischen
Vorfall: Polizisten beschimpften einen Nordafrikaner, der aus Angst vor
einer Festnahme in die Seine gesprungen war.
«Man hätte dem dreckigen Araber einen Stein um den Hals hängen
sollen», sagten sie laut einem Video. Ich schäme mich für diese
Polizisten, auch wenn ich schon lange aus Asnières-sur-Seine weg bin.
Tausende Einsätze verlaufen jeden Tag gut. Aber mit den Bildern von
Polizeigewalt verlieren die Bürger das Vertrauen in die Polizisten. Die
Führung stört das bis jetzt nicht. Sie sagt sich: 70 Prozent der
Franzosen vertrauen uns. Doch man sollte eher die andere Seite
anschauen, die 30 Prozent, die uns misstrauen.
Was können wir tun, um ihr Vertrauen zurückzugewinnen? Auch die
Gewerkschaften haben keine Vision, welche Rolle die Polizei in der
Gesellschaft spielen sollte. Ich war selbst Gewerkschafter, doch als
ich gemerkt habe, dass ich nur neue Mitglieder heranschaffen sollte,
ohne meine Ideen einzubringen, habe ich aufgehört.
Zur Polizei bin ich ganz zufällig gekommen. Ich hatte die Schule
abgebrochen und eine Lehre in einer Druckerei gemacht. Danach musste
ich den Wehrdienst absolvieren, den es in den neunziger Jahren noch
gab. Man konnte ihn beim Militär oder der Polizei leisten, doch die
Armee lockte mich nicht. Also wurde ich nach zweimonatiger Ausbildung
Hilfspolizist und machte hinterher die Aufnahmeprüfung für die
Polizeischule.
Im Lauf der Jahre habe ich viele schwierige Momente erlebt. Ich musste
zum Beispiel mit meinen Kollegen nach den Anschlägen des 13. November
2015 den Tatort auf den Terrassen der angegriffenen Cafés sichern.
Danach verhörten wir die Überlebenden im Konzertsaal Bataclan. Die
Anschlagserie hat die Polizei sehr gefordert.
Es folgten die vielen Demonstrationen gegen das Arbeitsrecht und die
Rentenreform, die mit einem massiven Aufgebot gesichert werden mussten.
Und die Gelbwesten, die jedes Wochenende protestierten und dabei
Polizisten brutal angriffen.
Man darf nicht vergessen, dass die Polizei fünf Jahre lang extrem stark
in Anspruch genommen wurde. Die Beamten sind deshalb bei ihren
Einsätzen sehr angespannt. Die Erschöpfung spielt eine Rolle, auch wenn
sie nicht alles erklärt.
Lange Arbeitstage
Zu Hause habe ich nie viel über meine Arbeit gesprochen. Ich war
ohnehin nicht viel daheim, denn ich hatte lange Arbeitstage und war
häufig auch am Wochenende und nachts im Einsatz. Meine beiden Töchter
sah ich nur kurz morgens und abends, wenn überhaupt. Das wurde erst
besser, als ich vor zweieinhalb Jahren ins Justizministerium wechselte,
wo ich nun regelmässige Arbeitszeiten habe. Ich bin dorthin
abkommandiert, um mit meinen technischen Spezialkenntnissen bei den
Ermittlungen zu helfen.
Über Twitter und mein Blog mache ich auf die schwierigen
Arbeitsbedingungen der Polizisten aufmerksam. Sie fahren mit Autos, die
teilweise 200 000 oder 300 000 Kilometer auf dem Tacho haben. Die
Kameras, mit denen sie ihre Einsätze filmen sollen, haben so schwache
Batterien, dass sie während eines Dienstes dreimal aufgeladen werden
müssen. Manche Polizisten schaffen sich deshalb selber Kameras und
anderes Material an. Dabei verdient ein Polizist, der frisch von der
Schule kommt, nur 1500 Euro.
Vor zwei Jahren habe ich den Verein Agora des citoyens, de la police et
de la justice gegründet, um das Vertrauen zwischen Bürgern und der
Polizei, aber auch der Justiz wiederherzustellen. Mit unseren 50
Mitgliedern gehen wir in die Problemquartiere und reden mit den
Jugendlichen.
