Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++GENF
NEIN ZUM BUNDESAUSSCHAFFUNGSZENTRUM
Der Bau des Bundesausschaffungszentrums beginnt in Grand-Saconnex, aber
es ist nie zu spät, ein unmenschliches Projekt aufzugeben.
Seit Jahren widersetzen sich Verbände, Parteien, die EinwohnerInnen von
Grand-Saconnex und sogar der Genfer Grossrat entschieden diesem Projekt.
Als Symbol einer rassistischen Politik der Unwirtlichkeit soll dieses
Rückkehrzentrum 250 Plätze für Asylsuchende bieten, die „abgeschoben“
werden sollen. Dort – in einem „Zentrum“, in dem die vorgesehenen
„Aufnahmebedingungen“ fast wie bei einer Inhaftierung oder sogar noch
schlimmer sind – werden die Asylsuchenden gezwungen sein, auf den Moment
zu warten, an dem ihre Ausschaffung als möglich erachtet wird.
EINE „AUFNAHME“ WIE IM GEFÄNGNIS
Das Projekt ist als ein großer Ausschaffungsgefängniskomplex geplant.
Neben dem Bundesausschaffungszentrum mit einer Kapazität von 250 Plätzen
werden sich die Gebäude der internationalen Polizei und 50 Plätze für
Verwaltungshaft befinden (1). Das Gebäude des Bundeszentrums hat einen
direkten Zugang zum Rollfeld und wie in einem Gefängnis nur einen
Eingang. In ihr sind die Menschen mit entmündigender und willkürlicher
Disziplin konfrontiert : Meldepflicht beim Betreten und Verlassen,
Durchsuchungen, Bestrafungen, Fingerabdrücke, keine Möglichkeit,
Lebensmittel zu lagern und zu kochen, lächerliche finanzielle „Hilfen“,
die nur dazu dienen, sie im Hinblick auf ihre Ausschaffung für die
Polizei verfügbar zu halten, und als einzige sogenannte
Beschäftigungsperspektive Unterhaltsarbeiten im Zentrum.
EINE POLITIK DER RASSENTRENNUNG
Alles ist ausserdem so geplant, dass sich die AntragstellerInnen nicht
mit der übrigen Bevölkerung vermischen : Antrag auf Genehmigung bei
jedem Verlassen des Zentrums, restriktive Zeiten (9.00-17.00 Uhr unter
der Woche), die es unmöglich machen, außerhalb des Zentrums zu arbeiten
und Kontakte zu knüpfen, Verbot von Verwandtenbesuchen, Schulbesuch der
Kinder innerhalb des Zentrums selbst usw. Das künftige
Ausschaffungszentrum wird sich zudem am Stadtrand von Genf befinden,
zwischen einer Autobahnauffahrt und dem Rollfeld des Flughafens. Neben
der geografischen Ausgrenzung führt das Wohnen nur wenige Zentimeter von
der Startbahn des Flughafens zu katastrophalen Lebensbedingungen
aufgrund von Lärm und Luftverschmutzung. Unter diesen Bedingungen sollen
diejenigen „aufgenommen werden“, deren einziges Verbrechen darin
besteht, vor Kriegen oder Armut geflohen zu sein.
EIN RECHTSFREIER RAUM
In den letzten Monaten haben wir ohne Überraschung, aber mit Trauer und
Wut den Betrieb der anderswo in der Schweiz gebauten Bundeszentren
(insbesondere Giffers, Boudry und Embrach) beobachtet. Berichte von
Gewalt, Demütigungen, Schlägen und der Unmöglichkeit, im Asylverfahren
angemessen verteidigt zu werden, sind dort Legion ; sie geben uns einen
Vorgeschmack auf die Behandlung, die den AntragstellerInnenn im
Ausschaffungszentrum Grand-Saconnex droht. Schließlich werden wir die
systematischen Verbote berücksichtigen müssen, denen sich die
Zivilgesellschaft und die Verbände beim Zugang zu diesen Zentren
gegenübersehen.
NICHT HINZUSEHEN IST KEINE OPTION
Heute können die Behörden ihre Absichten nicht mehr hinter der
„Beschleunigung der Verfahren“ und einem „humanitären“ Antlitz
verbergen, um den Bau des Bundesausschaffungszentrums in Grand-Saconnex
zu rechtfertigen. Sollte letzteres gebaut werden, würde es zweifellos zu
einem der Eckpfeiler einer rassistischen Politik, die jene Leben
zerstört, denen die Schweiz immer weniger Wert beizumessen scheint. Das
Architekturbüro Berel Berel Kräutler hatte den Nerv, sein Projekt
„Philemon und Baucis“ zu nennen, die in der griechischen Mythologie die
Gastfreundschaft symbolisieren. Wir lassen uns nicht täuschen. Dieses
Ausschaffungszentrum darf niemals das Licht der Welt erblicken.
Wir fordern einen sofortigen Baustopp für das Bundesausschaffungszentrum !
1 „Verwaltungshaft“ ist eine Praxis, die es den Behörden erlaubt, eine
Person einzusperren, während sie ihre Ausschaffung aus dem Schweizer
Staatsgebiet organisieren. Ohne die geringste strafrechtliche
Verurteilung kann die Verwaltungshaft bis zu 18 Monate dauern.
https://renverse.co/infos-locales/article/non-au-centre-federal-de-renvoi-2771
++SCHWEIZ
Hirschis gingen als Freiwillige nach Griechenland:
«Ich dachte, jemand muss jetzt einfach helfen!»
Sarah ist Tierärztin und «eher links». Thomas wählt SVP und ist
Landwirt. Zusammen waren sie in Lesbos, um Menschen auf der Flucht zu
helfen.
https://www.workzeitung.ch/2020/09/ich-dachte-jemand-muss-jetzt-einfach-helfen/
+++DEUTSCHLAND
Security oder Gewaltarbeit? Wie Schwarze Asylsuchende in bayerischen Abschiebe¬lagern poliziert werden
In bayerischen Asylunterkünften kam es in den letzten Jahren häufig zu
Übergriffen privater Sicherheitsdienste auf Asylsuchende. Diese
Wachdienstgewalt ist kein außergewöhnliches Ereignis, sondern muss im
Kontext der von institutionellem Rassismus geprägten, alltäglichen
Polizeiarbeit in großen Abschiebelagern verstanden werden. Der Beitrag
stützt sich auf Interviews mit Schwarzen Afrikanischen Bewohner*innen
und ehemaligen Securities sowie auf die rechtliche Unterstützungsarbeit
mit den Betroffenen.
https://www.cilip.de/2020/09/27/security-oder-gewaltarbeit-wie-schwarze-asylsuchende-in-bayerischen-abschiebelagern-poliziert-werden/
+++GRIECHENLAND
Brand in Moria: „Ich weiß, dass Gott uns hilft“
Der kongolesische Prediger Sherif Luna wohnte in Moria – bis das Feuer ausbrach. Am Meer betet er um Gottes Erbarmen.
https://www.zeit.de/2020/40/brand-in-moria-fluechtlingslager-prediger-gebet-vertrauen-gott
+++EUROPA
EU: Der „neue Migrationspakt“
Der neue Migrationspakt soll helfen, Außengrenzen besser zu schützen,
mit Drittstaaten besser zusammenzuarbeiten und Staaten zu Solidarität zu
verpflichten. Wo liegen seine Stärken, wo seine Schwächen?
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/europamagazin/index.html
+++GASSE
Einfach Politik: Warum tun wir uns mit dem Betteln so schwer?
Tom Riklin ist Bettler. Mit der Aufhebung des Bettelverbots in Basel hat
sich seine Situation geändert. «Wir haben mehr Konkurrenz erhalten»,
sagt er. «Einfach Politik» über einen «Beruf», der in der Schweiz sehr
umstritten ist.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/einfach-politik-warum-tun-wir-uns-mit-dem-betteln-so-schwer?id=11846346
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
derbund.ch 27.09.2020
Kontroverse um Bundesplatz-Besetzung – Sicherheitsdirektor Müller: «Die Polizei hat es nicht gewusst»
Die Gerüchte um ein Mitwissen der Berner Stadtbehörden reissen nicht
ab. Doch nun stützen Kanton und Polizei die Aussagen der Stadtregierung
zur Bundesplatz-Besetzung.
Fabian Christl
Es ist eine Frage, die die Politik noch immer beschäftigt: Haben die
Berner Stadtbehörden schon im Vorfeld von der geplanten
Bundesplatz-Besetzung der Klimabewegung gewusst? Stadtpräsident Alec
von Graffenried (GFL) beteuerte bereits von Beginn an, dass die Pläne
der Jugendlichen weder dem Nachrichtendienst noch dem Gemeinderat
bekannt gewesen seien. Doch anderslautende Gerüchte verstummen nicht.
Aufwind gibt den Skeptikern ein Artikel der «SonntagsZeitung». Die
Stadtbehörden seien durchaus gewarnt gewesen, heisst es darin. Der
Artikel bezieht sich auf eine Analyse des Bundesamts für Polizei
(Fedpol) über die allgemeine Bedrohungslage, die vor jeder
Parlamentssession erstellt wird. «In diesem Zusammenhang hat das Fedpol
spontane Kundgebungen auf dem Bundesplatz als möglich eingeschätzt»,
hielt das Fedpol gegenüber der «SonntagsZeitung» fest. Und weiter: «Das
Fedpol und die Kantonspolizei Bern hatten Kenntnis davon, dass in der
Woche vom 20. bis 25. September 2020 verschiedene Aktionen im Raum Bern
(von Klimaaktivisten) stattfinden könnten.»
«Himmelweiter Unterschied»
Letzteres ist nicht neu. Der Berner Gemeinderat hat von Anfang an
gesagt, dass er von der Aktionswoche der Klimajugend Kenntnis hatte.
Dass allerdings bereits der Bundesplatz als möglicher Schauplatz der
Proteste im Raum stand, ging aus den bisherigen Stellungnahmen nicht
hervor.
Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) bestätigt, dass er
persönlich im Vorfeld über den Inhalt des Berichts in Kenntnis gesetzt
worden sei. Laut Nause genügte dies indes nicht, um die Lage anders zu
beurteilen. Im Bericht stehe überhaupt nichts von einer möglichen
Besetzung des Bundesplatzes, einzig von einer möglichen Kundgebung sei
die Rede. «Es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen einer
Kundgebung und einer mehrtägigen Platzbesetzung.» Im Übrigen habe man
bei der Demonstration vom Freitag den Bundesplatz abgeriegelt, «und
entsprechend eine Kundgebung auf dem Bundesplatz verhindert».
Polizei und Kanton stützen Gemeinderat
Die anhaltenden Zweifel an den gemeinderätlichen Aussagen rühren nicht
zuletzt von der weltanschaulichen Nähe des links-grün dominierten
Gremiums und der Klimabewegung. Eine solche Nähe ist beim kantonalen
Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) nicht gegeben, gehört er doch
zu den fleissigsten Kritikern der städtischen Sicherheitspolitik und
steht auch nicht im Ruf, ein Öko-Fundamentalist zu sein. Dennoch eilt
Müller nun der Stadt zu Hilfe. Zwar könne er nicht beurteilen, schreibt
er auf Anfrage, ob die Stadt von der Besetzung gewusst habe. «Die
Kantonspolizei hat es aber nicht gewusst.» Auch er selber sei lediglich
darüber informiert worden, dass Aktionen geplant seien, aber nicht
«was, wann und wo».
Ähnlich hat sich bereits am Freitag die Kantonspolizei geäussert. «Wir
hatten keine konkreten Kenntnisse darüber, dass auf dem Bundesplatz ein
solcher Anlass geplant war», teilte die Medienstelle der
Kantonspolizei Bern dem «Bund» mit.
Absperren wäre unverhältnismässig
Gleichwohl: Wenn man Kenntnis von der Aktionswoche hat und auch, dass
der Bundesplatz als Schauplatz einer Aktion infrage kommt – wären dann
nicht stärkere Schutzmassnahmen angezeigt gewesen?
Nause verneint. So sei weder der Tag, noch die Zeit, noch die Art der
Aktion vorhersehbar oder bekannt gewesen. «Wir hätten den Bundesplatz
während der gesamten Woche mit einem Grossaufgebot der Polizei
absperren müssen; das wäre völlig unverhältnismässig gewesen.»
Ausserdem gebe es während jeder Session ein erhöhtes Risiko für
unbewilligte Aktionen auf dem Bundesplatz.
(https://www.derbund.ch/sicherheitsdirektor-mueller-die-polizei-hat-es-nicht-gewusst-935069731535)
—
Bundesplatzbesetzung: «Verschwörungstheoretiker» Marcel Dobler dürfte recht behalten
Die Berner Stadtbehörden wussten, dass auf dem Bundesplatz etwas auf sie
zukommt: Das hatten wir im Nachgang mit Berufung auf mehrere Quellen
geschrieben. Eine davon, der St.Galler Nationalrat Marcel Dobler, wurde
danach als «Verschwörungstheoretiker» bezeichnet. Wohl zu Unrecht.
https://www.dieostschweiz.ch/artikel/verschwoerungstheoretiker-marcel-dobler-duerfte-recht-behalten-XN1WMMG
—
Sonntagszeitung 27.09.2020
Klima-Demo: Berner Behörden waren gewarnt
Mit der Aktion auf dem Bundesplatz hielt in der Schweiz eine neue Form
des illegalen Protests Einzug. Die Behörden waren gewarnt – auch wenn
sie das Gegenteil behaupten.
Rico Bandle
Um zwei Uhr morgens hatte die Polizei den Bundesplatz umstellt. Einige
Aktivisten verliessen freiwillig das Protestcamp, viele aber blieben
auf dem Boden sitzen. Die Polizei trug sie einzeln weg. Jene, die sich
angekettet hatten, musste die Feuerwehr losbinden.
Damit waren für die Pendler am Morgen jene Bilder auf den
Nachrichtenportalen, die sich die Aktivisten herbeigesehnt hatten:
Polizisten in Vollmontur, die friedfertige Klimademonstranten wegtragen –
die dunkle Staatsgewalt, die ein wichtiges Anliegen zum Verschwinden
bringt.
Rund 100 Personen wurden bei der Räumung festgenommen. Vordergründig
gaben sich die Aktivisten empört, tatsächlich aber war es für sie ein
grosser Erfolg. «Die aufopferungsvolle Idee der Festnahme bildet den
Kern der Strategie von Extinction Rebellion (XR) und verleiht ihr
innere Stärke», heisst es im Handbuch von XR, der tonangebenden der
vier am Protest beteiligten Organisationen. «Alle lieben eine
Underdog-Erzählung: Vermeintlich ohne jede Chance ziehen die Tapferen
in den Kampf gegen das Böse.»
Die Strategie der in London gegründeten Gruppierung ist in Bern
lehrbuchmässig aufgegangen. Alle Akteure führten – zum Teil unfreiwillig
– exakt die für sie vorgesehene Rolle aus: die Politiker, die sich wie
gewünscht empörten; die Medienschaffenden, die mit Sympathie für die
Demonstranten ausführlich berichteten; die Polizei, die bildstark junge
Aktivistinnen wegtrug.
Es war eine neue Art des Politaktivismus, wie er in Zukunft häufiger in
der Schweiz zu erwarten ist: eine generalstabsmässig organisierte
illegale Aktion, die nach einem genau vorgegebenen globalen Drehbuch
durchgeführt wird – eine Art Protest im Franchising-Format. Man könnte
auch sagen: die McDonaldisierung des Widerstands.
Das Fedpol warnte vor Aktionen auf dem Bundesplatz
Der grüne Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried musste sich den
Vorwurf gefallen lassen, mit den Aktivisten kooperiert zu haben. Anders
sei eine Besetzung des bedeutsamen Platzes direkt vor dem Bundeshaus
nicht möglich gewesen: Zwei Stunden lang konnten ein paar Hundert
Jugendliche am frühen Montagmorgen ungehindert ein ganzes Pfadilager
inklusive Küche und WC-Häuschen aufbauen.
Von Graffenried will von einer Komplizenschaft aber nichts wissen:
«Wir hatten keine Anzeichen einer Besetzung. Auch der polizeiliche
Nachrichtendienst hatte davon keine Kenntnis.» Der Berner
Sicherheitsdirektor Reto Nause sagt: «Hätte ich von der Aktion gewusst,
hätte ich den Bundesplatz polizeilich sperren lassen.»
Beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) tönt es allerdings anders. «Das
Fedpol und die Kantonspolizei Bern hatten Kenntnis davon, dass in der
Woche vom 20. bis 25. September 2020 verschiedene Aktionen im Raum Bern
stattfinden könnten», schreibt die Behörde auf
Anfrage. «In diesem Zusammenhang hat das Fedpol spontane Kundgebungen
auf dem Bundesplatz als möglich eingeschätzt.» Dies sei in der Analyse
über die allgemeine Bedrohungslage festgehalten, die vor jeder Session
erstellt werde.
Die Aktion kam also alles andere als überraschend. Auch ohne das Fedpol
wäre es unschwer zu erahnen gewesen, dass die Klimabewegung bei ihrer
schon lange angekündigten «Aktionswoche» den Bundesplatz als Plattform
brauchen würde. Schliesslich garantiert dieser Ort während der Session
maximale Aufmerksamkeit. Die Aktivisten hatten offen mitgeteilt, dass
sie zwischen dem 20. und dem 25. September «gewaltlose Aktionen»
durchführen und «zivilen Ungehorsam» ausüben werden.
Eine der beteiligten Aktivistinnen sagt: «Ich bin immer noch erstaunt
darüber, dass die Stadt nicht draufgekommen ist, dass wir auf den
Bundesplatz gehen» (lesen Sie hier das Interview).
Journalisten als Komplizen
Wie die Aktion durchgeführt wurde, entspricht ziemlich genau den
Vorgaben aus dem Handbuch von Extinction Rebellion, das im normalen
Buchhandel erhältlich ist. Darin heisst es: «Konventionelle Kampagnen
funktionieren nicht.» Wirksam sei nur ein Mittel: «Ihr müsst das Gesetz
brechen.»
So erstaunt es auch nicht, dass die Bewegung das Angebot der Stadt
ablehnte, das Camp legal auf einen anderen Platz zu verlegen. Alec von
Graffenried erklärte nach den Verhandlungen enttäuscht: «Sie haben uns
gesagt, dass die Illegalität Teil ihres Konzepts sei.»
Über den idealen Standort des Protests steht im Handbuch: «Ihr müsst in
die Hauptstadt gehen. Dort sitzt die Regierung, dort treibt sich die
Elite herum, und dort sitzen in der Regel auch die nationalen und
internationalen Medien.»
Die Journalisten seien als Komplizen zu betrachten. Viele von ihnen
stünden «auf unserer Seite und sagen, sie seien Rebellinnen».
Diesbezüglich unterscheidet sich die Klimajugend stark von anderen
Protestbewegungen – etwa den Corona-Massnahmen-Skeptikern –, die
Journalisten als Feinde betrachten.
Entsprechend willkommen waren die Medienschaffenden auf dem
Bundesplatz. Rund um die Uhr waren Sprecherinnen verfügbar, die
freundlich Auskunft gaben oder eine Führung durch das Gelände machten.
Ganz bewusst übernahmen diese Aufgabe ausschliesslich Frauen, damit die
Bewegung ein sympathisches Bild abgibt.
Die Politiker können nur verlieren
Die Aktivisten wurden im Vorfeld laut eigenen Aussagen in Workshops
darauf trainiert, stets ruhig zu bleiben, auch bei Polizeieinsätzen.
Ziel ist, dass die andere Seite die Fassung verliert. Angesichts der
Reaktionen gewisser Politiker ist dies perfekt gelungen. Ein paar
fluchende Parlamentarier reichen allerdings noch nicht für einen
Systemwechsel. Im XR-Handbuch heisst es: «Die Arroganz der Obrigkeit
verleitet sie zur Überreaktion, und die Bevölkerung – idealerweise ein
bis drei Prozent – wird aufstehen und das Regime stürzen.»
Auch das ist ein zentraler Punkt: Es reiche, nur eine Minderheit zu
überzeugen, um durch Proteste einen Wandel zu erzwingen. Dass man in
einer Demokratie die Mehrheit auf seine Seite bringen muss, spielt
keine Rolle.
Auf die Politiker kommen schwierige Zeiten zu. Denn bei dieser
strategisch ausgeklügelten Art des illegalen Protests können sie nur
verlieren: Lassen sie die Aktivisten gewähren, verraten sie den
Rechtsstaat; greifen sie mit harter Hand durch, tun sie genau das,
worauf die Rebellen gewartet haben.
(https://www.derbund.ch/rebellion-nach-drehbuch-599195062197)
—
Sonntagszeitung 27.09.2020
Interview mit einer Klimaaktivistin«Wir brechen das Gesetz ganz bewusst»
Anaïs Tilquin hat sich ganz der Klimarebellion verschrieben. Sie
erklärt, weshalb aus ihrer Sicht illegale Aktionen legitim sind, warum
die heutige Demokratie nicht taugt und was jetzt dringend zu tun wäre.
Rico Bandle
Am Ohr hängt das grosse Sanduhr-Logo der internationalen
Klimaschutzbewegung Extinction Rebellion, beginnt sie über die
Bedrohung des Klimawandels zu sprechen, ist sie kaum mehr zu stoppen.
Anaïs Tilquin, 29, Evolutionsbiologin und Ökologin an der ETH Zürich,
gehörte zu den Mitorganisatorinnen der Aktion auf dem Bundesplatz.
Rund 100 Personen wurden bei der Räumung des Protestcamps am Mittwochmorgen festgenommen. Sie auch?
Nein. Als eine der Sprecherinnen der Organisation wäre dies nicht
opportun gewesen. Ich habe mich deshalb freiwillig vom Platz entfernt.
Aber es gehörte ausdrücklich zur Strategie, dass es medienwirksame Festnahmen gibt.
Damit zeigen wir, dass es uns wirklich ernst ist mit der Sache. Wir
brechen das Gesetz ganz bewusst, akzeptieren dann aber auch die
Konsequenzen. Entsprechend wehren wir uns auch nicht gegen die
Festnahmen.
Es war also Ihr Ziel, dass der Platz geräumt wird?
Wir haben damit gerechnet. Es geht darum, offenzulegen, wer auf welcher
Seite steht: Hat man die Dringlichkeit des Problems erkannt und will
handeln – oder verpflichtet man sich lieber den privaten Interessen und
der Gewinnmaximierung? Die Mehrheit des Parlaments hat einer Räumung
zugestimmt und steht damit leider auf der falschen Seite.
Vielleicht waren viele Parlamentarier auch einfach gegen eine illegale Aktion?
Das glaube ich nicht, ihnen passt unsere Botschaft nicht. Die Politik
hat das Camp mitten in der Nacht räumen lassen, damit es möglichst
niemand sieht. Als ob sich die Verantwortlichen schämen würden dafür.
Und sie haben wahrlich Grund, sich zu schämen!
Ein viel gehörter Slogan der Bewegung lautet «System Change not Climate Change». Wie soll das System verändert werden?
Wenn wir nicht sofort etwas tun, werden Millionen von Menschen sterben,
im schlimmsten Szenario könnten es sogar Milliarden von Toten sein, da
grosse Teile des Planeten unbewohnbar sein werden. Unser System ist
nicht fähig, mit diesem Problem umzugehen. Also müssen wir es wechseln.
Milliarden von Toten? Jetzt übertreiben Sie aber masslos.
Das ist weder eine Übertreibung noch eine PR-Strategie, sondern
wissenschaftliche Evidenz. Wenn Teile der Erde unbewohnbar werden,
führt das zu grossen Migrationsströmen, was wiederum Kriege auslösen
kann.
Wenn unsere Demokratie untauglich ist, das Problem zu lösen, was wollen Sie dann?
Nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Wir fordern den Einsatz von
Bürgerversammlungen, deren Mitglieder per Los bestimmt werden. Diese
Leute sind allein dem Gemeinwohl verpflichtet und nicht Parteien oder
Interessengruppen.
Aber was, wenn die Bürgerversammlung entscheidet, dass es billiges Benzin und erschwingliche Ferienflüge für alle geben soll?
Diese Wahrscheinlichkeit ist sehr klein. Experten informieren zuerst
die Versammlungsmitglieder ausführlich über den Sachverhalt. Das ist
ganz wichtig. Die Erfahrungen mit solchen Versammlungen aus Deutschland
und Frankreich zeigen, dass die Leute dann keine schlechten
Entscheidungen treffen.
Wer bestimmt die Experten?
Das ist eine entscheidende Frage. Wer die Experten wählt, hat eine
grosse Macht. Heikel ist das vor allem bei den Ökonomen, da gibt es
verschiedene Weltanschauungen. In der Naturwissenschaft aber gibt es
kaum unterschiedliche Ansichten.
Was, wenn die Bürgerversammlung dann doch «schlecht» entscheidet?
Wie gesagt, da besteht aus meiner Sicht kaum ein Risiko. Aber ein
schlechter demokratischer Entscheid ist immer noch besser, als wenn
dasselbe durch ein paar Mächtige angeordnet wird.
Eine Ursache des Problems ortet die Bewegung beim Kapitalismus. Was schlagen Sie als Alternative vor?
Auf diesem Gebiet bin ich keine Expertin. Tatsache ist: Die reichen
Länder und die globalen Firmen sind zu einem Grossteil für die
Klimaerwärmung verantwortlich. Zu leiden darunter haben aber
hauptsächlich die armen Länder. Die Reichen sind deshalb verpflichtet,
den Armen zu helfen. Das verstehen wir unter «climate justice».
In der Schweiz haben die Bürger bereits viele
Mitbestimmungsmöglichkeiten. Weshalb lancieren Sie nicht einfach eine
Volksinitiative?
Das haben wir mit der Gletscherinitiative ja auch gemacht. Aber das
geht viel zu langsam. Für einen solch schwerwiegenden Notfall brauchen
wir ein schnelleres und effizienteres System. Bei der Corona-Krise hat
man gesehen, dass man im Notfall rasch handeln kann. Aber es soll
demokratischer gehen.
An der Aktion auf dem Bundesplatz waren vier Organisationen und
Hunderte von Menschen beteiligt. Wie haben Sie es geschafft, eine solch
riesige Sache geheim zu halten?
Ich bin immer noch erstaunt darüber, dass die Stadt nicht draufgekommen
ist, dass wir auf den Bundesplatz gehen. Offiziell hatten wir einen
Plan für die Schützenmatte, gleich vor der Reitschule. Nur wenige Leute
wussten, wo das Camp dann tatsächlich aufgebaut wird. Auch ich erfuhr
es erst ein paar Stunden vorher.
Wie sehr hat die rot-grüne Stadtregierung mit Ihnen bei der Aktion kooperiert?
Das weiss ich nicht. Jedenfalls war die Stadt immer sehr zuvorkommend.
Der Druck, das Camp zu räumen, kam vom Parlament. Sobald wir auf dem
Platz waren, haben wir die Polizei, die Ambulanz und den ÖV-Betreiber
über unsere Aktion informiert, damit sich alle organisieren konnten.
Es gibt Hinweise, wonach viele Aktivisten aus dem Ausland stammten. Viele Reden zum Beispiel wurden von Deutschen gehalten.
Das ist falsch. Das können nur Leute behaupten, die nicht vor Ort
waren. Die behaupten dann auch, dass wir Abfall zurückgelassen hätten,
was nicht stimmt.
Illegale Aktionen wirken sich oft kontraproduktiv aus. So verliert man Sympathien.
Dazu würde ich gerne eine Umfrage sehen! Wir haben aus der ganzen
Schweiz enorm viel Rückhalt verspürt. Wer sagt, dass man mit einer
solch gewaltfreien Aktion Sympathien verliert, hatte in der Regel noch
nie Sympathien für uns. Ich bin sicher: Die Politik hat an Rückhalt
verloren, nicht wir.
Was, wenn nun auch andere politische Gruppierungen kommen – zum
Beispiel Abtreibungsgegner – und finden, sie hätten auch das Anrecht
auf eine solche Aktion?
Dieses Argument ist nicht fair. Der Kimawandel ist das wichtigste und
drängendste Problem der Menschheit, das ist wissenschaftlich erwiesen.
Es geht ums Überleben von uns allen! Man kann dies nicht einfach mit
anderen Themen gleichstellen.
(https://www.derbund.ch/wir-brechen-das-gesetz-ganz-bewusst-782824438847)
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/berner-behorden-vor-bundesplatz-besetzung-gewarnt-65789615
Hat sich Berns Stapi mit dem Klima-Protest solidarisiert? «Das ist eine üble Verleumdung»
Zwei Tage lang besetzten Aktivisten den Bundesplatz. Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried (58) nimmt Stellung.
https://www.blick.ch/news/schweiz/hat-sich-berns-stapi-mit-dem-klima-protest-solidarisiert-das-ist-eine-ueble-verleumdung-id16114874.html
Klimajugend hielt Bundesbern in Atem: «Der anständige Weg hat uns nirgends hingebracht»
Mit der umstrittenen Aktion auf dem Bundesplatz zeigt vor allem die
Schweizer Klimajugend eine neue Entschlossenheit. Dabei war die
Frustration innerhalb der Bewegung noch vor wenigen Wochen gross.
https://www.blick.ch/news/schweiz/klimajugend-hielt-bundesbern-in-atem-der-anstaendige-weg-hat-uns-nirgends-hingebracht-id16114959.html
+++ANTITERRORSTAAT
Neuer Anlauf für Präventivhaft: Bürgerliche rütteln am Tabu
Das Parlament verschärft die Gesetze im Kampf gegen Terroristen – kaum
ist die Beratung abgeschlossen, legen Vertreter der SVP, FDP und CVP
nach.
https://www.blick.ch/politik/neuer-anlauf-fuer-praeventivhaft-buergerliche-ruetteln-am-tabu-id16115012.html
+++BIG BROTHER
Ende Gelände: Aktivist:innen organisieren eigenes Corona-Tracing
Wie funktioniert Massenprotest in der Corona-Pandemie? Die
Klimaschutzbewegung macht es vor und setzt erstmals ein selbst
entwickeltes System zur Kontaktverfolgung ein.
https://netzpolitik.org/2020/ende-gelaende-aktivistinnen-organisieren-eigenes-corona-tracing/#vorschaltbanner
+++POLIZEI CH
Warum Polizisten auf psychologische Betreuung verzichten
Aus Angst vor möglichen Konsequenzen verzichten Polizisten zum Teil auf
psychologische Betreuung. Ein Betroffener wünscht sich mehr
Unterstützung.
https://www.watson.ch/schweiz/psychologie/756760287-warum-polizisten-auf-psychologische-betreuung-verzichten
+++POLIZEI DE
Was offizielle Zahlen verraten – Nimmt die Polizeigewalt zu?
In den vergangenen Wochen sorgen mehrere Videos für Aufsehen, die
umstrittenes Verhalten von Polizisten dokumentieren. Sind die Fälle von
Polizeigewalt gestiegen?
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/polizeigewalt-zahlen-verfahren-100.html
+++RASSISMUS
„Black Voices“-Volksbegehren: Antirassistisch Geschichte schreiben
Ein Volksbegehren fordert in Österreich einen nationalen Aktionsplan
gegen Rassismus. Es ist die starke Stimme einer jungen – und
feministischen – Bewegung
https://www.derstandard.at/story/2000120257162/black-voices-volksbegehren-antirassistisch-geschichte-schreiben?ref=rss
…
NZZ am Sonntag 27.09.2020
Eine Reise ins schwarze Herz Europas
Viele schwarze Menschen sehen Europa als Heimat, fühlen sich über ihre
Vorfahren aber auch Afrika verbunden. Diese Identität der Afropäer
beschreibt Johny Pitts auf seiner Tour durch europäische Städte.
Valeria Heintges
«Immer me wend id Schwiiz», sagt das Mädchen im SVP-Werbevideo zur
«Begrenzungsinitiative». Sie wird von zwei schwarzen Männern
beobachtet, die vor einer Baustelle stehen. Auch als das Kind erzählt,
dass in der Schule «nur no d Sarah und d Laila Schwiizer» sind, sieht
man im Bild Menschen mit dunkler Hautfarbe. Und als es gerade davon
spricht, dass es jeden Tag «Räuber im Fernseh» sieht und Angst habe, im
Winter von der Schule nach Hause zu gehen, zeigt die Kamera einen Mann
mit Dreadlocks.
Szenen wie diese haben den Machern um Nationalrat Thomas Matter den
Vorwurf eingetragen, das rassistische Klischee des faulen,
kriminellen, dunkelhäutigen Ausländers zu bedienen, der Kinder bedroht
und Eltern die Arbeit wegnimmt.
«In der rechtsgerichteten Presse können dunkelhäutige Menschen
zugleich Arbeitsplätze klauen und als faule Nichtstuer leben»
beschreibt Johny Pitts den offensichtlichen Widerspruch in seinem Buch
«Afropäisch». Dabei verrichteten diese Menschen, so eine Erkenntnis des
britischen Journalisten, häufig Jobs, die sie unsichtbar machten.
«Sehr oft bewohnen Europas schwarze Arbeitskräfte als
Reinigungspersonal, Taxifahrer, Gepäckträgerinnen, Wachleute,
Fahrkartenverkäuferinnen und Türsteher» einen Grenzbereich; sie seien
«da und doch nicht da»; lebten in einer Welt, «durch die sich das
weisse Europa ganz unbekümmert bewegt, ohne sie je wirklich
wahrzunehmen».
Pitts formuliert zugespitzt: «Was immer die europäischen Länder
behaupten mögen, es sind immer noch dunkelhäutige Menschen, die die
Toiletten der Weissen putzen, ihre Bettwäsche wechseln, ihre Gebäude
bewachen und ihre Böden wischen.»
Was heisst dazugehören?
Pitts erkundet in seinem Sachbuch «Afropäisch» das Leben
dunkelhäutiger Menschen in Europa. Der Journalist und Fotograf wuchs im
britischen Sheffield auf, als Sohn einer weissen Britin und eines
Afroamerikaners mit Vorfahren in Togo, Sierra Leone und anderen Ländern
Schwarzafrikas, wie ein DNA-Test kürzlich ergab.
Seine Tour führt ihn über Paris, Brüssel, Amsterdam und Berlin nach
Stockholm, weiter nach Moskau und schliesslich über Marseille und die
Côte d’Azur bis nach Portugal. Die Route ist seinem klammen
Portemonnaie und mangelnder finanzieller Unterstützung geschuldet. Die
Lücken der fünfmonatigen Reise – Pitts war weder in Osteuropa noch
irgendwo auf dem Land – versucht er mit Beiträgen auf der Website
afropean.com zu füllen.
Wie fühlen sich Menschen mit schwarzer Hautfarbe in Europa; spüren sie
Zugehörigkeit, welche Farbe können sie dem Kontinent mit ihrer
Affinität zur afrikanischen Heimat ihrer Vorfahren hinzufügen? Gelingt
es ihnen, Europäisches und Afrikanisches in ihrem Leben zu vereinen?
Oder erleben sie sich nur als Aussenseiter, die nicht dazugehören,
ständig ausgegrenzt und rassistisch diffamiert werden?
Der Begriff «afropäisch», der aus der Musik stammt, erlaubt es Pitts
selbst, sich «ohne Bindestrich zu fühlen», wie er schreibt, also die
reale Erfahrung des Schwarzseins mit der Tatsache zusammenzubringen,
dass ihm Europa Heimat bedeutet und Ort seiner Herkunft ist. Auf seiner
Reise findet er «Afropa» im friedlichen Miteinander von Schwarz und
Weiss, in Lebensläufen zwischen dort und hier, in Archiven, die der
schwarzen Vergangenheit des Kontinents Gerechtigkeit verschaffen
wollen. Auf einem Konzert in Brüssel und in der Mode.
Aber Pitts findet auch den rassistischen Comic «Tim und Struppi im
Kongo», eine obskure Antifa-Demo in Berlin und eine kapverdische Favela
in Lissabon. Er wird von vielen Menschen begeistert und freundlich
aufgenommen, aber auch immer wieder beleidigt und bedroht, von
besoffenen Engländern im Zug an der Côte d’Azur etwa oder von Insassen
eines Taxis in Moskau. Johny Pitts zeichnet kein einheitliches Bild. Zu
sehr unterscheidet sich die Situation in Kolonialmächten wie
Frankreich, Belgien oder Portugal von derjenigen in Schweden, das nie
Kolonien besass.
Singulär ist der Besuch in Moskau, wo Pitts auf Studierende aus Ghana
und Benin trifft, die nicht am russischen Alltag teilnehmen, sondern
ihre Zeit ganz dem Studium widmen, um später das Wissen in ihrer
Heimat anzuwenden. Russland mag eine lange, grosse Geschichte von
schwarzen Künstlern haben – so stammt Puschkins Grossvater aus dem
Grenzgebiet von Tschad und Kamerun und er selbst war stolz auf sein
afrikanisches Erbe –, doch im heutigen Russland ist das Leben der
Schwarzen von Fremdenhass geprägt. Pitts selbst entkommt mehrfach nur
knapp rassistischen Angriffen.
Der Journalist findet unterschiedliche Communitys, die ihre je eigenen
Traditionen und Sprachen kultivieren und zuweilen untereinander
Animositäten und Vorurteile pflegen, etwa wenn in Paris Westafrikaner,
Menschen aus der Karibik und solche aus dem Maghreb unter sich bleiben.
Dem stellt er den Begriff des Afropäischen als einende Kraft gegenüber,
als «Möglichkeit, Brücken zwischen verschiedenen Geschichten, Kulturen
und Menschen zu bauen», als «komplizierte, integrierte Form des
Schwarzseins in Europa, die sich nicht auf Stereotype festnageln lässt
und sich zugleich weigert, ihre braune Haut und Pluralität zu
verleugnen».
Das Geld aus den Kolonien
Viele dieser Menschen eint der alltägliche Kampf gegen Rassismus und
ihr hartes Leben am Rand der Gesellschaft. Kaum ein Land erkennt an,
dass der eigene Reichtum auch auf der Ausbeutung der Kolonien, der
Bodenschätze und der Menschen in der Sklaverei gründet. Ohne das Geld
aus Übersee hätte Haussmann sein Paris-Projekt niemals finanzieren
können.
Spannend ist der Hinweis, dass diese Verschönerung in der Innenstadt
die armen Menschen erst in die Vorstädte und später in die Banlieues
verdrängte. Kaum ein Besuch auf Pitts Reise fällt so trist und so
langweilig aus wie jener im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, wo der
Anteil an Immigranten aus Afrika überdurchschnittlich hoch ist und wo
immer wieder Unruhen aufflammen.
Der Autor beschreibt das alles in einer Mischung aus Reisereportage,
Berichten, Porträts der Menschen, die er trifft, und Quellenstudium.
Das Ergebnis ist spannend und lesenswert, wenn auch subjektiv und
zufällig, was Pitts nicht leugnet. Das zeigt sich in Abneigungen und
Vorlieben, etwa einer fast schwärmerischen Bewunderung für Schweden und
einem oberflächlichen Bild von Deutschland. Da wird deutlich, dass
sich Pitts zuweilen sehr auf die Aussagen seiner Gesprächspartner
verlässt, ohne sie zu hinterfragen.
Am Ende bleiben drei Eindrücke vorherrschend: Zum einen die Einsicht,
dass der Selbsteinschätzung der Europäer, dem Rest der Welt Moral und
Kultur gebracht zu haben, nach dieser Lektüre niemand mehr ernsthaft
folgen kann.
Zweitens die Scham der Europäerin, die sich – trotz bester Absichten –
eingestehen muss, einen durchweg weissen Blickwinkel als den richtigen
angesehen zu haben. Drittens die Hoffnung, Bewegungen wie «Black Lives
Matter» und ihre Ableger in europäischen Ländern mögen endlich
grundlegende Änderungen bewirken und die Länder dazu bewegen, sich
ihrer Vergangenheit umfassender zu stellen.
So müsste Belgien die Verantwortung für die Greueltaten in Kongo
übernehmen, die Niederlande einsehen, dass sie ein Sklavenhalterstaat
waren, und Deutschland sich endlich für den Genozid an den Herero und
den Nama im Gebiet Namibias entschuldigen.
Aber auch Nicht-Kolonialstaaten wie die Schweiz sollten anerkennen, dass
ihr Reichtum zu einem nicht kleinen Teil auf dem Handel mit Kolonien
und der Ausbeutung der Menschen dort basiert, wie Historiker deutlich
belegen können. Würden wir das anerkennen, wäre die Geschichte Europas
nicht nur eine der weissen, sondern auch der schwarzen Menschen.
–
Johny Pitts: Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa.
Übersetzt von Helmut Dierlamm. Suhrkamp 2020. 463 S., um Fr. 40.–,
E-Book 27.–.
(https://nzzas.nzz.ch/kultur/journalist-johny-pitts-erforscht-das-schwarze-europa-ld.1578402)
–
What is Afropean? Johny Pitts on Black Europe
https://youtu.be/oYQ6gwASIxY
+++RECHTSEXTREMISMUS
Rechtsextreme trainieren für den Umsturz: Rechter Kampf unter Palmen
Thailand zählt zu den Hotspots einer globalisierten Fitness- und
Kampfsportszene. Das zieht auch militante Neonazis an. Ein Buchauszug.
https://taz.de/Rechtsextreme-trainieren-fuer-den-Umsturz/!5716428/
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Corona-Leugner: Mit dem netten Querdenker Samuel Eckert in die Apokalypse
Er redet von Martin Luther, der sein Leben für die Wahrheit aufs Spiel
gesetzt hat. So sieht sich Samuel Eckert auch. Er ist so etwas wie der
Posterboy der „Querdenken“-Bewegung und missioniert dort, nachdem seine
Kirche ihm ein Predigtverbot erteilt hat. Auch Minderjährige im Netz
sind Zielgruppe.
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_88633476/samuel-eckert-von-querdenken-geht-mit-bodo-schiffmann-im-luxusbus-auf-corona-info-tour.html
Verfahren gegen Arzt eingeleitet – Corona: Kritiker aus Ebikon im Visier der Behörden
Er soll Dispensen von der Maskenpflicht auch dann erteilen, wenn kein
medizinischer Grund vorliegt: Nach seinen öffentlichen Auftritten muss
ein Facharzt aus Ebikon nun mit juristischen Konsequenzen rechnen.
https://www.zentralplus.ch/corona-kritiker-aus-ebikon-im-visier-der-behoerden-1902271/
—
NZZ am Sonntag 27.09.2020
Skeptische Ärzte geraten ins Visier der Behörden
Mehrere Kantone haben Verfahren gegen Mediziner eingeleitet, die sich gegen die offizielle Corona-Politik der Schweiz stellen.
Lukas Häuptli
«Mein allererster Auftrag ist es, die eigenen Patienten, aber auch die
Bevölkerung über die andere Meinung aufzuklären.» Andreas Heisler sitzt
vor seinem Computer, die Kamera läuft, der 52-Jährige spricht mit der
auffallend unaufgeregten Stimme, die vielen Ärzten eigen ist. Heisler
wird interviewt von einem Mitarbeiter einer «Media Group», die im
Wesentlichen aus ebendiesem Mitarbeiter besteht. Das Interview ist seit
dem 21. September auf Youtube aufgeschaltet.
«Die andere Meinung» also. Heisler sagt: «Ich habe viel mehr
Kollateralschäden gesehen als Corona-Patienten.» Sagt: «Die
Corona-Massnahmen der Behörden bringen überhaupt nichts, ja sie richten
viel, viel Schaden an.» Und sagt schliesslich: «Die Maskenpflicht ist
völlig unsinnig.»
Heisler ist seit mehreren Jahren Hausarzt im Luzerner Vorort Ebikon und
hat ein Problem: Er steht im Verdacht, eine Dispens von der
Maskenpflicht auch dann zu erteilen, wenn kein medizinischer Grund
vorliegt. Auf «Youtube» sagt er: «Ich stelle die Dispens aus, weil die
Maskenpflicht unsinnig ist.» Schiebt aber gleich auch nach: «Ich schaue
mir die Fälle an, sie müssen für mich glaubhaft klingen.
Nur ist eine Untersuchung in der Praxis nicht immer notwendig.» In die
Angelegenheit, über die als Erster der «Blick» berichtete, hat sich in
der Zwischenzeit auch das Gesundheits- und Sozialdepartement des Kantons
Luzern eingeschaltet. Sprecherin Noémie Schafroth will sich zwar wegen
des Amtsgeheimnisses und des Persönlichkeitsschutzes nicht zum Fall
äussern. Sie sagt aber: «Das Departement hat – wo notwendig –
entsprechende Massnahmen getroffen.»
Entsprechende Massnahmen bedeuten aufsichtsrechtliche Verfahren. Wie
viele es insgesamt sind, gibt das Departement nicht bekannt. Die
Sprecherin hält fest: «Es gibt noch kein abgeschlossenes Verfahren. Und
zu laufenden Verfahren äussern wir uns nicht.»
Fälle in vier Kantonen
Fest steht: In der Zwischenzeit haben mindestens vier Kantone
aufsichtsrechtliche Verfahren gegen Ärzte eingeleitet, die sich gegen
die Corona-Massnahmen von Bund und Kantonen stellen und diese –
zumindest zum Teil – unterlaufen. Neben Luzern sind das die Kantone
Aargau, St. Gallen und Graubünden.
Was den Betroffenen im Einzelnen vorgeworfen wird, ist nicht bekannt;
auch hier gehen Amtsgeheimnis und Persönlichkeitsschutz vor. Gildo Da
Ros, Generalsekretär des St. Galler Gesundheitsdepartements, sagt aber:
«Ärzte und Ärztinnen sind dazu verpflichtet, vertrauenswürdig zu sein
sowie physisch und psychisch Gewähr für eine einwandfreie Berufsausübung
zu bieten.» Ebenso müssten sie verschiedene Berufspflichten einhalten.
«In der aktuellen Situation gehört dazu auch die Umsetzung der
behördlichen Corona-Schutzmassnahmen.»
Besteht der Verdacht, dass Ärzte und Ärztinnen gegen Berufspflichten
verstossen, leiten die kantonalen Gesundheitsbehörden Aufsichtsverfahren
gegen sie ein. Die Verfahren können eine Verwarnung, einen Verweis,
eine Busse, einen Entzug der Praxisbewilligung oder ein Berufsverbot zur
Folge haben.
Andreas Heisler ist nicht der einzige Arzt, der sich an der offiziellen
Corona-Politik der Schweiz stösst. Er gehört zu einem Netz von
mittlerweile mehreren Dutzend Medizinern, das sich «Aletheia – Medizin
und Wissenschaft für Verhältnismässigkeit» nennt. Die Gruppierung machte
sich im August mit einem Leserbrief in der «Schweizerischen
Ärztezeitung» bemerkbar. Die Botschaft: «Die Wirksamkeit vieler
Massnahmen ist ungenügend belegt, medizinisch widersprüchlich und
unverhältnismässig.»
Unterzeichnet war der Brief auch von Rainer Schregel, einem St. Galler
Amtsarzt. Er bezieht regelmässig Stellung gegen die behördlichen
Corona-Massnahmen. So bezeichnete er diese am letzten Wochenende an
einer Demonstration auf dem Zürcher Turbinenplatz als «verordneten
Wahnsinn».
«Goebbels Mädchen»
Zum Eklat war es allerdings schon im August gekommen. Damals hatte
Schregel auf Facebook über eine Journalistin des St. Galler Tagblatts
geschrieben, der nationalsozialistische Propagandaminister Joseph
Goebbels hätte sie als «mein kleines Mädchen» gelobt. In der Folge
eröffnete das St. Galler Gesundheitsdepartement ein aufsichtsrechtliches
Verfahren gegen Schregel und enthob ihn vorsorglich seines Amtes. Das
Verfahren ist hängig.
Zum Netzwerk zählt auch Marco Caimi. Der Basler Arzt trat am 22.
September in der SRF-Sendung «Club» auf und hatte vor einem Monat auf
seinem Youtube-Kanal Andreas Heisler interviewt. Er sagt: «Die Politik
des Bundes operiert seit sehr langem auf dem Modus der
Angstkonservierung.» Insbesondere das ziel- und planlose exzessive
Testen führe zu völlig fehlgeleiteten Massnahmen. «Dadurch erfolgen auch
Freiheitsberaubungen unter dem Etikettenschwindel der
Quarantänisierung.»
Die wachsende Zahl von Corona-kritischen Ärzten hat letzte Woche auch
die FMH, die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, auf den Plan
gerufen. Sprecherin Charlotte Schweizer sagt: «Die FMH hat ein Schreiben
an alle Mitglieder verschickt und darauf hingewiesen, dass
sie vollumfänglich hinter den Corona-Schutzmassnahmen von Bund und
Kantonen steht.» Aufgrund der Entwicklungen in den letzten Tagen und
Wochen sei es an der Zeit gewesen, dass sich die FMH diesbezüglich
äussere.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/corona-skeptische-aerzte-im-visier-der-behoerden-ld.1578699)
Impfgegner bis Neonazismus: Es braut sich etwas zusammen
Die Corona-Skeptiker und ihre Thesen werden zum gesellschaftlichen Problem
https://www.derstandard.at/story/2000120290595/es-braut-sich-etwas-zusammen?ref=rss
++++HISTORY
Neueste Forschung bringt Licht in den Skandal der versteckten Kinder:
Sogar einen Säugling wollten sie ausweisen!
Das unmenschliche Saisonnierstatut ¬zerriss Familien und ¬ruinierte
Biographien. Wie das geschah, zeigt jetzt eine historische Arbeit an der
Universität Bern.
https://www.workzeitung.ch/2020/09/sogar-einen-saeugling-wollten-sie-ausweisen/
—
zeit.de 27.09.2020
„Protokolle der Weisen von Zion“: Geklaut, kopiert, erfunden
Nicht einmal ein Gerichtsurteil konnte den Glauben an die „Protokolle
der Weisen von Zion“ erschüttern. Bis heute verbreitet sich die obskure
Schrift.
Eine Analyse von Markus Flohr
Sie beruhen auf Fälschungen und Falschbehauptungen. Noch dazu wurde
vieles darin unlauter umgedeutet. Doch bis heute kursieren die
„Protokolle der Weisen von Zion“ in antisemitischen Kreisen, werden
zitiert und verbreitet. Markus Flohr über Fake News, die ihren Ursprung
in einer Zeit haben, zu der es diesen Begriff so noch nicht gab. Der
Text ist im Magazin ZEIT Geschichte erschienen.
Fünf Männer nehmen am 16. November 1933 auf der Anklagebank des
Amtsgerichts Bern Platz – doch eigentlich ist es eine Schrift, die an
diesem Tag vor Gericht steht: die Protokolle der Weisen von Zion. Die
Männer sind Nationalsozialisten aus der Schweiz. Sie sollen sich dafür
verantworten, dass sie die sogenannten Protokolle bei einer Kundgebung
der Nationalen Front im Casino von Bern verteilt haben. Jenes Manuskript
gibt vor, authentisches Dokument eines Treffens jüdischer Männer zu
sein, die sich über ihren Plan zur Beherrschung der Menschheit
austauschen. 1902 wurde ein derartiges Schriftstück erstmals von einem
russischen Journalisten erwähnt, der wohl ein unveröffentlichtes
Manuskript kannte, es aber für eine Fälschung hielt. Ein Jahr später
erschien die erste Version der Protokolle als Serie in der
rechtsextremen Zeitung Znamja („Banner“) in St. Petersburg, etwas später
folgte eine längere Fassung als Buch.
In Bern lautet die Anklage auf Verbreitung von „Schundliteratur“,
angezeigt vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und von der
Israelitischen Kultusgemeinde Bern. Sie wollen, dass die Protokolle
nicht weiter zirkulieren. Vor allem aber soll das Gericht in aller
Öffentlichkeit bestätigen, dass sie eine Fälschung sind. Das Urteil, so
hoffen die jüdischen Gemeinden, wird sich auch gegen Hitler und die
Nationalsozialisten insgesamt richten, die seit Januar im Nachbarland an
der Macht sind.
Der Prozess in diesem Strafverfahren zieht sich über anderthalb Jahre
hin, weil Kläger, Angeklagte und Gericht eigene Gutachter stellen und
monatelang Beweise sammeln, dass die Protokolle eine Fälschung sind –
oder eben nicht. Für die Angeklagten reist aus Erfurt der völkische
Publizist Ulrich Fleischhauer an. Er muss zwar im Laufe der Verhandlung
einräumen, dass große Teile des Werkes abgeschrieben, geklaut oder
erfunden sind. Aus seiner Sicht beweist das jedoch nur umso mehr die
grundsätzlich jüdische Urheberschaft von Text und großem Plan.
In seinem Schlussplädoyer Anfang Mai 1935 erklärt Fleischhauer:
„Gefälscht wären die Protokolle nur, wenn das darin entwickelte Programm
jüdischer Denkungsweise zuwiderliefe, wenn es ungerechtfertigt wäre,
von einer Weltherrschaftssucht des jüdischen Volkes zu sprechen. Echt
dagegen sind sie, wenn das Streben des Judentums, alle Völker nach und
nach unter seine […] Oberleitung zu bringen, als Tatsache angenommen
werden muss.“ Dass dem so ist, will er „in erschöpfender Weise“ bewiesen
haben.
Am 14. Mai 1935 spricht Richter Walter Meyer das Urteil: Die Protokolle
sind eine Fälschung und ein Plagiat. Außerdem trifft der Vorwurf der
„Schundliteratur“ im Sinne des Gesetzes zu. Zwei der fünf Angeklagten
werden zu eher symbolischen Geldstrafen verurteilt, die anderen drei
freigesprochen. Die Verurteilten müssen den Großteil der Prozesskosten
tragen. Das Berner Obergericht revidiert das Urteil zwei Jahre später,
weil es den Text nicht für „Schundliteratur“ hält – ästhetisch und
literarisch schon, aber nicht rechtlich.
Richter Meyer widmet sich 1935 in seiner Begründung kaum den
Angeklagten, dafür umso mehr der Schrift: Er hoffe, sagt er, es werde
eine Zeit kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, warum sich
mehr als ein Dutzend Menschen so viele Prozesstage lang „über die
Echtheit oder Unechtheit dieser sogenannten ‚Protokolle‘ die Köpfe
zerbrechen konnten, die bei allem Schaden, den sie bereits gestiftet
haben und noch stiften mögen, doch nichts anderes sind als ein
lächerlicher Unsinn“.
Das ist eine vergebliche Hoffnung. Die Zeit, in der man über die
Protokolle lachen kann, ist bis heute nicht gekommen. Dass der Schatten
des „Schadens“, den sie noch anrichten, bis nach Auschwitz reicht, kann
Richter Meyer nicht ahnen. Aber er ringt in seinem Urteilsspruch 1935
bereits mit der noch im Jahr 2020 virulenten Frage: Warum schenken
Menschen diesem Text Glauben?
Nach 1945 war es zwar eine Weile still geworden um die Protokolle, aber
seit den Fünfziger- und Sechzigerjahren verbreiten sie sich vor allem in
der arabischen Welt, wo sie auch von Staatschefs wie Muammar
al-Gaddafi, Gamal Abdel Nasser oder König Faisal al-Saud zitiert wurden –
stets, um den Staat Israel zu delegitimieren. Bis heute ist die Schrift
im Nahen Osten ein Dauerbrenner: Nach Angaben der Jerusalem Post warben
Verlage 2019 auf Buchmessen in Abu Dhabi, Kuwait, Oman und
Saudi-Arabien mit „neuen“ Ausgaben; auf der Kairoer Buchmesse lädt im
Februar 2020 ein Herausgeber zur Signierstunde unter dem Titel „Hidden
World Government: Protocols of the Elders of Zion“.
Auch im Westen sind sie nicht verschwunden: Auf der Verkaufsplattform
Amazon lassen sie sich auf Deutsch erwerben, Hugendubel und Thalia
bieten in ihren Online-Shops englischsprachige Ausgaben an. Beim
Videoportal YouTube gibt es Dutzende Möglichkeiten, den Text als
Audiobuch anzuhören. Bei Facebook treffen sich Verschwörungstheoretiker
in deutschen und englischen Gruppen unter dem Namen der Protokolle – sie
posten und kommentieren kurze Passagen und reden einander ein, wie wahr
das alles sei. Nebenbei hetzt man gegen Israel oder die „Pharmalobby“.
Dabei kann jeder, der will, sehr schnell herausfinden, um welche Art von
Werk es sich bei den Protokollen der Weisen von Zion handelt. Zwar ist
bis heute unklar, wer den Text zusammenstellte – worauf sich seine
Apologeten gern kaprizieren –, aber seit fast hundert Jahren ist
bekannt, dass die Schrift keinesfalls das ist, was sie vorgibt zu sein.
Die „Protokolle“ enstanden wohl in Russland
Ihre Ahnentafel beginnt mit dem Roman Biarritz, verfasst 1868 von einem
deutschen Autor, der sich John Retcliffe nannte, aber Hermann Goedsche
hieß. Ein Kapitel des Buches beschreibt eine Rabbinerversammlung nachts
auf dem jüdischen Friedhof von Prag, die ein Deutscher belauscht.
Geplant wird die Weltherrschaft des Judentums: „Unser ist die Zukunft!
[…] Der Kopf wird die Faust besiegen.“ Die Börse und das Gold der Welt
wollen die Rabbiner unter ihre Kontrolle bringen, den Adel durch
Schulden in ihre Abhängigkeit. Handwerker werden proletarisiert,
Fabriken begünstigt. Die Kirche wird vom Staat getrennt und ihr Besitz
konfisziert. Das freie Denken will die Versammlung bestärken, das
Militär entwaffnen, Revolutionen anzetteln, den Handel kontrollieren und
die Waren verknappen. Juden sollen die Presse dominieren, die Kunst und
die Wissenschaft, sie sollen Bürgerrechte bekommen; Ehen zwischen den
Konfessionen werden erlaubt.
Goedsche verklammert hier klassische Machtpolitik mit einigen
Forderungen des Liberalismus und schiebt alles den „Rabbinern“ als
geheimen Plan unter – was sowohl den Liberalismus diskreditiert als auch
Juden, die zur Zeit von Biarritz um Emanzipation und Anerkennung
kämpfen. Dazu strotzt das Kapitel nur so vor antisemitischen Details bei
der Schilderung der Rabbiner und des jüdischen Viertels.
Schon vor Goedsche sind in der europäischen Literatur ähnliche Szenen
einer geheimen Versammlung zu finden: Meistens geht es um Freimaurer,
die einen Umsturz planen wie die Französische Revolution, etwa im Roman
Joseph Balsamo von Alexandre Dumas. Neu bei Goedsche ist, dass es
ausschließlich Juden sind, die sich versammeln, um sich zu verschwören.
Der Romanabschnitt macht eine erstaunliche Karriere: 1872 taucht er in
russischer Fassung auf, aber dieses Mal mit dem Hinweis, dass es sich um
einen realen Vorgang handele. 1881 erscheint die Geschichte auch in
Frankreich als Tatsachenbericht, wobei dieser auf die bloße „Rede“ eines
„Oberrabbiners“ verdichtet wird. Das politische Programm, das bei
Goedsche formuliert wurde, findet sich am Ende der Kette beinahe Punkt
für Punkt in den Protokollen wieder. Am Beginn der Geschichte dieser
Schrift steht also reine Fiktion.
Der heute bekannte Text der Protokolle spart in seinen, je nach Ausgabe,
meist 24 Abschnitten Details wie Ort, Zuhörer oder Zeitpunkt aus. Zu
Beginn spricht kurz ein „Ich“, das zu einem „Wir“ und „wir Juden“ wird.
Der Rahmen des Verschwörertreffens ist dabei stets mitgedacht und wird
von den jeweiligen Herausgebern in Vorwort, Einleitung oder Beitexten
referiert und ausgeschmückt. Auf diese Weise bleibt die Fiktion vom
Friedhof „außerhalb der Kontrolle des logischen Diskurses“, schreibt der
amerikanische Literaturwissenschaftler Jeffrey Sammons. „Es kann
selbstverständlich nicht bewiesen werden, dass eine Fiktion nicht wahr
ist. Folglich schwebt der Text in einem Niemandsland zwischen Phantasie
und zugerechneter Wahrheit […]. Da kann er jeden Beweis, dass er
gefälscht ist, getrost überleben.“
So ist es möglich, dass spätere Protokollogen die Erzählung variieren
und zum Beispiel behaupten, das Manuskript stamme vom ersten
Zionistenkongress 1897 in Basel, der Redner sei Theodor Herzl. Auch auf
den Überlieferungsweg, der ebenfalls in Vorworten und Kommentaren
geschildert wird, hat die Anfangsfiktion Auswirkungen: Mal sollen es
heimliche Mitschriften sein, die von Agenten kopiert und quer durch
Europa geschmuggelt wurden, mal zufällig aufgetauchte Dokumente einer
oder mehrerer jüdischer oder freimaurerischer Organisationen.
Der Prozess in Bern 1933 bis 1935 dauert auch deswegen so lasnge, weil
Kläger wie Angeklagte in aufwendigen Recherchen versuchen, den Weg des
realen Manuskripts zurück bis zu seinem Ursprung zu rekonstruieren – die
einen, um es als Fälschung zu entlarven, und die anderen, um dies
anzuzweifeln.
Tatsächlich entstehen die „Protokolle“ wohl um 1895 in Russland. Neben
Goedsches Szene verdanken sie sich vor allem einer zweiten Quelle: der
Satire Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu des Franzosen
Maurice Joly, die bereits 1864 erschienen war. Fast die Hälfte der
Protokolle lässt sich auf Joly zurückführen, zum Teil Wort für Wort.
Jolys Werk ist ein Totengespräch über das Für und Wider des
Machiavellismus, also rücksichtsloser Machtpolitik. Jolys Leser
erkannten darin eine Polemik gegen Kaiser* Napoleon III. – in den
Protokollen aber wird das politische Kalkül nach dem Motto „Der Zweck
heiligt die Mittel“ der Rabbiner-Versammlung untergeschoben und damit
dem Judentum allgemein.
Da sich im Text der Protokolle eine ganze Reihe konkreter Anspielungen
auf die französische Politik zwischen 1892 und 1900 finden, kann er
nicht vor dieser Zeit entstanden sein. In der Forschung ist umstritten,
ob es sogar ein französisches Originalmanuskript gab. Lange hielt sich
zudem die These, dass Mitarbeiter des zaristischen Geheimdienstes
Ochrana in Paris die Urheber waren. Auch die Kläger beim Berner Prozess
legten sich auf diese Version fest – sie wurde in jüngerer Vergangenheit
jedoch von den Arbeiten des Historikers Michael Hagemeister entkräftet.
Sicher ist, dass der Text aus dem Milieu monarchistischer,
antidemokratischer Nationalisten und Antisemiten stammt, die um 1900 in
Frankreich und Russland aktiv waren.
Der Text wirkt inkonsistent und zusammenkopiert
Im Zarenreich hatten die Protokolle nach ihrem Erscheinen 1903 kaum
Verbreitung gefunden; sie waren nur eine unter vielen vermeintlichen
Enthüllungsschriften über das Judentum. Auch als es 1905 und 1906 in
russischen Städten zu blutigen Pogromen kommt, zieht sie niemand hervor –
es fehlen dem Text die meisten klassischen Stereotype aus dem Arsenal
der christlichen Judenfeindlichkeit.
Erst durch die Oktoberrevolution 1917 bekommt die Schrift eine neue
Brisanz. Vor allem der religiöse Schriftsteller und orthodoxe
Apokalyptiker Sergej Nilus stellt die Verbindung her. Er veröffentlicht
die Protokolle von 1905 an mehrfach als Appendix seiner eigenen Werke,
in denen er stets von der nahenden Endzeit raunt. Die Revolution der
Bolschewiki, so scheint ihm, bestätigt nun den „Plan der Weisen“. Nilus
sieht in der Machtübernahme der Kommunisten und dem folgenden grausamen
Bürgerkrieg in Russland eine eschatologische Katastrophe, „den Beginn
der offenen Herrschaft des Antichrist, des falschen Messias der Juden,
der statt des himmlischen Jerusalems das Paradies auf Erden versprach“,
wie Michael Hagemeister schreibt.
Im Gepäck monarchistischer russischer Soldaten und Emigranten, die nach
der Oktoberrevolution ihre Heimat verlassen, kommen die Protokolle nach
Deutschland. Anfang 1920 erscheint die erste Übersetzung. Schon kurz
danach enttarnt der Lübecker Senator und Journalist Otto Friedrich in
einer kleinen Schrift die Ähnlichkeiten zwischen den Protokollen und dem
Roman Biarritz.
Es ist die Ausgabe von Sergej Nilus, die Grundlage der deutschen
Übersetzung wird – und diese Version ist es auch, die den Text über
Westeuropa hinaus in der Welt bekannt macht. Nilus folgend, verstehen
Leser im Westen die Protokolle vor allem als Warnung vor der
„jüdisch-bolschewistischen Gefahr“. Das gilt auch für den
Automobilfürsten Henry Ford, der Schrift und Gedankengut in den
Zwanzigerjahren millionenfach in den USA verbreitet. Antibolschewismus
findet man in den Protokollen jedoch nicht, davon war um 1895 noch keine
Rede.
Im Juli 1921 beweist dies auch der Journalist Philip Graves,
Korrespondent der Times in Istanbul, in einer Reihe von Artikeln, die
aller Welt zeigen, dass die Protokolle von Maurice Jolys Dialogue
abgeschrieben wurden. Spätestens durch die Enthüllung dieser zweiten
Quelle sind sie als Plagiat enttarnt – wie auch als Fälschung und
Fiktion. Der österreichische Journalist Benjamin Segel fasst diese
Fakten in seiner Erledigung der Protokolle 1924 pointiert in Buchform
zusammen. Damit hätte die Geschichte enden können. Tat sie aber nicht.
Der Grund dafür kann womöglich im Werk selbst gefunden werden. Wer seine
etwa hundert Buchseiten studiert, dem fällt auf, wie redundant, wirr
und widersprüchlich es ist. Der geheimnisvolle Sprecher beschreibt
beispielsweise ausführlich, dass die Verschwörer die gesellschaftliche
Modernisierung radikal vorantreiben wollen, damit Europas Gesellschaften
implodieren – nur um dann wieder auf eine Monarchie hinzuarbeiten,
dieses Mal mit einem „König aus dem Blute Zion“. Aber vorher wird noch
das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Mal will man mit Zensur und Steuern
auf Zeitungen die öffentliche Meinung unterdrücken, dann soll die
Presse den Streit der Parteien anfachen. Hier wollen die Verschwörer die
Trunksucht bekämpfen, dort soll sie zum Niedergang der
gesellschaftlichen Moral beitragen. Der Text wirkt inkonsistent und
zusammenkopiert, weil er genau dies ist. Angeblich spricht ein Rabbiner,
aber das alttestamentliche Buch der Sprüche zitiert er auf Latein.
Warum nicht auf Hebräisch, im Original? Geradezu selbstentlarvend wirken
Passagen, in denen der Sprecher die eigene Perfidie herausstreicht. So
heißt es: „Wir verfügen über einen unbändigen Ehrgeiz, brennende
Habgier, schonungslose Rachsucht und unerbittlichen Hass.“
Fast alle Herausgeber fügten den Protokollen deutende Zwischentitel
hinzu, nicht selten steht über jedem Absatz ein neuer: „Die Masse ist
blind“ zum Beispiel, „Wirtschaftskriege als Grundlage der jüdischen
Vorherrschaft“, „Wie beherrschen wir die öffentliche Meinung?“ oder „Die
Nichtjuden sind Hammel“. In diesen Lesehilfen sieht die
Kulturwissenschaftlerin Eva Horn den Schlüssel zur Frage, warum die
Protokolle für wahr gehalten wurden und werden. Zusammen mit
Einleitungen und Interpretationen der Herausgeber – eine der
bekanntesten ist aus dem Jahr 1923 und stammt aus der Feder des
NS-Chefideologen Alfred Rosenberg – lüften diese Texthäppchen „das
Geheimnis einer Rezeption, die sich um Lektüre nicht wirklich schert“,
wie Horn schreibt. Diese Art, den Text nicht zu lesen, sei eine
Bedingung, um ihn ernst zu nehmen. Konsumiert werden die Protokolle „vor
allem auszugweise, in zitierbaren Bruchstücken“: „Ich sehe die
Überschrift, weiß, worauf es hinausläuft, und brauche es nicht mehr
durchzulesen. […] Die Zwischenüberschriften sind das Mittel, einen
Text ›lesen‹ zu lassen, ohne dass man ihn je verstehen und entziffern
muss.“ Ähnlich dem Prinzip von Online-Netzwerken wie Facebook, Twitter
oder Instagram führt ein Stichwort, ein Hashtag zum nächsten kleinen
Baustein, der in neuer Variante absichert, wovon der Leser ohnehin
überzeugt ist, in diesem Fall: die Bosheit der Juden.
Vielleicht ist diese Beobachtung tatsächlich eine Antwort auf die Frage,
warum die lange Reihe von Aufklärern die Protokolle bis heute nicht
erledigen konnte; zu ihnen gehörten neben Richter Meyer aus Bern auch
Hannah Arendt oder Umberto Eco. Mit Eva Horn könnte man dann sagen: An
die Protokolle kann nur glauben, wer sie nie gelesen hat.
(https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2020/03/protokolle-der-weisen-von-zion-faelschung-verschwoerung-antisemitismus/komplettansicht)
—
tagblatt.ch 27.09.2020
Suche nach Geld, Karriere, Natur, sexuellen Verheissungen, Exotik: Deshalb wanderten unsere Vorfahren in ferne Länder aus
Auch die Ostschweiz hat ihre koloniale Vergangenheit. Eine Tagung in
Heiden wird sie beleuchten, zwei Historiker nehmen vorab Stellung.
Rolf App
Es ist eine Karriere, die gar nicht selten ist in dieser Zeit. Mit 17
Jahren tritt Johann Conrad Sonderegger eine Lehre im Handelshaus von
Salomon Zellweger-Walser im ausserrhodischen Trogen an, schon vier
Jahre später trifft er in Batavia ein, dem heutigen Jakarta. Dort ist
er im Textilhandel tätig, kümmert sich als Konsul um die vielen
Schweizer im niederländischen Kolonialreich, und beteiligt sich auch an
der Finanzierung und am Aufbau von Kaffee- und Zuckerplantagen.
Man weiss nicht viel über die private Seite dieses Einzelgängers, der
1885 mit nur gerade fünfzig Jahren nach einer Leberoperation stirbt.
Immerhin: In einer der in den Zeitungen publizierten Passagierlisten
wird er mit «Sonderegger und Bediente» verzeichnet. Der Historiker
Andreas Zangger, der Sondereggers Leben im kürzlich erschienenen Buch
«Ferne Welten – fremde Schätze» (Edition Clandestin) erzählt, vermutet,
dass diese «Bediente» eine Nyai war, eine einheimische Haushälterin
und Konkubine. «Geheiratet wurde in solchen Fällen nicht, denn
Europäer heirateten ausschliesslich Europäerinnen oder ihnen
Gleichgestellte. Das hatte mit der Angst zu tun, die gängigen
Rassenhierarchien zu durchbrechen.»
Männer auf der Suche nach Geld und Karriere
Zangger hat Sondereggers Leben erforscht, weil Sonderegger zu jenen
Auswanderern gehört, deren Spuren man noch heute in Ostschweizer Museen
finden kann. Denn sie waren leidenschaftliche Sammler, und es gab auch
schon früh Bestrebungen, die von ihnen zusammengetragenen Zeugnisse
fremder Kulturen öffentlich zugänglich zu machen. Das ist auch der
Grund, warum das Museum Heiden über eine kleine ethnografische Sammlung
aus Indonesien verfügt. Daraus ist jetzt die Ausstellung «Ferne Welten
– fremde Schätze» über Appenzeller Kolonialherren in
Niederländisch-Indien hervorgegangen, in deren Rahmen am kommenden
Sonntag eine Tagung stattfindet.
Hauptredner Andreas Zangger wird dabei auf ein hochaktuelles Thema zu
sprechen kommen. Denn in mehreren Zusammenhängen ist in den letzten
Monaten die Rolle der Schweiz im Kontext von Kolonialismus, Rassismus
und Sklaverei debattiert worden. Das führt rasch zur Frage, wes Geistes
Kind eigentlich diese Schweizer in Südostasien gewesen sind. Sie seien
keine homogene Gruppe gewesen, sagt Zangger: «Man findet vom armen
Söldner bis zum steinreichen Plantagenbesitzer ein ganzes Spektrum:
Kaufleute, Erdölgeologen, Missionare, Monteure, Köche,
Hauslehrerinnen.»
Überwiegend seien es Männer auf der Suche nach Geld und Karriere
gewesen. Es zeigen sich auch romantischere Motive: «Die prächtige
Natur, sexuelle Verheissungen, Exotik. Insbesondere den
Plantagenbesitzern schmeichelte das Bild des Herrenmenschen in seinem
eigenen Reich.»
Das Leben der Arbeiter auf diesen Plantagen – verarmte Bauern,
chinesische Kulis, indische Bauarbeiter – sei hart gewesen, «Gewalt
gehörte zum Alltag». In den Briefen der Schweizer finde man «ein
Spektrum von offenem Rassismus bis zu sanfter Kritik am
Kolonialsystem», erklärt Andreas Zangger, der 2011 in seiner
Dissertation «Koloniale Schweiz» (Transcript-Verlag) ihre Rolle in
Südostasien vertieft untersucht hat. «Aber generell verhalten sich die
Schweizer konform und profitieren vom System.» Was ihn nicht erstaunt.
Denn «die Idee der weissen Vorherrschaft ist tief ins Gedankengut der
Aufklärung eingeschrieben».
Kein abgeschiedenes Bauern- und Hirtenidyll
Dass die Schweiz «schon im 18. und 19. Jahrhundert kein abgeschiedenes
Bauern- und Hirtenidyll, sondern ausgesprochen gut an die globale
Ökonomie angeschlossen ist», wie Andreas Zangger erklärt, das bestätigt
auch die Historikerin und Ausserrhoder Kantonsbibliothekarin Heidi
Eisenhut, die sich in ihrer Forschung vertieft mit der
Textilhandelsfamilie der Zellweger beschäftigt hat. Während in den
Städten die Zünfte das Wirtschaftsleben stark reglementieren, werden
einige ländliche, vom Protestantismus geprägte Regionen wie Appenzell
Ausserrhoden, Glarus und der Neuenburger Jura zu Taktgebern jenes
Wirtschaftswunders, das 1968 der Publizist Lorenz Stucki in seinem
Bestseller «Das heimliche Imperium» mit unverhohlener Bewunderung
beschrieben hat. Es macht aus dem armen Auswanderungsland ohne
Bodenschätze im Lauf der Jahrhunderte ein reiches Einwanderungsland.
Eine ganz andere Haltung legt 2005 der Lehrer, Politiker, Kabarettist
und Teilzeithistoriker Hans Fässler an den Tag, als er in «Reise in
Schwarz-Weiss» die «Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei»
referiert. Dabei legt er keinen Wert darauf, Hintergründe
auszuleuchten, Ursachen zu ergründen oder zeitbedingten Auffassungen
nachzuspüren. Und er will auch nicht differenzieren nach Art und
Ausmass der Verflechtung einzelner Familien in ein System der
Sklaverei, das zu ihrer Zeit nicht nur rechtlich erlaubt, sondern
weithin auch moralisch akzeptiert war. Fässler orientiert sich vielmehr
am Diktum von Bertolt Brecht, das Böse habe eine Adresse und eine
Telefonnummer.
Andreas Zangger kann mit dieser Haltung wenig anfangen. Der
Kolonialismus habe zu grossen strukturellen Ungleichheiten in der Welt
geführt, stellt er zwar fest, und der Rassismus verstärke ungleiche
Strukturen. «Farbige Menschen laufen gegen Hürden an, die weisse
Menschen nicht kennen.» Doch werde die Frage des Kolonialismus «zu
schnell auf eine moralische Schiene gelenkt, statt die strukturellen
Barrieren anzugehen. Für mich ist die moralische Frage vor allem, ob
wir heute bereit sind, uns diesem Problem zu stellen. Der moralische
Vorwurf an die Vorfahren lenkt davon ab.»
Eintauchen in eine fremde Welt
Ähnlich argumentiert Heidi Eisenhut. Zwar seien die kaufmännischen
Aktivitäten der Zellwegers Teil jenes transatlantischen
Wirtschaftssystems gewesen. Dieses habe auf der Versklavung zahlreicher
schwarzer Afrikanerinnen und Afrikaner beruht, aber auch auf der
Ausbeutung von Kindern und schlecht bezahlten Arbeiterinnen und
Arbeitern in den Webkellern der Ostschweiz oder den
frühindustrialisierten Metropolen Englands, die das Maschinengarn
lieferten, um feine Gewebe herzustellen. Dennoch ist Heidi Eisenhut der
entschiedenen Ansicht, dass das aktuell zu beobachtende
«Schwarz-Weiss-Denken» nicht weiterführt. «Denn wie wir in unserer, so
waren unsere Vorfahren gefangen in ihrer Welt.»
Weshalb Heidi Eisenhut dazu rät, «einzutauchen in die ferne, fremde
Welt unserer Vorfahren, geduldig die ganze Vielfalt an Texten und
Bildern zu studieren – was im schnelllebigen 21.Jahrhundert allerdings
nicht besonders gefragt ist. Dabei wären Briefe oder Tagebücher von
Reisenden – von Kaufleuten, Missionaren oder Erzieherinnen –
ausgezeichnete Quellen, um den Umgang der Menschen miteinander zu
studieren.»
«Welche Abscheulichkeit, Unmenschlichkeit»
Zu entdecken gibt es einiges, auch bei den Zellwegers. Zum Beispiel,
dass sie nicht nur sehr reich waren, sondern, getrieben von ihrem
protestantischen Ethos, immer wieder auch sehr hilfsbereit, etwa wenn
Missernten die Bauern an den Rand einer Hungersnot brachten. Dass sie
nicht nur die Ausserrhoder Kantonsschule zur Heranbildung ihrer
Nachwuchskräfte begründeten, sondern auch eine wegen ihres
fortschrittlichen Konzepts weitherum geachteten Armenschule. Der Mensch
müsse seine Talente entfalten können, glaubten sie – allerdings nur im
Rahmen einer gottgegebenen gesellschaftlichen Hierarchie.
Dass diese Reichen ihre Zeit durchaus kritisch sahen, das belegt ein
langer Brief, den 1830 der 25-jährige Kaufmann Caspar Zellweger aus New
York an seinen Vater schreibt. New York kenne nur «Herren», entsetzt
er sich über das Gebaren der Weissen. Die Schwarzen müssten sogar
eigene Kirchen haben, denn «ein weisser Amerikaner würde neben keinem
Schwarzen in der Kirche sitzen». Und er fügt hinzu: «Welche
Abscheulichkeit, Unmenschlichkeit.»
–
«Ferne Welten – fremde Schätze»
Am Sonntag, 27. September, findet in Heiden eine Tagung zur
Ausstellung «Ferne Welten – fremde Schätze» statt. Sie beginnt um 11
Uhr im Kursaal Heiden mit einem Eröffnungsvortrag des Historikers
Andreas Zangger. Ab 13.30 Uhr finden dann Kurzführungen zu
verschiedenen Aspekten statt. Programm unter www.museum-heiden.ch, Anmeldung erforderlich unter info@museum-heiden.ch. (R.A.)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/suche-nach-geld-karriere-natur-sexuellen-verheissungen-exotik-deshalb-wanderten-unsere-vorfahren-in-ferne-welten-aus-ld.1261248)