Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++FRANKREICH
Polizeiübergriff mit Schwerverletztem und offener Brief der Eritreer_innen in Calais
Am 11. November gegen 15:00 eskaliert ein Polizeieinsatz auf dem Camp am
BMX-Gelände in Calais [1]. Ein CRS-Beamter schießt einem Eritreer mit
einem Gummigeschoss ins Gesicht und verletzt ihn schwer. Die Polizei
behindert den Transport des Schwerverletzten, der auch noch eine Woche
später im Krankenhaus behandelt werden muss, wo er nach wie vor nicht
ansprechbar ist, und sein Zustand als kritisch eingeschätzt wird. Die
Eritreer_innen in Calais wenden sich mit einem offenen Brief an die
Öffentlichkeit.
https://calais.bordermonitoring.eu/2020/11/22/polizeiuebergriff-mit-schwerverletztem-und-offener-brief-der-eritreer_innen-in-calais/
+++MITTELMEER
An Bord des Rettungsschiffs «Sea Watch 4» – Teil 1
Gummiboote, die über das Meer treiben und mit viel zu vielen Menschen
gefüllt sind. Bilder davon tauchen seit Jahren regelmässig in den Medien
auf. Für die Journalistin und Pfarrerin Constanze Broelemann wurden
solche Bilder diesen Sommer zur Realität und sie hat die Auswirkungen
der Flüchtlingskrise hautnah miterlebt. Denn sie war an Bord der «Sea
Watch 4» und hat geholfen, Geflüchtete aus der Seenot zu retten. Sie
spricht über ihre Erlebnisse an Bord und wie solche Rettungen von
Geflüchteten in einfachen Booten abgelaufen sind.
https://www.suedostschweiz.ch/sendungen/spirit/2020-11-15/an-bord-des-rettungsschiffs-sea-watch-4-teil-1
+++ATLANTIK
nzz.ch 22.11.2020
Die Kanarischen Inseln fühlen sich mit den Migranten von Madrid alleingelassen
Die spanische Regierung lehnt die Überführung von Migranten auf das
Festland ab. Damit soll der Anreiz zur Reise vermindert werden. Jetzt
sollen für 7000 Menschen neue Zeltstädte errichtet werden. Die Anwohner
befürchten «griechische Zustände».
Ute Müller, Madrid
Der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen aus Afrika auf die Kanarischen
Inseln ist eine schwere Belastungsprobe für das Verhältnis zwischen
der Zentralregierung in Madrid und der kanarischen Regionalregierung.
Fast schon verzweifelt forderte jetzt deren Präsident Ángel Víctor
Torres mehr Solidarität von Madrid und vor allem die Überführung von
Migranten auf das Festland. «Alleine schaffen wir das hier nicht»,
sagte Torres nach einem Treffen am Freitag mit José Luis Escrivá, dem
Minister für Soziales.
Wenn man in Madrid die Absicht habe, die Migranten einfach auf den
Kanarischen Inseln zu lassen, dann sei mit dem Widerstand des
Regionalparlaments und der kanarischen Gesellschaft zu rechnen. Die
Inseln sind seit dem Ende des Sommers zum Zugangstor nach Europa für
Migranten aus Marokko und mehreren Ländern der Sahelzone geworden.
Bisher kamen fast 19 000 Personen, die Hälfte davon in den letzten
vier Wochen, und ein Ende des Ansturms ist nicht abzusehen. «Hier
spielt sich ein humanitäres Drama ab. Die Kanarischen Inseln dürfen
kein Käfig sein», sagte auch Ana Oramas, eine kanarische Abgeordnete im
Madrider Parlament.
Spanien verlangt Rückübernahme von Marokko
Die Inselregierung ist seit vielen Wochen auf sich alleine gestellt.
Es fehlt an genügend Unterkünften für die vielen Neuankömmlinge. Weil
dieses Jahr kaum Touristen auf die Inseln kamen, wurden notgedrungen
Hotels und Ferienwohnungen gemietet, um dafür zu sorgen, dass
wenigstens ein Teil der Migranten ein Dach über dem Kopf hat.
Doch die Bilder, die in den letzten Tagen um die Welt gingen, zeigen
keine schönen Hotels, sondern das Aufnahmelager auf der Hafenmole
Arguineguín im Städtchen Mogán im Süden der Ferieninsel Gran Canaria.
