Medienspiegel 27. September 2020

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+++GENF
NEIN ZUM BUNDESAUSSCHAFFUNGSZENTRUM
Der Bau des Bundesausschaffungszentrums beginnt in Grand-Saconnex, aber es ist nie zu spät, ein unmenschliches Projekt aufzugeben.

Seit Jahren widersetzen sich Verbände, Parteien, die EinwohnerInnen von Grand-Saconnex und sogar der Genfer Grossrat entschieden diesem Projekt. Als Symbol einer rassistischen Politik der Unwirtlichkeit soll dieses Rückkehrzentrum 250 Plätze für Asylsuchende bieten, die „abgeschoben“ werden sollen. Dort – in einem „Zentrum“, in dem die vorgesehenen „Aufnahmebedingungen“ fast wie bei einer Inhaftierung oder sogar noch schlimmer sind – werden die Asylsuchenden gezwungen sein, auf den Moment zu warten, an dem ihre Ausschaffung als möglich erachtet wird.

EINE „AUFNAHME“ WIE IM GEFÄNGNIS
Das Projekt ist als ein großer Ausschaffungsgefängniskomplex geplant. Neben dem Bundesausschaffungszentrum mit einer Kapazität von 250 Plätzen werden sich die Gebäude der internationalen Polizei und 50 Plätze für Verwaltungshaft befinden (1). Das Gebäude des Bundeszentrums hat einen direkten Zugang zum Rollfeld und wie in einem Gefängnis nur einen Eingang. In ihr sind die Menschen mit entmündigender und willkürlicher Disziplin konfrontiert : Meldepflicht beim Betreten und Verlassen, Durchsuchungen, Bestrafungen, Fingerabdrücke, keine Möglichkeit, Lebensmittel zu lagern und zu kochen, lächerliche finanzielle „Hilfen“, die nur dazu dienen, sie im Hinblick auf ihre Ausschaffung für die Polizei verfügbar zu halten, und als einzige sogenannte Beschäftigungsperspektive Unterhaltsarbeiten im Zentrum.

EINE POLITIK DER RASSENTRENNUNG
Alles ist ausserdem so geplant, dass sich die AntragstellerInnen nicht mit der übrigen Bevölkerung vermischen : Antrag auf Genehmigung bei jedem Verlassen des Zentrums, restriktive Zeiten (9.00-17.00 Uhr unter der Woche), die es unmöglich machen, außerhalb des Zentrums zu arbeiten und Kontakte zu knüpfen, Verbot von Verwandtenbesuchen, Schulbesuch der Kinder innerhalb des Zentrums selbst usw. Das künftige Ausschaffungszentrum wird sich zudem am Stadtrand von Genf befinden, zwischen einer Autobahnauffahrt und dem Rollfeld des Flughafens. Neben der geografischen Ausgrenzung führt das Wohnen nur wenige Zentimeter von der Startbahn des Flughafens zu katastrophalen Lebensbedingungen aufgrund von Lärm und Luftverschmutzung. Unter diesen Bedingungen sollen diejenigen „aufgenommen werden“, deren einziges Verbrechen darin besteht, vor Kriegen oder Armut geflohen zu sein.

EIN RECHTSFREIER RAUM
In den letzten Monaten haben wir ohne Überraschung, aber mit Trauer und Wut den Betrieb der anderswo in der Schweiz gebauten Bundeszentren (insbesondere Giffers, Boudry und Embrach) beobachtet. Berichte von Gewalt, Demütigungen, Schlägen und der Unmöglichkeit, im Asylverfahren angemessen verteidigt zu werden, sind dort Legion ; sie geben uns einen Vorgeschmack auf die Behandlung, die den AntragstellerInnenn im Ausschaffungszentrum Grand-Saconnex droht. Schließlich werden wir die systematischen Verbote berücksichtigen müssen, denen sich die Zivilgesellschaft und die Verbände beim Zugang zu diesen Zentren gegenübersehen.

NICHT HINZUSEHEN IST KEINE OPTION
Heute können die Behörden ihre Absichten nicht mehr hinter der „Beschleunigung der Verfahren“ und einem „humanitären“ Antlitz verbergen, um den Bau des Bundesausschaffungszentrums in Grand-Saconnex zu rechtfertigen. Sollte letzteres gebaut werden, würde es zweifellos zu einem der Eckpfeiler einer rassistischen Politik, die jene Leben zerstört, denen die Schweiz immer weniger Wert beizumessen scheint. Das Architekturbüro Berel Berel Kräutler hatte den Nerv, sein Projekt „Philemon und Baucis“ zu nennen, die in der griechischen Mythologie die Gastfreundschaft symbolisieren. Wir lassen uns nicht täuschen. Dieses Ausschaffungszentrum darf niemals das Licht der Welt erblicken.

Wir fordern einen sofortigen Baustopp für das Bundesausschaffungszentrum !

1 „Verwaltungshaft“ ist eine Praxis, die es den Behörden erlaubt, eine Person einzusperren, während sie ihre Ausschaffung aus dem Schweizer Staatsgebiet organisieren. Ohne die geringste strafrechtliche Verurteilung kann die Verwaltungshaft bis zu 18 Monate dauern.
https://renverse.co/infos-locales/article/non-au-centre-federal-de-renvoi-2771


++SCHWEIZ
Hirschis gingen als Freiwillige nach Griechenland:
«Ich dachte, jemand muss jetzt einfach helfen!»
Sarah ist Tierärztin und «eher links». Thomas wählt SVP und ist Landwirt. Zusammen waren sie in Lesbos, um Menschen auf der Flucht zu helfen.
https://www.workzeitung.ch/2020/09/ich-dachte-jemand-muss-jetzt-einfach-helfen/


+++DEUTSCHLAND
Security oder Gewaltarbeit? Wie Schwarze Asylsuchende in bayerischen Abschiebe¬lagern poliziert werden
In bayerischen Asylunterkünften kam es in den letzten Jahren häufig zu Übergriffen privater Sicherheitsdienste auf Asylsuchende. Diese Wachdienstgewalt ist kein außergewöhnliches Ereignis, sondern muss im Kontext der von institutionellem Rassismus geprägten, alltäglichen Polizeiarbeit in großen Abschiebelagern verstanden werden. Der Beitrag stützt sich auf Interviews mit Schwarzen Afrikanischen Bewohner*innen und ehemaligen Securities sowie auf die rechtliche Unterstützungsarbeit mit den Betroffenen.
https://www.cilip.de/2020/09/27/security-oder-gewaltarbeit-wie-schwarze-asylsuchende-in-bayerischen-abschiebelagern-poliziert-werden/


+++GRIECHENLAND
Brand in Moria: “Ich weiß, dass Gott uns hilft”
Der kongolesische Prediger Sherif Luna wohnte in Moria – bis das Feuer ausbrach. Am Meer betet er um Gottes Erbarmen.
https://www.zeit.de/2020/40/brand-in-moria-fluechtlingslager-prediger-gebet-vertrauen-gott


+++EUROPA
EU: Der “neue Migrationspakt”
Der neue Migrationspakt soll helfen, Außengrenzen besser zu schützen, mit Drittstaaten besser zusammenzuarbeiten und Staaten zu Solidarität zu verpflichten. Wo liegen seine Stärken, wo seine Schwächen?
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/europamagazin/index.html


+++GASSE
Einfach Politik: Warum tun wir uns mit dem Betteln so schwer?
Tom Riklin ist Bettler. Mit der Aufhebung des Bettelverbots in Basel hat sich seine Situation geändert. «Wir haben mehr Konkurrenz erhalten», sagt er. «Einfach Politik» über einen «Beruf», der in der Schweiz sehr umstritten ist.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/einfach-politik-warum-tun-wir-uns-mit-dem-betteln-so-schwer?id=11846346


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
derbund.ch 27.09.2020

Kontroverse um Bundesplatz-Besetzung – Sicherheitsdirektor Müller: «Die Polizei hat es nicht gewusst»

Die  Gerüchte um ein Mitwissen der Berner Stadtbehörden reissen nicht ab.  Doch nun stützen Kanton und Polizei die Aussagen der Stadtregierung zur  Bundesplatz-Besetzung.

Fabian Christl

Es ist  eine Frage, die die Politik noch immer beschäftigt: Haben die Berner  Stadtbehörden schon im Vorfeld von der geplanten Bundesplatz-Besetzung  der Klimabewegung gewusst? Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL)  beteuerte bereits von Beginn an, dass die Pläne der Jugendlichen weder  dem Nachrichtendienst noch dem Gemeinderat bekannt gewesen seien. Doch  anderslautende Gerüchte verstummen nicht.

Aufwind  gibt den Skeptikern ein Artikel der «SonntagsZeitung». Die  Stadtbehörden seien durchaus gewarnt gewesen, heisst es darin. Der  Artikel bezieht sich auf eine Analyse des Bundesamts für Polizei  (Fedpol) über die allgemeine Bedrohungslage, die vor jeder  Parlamentssession erstellt wird. «In diesem Zusammenhang hat das Fedpol  spontane Kundgebungen auf dem Bundesplatz als möglich eingeschätzt»,  hielt das Fedpol gegenüber der «SonntagsZeitung» fest. Und weiter: «Das  Fedpol und die Kantonspolizei Bern hatten Kenntnis davon, dass in der  Woche vom 20. bis 25. September 2020 verschiedene Aktionen im Raum Bern  (von Klimaaktivisten) stattfinden könnten.»

«Himmelweiter Unterschied»

Letzteres  ist nicht neu. Der Berner Gemeinderat hat von Anfang an gesagt, dass er  von der Aktionswoche der Klimajugend Kenntnis hatte. Dass allerdings  bereits der Bundesplatz als möglicher Schauplatz der Proteste im Raum  stand, ging aus den bisherigen Stellungnahmen nicht hervor.

Der  Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) bestätigt, dass er  persönlich im Vorfeld über den Inhalt des Berichts in Kenntnis gesetzt  worden sei. Laut Nause genügte dies indes nicht, um die Lage anders zu  beurteilen. Im Bericht stehe überhaupt nichts von einer möglichen  Besetzung des Bundesplatzes, einzig von einer möglichen Kundgebung sei  die Rede. «Es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen einer Kundgebung  und einer mehrtägigen Platzbesetzung.» Im Übrigen habe man bei der  Demonstration vom Freitag den Bundesplatz abgeriegelt, «und entsprechend  eine Kundgebung auf dem Bundesplatz verhindert».

Polizei und Kanton stützen Gemeinderat

Die  anhaltenden Zweifel an den gemeinderätlichen Aussagen rühren nicht  zuletzt von der weltanschaulichen Nähe des links-grün dominierten  Gremiums und der Klimabewegung. Eine solche Nähe ist beim kantonalen  Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) nicht gegeben, gehört er doch  zu den fleissigsten Kritikern der städtischen Sicherheitspolitik und  steht auch nicht im Ruf, ein Öko-Fundamentalist zu sein. Dennoch eilt  Müller nun der Stadt zu Hilfe. Zwar könne er nicht beurteilen, schreibt  er auf Anfrage, ob die Stadt von der Besetzung gewusst habe. «Die  Kantonspolizei hat es aber nicht gewusst.» Auch er selber sei lediglich  darüber informiert worden, dass Aktionen geplant seien, aber nicht «was,  wann und wo».

Ähnlich  hat sich bereits am Freitag die Kantonspolizei geäussert. «Wir hatten  keine konkreten Kenntnisse darüber, dass auf dem Bundesplatz ein solcher  Anlass geplant war», teilte die Medienstelle der Kantonspolizei Bern  dem «Bund» mit.

Absperren wäre unverhältnismässig

Gleichwohl:  Wenn man Kenntnis von der Aktionswoche hat und auch, dass der  Bundesplatz als Schauplatz einer Aktion infrage kommt – wären dann nicht  stärkere Schutzmassnahmen angezeigt gewesen?

Nause  verneint. So sei weder der Tag, noch die Zeit, noch die Art der Aktion  vorhersehbar oder bekannt gewesen. «Wir hätten den Bundesplatz während  der gesamten Woche mit einem Grossaufgebot der Polizei absperren müssen;  das wäre völlig unverhältnismässig gewesen.» Ausserdem gebe es während  jeder Session ein erhöhtes Risiko für unbewilligte Aktionen auf dem  Bundesplatz.
(https://www.derbund.ch/sicherheitsdirektor-mueller-die-polizei-hat-es-nicht-gewusst-935069731535)



Bundesplatzbesetzung: «Verschwörungstheoretiker» Marcel Dobler dürfte recht behalten
Die Berner Stadtbehörden wussten, dass auf dem Bundesplatz etwas auf sie zukommt: Das hatten wir im Nachgang mit Berufung auf mehrere Quellen geschrieben. Eine davon, der St.Galler Nationalrat Marcel Dobler, wurde danach als «Verschwörungstheoretiker» bezeichnet. Wohl zu Unrecht.
https://www.dieostschweiz.ch/artikel/verschwoerungstheoretiker-marcel-dobler-duerfte-recht-behalten-XN1WMMG



Sonntagszeitung 27.09.2020

Klima-Demo: Berner Behörden waren gewarnt

Mit  der Aktion auf dem Bundesplatz hielt in der Schweiz eine neue Form des  illegalen Protests Einzug. Die Behörden waren gewarnt – auch wenn sie  das Gegenteil behaupten.

Rico Bandle

Um zwei  Uhr morgens hatte die Polizei den Bundesplatz umstellt. Einige  Aktivisten verliessen freiwillig das Protestcamp, viele aber blieben auf  dem Boden sitzen. Die Polizei trug sie einzeln weg. Jene, die sich angekettet hatten, musste die Feuerwehr losbinden.
Damit waren für die Pendler am Morgen jene Bilder auf den Nachrichtenportalen, die sich die Aktivisten herbeigesehnt hatten: Polizisten in Vollmontur, die friedfertige Klimademonstranten wegtragen – die dunkle Staatsgewalt, die ein wichtiges Anliegen zum Verschwinden bringt.

Rund 100 Personen wurden bei der Räumung festgenommen. Vordergründig gaben sich die Aktivisten empört, tatsächlich aber war es für sie ein  grosser Erfolg. «Die aufopferungsvolle Idee der Festnahme bildet den  Kern der Strategie von Extinction Rebellion (XR) und verleiht ihr innere  Stärke», heisst es im Handbuch von XR, der tonangebenden der vier am Protest beteiligten Organisationen.  «Alle lieben eine Underdog-Erzählung: Vermeintlich ohne jede Chance  ziehen die Tapferen in den Kampf gegen das Böse.»

Die Strategie der in London gegründeten Gruppierung ist in Bern lehrbuchmässig aufgegangen. Alle Akteure führten – zum Teil unfreiwillig – exakt die für sie vorgesehene Rolle aus: die Politiker, die sich wie gewünscht empörten; die Medienschaffenden, die mit Sympathie für die Demonstranten ausführlich berichteten; die Polizei, die bildstark junge Aktivistinnen wegtrug.

Es war eine neue Art des Politaktivismus, wie er in Zukunft häufiger in der Schweiz zu erwarten ist: eine generalstabsmässig organisierte illegale Aktion, die nach einem genau vorgegebenen globalen Drehbuch durchgeführt wird – eine Art Protest im Franchising-Format. Man könnte auch sagen: die McDonaldisierung des Widerstands.

Das Fedpol warnte vor Aktionen auf dem Bundesplatz

Der  grüne Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried musste sich den  Vorwurf gefallen lassen, mit den Aktivisten kooperiert zu haben. Anders sei eine Besetzung des bedeutsamen Platzes direkt vor dem Bundeshaus nicht möglich gewesen: Zwei Stunden lang konnten ein paar Hundert Jugendliche am frühen Montagmorgen ungehindert ein ganzes Pfadilager inklusive Küche und WC-Häuschen aufbauen.

Von  Graffenried will von einer Komplizenschaft aber nichts wissen: «Wir  hatten keine Anzeichen einer Besetzung. Auch der polizeiliche  Nachrichtendienst hatte davon keine Kenntnis.» Der  Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause sagt: «Hätte ich von der Aktion  gewusst, hätte ich den Bundesplatz polizeilich sperren lassen.»

Beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) tönt es allerdings anders. «Das Fedpol  und die Kantonspolizei Bern hatten Kenntnis davon, dass in der Woche  vom 20. bis 25. September 2020 verschiedene Aktionen im Raum Bern

[von  Klimaaktivisten]

stattfinden könnten», schreibt die Behörde auf Anfrage.  «In diesem Zusammenhang hat das Fedpol  spontane Kundgebungen auf dem Bundesplatz als möglich eingeschätzt.»  Dies sei in der Analyse über die allgemeine Bedrohungslage festgehalten,  die vor jeder Session erstellt werde.

Die Aktion kam also alles andere als überraschend. Auch ohne das Fedpol  wäre es unschwer zu erahnen gewesen, dass die Klimabewegung bei ihrer  schon lange angekündigten «Aktionswoche» den Bundesplatz als Plattform  brauchen würde. Schliesslich garantiert dieser Ort während der Session  maximale Aufmerksamkeit. Die Aktivisten hatten offen mitgeteilt, dass  sie zwischen dem 20. und dem 25. September «gewaltlose Aktionen» durchführen und «zivilen Ungehorsam» ausüben werden.
Eine  der beteiligten Aktivistinnen sagt: «Ich bin immer noch erstaunt  darüber, dass die Stadt nicht draufgekommen ist, dass wir auf den  Bundesplatz gehen» (lesen Sie hier das Interview).

Journalisten als Komplizen

Wie die Aktion durchgeführt wurde, entspricht ziemlich genau den Vorgaben aus dem Handbuch von Extinction Rebellion, das im normalen  Buchhandel erhältlich ist. Darin heisst es: «Konventionelle Kampagnen  funktionieren nicht.» Wirksam sei nur ein Mittel: «Ihr müsst das Gesetz  brechen.»

So erstaunt es auch nicht, dass die Bewegung das Angebot der Stadt ablehnte, das Camp legal auf einen anderen Platz zu verlegen.  Alec von Graffenried erklärte nach den Verhandlungen enttäuscht: «Sie  haben uns gesagt, dass die Illegalität Teil ihres Konzepts sei.»

Über den idealen Standort des Protests steht im Handbuch: «Ihr müsst in die Hauptstadt gehen. Dort sitzt die Regierung, dort treibt sich die Elite herum, und dort sitzen in der Regel auch die nationalen und internationalen Medien.»

Die Journalisten seien als Komplizen zu betrachten. Viele von ihnen stünden «auf unserer Seite und sagen, sie seien Rebellinnen». Diesbezüglich unterscheidet sich die Klimajugend stark von anderen Protestbewegungen – etwa den Corona-Massnahmen-Skeptikern –, die Journalisten als Feinde betrachten.

Entsprechend willkommen waren die Medienschaffenden auf dem Bundesplatz.  Rund um die Uhr waren Sprecherinnen verfügbar, die freundlich Auskunft  gaben oder eine Führung durch das Gelände machten. Ganz bewusst  übernahmen diese Aufgabe ausschliesslich Frauen, damit die Bewegung ein sympathisches Bild abgibt.

Die Politiker können nur verlieren

Die Aktivisten wurden im Vorfeld laut  eigenen Aussagen in Workshops darauf trainiert, stets ruhig zu bleiben,  auch bei Polizeieinsätzen. Ziel ist, dass die andere Seite die Fassung  verliert. Angesichts der Reaktionen gewisser Politiker ist dies perfekt  gelungen. Ein paar fluchende Parlamentarier reichen allerdings noch  nicht für einen Systemwechsel.  Im XR-Handbuch heisst es: «Die Arroganz der Obrigkeit verleitet sie zur  Überreaktion, und die Bevölkerung – idealerweise ein bis drei Prozent –  wird aufstehen und das Regime stürzen.»

Auch  das ist ein zentraler Punkt: Es reiche, nur eine Minderheit zu  überzeugen, um durch Proteste einen Wandel zu erzwingen. Dass man in  einer Demokratie die Mehrheit auf seine Seite bringen muss, spielt keine  Rolle.

Auf  die Politiker kommen schwierige Zeiten zu. Denn bei dieser strategisch  ausgeklügelten Art des illegalen Protests können sie nur verlieren:  Lassen sie die Aktivisten gewähren, verraten sie den Rechtsstaat;  greifen sie mit harter Hand durch, tun sie genau das, worauf die  Rebellen gewartet haben.
(https://www.derbund.ch/rebellion-nach-drehbuch-599195062197)



Sonntagszeitung 27.09.2020

Interview mit einer Klimaaktivistin«Wir brechen das Gesetz ganz bewusst»

Anaïs  Tilquin hat sich ganz der Klimarebellion verschrieben. Sie erklärt,  weshalb aus ihrer Sicht illegale Aktionen legitim sind, warum die  heutige Demokratie nicht taugt und was jetzt dringend zu tun wäre.

Rico Bandle

Am Ohr  hängt das grosse Sanduhr-Logo der internationalen Klimaschutzbewegung  Extinction Rebellion, beginnt sie über die Bedrohung des Klimawandels zu  sprechen, ist sie kaum mehr zu stoppen. Anaïs Tilquin, 29,  Evolutionsbiologin und Ökologin an der ETH Zürich, gehörte zu den  Mitorganisatorinnen der Aktion auf dem Bundesplatz.

Rund 100 Personen wurden bei der Räumung des Protestcamps am Mittwochmorgen festgenommen. Sie auch?

Nein. Als eine der Sprecherinnen der Organisation wäre dies nicht  opportun gewesen. Ich habe mich deshalb freiwillig vom Platz entfernt.

Aber es gehörte ausdrücklich zur Strategie, dass es medienwirksame Festnahmen gibt.

Damit zeigen wir, dass es uns wirklich ernst ist mit der Sache. Wir  brechen das Gesetz ganz bewusst, akzeptieren dann aber auch die  Konsequenzen. Entsprechend wehren wir uns auch nicht gegen die  Festnahmen.

Es war also Ihr Ziel, dass der Platz geräumt wird?

Wir haben damit gerechnet. Es geht darum, offenzulegen, wer auf welcher  Seite steht: Hat man die Dringlichkeit des Problems erkannt und will  handeln – oder verpflichtet man sich lieber den privaten Interessen und  der Gewinnmaximierung? Die Mehrheit des Parlaments hat einer Räumung  zugestimmt und steht damit leider auf der falschen Seite.

Vielleicht waren viele Parlamentarier auch einfach gegen eine illegale Aktion?

Das glaube ich nicht, ihnen passt unsere Botschaft nicht. Die Politik  hat das Camp mitten in der Nacht räumen lassen, damit es möglichst  niemand sieht. Als ob sich die Verantwortlichen schämen würden dafür.  Und sie haben wahrlich Grund, sich zu schämen!

Ein viel gehörter Slogan der Bewegung lautet «System Change not Climate Change». Wie soll das System verändert werden?

Wenn wir nicht sofort etwas tun, werden Millionen von Menschen sterben,  im schlimmsten Szenario könnten es sogar Milliarden von Toten sein, da  grosse Teile des Planeten unbewohnbar sein werden. Unser System ist  nicht fähig, mit diesem Problem umzugehen. Also müssen wir es wechseln.

Milliarden von Toten? Jetzt übertreiben Sie aber masslos.

Das ist weder eine Übertreibung noch eine PR-Strategie, sondern  wissenschaftliche Evidenz. Wenn Teile der Erde unbewohnbar werden, führt  das zu grossen Migrationsströmen, was wiederum Kriege auslösen kann.

Wenn unsere Demokratie untauglich ist, das Problem zu lösen, was wollen Sie dann?

Nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Wir fordern den Einsatz von  Bürgerversammlungen, deren Mitglieder per Los bestimmt werden. Diese  Leute sind allein dem Gemeinwohl verpflichtet und nicht Parteien oder  Interessengruppen.

Aber was, wenn die Bürgerversammlung entscheidet, dass es billiges Benzin und erschwingliche Ferienflüge für alle geben soll?

Diese Wahrscheinlichkeit ist sehr klein. Experten informieren zuerst  die Versammlungsmitglieder ausführlich über den Sachverhalt. Das ist  ganz wichtig. Die Erfahrungen mit solchen Versammlungen aus Deutschland  und Frankreich zeigen, dass die Leute dann keine schlechten  Entscheidungen treffen.

Wer bestimmt die Experten?

Das ist eine entscheidende Frage. Wer die Experten wählt, hat eine  grosse Macht. Heikel ist das vor allem bei den Ökonomen, da gibt es  verschiedene Weltanschauungen. In der Naturwissenschaft aber gibt es  kaum unterschiedliche Ansichten.

Was, wenn die Bürgerversammlung dann doch «schlecht» entscheidet?

Wie gesagt, da besteht aus meiner Sicht kaum ein Risiko. Aber ein  schlechter demokratischer Entscheid ist immer noch besser, als wenn  dasselbe durch ein paar Mächtige angeordnet wird.

Eine Ursache des Problems ortet die Bewegung beim Kapitalismus. Was schlagen Sie als Alternative vor?

Auf diesem Gebiet bin ich keine Expertin. Tatsache ist: Die reichen  Länder und die globalen Firmen sind zu einem Grossteil für die  Klimaerwärmung verantwortlich. Zu leiden darunter haben aber  hauptsächlich die armen Länder. Die Reichen sind deshalb verpflichtet,  den Armen zu helfen. Das verstehen wir unter «climate justice».

In der Schweiz haben die Bürger bereits viele  Mitbestimmungsmöglichkeiten. Weshalb lancieren Sie nicht einfach eine  Volksinitiative?

Das haben wir mit der Gletscherinitiative ja auch gemacht. Aber das  geht viel zu langsam. Für einen solch schwerwiegenden Notfall brauchen  wir ein schnelleres und effizienteres System. Bei der Corona-Krise hat  man gesehen, dass man im Notfall rasch handeln kann. Aber es soll  demokratischer gehen.

An der Aktion auf dem Bundesplatz waren vier Organisationen und  Hunderte von Menschen beteiligt. Wie haben Sie es geschafft, eine solch  riesige Sache geheim zu halten?

Ich bin immer noch erstaunt darüber, dass die Stadt nicht draufgekommen  ist, dass wir auf den Bundesplatz gehen. Offiziell hatten wir einen  Plan für die Schützenmatte, gleich vor der Reitschule. Nur wenige Leute  wussten, wo das Camp dann tatsächlich aufgebaut wird. Auch ich erfuhr es  erst ein paar Stunden vorher.

Wie sehr hat die rot-grüne Stadtregierung mit Ihnen bei der Aktion kooperiert?

Das weiss ich nicht. Jedenfalls war die Stadt immer sehr zuvorkommend.  Der Druck, das Camp zu räumen, kam vom Parlament. Sobald wir auf dem  Platz waren, haben wir die Polizei, die Ambulanz und den ÖV-Betreiber  über unsere Aktion informiert, damit sich alle organisieren konnten.

Es gibt Hinweise, wonach viele Aktivisten aus dem Ausland stammten. Viele Reden zum Beispiel wurden von Deutschen gehalten.

Das ist falsch. Das können nur Leute behaupten, die nicht vor Ort  waren. Die behaupten dann auch, dass wir Abfall zurückgelassen hätten,  was nicht stimmt.

Illegale Aktionen wirken sich oft kontraproduktiv aus. So verliert man Sympathien.

Dazu würde ich gerne eine Umfrage sehen! Wir haben aus der ganzen  Schweiz enorm viel Rückhalt verspürt. Wer sagt, dass man mit einer solch  gewaltfreien Aktion Sympathien verliert, hatte in der Regel noch nie Sympathien für uns. Ich bin sicher: Die Politik hat an Rückhalt  verloren, nicht wir.

Was, wenn nun auch andere politische Gruppierungen kommen – zum  Beispiel Abtreibungsgegner – und finden, sie hätten auch das Anrecht auf  eine solche Aktion?

Dieses Argument ist nicht fair. Der Kimawandel ist das wichtigste und  drängendste Problem der Menschheit, das ist wissenschaftlich erwiesen.  Es geht ums Überleben von uns allen! Man kann dies nicht einfach mit  anderen Themen gleichstellen.
(https://www.derbund.ch/wir-brechen-das-gesetz-ganz-bewusst-782824438847)
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/berner-behorden-vor-bundesplatz-besetzung-gewarnt-65789615


Hat sich Berns Stapi mit dem Klima-Protest solidarisiert? «Das ist eine üble Verleumdung»
Zwei Tage lang besetzten Aktivisten den Bundesplatz. Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried (58) nimmt Stellung.
https://www.blick.ch/news/schweiz/hat-sich-berns-stapi-mit-dem-klima-protest-solidarisiert-das-ist-eine-ueble-verleumdung-id16114874.html


Klimajugend hielt Bundesbern in Atem: «Der anständige Weg hat uns nirgends hingebracht»
Mit der umstrittenen Aktion auf dem Bundesplatz zeigt vor allem die Schweizer Klimajugend eine neue Entschlossenheit. Dabei war die Frustration innerhalb der Bewegung noch vor wenigen Wochen gross.
https://www.blick.ch/news/schweiz/klimajugend-hielt-bundesbern-in-atem-der-anstaendige-weg-hat-uns-nirgends-hingebracht-id16114959.html


+++ANTITERRORSTAAT
Neuer Anlauf für Präventivhaft: Bürgerliche rütteln am Tabu
Das Parlament verschärft die Gesetze im Kampf gegen Terroristen – kaum ist die Beratung abgeschlossen, legen Vertreter der SVP, FDP und CVP nach.
https://www.blick.ch/politik/neuer-anlauf-fuer-praeventivhaft-buergerliche-ruetteln-am-tabu-id16115012.html


+++BIG BROTHER
Ende Gelände: Aktivist:innen organisieren eigenes Corona-Tracing
Wie funktioniert Massenprotest in der Corona-Pandemie? Die Klimaschutzbewegung macht es vor und setzt erstmals ein selbst entwickeltes System zur Kontaktverfolgung ein.
https://netzpolitik.org/2020/ende-gelaende-aktivistinnen-organisieren-eigenes-corona-tracing/#vorschaltbanner


+++POLIZEI CH
Warum Polizisten auf psychologische Betreuung verzichten
Aus Angst vor möglichen Konsequenzen verzichten Polizisten zum Teil auf psychologische Betreuung. Ein Betroffener wünscht sich mehr Unterstützung.
https://www.watson.ch/schweiz/psychologie/756760287-warum-polizisten-auf-psychologische-betreuung-verzichten


+++POLIZEI DE
Was offizielle Zahlen verraten – Nimmt die Polizeigewalt zu?
In den vergangenen Wochen sorgen mehrere Videos für Aufsehen, die umstrittenes Verhalten von Polizisten dokumentieren. Sind die Fälle von Polizeigewalt gestiegen?
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/polizeigewalt-zahlen-verfahren-100.html


+++RASSISMUS
“Black Voices”-Volksbegehren: Antirassistisch Geschichte schreiben
Ein Volksbegehren fordert in Österreich einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus. Es ist die starke Stimme einer jungen – und feministischen – Bewegung
https://www.derstandard.at/story/2000120257162/black-voices-volksbegehren-antirassistisch-geschichte-schreiben?ref=rss



NZZ am Sonntag 27.09.2020

Eine Reise ins schwarze Herz Europas

Viele  schwarze Menschen sehen Europa als Heimat, fühlen sich über ihre  Vorfahren aber auch Afrika verbunden. Diese Identität der Afropäer  beschreibt Johny Pitts auf seiner Tour durch europäische Städte.

Valeria Heintges

«Immer  me wend id Schwiiz», sagt das Mädchen im SVP-Werbevideo zur  «Begrenzungsinitiative». Sie wird von zwei schwarzen Männern beobachtet,  die vor einer Baustelle stehen. Auch als das Kind erzählt, dass in der  Schule «nur no d Sarah und d Laila Schwiizer» sind, sieht man im Bild  Menschen mit dunkler Hautfarbe. Und als es gerade davon spricht, dass es  jeden Tag «Räuber im Fernseh» sieht und Angst habe, im Winter von der  Schule nach Hause zu gehen, zeigt die Kamera einen Mann mit Dreadlocks.

Szenen  wie diese haben den Machern um Nationalrat Thomas Matter den Vorwurf  eingetragen, das rassistische Klischee des faulen, kriminellen,  dunkelhäutigen Ausländers zu bedienen, der Kinder bedroht und Eltern die  Arbeit wegnimmt.

«In  der rechtsgerichteten Presse können dunkelhäutige Menschen zugleich  Arbeitsplätze klauen und als faule Nichtstuer leben» beschreibt Johny  Pitts den offensichtlichen Widerspruch in seinem Buch «Afropäisch». Dabei verrichteten diese Menschen, so eine Erkenntnis des britischen Journalisten, häufig Jobs, die sie unsichtbar machten.

«Sehr  oft bewohnen Europas schwarze Arbeitskräfte als Reinigungspersonal,  Taxifahrer, Gepäckträgerinnen, Wachleute, Fahrkartenverkäuferinnen und  Türsteher» einen Grenzbereich; sie seien «da und doch nicht da»; lebten  in einer Welt, «durch die sich das weisse Europa ganz unbekümmert  bewegt, ohne sie je wirklich wahrzunehmen».

Pitts  formuliert zugespitzt: «Was immer die europäischen Länder behaupten  mögen, es sind immer noch dunkelhäutige Menschen, die die Toiletten der  Weissen putzen, ihre Bettwäsche wechseln, ihre Gebäude bewachen und ihre  Böden wischen.»

Was heisst dazugehören?

Pitts  erkundet in seinem Sachbuch «Afropäisch» das Leben dunkelhäutiger  Menschen in Europa. Der Journalist und Fotograf wuchs im britischen  Sheffield auf, als Sohn einer weissen Britin und eines Afroamerikaners  mit Vorfahren in Togo, Sierra Leone und anderen Ländern Schwarz­afrikas,  wie ein DNA-Test kürzlich ergab.

Seine  Tour führt ihn über Paris, Brüssel, Amsterdam und Berlin nach  Stockholm, weiter nach Moskau und schliesslich über Marseille und die  Côte d’Azur bis nach Portugal. Die Route ist seinem klammen Portemonnaie  und mangelnder finanzieller Unterstützung geschuldet. Die Lücken der  fünfmonatigen Reise – Pitts war weder in Osteuropa noch irgendwo auf dem  Land – versucht er mit Beiträgen auf der Website afropean.com zu füllen.

Wie  fühlen sich Menschen mit schwarzer Hautfarbe in Europa; spüren sie  Zugehörigkeit, welche Farbe können sie dem Kontinent mit ihrer Affinität  zur afrikanischen Heimat ihrer Vorfahren hinzufügen? Gelingt es ihnen,  Europäisches und Afrikanisches in ihrem Leben zu vereinen? Oder erleben  sie sich nur als Aussenseiter, die nicht dazugehören, ständig  ausgegrenzt und rassistisch diffamiert werden?

Der  Begriff «afropäisch», der aus der Musik stammt, erlaubt es Pitts  selbst, sich «ohne Bindestrich zu fühlen», wie er schreibt, also die  reale Erfahrung des Schwarzseins mit der Tatsache zusammenzubringen,  dass ihm Europa Heimat bedeutet und Ort seiner Herkunft ist. Auf seiner  Reise findet er «Afropa» im friedlichen Miteinander von Schwarz und  Weiss, in Lebensläufen zwischen dort und hier, in Archiven, die der  schwarzen Vergangenheit des Kontinents Gerechtigkeit verschaffen wollen.  Auf einem Konzert in Brüssel und in der Mode.

Aber  Pitts findet auch den rassistischen Comic «Tim und Struppi im Kongo»,  eine obskure Antifa-Demo in Berlin und eine kapverdische Favela in  Lissabon. Er wird von vielen Menschen begeistert und freundlich  aufgenommen, aber auch immer wieder beleidigt und bedroht, von  besoffenen Engländern im Zug an der Côte d’Azur etwa oder von Insassen  eines Taxis in Moskau. Johny Pitts zeichnet kein einheitliches Bild. Zu  sehr unterscheidet sich die Situation in Kolonialmächten wie Frankreich,  Belgien oder Portugal von derjenigen in Schweden, das nie Kolonien  besass.

Singulär  ist der Besuch in Moskau, wo Pitts auf Studierende aus Ghana und Benin  trifft, die nicht am russischen Alltag teilnehmen, sondern ihre Zeit  ganz dem Studium widmen, um später das Wissen in ihrer Heimat  anzuwenden. Russland mag eine lange, grosse Geschichte von schwarzen  Künstlern haben – so stammt Puschkins Grossvater aus dem Grenzgebiet von  Tschad und Kamerun und er selbst war stolz auf sein afrikanisches Erbe  –, doch im heutigen Russland ist das Leben der Schwarzen von Fremdenhass  geprägt. Pitts selbst entkommt mehrfach nur knapp rassistischen  Angriffen.

Der  Journalist findet unterschiedliche Communitys, die ihre je eigenen  Traditionen und Sprachen kultivieren und zuweilen untereinander  Animositäten und Vorurteile pflegen, etwa wenn in Paris Westafrikaner,  Menschen aus der Karibik und solche aus dem Maghreb unter sich bleiben.

Dem  stellt er den Begriff des Afropäischen als einende Kraft gegenüber, als  «Möglichkeit, Brücken zwischen verschiedenen Geschichten, Kulturen und  Menschen zu bauen», als «komplizierte, integrierte Form des Schwarzseins  in Europa, die sich nicht auf Stereotype festnageln lässt und sich  zugleich weigert, ihre braune Haut und Pluralität zu verleugnen».

Das Geld aus den Kolonien

Viele  dieser Menschen eint der alltägliche Kampf gegen Rassismus und ihr  hartes Leben am Rand der Gesellschaft. Kaum ein Land erkennt an, dass  der eigene Reichtum auch auf der Ausbeutung der Kolonien, der  Bodenschätze und der Menschen in der Sklaverei gründet. Ohne das Geld  aus Übersee hätte Haussmann sein Paris-Projekt niemals finanzieren  können.

Spannend  ist der Hinweis, dass diese Verschönerung in der Innenstadt die armen  Menschen erst in die Vorstädte und später in die Banlieues verdrängte.  Kaum ein Besuch auf Pitts Reise fällt so trist und so langweilig aus wie  jener im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, wo der Anteil an Immigranten  aus Afrika überdurchschnittlich hoch ist und wo immer wieder Unruhen  aufflammen.

Der  Autor beschreibt das alles in einer Mischung aus Reisereportage,  Berichten, Porträts der Menschen, die er trifft, und Quellenstudium. Das  Ergebnis ist spannend und lesenswert, wenn auch subjektiv und zufällig,  was Pitts nicht leugnet. Das zeigt sich in Abneigungen und Vorlieben,  etwa einer fast schwärmerischen Bewunderung für Schweden und einem  oberflächlichen Bild von Deutschland. Da wird deutlich, dass sich Pitts  zuweilen sehr auf die Aussagen seiner Gesprächspartner verlässt, ohne  sie zu hinterfragen.

Am  Ende bleiben drei Eindrücke vorherrschend: Zum einen die Einsicht, dass  der Selbsteinschätzung der Europäer, dem Rest der Welt Moral und Kultur  gebracht zu haben, nach dieser Lektüre niemand mehr ernsthaft folgen  kann.

Zweitens  die Scham der Europäerin, die sich – trotz bester Absichten –  eingestehen muss, einen durchweg weissen Blickwinkel als den richtigen  angesehen zu haben. Drittens die Hoffnung, Bewegungen wie «Black Lives  Matter» und ihre Ableger in europäischen Ländern mögen endlich  grundlegende Änderungen bewirken und die Länder dazu bewegen, sich ihrer  Vergangenheit umfassender zu stellen.

So  müsste Belgien die Verantwortung für die Greueltaten in Kongo  übernehmen, die Niederlande einsehen, dass sie ein Sklavenhalterstaat  waren, und Deutschland sich endlich für den Genozid an den Herero und  den Nama im Gebiet Namibias entschuldigen.

Aber auch Nicht-Kolonialstaaten wie die Schweiz sollten anerkennen, dass ihr Reichtum zu einem nicht kleinen Teil auf dem Handel mit Kolonien und der Ausbeutung der Menschen dort basiert, wie Historiker deutlich belegen können. Würden wir das  anerkennen, wäre die Geschichte Europas nicht nur eine der weissen,  sondern auch der schwarzen Menschen.

Johny  Pitts: Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa. Übersetzt von  Helmut Dierlamm. Suhrkamp 2020. 463 S., um Fr. 40.–, E-Book 27.–.
(https://nzzas.nzz.ch/kultur/journalist-johny-pitts-erforscht-das-schwarze-europa-ld.1578402)

What is Afropean? Johny Pitts on Black Europe
https://youtu.be/oYQ6gwASIxY


+++RECHTSEXTREMISMUS
Rechtsextreme trainieren für den Umsturz: Rechter Kampf unter Palmen
Thailand zählt zu den Hotspots einer globalisierten Fitness- und Kampfsportszene. Das zieht auch militante Neonazis an. Ein Buchauszug.
https://taz.de/Rechtsextreme-trainieren-fuer-den-Umsturz/!5716428/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Corona-Leugner: Mit dem netten Querdenker Samuel Eckert in die Apokalypse
Er redet von Martin Luther, der sein Leben für die Wahrheit aufs Spiel gesetzt hat. So sieht sich Samuel Eckert auch. Er ist so etwas wie der Posterboy der “Querdenken”-Bewegung und missioniert dort, nachdem seine Kirche ihm ein Predigtverbot erteilt hat. Auch Minderjährige im Netz sind Zielgruppe.
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_88633476/samuel-eckert-von-querdenken-geht-mit-bodo-schiffmann-im-luxusbus-auf-corona-info-tour.html


Verfahren gegen Arzt eingeleitet – Corona: Kritiker aus Ebikon im Visier der Behörden
Er soll Dispensen von der Maskenpflicht auch dann erteilen, wenn kein medizinischer Grund vorliegt: Nach seinen öffentlichen Auftritten muss ein Facharzt aus Ebikon nun mit juristischen Konsequenzen rechnen.
https://www.zentralplus.ch/corona-kritiker-aus-ebikon-im-visier-der-behoerden-1902271/



NZZ am Sonntag 27.09.2020

Skeptische Ärzte geraten ins Visier der Behörden

Mehrere Kantone haben Verfahren gegen Mediziner eingeleitet, die sich gegen die offizielle Corona-Politik der Schweiz stellen.

Lukas Häuptli

«Mein allererster Auftrag ist es, die eigenen Patienten, aber auch die Bevölkerung über die andere Meinung aufzuklären.» Andreas Heisler sitzt vor seinem Computer, die Kamera läuft, der 52-Jährige spricht mit der auffallend unaufgeregten Stimme, die vielen Ärzten eigen ist. Heisler wird interviewt von einem Mitarbeiter einer «Media Group», die im Wesentlichen aus ebendiesem Mitarbeiter besteht. Das Interview ist seit dem 21. September auf Youtube aufgeschaltet.

«Die andere Meinung» also. Heisler sagt: «Ich habe viel mehr Kollateralschäden gesehen als Corona-Patienten.» Sagt: «Die Corona-Massnahmen der Behörden bringen überhaupt nichts, ja sie richten viel, viel Schaden an.» Und sagt schliesslich: «Die Maskenpflicht ist völlig unsinnig.»

Heisler ist seit mehreren Jahren Hausarzt im Luzerner Vorort Ebikon und hat ein Problem: Er steht im Verdacht, eine Dispens von der Maskenpflicht auch dann zu erteilen, wenn kein medizinischer Grund vorliegt. Auf «Youtube» sagt er: «Ich stelle die Dispens aus, weil die Maskenpflicht unsinnig ist.» Schiebt aber gleich auch nach: «Ich schaue mir die Fälle an, sie müssen für mich glaubhaft klingen.

Nur ist eine Untersuchung in der Praxis nicht immer notwendig.» In die Angelegenheit, über die als Erster der «Blick» berichtete, hat sich in der Zwischenzeit auch das Gesundheits- und Sozialdepartement des Kantons Luzern eingeschaltet. Sprecherin Noémie Schafroth will sich zwar wegen des Amtsgeheimnisses und des Persönlichkeitsschutzes nicht zum Fall äussern. Sie sagt aber: «Das Departement hat – wo notwendig – entsprechende Massnahmen getroffen.»

Entsprechende Massnahmen bedeuten aufsichtsrechtliche Verfahren. Wie viele es insgesamt sind, gibt das Departement nicht bekannt. Die Sprecherin hält fest: «Es gibt noch kein abgeschlossenes Verfahren. Und zu laufenden Verfahren äussern wir uns nicht.»
Fälle in vier Kantonen

Fest steht: In der Zwischenzeit haben mindestens vier Kantone aufsichtsrechtliche Verfahren gegen Ärzte eingeleitet, die sich gegen die Corona-Massnahmen von Bund und Kantonen stellen und diese – zumindest zum Teil – unterlaufen. Neben Luzern sind das die Kantone Aargau, St. Gallen und Graubünden.

Was den Betroffenen im Einzelnen vorgeworfen wird, ist nicht bekannt; auch hier gehen Amtsgeheimnis und Persönlichkeitsschutz vor. Gildo Da Ros, Generalsekretär des St. Galler Gesundheitsdepartements, sagt aber: «Ärzte und Ärztinnen sind dazu verpflichtet, vertrauenswürdig zu sein sowie physisch und psychisch Gewähr für eine einwandfreie Berufsausübung zu bieten.» Ebenso müssten sie verschiedene Berufspflichten einhalten. «In der aktuellen Situation gehört dazu auch die Umsetzung der behördlichen Corona-Schutzmassnahmen.»

Besteht der Verdacht, dass Ärzte und Ärztinnen gegen Berufspflichten verstossen, leiten die kantonalen Gesundheitsbehörden Aufsichtsverfahren gegen sie ein. Die Verfahren können eine Verwarnung, einen Verweis, eine Busse, einen Entzug der Praxisbewilligung oder ein Berufsverbot zur Folge haben.

Andreas Heisler ist nicht der einzige Arzt, der sich an der offiziellen Corona-Politik der Schweiz stösst. Er gehört zu einem Netz von mittlerweile mehreren Dutzend Medizinern, das sich «Aletheia – Medizin und Wissenschaft für Verhältnismässigkeit» nennt. Die Gruppierung machte sich im August mit einem Leserbrief in der «Schweizerischen Ärztezeitung» bemerkbar. Die Botschaft: «Die Wirksamkeit vieler Massnahmen ist ungenügend belegt, medizinisch widersprüchlich und unverhältnismässig.»

Unterzeichnet war der Brief auch von Rainer Schregel, einem St. Galler Amtsarzt. Er bezieht regelmässig Stellung gegen die behördlichen Corona-Massnahmen. So bezeichnete er diese am letzten Wochenende an einer Demonstration auf dem Zürcher Turbinenplatz als «verordneten Wahnsinn».
«Goebbels Mädchen»

Zum Eklat war es allerdings schon im August gekommen. Damals hatte Schregel auf Facebook über eine Journalistin des St. Galler Tagblatts geschrieben, der nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels hätte sie als «mein kleines Mädchen» gelobt. In der Folge eröffnete das St. Galler Gesundheitsdepartement ein aufsichtsrechtliches Verfahren gegen Schregel und enthob ihn vorsorglich seines Amtes. Das Verfahren ist hängig.

Zum Netzwerk zählt auch Marco Caimi. Der Basler Arzt trat am 22. September in der SRF-Sendung «Club» auf und hatte vor einem Monat auf seinem Youtube-Kanal Andreas Heisler interviewt. Er sagt: «Die Politik des Bundes operiert seit sehr langem auf dem Modus der Angstkonservierung.» Insbesondere das ziel- und planlose exzessive Testen führe zu völlig fehlgeleiteten Massnahmen. «Dadurch erfolgen auch Freiheitsberaubungen unter dem Etikettenschwindel der Quarantänisierung.»

Die wachsende Zahl von Corona-kritischen Ärzten hat letzte Woche auch die FMH, die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, auf den Plan gerufen. Sprecherin Charlotte Schweizer sagt: «Die FMH hat ein Schreiben an alle Mitglieder verschickt und darauf hingewiesen, dass sie vollumfänglich hinter den Corona-Schutzmassnahmen von Bund und Kantonen steht.» Aufgrund der Entwicklungen in den letzten Tagen und Wochen sei es an der Zeit gewesen, dass sich die FMH diesbezüglich äussere.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/corona-skeptische-aerzte-im-visier-der-behoerden-ld.1578699)


Impfgegner bis Neonazismus: Es braut sich etwas zusammen
Die Corona-Skeptiker und ihre Thesen werden zum gesellschaftlichen Problem
https://www.derstandard.at/story/2000120290595/es-braut-sich-etwas-zusammen?ref=rss


++++HISTORY
Neueste Forschung bringt Licht in den Skandal der versteckten Kinder:
Sogar einen Säugling wollten sie ausweisen!
Das unmenschliche Saisonnierstatut ¬zerriss Familien und ¬ruinierte Biographien. Wie das geschah, zeigt jetzt eine historische Arbeit an der Universität Bern.
https://www.workzeitung.ch/2020/09/sogar-einen-saeugling-wollten-sie-ausweisen/



zeit.de 27.09.2020

“Protokolle der Weisen von Zion”: Geklaut, kopiert, erfunden

Nicht einmal ein Gerichtsurteil konnte den Glauben an die “Protokolle der Weisen von Zion” erschüttern. Bis heute verbreitet sich die obskure Schrift.

Eine Analyse von Markus Flohr

Sie beruhen auf Fälschungen und Falschbehauptungen. Noch dazu wurde vieles darin unlauter umgedeutet. Doch bis heute kursieren die “Protokolle der Weisen von Zion” in antisemitischen Kreisen, werden zitiert und verbreitet. Markus Flohr über Fake News, die ihren Ursprung in einer Zeit haben, zu der es diesen Begriff so noch nicht gab. Der Text ist im Magazin ZEIT Geschichte erschienen.

Fünf Männer nehmen am 16. November 1933 auf der Anklagebank des Amtsgerichts Bern Platz – doch eigentlich ist es eine Schrift, die an diesem Tag vor Gericht steht: die Protokolle der Weisen von Zion. Die Männer sind Nationalsozialisten aus der Schweiz. Sie sollen sich dafür verantworten, dass sie die sogenannten Protokolle bei einer Kundgebung der Nationalen Front im Casino von Bern verteilt haben. Jenes Manuskript gibt vor, authentisches Dokument eines Treffens jüdischer Männer zu sein, die sich über ihren Plan zur Beherrschung der Menschheit austauschen. 1902 wurde ein derartiges Schriftstück erstmals von einem russischen Journalisten erwähnt, der wohl ein unveröffentlichtes Manuskript kannte, es aber für eine Fälschung hielt. Ein Jahr später erschien die erste Version der Protokolle als Serie in der rechtsextremen Zeitung Znamja (“Banner”) in St. Petersburg, etwas später folgte eine längere Fassung als Buch.

In Bern lautet die Anklage auf Verbreitung von “Schundliteratur”, angezeigt vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und von der Israelitischen Kultusgemeinde Bern. Sie wollen, dass die Protokolle nicht weiter zirkulieren. Vor allem aber soll das Gericht in aller Öffentlichkeit bestätigen, dass sie eine Fälschung sind. Das Urteil, so hoffen die jüdischen Gemeinden, wird sich auch gegen Hitler und die Nationalsozialisten insgesamt richten, die seit Januar im Nachbarland an der Macht sind.

Der Prozess in diesem Strafverfahren zieht sich über anderthalb Jahre hin, weil Kläger, Angeklagte und Gericht eigene Gutachter stellen und monatelang Beweise sammeln, dass die Protokolle eine Fälschung sind – oder eben nicht. