Medienspiegel 21. November 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++ZÜRICH
Asylsuchende setzen sich für ein sauberes Dietikon ein – allerdings für weit unter normalen Löhnen
Von den Programmen Sauberes Dietikon und Travo sollen die Teilnehmenden und die Bevölkerung profitieren.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/region-limmattal/asylsuchende-setzen-sich-fuer-ein-sauberes-dietikon-ein-allerdings-fuer-weit-unter-normalen-loehnen-139940720


+++ATLANTIK
Kanarische Inseln: Spanien will Notlager für 7.000 Migranten errichten
Mit Notlagern und Mitteln für Seenotrettung und Grenzschutz will Spanien gegen die Migrationskrise auf den Kanaren vorgehen. Die Menschen sollen zurückgeführt werden.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/kanarische-inseln-spanien-notlager-migranten-flucht-europa


+++SEXWORK
Kein Verbot für Freier wie in Schweden: Bundesrat will Sexkauf nicht verbieten
EVP-Nationalrätin Marianne Streiff wollte, dass Sex mit Prostituierten in der Schweiz unter Strafe gestellt wird – nach dem Vorbild von Schweden. Der Bundesrat aber will davon nichts wissen.
https://www.blick.ch/politik/kein-verbot-fuer-freier-wie-in-schweden-bundesrat-will-sexkauf-nicht-verbieten-id16207108.html


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Linke gegen Corona-Leugner: Keine Zwischenfälle an Demo-Samstag
Rund 100 Personen demonstrierten in Bern gegen den Aufmarsch Rechtsextremer an Corona-Mahnwachen. Die Stadtregierung zeigte sich darüber nicht erfreut.
https://www.derbund.ch/keine-zwischenfaelle-an-demo-samstag-835040434363
-> https://www.bernerzeitung.ch/an-diesem-berner-demo-samstag-droht-ein-brenzliges-aufeinandertreffen-340499187891
-> https://www.derbund.ch/ticker-corona-kanton-bern-594319178143
-> https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/ansammlungen-meiden-maske-tragen-abstand-halten
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/antifa-vs-coronaskeptiker-zwei-unbewilligte-demonstrationen-in-bern-139951415
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/aufeinandertreffen-von-linken-und-corona-skeptiker-in-bern-65823428
-> https://twitter.com/Megafon_RS_Bern/status/1330172295315329029
-> https://twitter.com/ag_bern
-> https://twitter.com/edi_schwarz
-> Demo-Aufruf: https://barrikade.info/article/4017



bernerzeitung.ch 21.11.2020

Corona-Skeptiker und die Antifa: Die Chronik zweier Samstags-Demonstrationen

Der Umzug der Linksautonomen zog am Samstag an einer Handvoll Corona-Skeptikern auf dem Bundesplatz vorbei.

Cedric Fröhlich

Seit  Wochen steht ein seltsamer Mix vor dem Bundeshaus. Immer samstags.  Nachdem die Marktfahrer ihr Gemüse, das Obst und die leeren Kisten in  ihre Lieferwagen gepackt haben und von dannen gezogen sind. Dann kommen  sie, die Skeptiker. Es sind Gegnerinnen und Gegner der bundesrätlichen  Corona-Massnahmen. Besorgte Bürgerinnen und Bürger. Aber auch  Verschwörungstheoretiker, und ja, manche von ihnen sind aufgebracht  (sehr sogar).

Unschön  an der Sache ist einiges. Zum Beispiel, dass sich viele weigern, eine  Maske zu tragen. Oder dass einige doch recht heftigen  Verschwörungsunsinn von sich geben. Am bedenklichsten aber ist die  Tatsache, dass sie wiederholt Personen aus der rechtsradikalen Szene Anschluss an ihren Protest gewährt hatten.

Bescheidener «Widerstand»

Auch  vor diesem Samstag kursierten wieder Kundgebungsaufrufe in den Kreisen  des selbst ernannten «Widerstands». Gekommen sind letztlich rund ein  Dutzend Personen. Vielleicht hat der bescheidene Aufmarsch damit zu tun,  dass eine ähnliche Veranstaltung im Kanton Schwyz, genauer in Lachen,  Teile des Berner «Widerstands» angezogen hat. Vielleicht auch nicht.

Rechtsradikale  scheinen heute keine dabei zu sein, zumindest reckt niemand die Hand zu  einem hässlichen Gruss, läuft keiner in der hinlänglich bekannten Mode  herum. Einige Polizeibeamte nehmen die Personalien auf und verweisen die  kleine Gruppe vom Bundesplatz.

Der  Grossteil des beachtlichen Aufgebots der Staatsmacht bleibt abseits.  Männer hinter Schildern, unter Helmen, in Uniformen, die das gleiche  Blau haben wie der Wasserwerfer, der kurzzeitig durch die Altstadt  fährt. Sie alle halten sich zurück. Oder in den Worten eines Beamten,  der in sein Funkgerät spricht: «Laufen lassen! Einfach laufen lassen.»

Seine  Worte gelten zu diesem Zeitpunkt wohl einem Kollegen an einem anderen  Schauplatz. Denn während unter den Lauben der Altstadt Hochbetrieb  herrscht, liegt Anspannung in der Luft. Die ist auf die Gemengelage  zurückzuführen, die an diesem Samstag eine spezielle ist. Da sind die  Massen: flanierende Menschen, volle Beizen, gut besuchte Läden. Gleich  nebenan die Corona-Besorgten. Und für 14 Uhr hat sich die linksautonome  Szene angekündigt.

Antifaschistischer Spaziergang

«Bern  bleibt nazifrei», lautet deren Slogan an diesem Tag. Es ist eine  Solidaritätskundgebung für einige Basler Mitstreiterinnen und  Mitstreiter. Die waren vor zwei Jahren in ihrer Stadt in grosser Zahl –  laut eigenen Angaben mit an die 2000 Leuten – auf der Strasse. Es gab  Festnahmen, Strafbefehle und Verurteilungen.

Zugleich  richtet sich diese Demo auch gegen die Exponenten der rechten Szene,  die sich in Bern hatten blicken lassen. Und damit auch gegen die  Corona-Skeptiker.

Der  Demonstrationszug versammelt sich um 14 Uhr auf dem Bahnhofplatz. Dann  setzt er sich in Bewegung. Es geht die Spitalgasse hinunter, vorbei an  all den Menschen mit Einkaufstaschen und an Glühweinständen.  Antifaschistische Parolen und antikapitalistische Rufe hallen durch die  Gassen. Etwa zehn Minuten später kommen die rund 100 Demonstrantinnen  und Demonstranten beim Zytglogge an – im Schlepptau: ein Kastenwagen,  der 12er-Bus und zwei Trams.

Im  Demo-Zug sind alle vermummt. Einige im Stil der Klassenkämpfer des 21.  Jahrhunderts – aber sie sind in der Unterzahl. Der Rest hat fast  ausnahmslos die vom Staat empfohlene (ja, angeordnete) Variante gewählt:  die Einwegmaske.

Bislang alles friedlich

Über  den Kornhaus- geht es zum Waisenhausplatz, der ÖV rollt wieder. Dann  via Bärenplatz zum Bundesplatz. Vorbei an den Corona-Skeptikern vor dem  Café Fédéral. Die Sache bleibt friedlich – einzig die bereitstehenden  Beamten in Vollmontur müssen sich Animositäten anhören. Aber auch hier  nur von einer Minderheit.

Um  15 Uhr ist dieser Demo-Samstag in Bern dann auch wieder vorbei. Der  «Corona-Widerstand» ist abgezogen und der antifaschistische Spaziergang  mittlerweile auf der Schützenmatte angelangt. Im Vorfeld hatten einige  ihre Bedenken: zwei unbewilligte Demos, die Polizei, die Masse unter den  Berner Lauben. Am frühen Abend dann das vorläufige und gegenteilige  Fazit: alles halb so wild. Alles friedlich.
(https://www.bernerzeitung.ch/die-chronik-zweier-samstags-demonstrationen-200217425928)



(@basel@nazifrei)
#Aktenleak Videos aus den Ermittlungsakten gegen #baselnazifrei wurden uns zugesendet. Diese Videos verdeutlichen nochmals, dass die Polizei mit Gummischrot in die Menge schoss (und dabei Menschen ernsthaft verletzte) um den Neonazis einen ungestörten Abzug zu ermöglichen.
https://twitter.com/i/status/1329797406909734913

(FB Basel Nazifrei)
Aktenleak: Gummischrot gegen #baselnazifrei
Videos aus den Ermittlungsakten gegen #baselnazifrei wurden uns zugesendet. Diese Videos verdeutlichen nochmals, dass die Polizei mit Gummischrot in die Menge schoss (und dabei Menschen ernsthaft verletzte) um den Neonazis einen ungestörten Abzug zu ermöglichen.
Damals wurde eine Person vom Gummi schwer am Auge verletzt, mit bleibenden Schäden. Sie wird dennoch vor Gericht gezerrt, wo ihr der Prozess wegen der Teilnahme an der Demo gemacht wird. Der Prozess ist am kommenden Monntag 23.11.2020. Kommt um 07:30Uhr vor das Strafgericht um den Angeklagten zu unterstützen!
Unsere Solidarität gegen ihre Repression!
https://fb.watch/1UIIpEANHX/


+++KNAST
Thun: Mann leblos in Zelle aufgefunden
Am Freitagmorgen ist in einer Zelle im Regionalgefängnis Thun ein Insasse leblos aufgefunden worden. Die Todesursache wird untersucht. Ein medizinisches Problem steht im Vordergrund der laufenden Ermittlungen.
https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=6cd343c6-350a-4c9f-9d64-e612abeaa60a
-> https://www.derbund.ch/57-jaehriger-tot-in-zelle-gefunden-493964921062
-> https://www.bernerzeitung.ch/57-jaehriger-schweizer-stirbt-in-gefaengniszelle-in-thun-175155616923
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/186298/
-> https://www.neo1.ch/news/news/newsansicht/datum/2020/11/21/thun-mann-leblos-in-zelle-aufgefunden.html


+++POLICE BE
derbund.ch 21.11.2020

Gestiegene Terrorgefahr: Berner Kantonspolizei rüstet ihren Geheimdienst auf

Der Bund bezahlt dem Kanton Bern zehn neue Staatsschutz-Stellen Sie dürften zur Überwachung der islamistischen Szene eingesetzt werden.

Adrian Hopf-Sulc

Wer beim Schweizer Geheimdienst arbeitet, kennt sich nicht unbedingt mit Waffen, Beschattungen und Verfolgungsjagden aus. Viele Angestellte des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) arbeiten im Büro, am Hauptsitz des Dienstes in der Berner Papiermühlestrasse. Die Feldarbeit delegieren die Geheimdienstler gerne an ihre Kollegen in den Kantonen.

So auch an die Angehörigen des kantonalen Nachrichtendienstes Bern. Sie bilden den «Fachbereich Staatsschutz» der Kantonspolizei – und erhalten nun Verstärkung. Das ist dem Budget 2021 des Kantons Bern zu entnehmen, über das der Grosse Rat kommende Woche berät.

Gegen die Aufstockung bei den Berner Schlapphüten wird es im Rat kaum Opposition geben. Denn sie ist kostenneutral. Gemäss dem Voranschlag 2021 kauft der Nachrichtendienst des Bundes beim Kanton Leistungen im Umfang von zehn Vollzeitstellen ein.

Drei der neuen Stellen werden direkt beim Staatsschutz angesiedelt, wie die kantonale Sicherheitsdirektion auf Anfrage bekannt gibt. Damit wird die Abteilung künftig 18 Vollzeitstellen zählen. Bei den restlichen sieben neuen Stellen handle es sich um den «Einkauf von zusätzlichen polizeilichen Observationsleistungen durch den Bund».

Eine Million Franken mehr

Bereits dieses Jahr hat der NDB seinen jährlichen Beitrag um 300’000 Franken auf 1,75 Millionen Franken erhöht. Mit diesem Betrag finanziert der Bund die künftig 18-köpfige Staatsschutzabteilung bei der Kantonspolizei praktisch vollständig. Für die sieben neuen Observationsstellen fliesst nun zusätzlich eine Million Franken pro Jahr an den Kanton. Auch andere Kantone kommen neu in den Genuss solcher Beiträge.

Die Berner Kantonspolizei verfügt bereits über eine Abteilung für Observationen. «Es handelt sich dabei um ein Dezernat, welches innerhalb der Kriminalpolizei in einer der vier Spezialfahndungen angesiedelt ist», schreibt die Medienstelle der Polizei auf Anfrage. Wie viele Personen dort beschäftigt sind, bleibt «aus polizeitaktischen Gründen» geheim. Es handle sich «grossmehrheitlich um Mitarbeitende mit Polizeistatus und mehrjähriger Berufserfahrung».

Und wer oder was soll künftig observiert werden? Darüber schweigt sich die Sicherheitsdirektion aus. NDB-Sprecherin Isabelle Graber verweist lediglich auf die gesetzlichen Aufgaben des Nachrichtendienstes, darunter die Früherkennung und Bekämpfung von Terrorismus und von gewalttätigem Extremismus.

Den einzigen konkreten Hinweis liefert das kantonale Budget 2021: Die vom NDB eingekauften Leistungen befänden sich «im Bereich Antiterror». Das erstaunt Reto Müller, Lehrbeauftragter für Sicherheits- und Polizeirecht an der Universität Basel, nicht: In den letzten Jahren habe der Nachrichtendienst seine Einschätzung der Sicherheitslage in der Schweiz geändert. «Lange standen hier eher die Terrorismusfinanzierung und logistische Aktivitäten von Islamisten im Vordergrund.» Inzwischen schliesse der NDB jihadistisch motivierte Terroranschläge in der Schweiz nicht mehr aus.

Besonders die Jihad-Rückkehrer, die etwa in Syrien für den sogenannten Islamischen Staat (IS) gekämpft hatten, würden als problematisch eingestuft, sagt Sicherheitsexperte Müller. Und: «Die Überwachung solcher Personen ist sehr personalintensiv.» Für die Rund-um-die-Uhr-Überwachung einer Person benötigten die Behörden bis zu 20 Beteiligte.

Bieler Jihad-Hotspot

Mit den islamistischen Kreisen in Biel verfüge der Kanton Bern über einen «radikalen Hotspot», schrieb der Szenekenner und Tamedia-Reporter Kurt Pelda Anfang Monat in der «SonntagsZeitung». Bekannt ist, dass der Bieler Prediger Abu Ramadan die Aufmerksamkeit des NDB auf sich gezogen hatte. Zudem standen junge Männer aus der Region Biel in Kontakt mit dem mutmasslichen Deutschlandchef des IS. Weiter ist wohl auch die Zentrale des Islamischen Zentralrats in Bümpliz auf dem Radar des Geheimdienstes.

Das 2016 vom Stimmvolk angenommene neue Nachrichtendienstgesetz gibt dem NDB neue Möglichkeiten im Bereich der Telefon- und Datenüberwachung. Die entsprechenden Abhöraktionen finden zentral beim nationalen Nachrichtendienst statt. Dort wird der Stellenbestand in den nächsten Jahren um 100 auf über 400 Stellen erhöht.

Die kantonalen Geheimdienst-Ableger hingegen erledigen Rechercheaufträge für den NDB. Dafür können sie die Datenbanken von Kantonspolizei und Kantonsverwaltung durchforsten. Die Schnittstelle zu den Kantonen sei für den Nachrichtendienst durchaus wichtig, sagt Jurist Reto Müller: Die dortigen Beamten könnten die Verhältnisse vor Ort besser einschätzen und den Austausch mit lokalen Behörden wie etwa Migrationsämtern intensiver pflegen.
(https://www.derbund.ch/berner-kantonspolizei-ruestet-ihren-geheimdienst-auf-282299705300)


+++POLIZEI SO
Ist die Abstimmung über das Polizeigesetz ungültig?: Stimmrechts-beschwerde wurde eingereicht
Polizeidirektorin Susanne Schaffner sieht sich mit einer Stimmrechtsbeschwerde konfrontiert.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/ist-die-abstimmung-ueber-das-polizeigesetz-ungueltig-stimmrechts-beschwerde-wurde-eingereicht-139941883


+++POLICE FR
Fotos von Polizisten verboten! Proteste gegen Sicherheitsgesetz in Frankreich
Seit Wochen gibt es Kritik am Artikel 24 des geplanten „globalen Sicherheitsgesetzes“, der die Polizei in Frankreich schützen soll. Am Samstag haben in Paris, Lille und Montpellier mehrere tausend Menschen gegen das umstrittene Gesetz demonstriert, das künftig eine Strafe dafür vorsieht, Bilder von Polizisten zu zeigen und zu verbreiten. Journalistenverbände und Bürgerrechtsorganisationen befürchten Einschränkungen für die Pressefreiheit.
https://de.euronews.com/2020/11/21/fotos-von-polizisten-verboten-proteste-gegen-sicherheitsgesetz-in-frankreich


+++RASSISMUS
Der Anwalt, der Rassismusopfern hilft
Blaise Francis El Mourabit hat schon VW-Manager verteidigt. Doch nach Feierabend widmet der Anwalt sich einer anderen Mission: Er vertritt Betroffene von Rassismus.
https://www.sueddeutsche.de/meinung/profil-der-anwalt-der-rassismusopfern-hilft-1.5120581


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Bündner Jurist stellt Skeptikern wertloses Attest aus: Mit diesem Zettel die Maske loswerden? Geht nicht!
Der Bündner Jurist Heinz Raschein stellt ein Attest aus, das von der Maskenpflicht befreien soll. Ein wertloses -Papier, sagt eine Rechtsprofessorin.
https://www.blick.ch/politik/buendner-jurist-stellt-skeptikern-wertloses-attest-aus-mit-diesem-zettel-die-maske-loswerden-geht-nicht-id16206415.html


Der Corona-Film ist ein Hit – so richtig wohl ist dem Regisseur dabei aber nicht
Der Film «Unerhört» wurde in drei Wochen über 400’000 Mal angesehen. Weitere Aufführungen finden nicht statt.
https://www.watson.ch/!560433913


LACHEN:
1000 Personen an Anti-Corona-Demo in Lachen mehrheitlich ohne Maske – Polizei greift nicht ein
Am Samstag hat in Lachen eine Corona-Demo stattgefunden. Der Veranstalter muss mit einer Anzeige rechnen.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/schwyz/1000-personen-ohne-schutzmasken-an-corona-demo-in-lachen-polizei-greift-nicht-ein-ld.2066716
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/coronademo-in-lachen-139952038
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/coronademo-in-lachen-139952334


„#Coronakundgebung in Lachen/Kanton Schwyz. Es versammelten sich etwa 400 Personen trotz #Maskenpflicht ohne #MNS. Ein Poizist sagte auf Nachfrage nach einer Durchsetzung der Maskenpflicht: „Was sollen wir machen ? Alle verhaften ?“ Die Polizei war sowieso nur mit vier P. vor Ort
Es kam auch bei dieser Veranstaltung, wie leider bei Coronaprotesten in der #Schweiz üblich, zu #Holocaustrelativierungen. Es zeigt einmal mehr wie wichtig Holocaustrelativierungen und antisemitische Narrative in der Szene sind. Mehr dazu später.“
(https://twitter.com/__investigate__/status/1330196738024599553)


SCHAFFHAUSEN:
«Die schwarze Wahrheit»: Corona-Proteste in der Schaffhauser Altstadt
In Schaffhausen kam es am Samstag zu einem Protest gegen die Corona-Bestimmungen des Bundes. Der Protest wurde Live auf Facebook übertragen und dauerte ungefähr eineinhalb Stunden. Unter dem Motto «Die schwarze Wahrheit» waren mehrere in weisse Schutzanzüge gekleidete Personen dabei, die über den Kirchhofplatz in Richtung Fronwagplatz zogen. Laut dem Video sei der Marsch bewilligt worden. Die Schaffhauser Stadtpolizei begleitete die Vermummten auf ihrem Weg. «Es gab einige Kompromisse», heisst es im Video von einer Frau, die von sich selbst sagt, sie halte den Zug «fest für die neuen Medien». Gestreamt wurde er auf der Corona-Leugner-Plattform ProtestMedia, welche hauptsächlich Live-Videos von Corona-Demonstrationen veröffentlicht.
https://www.shn.ch/region/stadt/2020-11-21/corona-proteste-in-der-schaffhauser-altstadt
-> https://www.toponline.ch/news/schaffhausen/detail/news/corona-demo-in-der-schaffhauser-altstadt-00145437/


LEIPZIG:
„Querdenker“-Protest in Leipzig: Ohne gültiges Attest
Für einen erneuten „Querdenker“-Aufmarsch fand sich am Samstag kein Anmelder, dafür gingen mehr als tausend Gegendemonstranten auf die Straße.
https://taz.de/Querdenker-Protest-in-Leipzig/!5730298/
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/leipzig-akzeptiert-maskenbefreiungs-attest-von-demo-veranstalter-nicht-a-8c154b9a-ebdf-498a-8ee7-14a2bde0735b
-> https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/leipzig–gegner-der-coronavirus-politik-demnstrieren—-katz-und-maus-spiel–9500574.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-demo-leipzig-100.html
-> https://www.mdr.de/sachsen/leipzig/leipzig-leipzig-land/ticker-corona-demos-querdenken-100.html
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-11/querdenken-demo-leipzig-corona-verbot-polizei
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/keine-zweite-chaosnacht-in-leipzig-a-609b57c2-29dc-4b3f-905c-adc8d0cb9a65?utm_source=dlvr.it&utm_medium=%5Bfacebook%5D&utm_campaign=%5Bspontop%5D#ref=rss


Linke über „Querdenken“-Demo in Leipzig: „Keine Konsequenzen erkennbar“
Am Samstag demonstrieren schon wieder selbsternannte „Querdenker“ in Leipzig. Haben die Behörden versagt? Ja, meint Kerstin Köditz, Linken-Abgeordnete in Sachsen.
https://taz.de/Linke-ueber-Querdenken-Demo-in-Leipzig/!5730210/
-> https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/leipziger-polizei-bereitet-sich-auf-corona-demo-vor—sehr-ungewiss–was-kommt–9500392.html
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/tausende-teilnehmer-erwartet-polizei-bei-corona-demos-in-leipzig-im-grosseinsatz/26646226.html
-> RT: https://youtu.be/UDm4J1cpvwk


BERLIN 18.11.2020:
-> https://www.berliner-zeitung.de/news/corona-demo-berliner-polizei-mit-klavier-angegriffen-li.120497
-> Stern TV: https://youtu.be/ceAHc6xDsH4
-> https://taz.de/Demo-gegen-Infektionsschutzgesetz/!5727685/


+++HISTORY
Wenn das Private politisch ist: «Ich zahle Steuern, aber heiraten darf ich nicht»
Der Berner Daniel Frey kämpft seit 30 Jahren denselben Kampf: Er setzt sich für Rechtsgleichheit und Akzeptanz queerer Menschen ein.
https://www.bernerzeitung.ch/ich-zahle-steuern-aber-heiraten-darf-ich-nicht-381691055529



tagesanzeiger.ch 21.11.2020

Erinnerungen an Platzspitz und Letten: Der Chronist aus dem tiefsten Kreis der Hölle

Jahrelang  hat der Arzt André Seidenberg für eine liberale Drogenpolitik gekämpft.  Die Protagonisten seiner Autobiografie erlebten, was in der Schweiz  niemand für möglich gehalten hätte.

Sandro Benini

Auf  einem der Holzbänke beim Rondell am Zürcher Bellevue ist sein Grossvater  Moses gestorben. Es ist der 28. Dezember 1968, eine kalte Nacht, André  Seidenberg hat LSD genommen, sieht seinen Grossvater da sitzen und  spricht ihn an. «Geh weg, ich will sterben», ist dessen Antwort.

52 Jahre später steht Seidenberg an einem trüben Novembernachmittag an genau dieser Stelle, mit Winterjacke, Schal und grauer Schirmmütze, der Blick hinter der dunkelrandigen Brille ist blau und lebhaft.

Er  sagt, er denke jedes Mal an ihn, wenn er hier vorbeigehe: Moses  Seidenberg, Ukrainer, geflohen aus der zaristischen Armee und vor dem  russisch-japanischen Krieg, nach einem unendlichen Fussmarsch durch  China und Russland in die Schweiz gelangt. «Er ist einer von den vielen Menschen, die mir nahestanden und die gestorben sind. Die Stadt ist voll von ihnen.»

Über die Verstorbenen, die Davongekommenen und über sein Leben hat André Seidenberg ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel «Das blutige Auge des Platzspitzhirschs». Jedes Kapitel ist einer Figur gewidmet, vom Grossvater handelt eines der ersten.

Sie sollen «verräbeln»

Die  Porträts verbindet Seidenberg zu einem grossen Panorama, sich an andere  erinnernd erzählt er seine eigene Biografie und ein halbes Jahrhundert  Zeitgeschichte: 68er, Globuskrawalle, die kiffenden Hippies an den Ufern  der Limmat, Züri brännt in den frühen 80ern, das AJZ. Und der tiefste Kreis der Hölle, die sich am Platzspitz und später am Bahnhof Letten aufgetan hatte – bis  zu 2000 Menschen in der grössten offenen Drogenszene Europas. Laut  Seidenberg  ist sie entstanden, weil die Polizei irgendwann beschlossen  hatte, am Platzspitz den regulären Ordnungsdienst einzustellen. «Die Süchtigen sollten dort ‹verräbeln›.»

Der  junge Arzt Seidenberg leistete Nothilfe, wenn jemand wegen einer  Überdosis in Lebensgefahr geriet. Er hat eitrige Geschwüre und Abszesse  behandelt und Hefepilze, die am Gaumendach von HIV-Infizierten klebten.  Und er setzte sich dafür ein, Drogenabhängigen saubere Spritzen, Heroin  und Methadon abgeben zu dürfen. Er focht einen medienwirksamen Kampf  gegen den damaligen Kantonsarzt, der den Ärzten mit dem Entzug ihrer  Praxisbewilligung drohte, wenn sie Fixern saubere Spritzen abgaben. Er  stritt gegen die repressive Strategie bürgerlicher Politiker. Und gegen  Psychiater, die behaupteten, einzig das Ziel einer völligen Abstinenz  sei mit ärztlicher Ethik überhaupt vereinbar.

Der Platzspitz liegt an diesem Nachmittag herbstlich und nahezu menschenleer da. «Abgesehen von den Gittern am Eingang hat sich fast nichts verändert», sagt Seidenberg. Er deutet auf die Skulptur des Hirsches, die ihn zum Titel seines Buches inspiriert hat. «Jemand hat damals sein linkes Auge mit roter Farbe beschmiert. Es sah aus, als würde es ausbluten.» Wenn man genau hinschaut, kann man noch Spuren der Farbe erkennen.

Vielleicht  sei es ein Versuch gewesen, den Platzspitz-Hirsch in ein Mahnmal  umzufunktionieren für die junge Frau, die ein Auge verlor, als sie bei  einer Demonstration in den frühen 80er-Jahren ein Gummigeschoss der Polizei traf.

Die  Skulptur erinnert auch an einen Protagonisten in Seidenbergs Buch,  einen Schulkollegen, der Hirsch hiess und am Auge ein Feuermal hatte.  Hirsch verfiel den Drogen. «Einmal  habe ich gesehen, wie er vom Universitätsspital halb nackt an den  Platzspitz hetzte, mit hinten offenem Nachthemd. Er zog einen  Infusionsständer mit sich und hatte eine Zigarette in der Hand.»

Verzweifelte Suche nach einer Vene

Mit  etwas geistiger Verrenkung könnte man die bemalte Skulptur auch als  Symbol deuten: Der Hirsch stünde für die politische Freiheit, die sich  die Jugendbewegungen der späten 60er- und frühen 80er-Jahre erträumt hatten. Oder für die private Befreiung  von bürgerlicher Spiessigkeit, die sie im Drogenrausch zu zelebrieren  glaubten. Das blutig auslaufende Auge stünde dann für die Konsequenzen.

André  Seidenberg verströmt Heiterkeit, selbst wenn er vom Grauen spricht. Da  drüben, beim Denkmal für den Schweizer Komponisten und Pianisten Wilhelm  Baumgartner, habe jeweils ein Süchtiger gesessen, der mit der Spritze  in seiner Leiste herumgestochert habe, auf der verzweifelten Suche nach  einer Vene. Seidenberg setzt sich auf eine Treppenstufe, lehnt nach  hinten und ahmt die Bewegungen des Fixers nach, der vor einem  Vierteljahrhundert an derselben Stelle sass.

Weiter  oben, am Letten unter der Kornhausbrücke, habe sich einmal nachts eine  Hochschwangere im Licht der Strassenlaternen einen Schuss gesetzt. «Als ich sie fragte, ob ich etwas für sie tun könne, sagte sie: ‹Geh mir aus dem Licht.› Ob sie wohl die Geschichte von Diogenes gekannt hat?»¨

Der  Psychiater und Suchtexperte Marco Olgiati war zu jener Zeit Oberarzt an  der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er hatte Seidenberg  während des Studiums kennen gelernt. In einem Telefongespräch sagt er: «Wenn Seidenberg von etwas überzeugt war, setzte er alles in Bewegung.» Er sei ein Pionier gewesen, er habe sich dem Zeitgeist widersetzt.

Die  kantonalen Richtlinien und die Vorgaben von Krankenkassen und IV waren  laut Olgiati zunächst derart streng, dass es jeweils Tage dauerte, ehe  jemand am Universitätsspital mit Methadon behandelt wurde. «Als  Seidenberg versuchsweise mit einer niederschwelligen Abgabe ohne  Vorbedingungen begann, bekamen die Süchtigen den Stoff oft noch am  selben Tag.» Olgiati sagt, er sei froh gewesen, dass jemand ausserhalb des staatlichen Gesundheitsapparates derart vorpreschte. «André Seidenberg hat dadurch viel Elend und viele Tote verhindert.»

Seidenberg  und die anderen Ärzte, die mit ihm für Spritzenabgabe und  Methadonprogramm kämpften, haben recht bekommen. Doch damals sahen das  viele anders. In seinem Buch schildert Seidenberg, wie er im Tram in das  böse Gesicht eines Mannes blickt. «‹So, du Saujud, hast noch nicht genug Geld mit deinem Heroin verdient›, giftete er laut und überdeutlich. Dann spuckte er mir ziemlich gekonnt ins Gesicht.»

Die offene Drogenszene und Aids, sagt Seidenberg, «waren die grösste gesellschaftspolitische Krise, die Zürich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs heimgesucht hat.» Ein Prozent der Personen, die 1968 in der Schweiz zur Welt kamen, sei heroinsüchtig geworden. «Ein Drittel ist an den Folgen des Drogenkonsums gestorben, an Atemstillstand, Eitersepsis, Hepatitis oder Aids», sagt Seidenberg.

Fühlt  er sich als Bezwinger dieses Elends, als Retter? Er klingt nicht  triumphalistisch, aber wie jemand, der sich seiner Leistung sehr bewusst  ist, wenn er sagt: «Nicht  ich als Person habe dieses Problem gelöst. Aber die Massnahmen, die ich  zusammen mit anderen Ärzten vertreten und durchgesetzt habe, die schon.»

Josef Estermann, Zürichs Stadtpräsident von 1990 bis 2002, sagt im Gespräch mit dieser Zeitung: «Seidenberg hat damals eine entscheidende Rolle gespielt.» Dank seiner praktischen Erfahrung sei er eine Stimme gewesen, die man  in der ganzen Schweiz gehört habe. Er habe viele davon überzeugt, dass  es sinnlos ist, einen Heroinabhängigen zur Abstinenz zu zwingen.

Wetteifern um Schmerz

Es gibt schöne Sätze in Seidenbergs Buch. Über eine Figur namens Maribelle heisst es: «Kurzatmig wartete sie auf das Glück – oder wenigstens ein bisschen davon.» Oder: «Die Sucht ist der Nebenbuhler, den ein Paar nicht loswird.» Oder, über zwei süchtige Freundinnen: «Sie wetteiferten um jeden Schmerz.» Als Seidenberg einmal einen Selbstversuch mit einer Droge namens Ibogain unternimmt, erlebt er einen Horrortrip: «Mein Kopf lag im weiblichen Schoss, der mich verschlang wie eine Boa constrictor das Lamm.»

Bis zu seiner Pensionierung vor drei Jahren war Seidenberg Allgemeinpraktiker. Auch nachdem es Mitte der 1990er-Jahre  gelungen war, die offene Drogenszene zu schliessen, habe er ein Drittel  der Arbeitszeit in seiner Praxis in Altstetten und später am Central  für die Behandlung von Drogensüchtigen aufgewendet. «Ich hätte selber so enden können», sagt Seidenberg. «Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich für die Junkies einsetzte.»

Es  gebe kaum eine Droge, die er in seiner Jugend nicht ausprobiert habe.  Wegen Drogen und seiner Aufmüpfigkeit sei er vom Gymnasium geflogen.  Später machte er die eidgenössische Matur. Zwei oder dreimal sei er  ernsthaft süchtig nach Speed gewesen, während seines Medizinstudiums  habe er ein paar Wochen lang das Aufputschmittel exzessiv gebraucht, um  sich auf Prüfungen vorzubereiten.

Warum ist André Seidenberg nicht selber zum Junkie geworden? «Mich  hat so vieles interessiert, dagegen waren Drogen dann doch zu wenig  spannend. Ich habe früh gesehen, was ein Absturz bedeutet. Und ich habe  Glück gehabt.» In Seidenbergs Buch steht der Satz: «Der Rausch ist nicht die Freiheit, der Rausch zeigt uns Freiheit.»

Aus historischen Gründen setzen sich Juden laut Seidenberg oft an den Rändern für soziale Gerechtigkeit ein. «Ich wollte den Leuten wirklich helfen. Man sollte dafür kämpfen, dass niemand aus der Gesellschaft herauskatapultiert wird und liegen bleibt.» Doch auf die Frage, ob er ein Menschenfreund sei, bricht er in lautes Gelächter aus. Es sei auch einfach spannend gewesen, aufreibend, intensiv. Ein Powergame, auch politisch.

In seiner Autobiografie schreibt Seidenberg: «Jeden  Tag sind mir Menschen in existenziellen Situationen begegnet, jeden  Tag! Was für ein Geschenk! Du schaust deinem Gegenüber in die Augen und  weisst, was es heisst, zu leben, jeden Tag! Du schaust auf das pralle  Leben, und du darfst das nur, weil du deiner Rolle als Arzt immer und  jederzeit gerecht wirst!»

Seidenberg  ist ein guter Beobachter und – wenn er nicht gerade vier Ausrufezeichen  hintereinandersetzt – ein sicherer Stilist. Die Namen seiner  Protagonisten hat er geändert, Einzelheiten ihrer Geschichten sind  genügend verfremdet, um ihre Identifikation zu verunmöglichen. Von  wenigen Ausnahmen abgesehen, überzeugen seine Porträts durch ihre  Prägnanz.

Etwa  jenes von Florentine, fleissige Gymnasiastin von der Goldküste, die der  Tochter eines Gärtnermeisters befiehlt, Drogen zu beschaffen. Oder der  gutmütige Arzt, der allen Junkies jedes Medikament gibt, das sie von ihm  verlangen. Irgendwann ziehen zwei junge Fixerinnen bei ihm ein und  benehmen sich in seiner Praxis, als wären sie Arzthelferinnen. Oder die  zierliche Violette aus der französischen Schweiz: «Sie  nahm alles, was durch Nase, Venen oder irgendwie in ihren Körper  gelangen konnte, Lust zu jedem Preis, Schmerz war dabei noch das  Geringste.»

Seidenberg  schreibt viel von Elend, Siechtum und Tod, aber er tut es dort, wo es  nicht deplatziert wirkt, mit subtilem Humor. Und er ist als Schreibender  so selbstironisch wie im Gespräch. Keine Larmoyanz, kein Schwelgen in  nachtschwarzem Horror, sondern die gelassene Schilderung einer grossen Tragi-comédie humaine.

Lungenarzt mit Zigarette

Neben  Tragischem und Traurigem erzählt Seidenberg auch skurrile Episoden. In  den 60er-Jahren, als rauchen und atmen fast dasselbe war, geht ein  Lungenarzt mit brennender Zigarette auf Visite, legt den Arm um die  Schulter eines todkranken Patienten mit Lungenkrebs und sagt: «Ja, so ist das Leben, die einen erwischt es.»

Oder  die Aussprache, die Mitte der 80er-Jahre zwischen den beiden  rivalisierenden sozialdemokratischen Stadträtinnen Ursula Koch und  Emilie Lieberherr im Hotel Trümpy stattfindet. Lieberherr habe sich  dermassen über ihre Kollegin aufgeregt, dass sie nach dem Gespräch kurz  vor Mitternacht kollabiert sei. Notfalldienst hat in jener Nacht André  Seidenberg. Die Vorsteherin des Sozialdepartements will keinesfalls ins  Spital, um Aufsehen zu vermeiden. Sie legt sich in einem Hotelzimmer  hin, Seidenberg bleibt bei ihr, um sie zu überwachen. Lieberherr ist  damals eine drogenpolitische Hardlinerin. An Süchtige Spritzen  abzugeben, hält sie für falsch. «Ich  packte die Gelegenheit beim Schopf, und sie wollte alles ganz genau  wissen. Sie liess sich überzeugen und wollte mich etwas später als  ärztlichen Berater des Sozialamtes anstellen.»

Und  die heutige verdeckte Drogenszene? Junge Heroinabhängige, sagt  Seidenberg, gebe es fast keine mehr, weil die Droge ihren Freiheits- und  Rebellionsmythos verloren habe. Ausserdem sei dank der kontrollierten  Methadonabgabe der illegale Heroinmarkt nahezu verschwunden.

Über die Substanzen, die heute «in» sind – Kokain, Amphetamine, synthetische Drogen, Beruhigungsmittel – sagt Seidenberg: «Sie  sind gefährlich, aber nicht so gefährlich wie Heroin. Keine dieser  Drogen bewirkt eine derartige individuelle und gesellschaftliche  Verelendung.» In seinem Buch steht der erhellende Satz: «Nach  der Jahrtausendwende haben Mobiltelefone und Smartphones zur  öffentlichen Unsichtbarkeit des Drogenhandels mehr beigetragen als zuvor  die ganze Drogenpolitik.»

Im Niederdorf zeigt Seidenberg auf ein Haus an der Spitalgasse. Hier habe er mit seinen Eltern und seinem Bruder gelebt. «Das Niederdorf war damals ein verruchtes Viertel.» Der Vater führte die Buchhandlung «Das gute Buch», André durfte sich jeweils drei Bücher pro Woche ausleihen. «Ich war ein lesender Nerd.»

Linkes Sektierertum

Seidenberg hat sein Leben lang in Zürich gelebt, und das hört man: «Miir Tökktrr», sagt er. Soeben habe ihn jemand wiedererkannt, der damals auf dem Platzspitz gefixt habe. Der Ex-Junkie habe sich abgewandt. «Das passiert noch immer fast täglich. Viele wollen nicht an damals erinnert werden.»

Medizinisch  ist Seidenberg seit seiner Pensionierung nicht mehr tätig. Er schreibe  einen Roman und lerne Sprachen, Russisch, Hebräisch, Spanisch. Aber  während der ersten Welle der Corona-Krise  bat ihn das Universitätsinstitut für medizinische Virologie, im  Testlabor die Anrufe von Ärzten entgegenzunehmen, um ihnen die Resultate  von Corona-Tests mitzuteilen. «Die Wirkung der Ärzte und staatlicher Massnahmen wird eher überschätzt. Wir haben etwas das Bewusstsein verloren, dass es  auch schlecht kommen kann. Dass eine Situation schwierig ist und sich  nicht von heute auf morgen lösen lässt.»

Seidenbergs biografischer  Rundgang durch Zürich endet an der Waffenplatzstrasse 6 vor einem  weissen Haus. Hier arbeitete er als junger Arzt in einer  Gemeinschaftspraxis, in Verballhornung der martialischen Adresse «Plaffenwatz» genannt. «Wir rückten die Bedürfnisse der Patienten ins Zentrum, wir nahmen sie ernst.» Im Plaffenwatz erlebt Seidenberg aber auch linkes Sektierertum. Häufig  gibt es Sitzungen, bei denen Ärzte oder Angestellte wegen Abweichlertum  ausgeschlossen werden. Die angeblich Fehlbaren müssen an den Tribunalen teilnehmen. Irgendwann trifft es auch Seidenberg. «Ich hatte die informelle Hierarchie unter den Ärzten als verlogen bezeichnet.»

Er  erzählt auch diese Episode mit der Gelassenheit desjenigen, der alles  gesehen hat und den nichts Menschliches mehr wirklich erschüttern kann.



Erinnerungen an den Drogenkrieg

André  Seidenberg (1951) ist Arzt und gründete 1991 die Arbeitsgemeinschaft  für risikoarmen Umgang mit Drogen (Arud), die er bis 1996 leitete. Er  hat massgeblich dazu beigetragen, dass in der Schweiz die Abgabe von  Methadon und Heroin an Süchtige juristisch möglich und gesellschaftlich  akzeptiert wurde. Nun ist seine Autobiografie erschienen:  «Das blutige Auge des Platzspitzhirschs. Meine Erinnerungen an Menschen, Seuchen und den Drogenkrieg.» Salis, 2020.



Die Szenen in Bern und Basel

Ab Mitte der 1980er-Jahre entstanden auch in anderen Schweizer Städten offene Drogenszenen. In Bern konsumierten die Süchtigen im Kocherpark beim Bundeshaus, in Basel im Rheingassequartier. Die  drogenpolitischen Auseinandersetzungen waren allerdings in der übrigen  Schweiz nicht so erbittert und ideologisch geprägt wie in Zürich.  Bereits 1985 eröffnete in der Bundeshauptstadt der Verein Contact ein  Fixerstübli, in dem sich Ärzte und Sozialarbeiter um die Süchtigen  kümmerten.

Damit  wurde Bern landesweit zum Vorbild für die Errichtung von Anlaufstellen  und Gassenzimmern. Ab 1990 entwickelte der Platzspitz für  Drogenkonsumenten in der ganzen Schweiz eine grosse Sogwirkung, was die  Situation in anderen Städten entspannte.

Die  niederschwellige Abgabe von Methadon, die in Zürich 1992 begann,  übernahm die übrige Deutschschweiz zwei bis drei Jahre später. Die von André Seidenberg initiierten Methadonprogramme fanden europaweit Beachtung. «Zu Beginn der 90er-Jahre waren Besuche ausländischer Delegationen in Zürich sehr häufig»,  sagt der Zürcher Arzt. Die ausländischen Politiker und  Gesundheitsexperten kamen vor allem aus Deutschland, Holland und  Grossbritannien. (ben)
(https://www.tagesanzeiger.ch/der-chronist-aus-dem-tiefsten-kreis-der-hoelle-606254634342)