Wir versuchen ihnen zu zeigen, dass nicht alle Polizisten gewalttätig
und rassistisch sind, und hören uns an, was sie über Polizei und Justiz
zu sagen haben. Mit ihnen würden wir gerne in die Polizeischule gehen
und sie dort ihre Sicht der Dinge erzählen lassen. Wir haben angefragt
und warten immer noch auf eine Antwort.
(https://nzzas.nzz.ch/international/warum-es-in-frankreich-so-haeufig-zu-polizeigewalt-kommt-ld.1590583)
-> https://www.derstandard.at/story/2000122288241/ausschreitungen-und-krawalle-frankreichs-gewaltspirale?ref=rss
+++RECHTSEXTREMISMUS
Sascha Lobo – Der Debatten-Podcast: Extremisten aller Art lieben Chats – auch bei der Polizei
Die soziale Dynamik von Chats ist kaum zu überschätzen, findet Sascha
Lobo. Deshalb müsse man die rechtsextremen Chatgruppen bei der Polizei
genau untersuchen. Im Podcast reagiert der Kolumnist auf
Leserzuschriften.
https://www.spiegel.de/netzwelt/web/rechtsextremismus-bei-der-polizei-warum-chats-bei-extremisten-so-beliebt-sind-podcast-a-363826c9-2790-4e1b-ad74-a68dfd962c44
Nach Rauswurf aus Reha-KlinikEric Weber: «Ich will zurück in die Irrenanstalt»
Rechtsaussen-Grossrat Eric Weber ist in Deutschland aus einer
Rehabilitations-Klinik geflogen. Er bestreitet den Vorwurf, der zur
Entlassung geführt hat und will zurückkehren.
https://www.bazonline.ch/ich-will-zurueck-in-die-irrenanstalt-975037253964
-> https://www.20min.ch/story/eric-weber-soll-in-der-reha-rechtsextreme-propaganda-verbreiten-671737448911
-> https://telebasel.ch/2020/12/06/eric-weber-aus-reha-klinik-geschmissen/
-> https://www.blick.ch/schweiz/eklat-wegen-rechtsextremer-propaganda-reha-klinik-wirft-krawall-politiker-eric-weber-raus-id16230894.html
Homophob und frauenfeindlich? Firmenchef Johannes Läderach sagt: «Schokolade können wir besser als Krise»
Wie korrigiert ein Unternehmen ein ramponiertes Image? Im Fall Läderach
mit viel Kontrolle und noch mehr Schweigen. Und der Hoffnung, dass die
Welt bald wieder über die Schokolade spricht statt über christlichen
Fundamentalismus.
https://www.aargauerzeitung.ch/wirtschaft/homophob-und-frauenfeindlich-firmenchef-johannes-laederach-sagt-schokolade-koennen-wir-besser-als-krise-140107736
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Die Mär vom Geistertest: Positiver Coronabefund ohne Abstrich?
Neues aus Coronistan: Die zweite Coronawelle befördert Skurriles an die
Oberfläche. Jetzt ist eine speziell schräge Geschichte aufgetaucht. Sie
wird gerne weitererzählt – und offenbar auch gerne geglaubt.
https://www.bzbasel.ch/basel/baselbiet/die-maer-vom-geistertest-positiver-coronabefund-ohne-abstrich-140109306
Staatsschutz beobachtet Corona-Querfront und warnt vor deren Antisemitismus
Wiener Polizei wandte seit März 2020 über 14.000 Dienststunden im Zusammenhang mit Anti-Corona-Protesten auf
https://www.derstandard.at/story/2000122277019/staatsschutz-beobachtet-corona-querfront-und-warnt-vor-dessen-antisemitismus?ref=rss
Verfassungsschutz: Franziska Giffey will Beobachtung von Querdenkern
Angesichts der vielen Todesfälle hat Giffey kein Verständnis für
Corona-Demonstranten. Auch Berlins Innensenator fordert eine Beobachtung
durch den Verfassungsschutz.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-12/verfassungsschutz-franziska-giffey-querdenken-corona-beobachtung-extremismus
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/querdenken-franziska-giffey-fordert-einschreiten-des-verfassungsschutzes-a-b595b8ab-08b9-4b80-9085-22b15bac2aeb
Folgen für geplante Silvester-Großdemo in Berlin? – Bundesverfassungsgericht verbietet „Querdenken“-Demo in Bremen
Die Karlsruher Richter bestätigen im Eilverfahren das Demo-Verbot der
Stadt Bremen. Es ist der erste Beschluss dieser Art und könnte
richtungsweisend sein.
https://www.tagesspiegel.de/politik/folgen-fuer-geplante-silvester-grossdemo-in-berlin-bundesverfassungsgericht-verbietet-querdenken-demo-in-bremen/26690582.html
Briefkastenfirma und ein Sex-Club: Die dubiosen Geldflüsse bei den „Querdenkern“
„Querdenker“ wollen Geld für angeblich gigantische Klagen gegen
Corona-Maßnahmen. Spenden dafür fließen über ein Konto in Belgien, eine
Firma in den Niederlanden und die Adresse eines Sex-Clubs.
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_89054572/dubiose-querdenker-spenden-fliessen-ueber-briefkasten-firma-.html
Waldorfschulen und Corona: Gefährliche Freiräume
Die Waldorfpädagogik baut auf „Erziehung zur Freiheit“. In der Pandemie
ist an Waldorfschulen nicht klar, wo Freiheit aufhört und Diktatur
beginnt.
https://taz.de/Waldorfschulen-und-Corona/!5731231/
Coronavirus: So absurd kleiden sich Schweizer Maskenverweigerer
Windeln, Gasmasken und Kuhglocken. Maskenverweigerer finden immer neue
Wege, um gegen die Maskenpflicht im Kampf gegen das Coronavirus zu
protestieren.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-so-absurd-kleiden-sich-schweizer-maskenverweigerer-65828355
Corona-Protest mit rechter Hilfe
Bei einer Querdenken-Demonstration in Düsseldorf haben Neonazis
mitgemischt – nicht zum ersten Mal. Zu rechten Positionen will die
Bewegung keinen Abstand halten.
https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2020/12/06/corona-protest-mit-rechter-hilfe_30407
—
spiegel.de 06.12.2020
»Querdenken«-Bewegung: Kampf mit Kindern
Unter Corona-Verschwörern geben zunehmend fundamentalistische Christen
den Ton an. Sie verknüpfen antisemitische Klischees mit Endzeitrhetorik
– und spannen verstärkt Minderjährige ein. Ein Adventist tut sich
besonders hervor.
Von Marc Röhlig
Der Aufruf ist unmissverständlich. Für Mitte Dezember plant die
»Querdenken«-Bewegung eine Demo in Weil am Rhein, im Dreiländereck
zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Es soll um
Menschenrechte und eine bessere Zukunft »für unsere Kinder« gehen.
»Querdenken«-Chef Michael Ballweg soll kommen, außerdem weitere Stars
der Szene sowie Rednerinnen und Redner aus der Region.
»Ganz besonders«, heißt es aber in dem Aufruf, der im Netz kursiert,
»freuen wir uns über Beiträge von Kindern, Schülern, Studenten und den
Youngsters«. Die Suche nach kindlichen Fürsprechern im Kampf gegen die
Corona-Maßnahmen der Bundesregierung ist kein Zufall.
Im Hintergrund applaudieren die Eltern
Die »Querdenken«-Bewegung ist Anlaufstelle für Unternehmerinnen und
Unternehmer, die sich um ihre finanzielle Zukunft im Shutdown sorgen –
aber auch für Esoterikerinnen, Rechtsextreme, Impfgegnerinnen
und Reichsbürger, genauso wie Menschen, die glauben, das
Coronavirus existiere gar nicht.
Oft geben jedoch fundamentalistische Christen den Ton an – und die ziehen Kinder aktiv mit in den Protest hinein.
Die Minderjährigen spielen in der Propaganda mancher »Querdenker« eine
immer wichtigere Rolle. »Querdenken«-Gruppen haben bereits mit Megafon
vor Schulen demonstriert und Flyer verteilt. Schülerinnen und Schüler
wurden auf ihren Schulwegen bedrängt, sie sollten ihre Masken absetzen.
Auf Kundgebungen und Demos reden immer mehr Kinder und Jugendliche,
oft lesen sie stockend einen ausformulierten Text ab.
Die Reden sind gespickt mit antisemitischen Holocaust-Verharmlosungen
und Gruselgeschichten über den Mund-Nasen-Schutz. Im Hintergrund sind
johlende und applaudierende Erwachsene zu hören.
Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) kritisierte jüngst Eltern,
die ihre Kinder mit auf »Querdenken«-Veranstaltungen nehmen: »Es gehört
zur elterlichen Fürsorgepflicht, Kinder nicht einer solchen
Gefahrensituation auszusetzen«, sagte er gegenüber den Zeitungen der
Funke Mediengruppe.
Anne-Frank-Vergleiche und »böse« Politiker
In den vergangenen Wochen sprachen immer häufiger Minderjährige. Die
Beiträge kann man auf Instagram und Telegram finden, auf den
einschlägigen Seiten von »Querdenken«-Anhängern und
Pandemieleugnerinnen:
– Da ist die Elfjährige, die bei einer »Querdenken«-Demo in Karlsruhe
ihr Schicksal mit dem von Anne Frank verglich. Sie habe ihren
Kindergeburtstag leise feiern müssen, so wie sich auch das jüdische
Mädchen während des Zweiten Weltkrieges im Hinterhaus habe verstecken
müssen.
– In Fulda behauptete eine Zwölfjährige, sie habe eine
Maskenunverträglichkeit und sehe unter dem Stoff dann immer aus »wie
ein Streuselkuchen«. Dem Schulleiter und ihrem Kickboxlehrer, die das
Attest sehen wollten, empfahl sie, »mal den Kopf einzuschalten«.
– Und eine nach eigenen Angaben 14-Jährige sprach in Königsbrunn von
ihrem Traum, bald in einer Welt mit Liebe zu leben, in der die jetzigen
Politiker zurückgetreten seien. Sie wolle ihnen dann auch vergeben,
denn: »Sie sind schließlich auch nur Menschen, kein Kind wurde böse
geboren.«
Viele der jungen Rednerinnen kommen auf Initiative von Samuel Eckert
auf die Bühne. Der protestantische Freikirchler mauserte sich in den
vergangenen Wochen zu einer Art Galionsfigur der »Querdenker« – und hat
mit den »Samuel Eckert Youngsters« ein Netzwerk aufgebaut, in dem
sich Jugendliche über Corona austauschen und möglichst häufig auf
Demos präsent sein sollen.
Aufbauarbeit in der geheimen Telegram-Gruppe
In einer nicht öffentlichen Telegram-Gruppe sollen mittlerweile mehr
als 200 Mädchen und Jungen Mitglied sein und sich mit Eckert und einer
weiteren Betreuerin über den »Maskenwahn im Unterricht« austauschen.
Außerdem seien Psychologinnen und Juristen zugeschaltet, um den
Jugendlichen zu helfen, behauptet Eckert in einem im Netz zugänglichen
Interview. Akteure rund um den Verschwörer werben wohl in anderen
Corona-Protestgruppen auf Telegram für die »Youngsters«: Eltern sollten
gern ihre Kinder zum Beitritt bewegen.
Einblicke in die Gruppe gibt es zwar nicht, die Youngsters betreiben
allerdings je einen Kanal auf Instagram und YouTube, auf denen sie für
ihre Sache werben. Eckert selbst reagierte nicht auf SPIEGEL-Anfragen.
Auf seinem Instagram-Kanal teilt er Bilder von Kindern und
Jugendlichen, die ihn am Rande seiner Auftritte besuchen. »Ihr
Kinderlein kommet«, steht unter einem Foto, dass zwei kleine Jungs in
Eckerts Tourbus zeigt.
Der sogenannte Siebenten-Tags-Adventist spricht von sich selbst als
Corona-Leugner, in seinen Onlinepredigten bezeichnet er die Pandemie
als »die letzte Zeit der Weltgeschichte«.
Zwar redet der Freikirchler von Liebe und Freiheit – aus den
Zwischentönen lässt sich dennoch mehr herauslesen. Es sei an der Zeit,
dass Gerechtigkeit geschaffen werde. Man werde nun »in den Kampf
marschieren«, heißt es in einem Video. Der Widerstand gegen die
Corona-Maßnahmen sei biblisch begründet: als ein apokalyptischer
Endkampf Gut gegen Böse. »Diese Menschen«, sagt Eckert mit Blick auf
Politikerinnen und Virologen, bekämen nun »das, was sie verdienen«.
Falschmeldungen über Kindstode durch Maskentragen
Zuletzt tourte er mit dem Sinsheimer HNO-Arzt Bodo Schiffmann auf einer
»Info Tour« durch deutsche Städte, um Verschwörungserzählungen zu
verbreiten. Eine beliebte Behauptung beider: die angeblich tödliche
Gefahr, die von Masken für Kinder ausgehe.
Auch wenn nachweislich in Deutschland kein einziges Kind unter einem
Mund-Nasen-Schutz erstickt ist, halten sich von »Querdenkern«
verbreitete Gerüchte beharrlich. Im Oktober bemühte sich die Polizei
Schweinfurt, eine entsprechende Falschmeldung wieder einzufangen.
–
Seit Dienstag verbreiten Masken-Kritiker auf Social Media
#Falschmeldungen über den angeblichen Tod eines 6-jährigen Mädchens in
#Schweinfurt.
Schenkt diesen #fakenews bitte keinen Glauben und retweetet sie auf keinen Fall. ‼ #COVID19 #maskenpflicht pic.twitter.com/P9DuHMgPXc
— Polizei Unterfranken (@PolizeiUFR) October 1, 2020
–
Kinder spielten bei Verschwörungserzählungen oft eine wichtige Rolle –
ihr Schicksal wird nicht selten mit antisemitischen Klischees
aufgeladen. Die Erzählungen sind mindestens so alt wie der Buchdruck.
Im Spätmittelalter tauchte mit dem »Hexenhammer« ein Werk auf, das
behauptete, Juden und Hexen würden auf Geheiß des Teufels aus getöteten
Kindern »Hexensalbe« gewinnen.
Die »Pläne des Satans« bekämpfen
Der Mythos erfuhr durch die sogenannte QAnon-Verschwörung eine
Wiedergeburt: Jetzt werden die Kinder angeblich entführt und in
unterirdischen Verliesen gefangen gehalten, damit eine heimliche
Weltelite ihr angeblich verjüngendes Blut trinken kann.
Der Sänger und Verschwörungsgläubige Xavier Naidoo brach im Video in
Tränen aus, als er von angeblich verschleppten Kindern berichtete. Man
müsse nun alles tun, um die Kinder zu retten. Der Berliner Pastor
Christian Stockmann, einer der Anführer des Netzwerks »Christen im
Widerstand«, spricht von »bösen Mächten«, die die Menschen versklaven
wollen. Diese »Pläne des Satans«, so stehe es in der Bibel, müsse man
bekämpfen.
Auch Samuel Eckert behauptet immer wieder, der Staat schade mit seinen
Corona-Maßnahmen den Kindern – und der »Kampf« sei nun gekommen.
Diese Untergangsrhetorik kommt nicht von ungefähr. Gerade im eher
obrigkeitskritischen Pietismus in Baden-Württemberg finden sich immer
wieder Anhängerinnen und Anhänger der Corona-Proteste, andere haben
einen anthroposophischen Hintergrund. Sie eint der antisemitisch
eingefärbte Glaube an eine angebliche »Finanzelite«, die die Pandemie
von langer Hand geplant habe.
»Super-GAU für alle weltoffenen Kirchen«
Immer wieder ringen Freikirchen, vor allem im Südwesten Deutschlands,
mit der Ausbreitung von Verschwörungsmythen in den eigenen Reihen – und
haben das Gefühl, oft in Geiselhaft genommen zu werden. Die
Evangelische Allianz in Deutschland, ein Netzwerk evangelischer
Christen, hat unlängst ihre Gedanken zur Coronakrise veröffentlicht. In
der Achtpunkteliste distanziert sie sich deutlich von
Verschwörungstheorien und lobt die Entscheidungsträgerinnen und
Entscheidungsträger in der Politik.
Dennoch hätten es all die friedlichen Gemeinden schwer, im Netz gegen
Ausreißer wie Samuel Eckert zu bestehen. »Wir veröffentlichen
Klarstellungen, klären auf, laden Interessierte zu Gesprächen ein«,
sagt Uwe Heimowski, Politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz
in Berlin, »und rennen doch der medialen Aufmerksamkeit solcher
schillernden Persönlichkeiten immer nur hinterher«.
Typen wie Eckert seien entsprechend »für die öffentliche Wahrnehmung
ein Super-GAU«, sagt Heimowski. Er kenne die Adventisten als
»weltoffene und sehr soziale Kirche«, entsprechend unglücklich sei es,
»wenn es immer wieder Leute auf die Titelseiten schaffen, die so extrem
sind«.
Verschwörungsbewegung im Zerfall
Heimowski sagt, eine Gemeinde sei ein Spiegel der Gesellschaft. Man
finde darin so viele AfD-Wähler oder Grünenwähler wie im Rest des
Landes. Was er damit meint: Man findet entsprechend leider auch so
manche Spinner, »die dann theologisch übers Ziel hinausschießen«.
Dass immer mehr fundamentalistische Christen bei »Querdenken« und
anderen Corona-Protestbewegungen die Zügel übernehmen, wundert Michael
Blume nicht. Der Religionswissenschaftler ist
Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg und gibt einen
Podcast über Verschwörungsmythen heraus. Aufstieg und Zerfall von
Verschwörungsbewegungen beobachtet er schon länger.
»Was wir jetzt bei ›Querdenken‹ sehen, ist typisch für
Verschwörungsbewegungen im Zerfall«, sagt Blume. Am Anfang würden
solche Bewegungen immer von einer breiten Masse an Interessierten
getragen. Doch in dem Moment, in dem die Idee nicht mehr trägt – im
Fall von »Querdenken« die Mär vom angeblichen Impfzwang und der
bevorstehenden »Corona-Diktatur« –, löse sich die Bewegung in ihre
fundamentalistischen Einzelteile auf.
»Ziehe ich mich zurück oder eskaliere ich weiter?«
Immer wieder haben Akteure aus der Protestszene behauptet, der Staat
beginne nun mit Impfungen oder werde Menschen in Lager wegsperren.
Immer wieder wurden dabei vermeintliche Schicksalstage kolportiert.
Solche Termine verkündeten Corona-Gegner auf ihren Plattformen für
Mitte Mai, für August, für den 3. Oktober, zuletzt für Mitte November –
als Änderungen des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag verabschiedet
wurden. Doch wie bei allen Tagen zuvor passierte: nichts. Die
Prophezeiungen schlugen fehl.
Wer seine Zeit in so eine Verschwörungsbewegung stecke, so Blume, müsse
sich irgendwann entscheiden: »Ziehe ich mich zurück oder eskaliere ich
weiter?« Nach Beobachtungen des Religionswissenschaftlers bleiben dann
oft nur jene Gruppen aktiv, die auch schon vor Erstarken der Bewegung
ein eigenes Netzwerk vorweisen konnten. Im Falle von »Querdenken« seien
das vor allem Rechtsextreme und kinderreiche Fundamentalisten aus
Freikirchen.
Mittlerweile forderte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius eine
zügige Entscheidung darüber, ob die »Querdenker« vom Verfassungsschutz
beobachtet werden sollten. Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan
Kramer sieht längst »hinreichende Anhaltspunkte«, dass die Bewegung bald
als Verdachtsfall eingestuft wird.
Die Einschätzung machte Kramer unter anderem an einem Ereignis in
seinem Bundesland fest: Im thüringischen Saalfeld hatten sich Mitte
November die Organisatoren von »Querdenken«, darunter Gründer Michael
Ballweg, mit Angehörigen der »Reichsbürger«-Szene getroffen. Auch der
selbst ernannte »König von Deutschland«, der »Reichsbürger« Peter
Fitzek, war anwesend. Bilder im Netz zeigen, dass Teilnehmer des
Treffens eine Plakette zu lesen bekamen, die sie »temporär« zu
Zugehörigen des nicht existenten Königreichs Deutschland erklärte.
Der Schulterschluss mit Extremisten – noch so ein Zeichen für den
Zerfall der »Querdenker«. Samuel Eckert tut sich in diesem Prozess als
neuer Posterboy der Corona-Verschwörer hervor. Wie andere Christen auch
war er zwar schon länger in der Bewegung aktiv, aber erst jetzt wird
er richtig sichtbar. Auf Telegram folgen ihm mittlerweile mehr als
123.000 Anhängerinnen und Anhänger, etwa 10.000 mehr, als
Verschwörungsideologe Attila Hildmann dort um sich schart. YouTube
sperrte jüngst Eckerts Kanal, mittlerweile lädt der Freikirchler seine
Corona-Predigten bei einem Streamingdienst für Videospiele hoch, bei
dem sich Verbreiter von Hatespeech und Verschwörungsmythen tummeln. Die
Videos sind oft mit Spendenaufrufen versehen.
Antisemitische Predigten, fragwürdige Bücher
Der Religionswissenschaftler Blume spricht im Fall von Eckert
mittlerweile von einem »Verschwörungsunternehmer«, der Protest wird zum
Geschäft. Das Problem: Eckert macht sein Geschäft auch mit
antisemitischer Propaganda.
Der Verschwörungsprediger verteilt unter anderem ein Buch von Ellen
Gould White, einer Mitbegründerin der Freikirche der
Siebenten-Tags-Adventisten. In dem Buch aus dem 19. Jahrhundert werden
antisemitische Thesen verbreitet, viele Adventisten distanzieren sich
von dem Werk. Samuel Eckert hingegen schreibt auf Wunsch eine Widmung
hinein.
In seinen Videos klingt der Corona-Leugner oft wie das Buch selbst,
spricht vom Dualismus zwischen »guten und bösen Mächten«. »Eingeweihte
wissen hier sofort Bescheid«, sagt der Verschwörungsexperte Blume, die
Codes seien gewollt. Er hält Eckert klar für antisemitisch.
Samuel Eckerts Gemeinde geht auf Distanz
Die Gemeinde in Lahr im Schwarzwald, in der Eckert noch im vergangenen
Jahr als Laienprediger sprach, hat sich mittlerweile von ihm
distanziert. Seine Reden wurden von der Gemeindeseite entfernt.
Im Netz predigt der Corona-Leugner weiter. Was Baden-Württembergs
Antisemitismusbeauftragter Blume dabei für besonders bedenklich hält:
dass Eckert Minderjährige für seine Zwecke einspannt, gerade mit Blick
auf die geheime »Youngsters«-Gruppe.
»Wir sehen schon an der Polizei, was ein abgeschotteter WhatsApp-Chat
an Radikalisierung mit sich bringen kann«, sagt Blume mit Blick auf
zuletzt öffentlich gewordene rechtsextreme Chats einzelner Polizisten.
»Da will ich mir nicht vorstellen, was mit jungen Menschen passiert,
wenn sie fünf, sechs Jahre lang in solchen Verschwörungsgruppen
unterwegs waren.«
+++HISTORY
Weitergeben. Theodor Kramers Gedichte von der Angst
In den Anti-Corona-Protesten bricht sich ein neuer
Geschichtsrevisionismus Bahn. Wer ihm öffentlich widerspricht, adelt die
Provokationen mit Aufmerksamkeit. Sie könnten aber auch Anlass für
eigene Auseinandersetzungen mit den NS-Verbrechen sein. Zum Beispiel
durch die leisen Angstgedichte von Theodor Kramer.
https://geschichtedergegenwart.ch/weitergeben-theodor-kramers-gedichte-von-der-angst/
+++WORLD OF CORONA
Viele Corona-Patienten mit Migrationshintergrund im Spital
Zahlen gibt es zwar keine nur Schätzungen: In den beiden Basel liegen
überdurchschnittlich viel Corona-Patientinnen und -Patienten im Spital
mit Migrationshintergrund. In Basel-Stadt setzt man deshalb jetzt auf
Whatsapp-Sprachnachrichten in 17 verschiedenen Sprachen. (ab 03:18)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/viele-corona-patienten-mit-migrationshintergrund-im-spital?id=11891142