Hier sollten die Neuankömmlinge eigentlich nur maximal 72 Stunden
festgehalten werden, um sich einem Covid-19-Test zu unterziehen. Doch
viele mussten gleich mehrere Wochen dort ausharren. Zeitweise hielten
sich auf der nur 3600 Quadratmeter grossen Hafenmole mehr als 2000
Menschen auf, da reichten nicht einmal die Zelte für alle.
Viele Afrikaner mussten unter freiem Himmel auf dem Steinboden
schlafen. Mit dem Coronavirus infizierte Ankömmlinge konnten nur
unzureichend isoliert werden. Journalisten und Fotografen erhielten
keinen Zutritt. Erst als die Hilfsorganisation Human Rights Watch die
unhygienischen Verhältnisse und Verstösse gegen humanitäre Grundsätze
anprangerte und sogar das spanische Staatsradio von einem «Lager der
Schande» sprach, entschloss sich die Madrider Regierung zum Handeln.
Ein Teil der Migranten von der Hafenmole wird jetzt in eine schnell
errichtete Zeltstadt des Militärs auf Gran Canaria übergeführt. Der
spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska versprach zudem am
Wochenende die Errichtung von Zeltstädten auf mehreren Inseln. So
sollen möglichst schnell 7000 Migranten untergebracht werden.
Marlaska will die Überführung auf das Festland verhindern, um bei den
Migranten keine falschen Hoffnungen zu wecken. Der Archipel dürfe nicht
zum Sprungbrett für die irreguläre Einwanderung nach Europa werden,
sagte der Minister.
Ebenso wie bei der ersten Flüchtlingskrise 2006, als 35 000 Migranten
auf die Kanarischen Inseln kamen, setzt die Madrider Regierung auch
jetzt auf eine diplomatische Offensive.
Marlaska traf sich am Freitag mit seinem marokkanischen Amtskollegen
Abdelouafi Laftit. Er forderte vom Marokkaner eine bessere Kontrolle
der Küsten und eine Rücknahme der Migranten. Mittlerweile sind mehr als
die Hälfte der Neuankömmling marokkanische Bürger.
Auch Spaniens Aussenministerin Arancha González Laya warb am Sonntag in
der senegalesischen Hauptstadt Dakar für eine bessere Kooperation mit
Madrid. Von den Küsten des westafrikanischen Landes waren dieses Jahr
Tausende von Flüchtlingen auf die 1500 Kilometer lange Überfahrt
aufgebrochen.
Angst vor Zuständen wie auf Lesbos
Auf den Kanarischen Inseln befürchtet man derweil, dass die geplanten
Zeltstädte keine provisorische, sondern die endgültige Lösung für die
Unterbringung der Migranten sein könnte. «In der internationalen Presse
vergleicht man uns schon mit Lesbos oder Lampedusa», sagte Onalia
Bueno, die Bürgermeisterin von Mogán, wo sich die umstrittene
Hafenmole befindet.
Das werde Folgen haben für den Tourismus, die Haupteinnahmequelle der
neun Inseln. Aus der Migrationskrise könne schnell eine soziale Krise
werden, mahnte Bueno. Doch im Gegensatz zu 2006, als viele der
Flüchtlinge auf das Festland übergeführt wurden, will die spanische
Regierung diesmal nicht nachgeben. Marlaska liess daran keinen Zweifel.
Die illegale Einwanderung sei ein Thema, das die ganze Europäische
Union beträfe, Spanien könne nicht im Alleingang entscheiden.
(https://www.nzz.ch/international/kanarische-inseln-fuehlen-sich-mit-den-migranten-alleingelassen-ld.1588272)
+++GASSE
Bern: Mitteleinsatz nach Flaschenwürfen gegen Polizisten
Anlässlich eines Einsatzes wegen eines Brandes im Bereich der
Schützenmatte, der eine grössere Personenansammlung zur Folge hatte,
haben Unbekannte in der Nacht auf Sonntag Flaschen gegen die Polizisten
geworfen. Es mussten in der Folge kurzzeitig Mittel eingesetzt werden.
Verletzt wurde nach bisherigem Kenntnisstand niemand.
https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=cbbb2b5f-ebeb-4eeb-8bbc-9605972d16ff
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/gummischrot-auf-vermummte-geschossen-polizisten-vor-berner-reitschule-mit-flaschen-angegriffen-id16208429.html
+++KNAST
«Du hast sie genötigt, mit geladenen Waffen»: Wie das Gefängnis Lenzburg eine wichtige Pionierrolle spielt
Die Restaurative Justiz ermöglicht Begegnungen zwischen Opfern und
Tätern. Im Gefängnis Lenzburg finden seit einiger Zeit solche
Dialoggruppen statt. Fachpersonen sehen einen klaren Nutzen in den
Gesprächen.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/du-hast-sie-genoetigt-mit-geladenen-waffen-wie-das-gefaengnis-lenzburg-eine-wichtige-pionierrolle-spielt-139961517
+++BIG BROTHER
Verschlüsselte Kommunikation – Will die EU verschlüsselte Kommunikation bei WhatsApp verbieten?
Es gebe Pläne, Hintertüren in Messaging-Apps einzubauen, heisst es. Gar keine gute Idee, sagen Sicherheitsforscher.
https://www.srf.ch/news/panorama/verschluesselte-kommunikation-will-die-eu-verschluesselte-kommunikation-bei-whatsapp-verbieten
+++POLIZEI DE
Taser für die Bundespolizei
Die Bundespolizei-Inspektionen Berlin-Ostbahnhof, Kaiserslautern und
Frankfurt/Main-Hauptbahnhof haben Anfang September ein Pilotprojekt zum
Einsatz von rund 30 Tasern begonnen. Bislang war bei der Bundespolizei
nur die Spezialeinheit GSG 9 mit solchen „DistanzElektroImpulsGeräten“
(DEIG) ausgerüstet, laut einem Bericht des „Spiegel“ wurden sie dort
aber nie genutzt.[1] Taser schießen mit einem Draht verbundene Pfeile
ab, die in die Haut eindringen und für mehrere Sekunden einen
Stromimpuls von 50.000 Volt abgeben. Die Betroffenen spüren einen sehr
starken Schmerz und sind für kurze Zeit gelähmt.
https://www.cilip.de/2020/11/22/taser-fuer-die-bundespolizei/
-> https://www.zeit.de/news/2020-11/20/taser-test-ab-anfang-2021-bei-nrw-polizei
+++POLICE FR
Neues Sicherheitsgesetz in Frankreich: Demo fürs Polizistenbild
Künftig sollen Franzosen Polizisten im Einsatz nicht mehr filmen dürfen.
Journalistinnen und Journalisten sehen dadurch ihre Arbeit in Gefahr.
https://taz.de/Neues-Sicherheitsgesetz-in-Frankreich/!5727172/
Proteste in Frankreich: Polizei will im Krieg der Bilder die Oberhand gewinnen
Präsident Macrons neues Gesetz zur «globalen Sicherheit» ist umstritten.
Insbesondere Artikel 24, der es verbietet, Polizisten bei der Arbeit zu
filmen und diese Aufnahmen dann zu verbreiten.
https://www.derbund.ch/polizei-will-im-krieg-der-bilder-die-oberhand-gewinnen-105993405992
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Coronaleugner-Schweigemarsch in Berlin: Gestörte Opferinszenierung
Ein Schweigemarsch der Coronaleugner stößt in Prenzlauer Berg auf
massiven Protest. Die Gegner fühlen sich für die Zukunft bestärkt.
https://taz.de/Coronaleugner-Schweigemarsch-in-Berlin/!5727113/
Corona-Demo in Hannover: Selbst ernannte »Sophie Scholl« provoziert heftige Reaktionen im Netz
Eine Rednerin hat sich bei einer »Querdenken«-Demo mit Sophie Scholl verglichen. Dann schritt ein junger Mann ein.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-demo-selbst-ernannte-sophie-scholl-provoziert-heftige-reaktionen-im-netz-a-365c7c4f-c0d2-4f19-9c2a-ec24d13c354b
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/querdenken-demo-rednerin-vergleicht-sich-mit-sophie-scholl,SH4SxW0
Corona-Demonstranten in Lachen SZ ignorieren Maskenpflicht – Polizei schritt nicht ein
Rund 1000 Personen haben am Samstagnachmittag in Lachen SZ an einer
bewilligten Kundgebung gegen die verschärften Corona-Massnahmen
demonstriert. Trotz mehrmaliger Aufforderung hat sich die Mehrheit der
Demonstrierenden nicht an die Maskentragepflicht gehalten.
https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/700461829-corona-demo-in-lachen-schwyz-teilnehmer-verweigerten-maskenpflicht
-> https://www.sz.ch/behoerden/sicherheit-polizei/kantonspolizei/polizei.html/72-416-411-408-4371/news/14300
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/corona-demo-lachen-139960626
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/veranstalter-der-corona-kundgebung-muessen-mit-anzeige-rechnen?id=11881332
18-minütiges Video zu Corona-Protesten: Rezo geht Politik und Polizei wegen „Querdenker“-Demos an
In einem neuen Video befasst sich einer der bekanntesten YouTuber
Deutschlands mit der „Querdenken“-Bewegung. Der Clip sorgt im Netz für
viel Aufmerksamkeit.
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/18-minuetiges-video-zu-corona-protesten-rezo-geht-politik-und-polizei-wegen-querdenker-demos-an/26648460.html
Wenn Idioten deine Freiheit und Gesundheit gefährden…
https://youtu.be/eoxxh2qNZj4
+++HISTORY
Sich empören genügt nicht
Die Verstrickungen der Schweiz in den Sklavenhandel werden immer offensichtlicher. Empörung ist keine genügende Antwort.
https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Schweiz-Sklavenhandel-Sans-Papiers-City-Card
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derbund.ch 22.11.2020
Crypto-Affäre: Kronzeuge bot sich der Geheimdienstaufsicht an – diese verzichtete dankend
War der Bundesrat tatsächlich nicht über das wichtigste
Geheimdienstprojekt der Schweiz in der Nachkriegszeit informiert? Das
ist das Ergebnis der parlamentarischen Untersuchung. Aber die
Kronzeugen wurden für die Untersuchung nicht befragt.
Res Strehle
Was wussten die Bundesräte über das Geheimprojekt Crypto, die grösste
Spionageaktion mit Schweizer Beteiligung seit dem Zweiten Weltkrieg?
Nichts.
Das ist das Ergebnis der Geschäftsprüfungsdelegation des Parlamentes
(GPDel), die vergangene Woche ihren Untersuchungsbericht zur
Crypto-Affäre präsentiert hat. Sie verteidigt damit das Prinzip der
«glaubhaften Bestreitbarkeit», mit dem sich die Politik aus drohenden
Skandalen um die Geheimdienste heraushält.
Gemäss diesem Prinzip setzen die Nachrichtendienste vor den
verantwortlichen Politikern bewusst einen «Stoppstein»: Die Politik
soll zwar die Grundzüge von Geheimdienstprojekten kennen, soll aber
nicht im Detail informiert sein. Dieses Prinzip hat die CIA in den
Fünfzigerjahren unter Präsident Dwight D. Eisenhower zur Perfektion
entwickelt. Es schützte den US-Präsidenten davor, bei den teils
schmutzigen Operationen der CIA mit in den Strudel gerissen zu werden.
Das Prinzip ist bis heute aktuell und verhindert etwa, dass Russlands
Präsident Wladimir Putin für den Giftanschlag gegen den oppositionellen
Politiker Alexei Nawalny oder der saudische Kronprinz Muhammad bin
Salman für die Zerstückelung des Journalisten Jamal Khashoggi
verantwortlich gemacht werden kann.
Auch die für das Geheimprojekt Crypto verantwortlichen Vorsteher des
Militärdepartements (EMD, ab 1998 VBS) oder des Justiz- und
Polizeidepartements (EJPD) haben laut GPDel nichts gewusst. Acht
ehemalige oder aktuelle Bundesräte und Bundesrätinnen wurden in der
parlamentarischen Untersuchung angehört. Sie alle bestätigten ihr
Nichtwissen übereinstimmend. Von der Faktenlage her gestützt wird dies
für die heutigen Mitglieder im Bundesrat. Nicht gestützt wird es bei
den Alt-Bundesräten Arnold Koller (CVP) und Kaspar Villiger (FDP), die
in einzelnen Akten und Berichten zum Geheimprojekt erwähnt werden.
Samuel Schmid (SVP) wird in den bekannten Akten zwar nirgends erwähnt,
war aber in der Phase der wichtigsten Weichenstellung beim Projekt
Crypto der verantwortliche Bundesrat
Dunkelkammer Vaduz
Koller, ehemaliger Vorsteher beider betroffener Departemente (EMD
1987–1989, EJPD 1989–1999), erklärt das Auftauchen seines Namens in den
Akten gegenüber der GPDel mit dem unbefriedigenden Ergebnis der
Untersuchung der Bundespolizei (Bupo) nach dem Fall Bühler 1994/95.
Unter Kollers Verantwortung vermochte die Bupo nicht einmal die
Eigentümer der Crypto AG ausfindig zu machen. Es erging ihr damals
nicht besser als den Medien, deren Recherchen nach den Eigentümern der
Zuger Firma in Liechtenstein endeten. Das Handelsregister in Vaduz
machte damals zur Crypto-Eigentümerin «Anstalt Europäische
Handelsgesellschaft» keine weiteren Angaben. Damit blieb schleierhaft,
wer für die monatelange Haft und psychische Folter des
Crypto-Verkaufsingenieurs Hans Bühler im Iran verantwortlich war und
wer schliesslich das Lösegeld für seine Freilassung in der Höhe von
einer Million Dollar bezahlte.
Als versierter Aktienrechtler konnte sich Arnold Koller mit dieser
Verhüllung des Eigentümers nicht zufriedengeben. Sein Generalsekretär
Armin Walpen forderte deshalb den damaligen Crypto-Verwaltungsrat und
FDP-Nationalrat Georg Stucky Anfang Mai 1994 auf, seinen Einfluss zur
Abklärung der wahren Eigentümer geltend zu machen. Stucky traf in der
Folge den deutschen Geschäftsführer der Firma zum Mittagessen. Dieser
informierte ihn, dass die Firma der CIA gehörte. Stucky traf daraufhin
seinen Parteikollegen Kaspar Villiger und informierte ihn über seinen
neuen Wissensstand. So jedenfalls steht es im CIA-Geheimbericht über die
Crypto, der im Februar publik geworden war. Der Alt-Bundesrat
bestätigte gegenüber der GPDel das Treffen mit Stucky; er habe aber
«keine Erinnerung», dass er jemals über die Eigentumsverhältnisse der
Crypto AG unterrichtet worden wäre.
Nicht aktenkundig
Koller liess nicht locker und schlug anlässlich des Schlussberichts der
Bupo ein Jahr später seinem Bundesratskollegen Villiger vor, die
Eigentumsverhältnisse der Crypto bei einem Gespräch mit Nationalrat
Stucky zu klären. Ob dieses Gespräch stattgefunden hat, ist laut GPDel
«nicht aktenkundig», laut Koller kam das Treffen nicht zustande.
Villiger erinnert sich nicht an einen solchen Vorschlag Kollers. «Ich
hätte selbstverständlich keine Einwände dagegen gehabt», schreibt er
auf Anfrage.
Die GPDel versucht diesen Punkt nicht weiter zu klären, obwohl er das
wichtigste Indiz für das stille Mitwissen und den fehlenden
Aufklärungseifer eines Bundesrates wäre. Dazu hätte man etwa den
damaligen deutschen Geschäftsleiter der Crypto befragen müssen, dem es
nicht egal sein konnte, was Stucky mit seiner Kenntnis des wahren
Eigentümers machte. Laut dem Geheimbericht bangte die CIA nach dem
Treffen Stucky – Villiger wochenlang, ob Villiger sein Wissen für sich
behalten oder den Gesamtbundesrat informieren würde. Letzteres hätte das
Geheimprojekt 1994 zu Fall gebracht und der Schweiz einen Konflikt mit
der USA beschert.
Kronzeuge bot sich an
Schon 16 Jahre zuvor hatte es einen Betriebsunfall in der Konstruktion
der «glaubhaften Bestreitung» dieses Geheimprojektes gegeben. 1978
informierte der ausgeschiedene Crypto-Entwicklungschef Peter Frutiger
laut seinen Angaben den zuständigen Bundesrat schriftlich über den
Geheimdienst-Hintergrund der Zuger Firma. Frutiger nennt aus
Sicherheitsgründen heute keine Namen mehr. Zuständig für das
Crypto-Dossier waren in dieser Zeit der EMD-Vorsteher Rudolf Gnägi
(BGB, später SVP) und der EJPD-Vorsteher Kurt Furgler (CVP).
Gnägi interessierte sich für die Zuger Firma, weil seine Untergruppe
Nachrichtendienst mit ihren Geräten die damals mangelhafte
Funkverschlüsselung der Armee sicher machen sollte. Furgler gehörte zu
den Gründern der Geheimdienstkooperation «Club de Berne». Seine beiden
engsten Vertrauensleute Hans Walder (ehemaliger Bundesanwalt) und André
Amstein (Chef Bupo) waren über Frutigers detaillierte Analyse der
Geräteschwächen und die wahren Eigentümer im Detail informiert.
Auch Frutiger, heute 84-jährig, wurde von der GPDel nicht angehört,
obwohl er sich als Zeuge aktiv anbot und sein damaliges Wissen mit
«offiziellen Belegen» nachweisen wollte. «Alfred Heer wollte davon
nichts wissen», schreibt er auf Anfrage, «das hätte ja nur Probleme
gebracht.» Heer und die übrigen Mitglieder der GPDel begründen den
Umstand, dass sie die Crypto-Mitarbeiter nicht befragt haben, damit,
dass sich ihre Untersuchung auf die Vertreter des Staates beschränken
sollte.
So bleibt die neutralitätspolitische Verantwortung für die Einbindung
der Schweiz in das CIA-Projekt an der obersten Stufe des
Nachrichtendienstes hängen. Gemassregelt hat die GPDel den früheren
Nachrichtendienstchef und heutigen EDA-Generalsekretär Markus Seiler.
Seiler verweigerte 2017 die Annahme eines Berichts des Armeekryptologen
zur Crypto explizit. Der frühere Assistent des St. Galler Professors
und Neutralitätsexperten Alois Riklin hielt so aktiv Wissen von sich
fern und setzte den Stoppstein eine Hierarchiestufe tiefer.
Verschiedene Stellen des GPDel-Berichts bleiben schwer glaubhaft, etwa
dass die Schweiz nach Frutigers Anzeige angeblich fünf Jahre brauchte,
bis sie Zugang zu einem passenden Chiffriergerät eines Nachbarstaates
erhielt, um dieses untersuchen zu können.
Oder dass der Schweizer Nachrichtendienst erst im Herbst 1993 Kenntnis
von den wahren Besitzern der Firma hatte. Tatsächlich hatte der
Nachrichtendienst bereits ein Jahr zuvor den deutschen
Bundesnachrichtendienst gebeten, die Freilassung Bühlers mit dem Iran
zu verhandeln.
Schwer vereinbar mit der Neutralität ist mindestens die Phase der
aktiven Beteiligung der Schweiz am Geheimdienstprojekt mit der CIA ab
2002. Schliesslich ging es dabei oft um Aufklärung in kriegerischen
Konflikten und Parteinahme für eine Seite. Mindestens dieser Wechsel im
Szenario hätte der verantwortliche Bundesrat auch laut
Stoppstein-Prinzip absegnen müssen. Politisch verantwortlich im VBS war
damals Samuel Schmid. Heikle Informationen dieses Kalibers tauschte er
auf Spaziergängen im Freien mit dem damaligen Zürcher
GPDel-Präsidenten Hans Hofmann aus. Auch Samuel Schmid beschied der
GPDel, dass er von nichts wusste.
–
Podium zu Crypto
Am Dienstag, 24. November, organisiert diese Zeitung ein Onlinepodium
über die Schweizer Mitwirkung am CIA-Geheimprojekt. Es diskutieren die
Nationalrätin Tiana Angelina Moser (GLP), GPDel-Präsident Alfred Heer
(SVP) und Buchautor Res Strehle («Operation Crypto»). Geleitet wird das
Gespräch von Bundeshausredaktor Markus Häfliger. Leserinnen und Leser
können sich ab 18.30 auf der Website dieser Zeitung zuschalten.
(https://www.derbund.ch/kronzeuge-bot-sich-der-geheimdienstaufsicht-an-diese-verzichtete-dankend-597884022549)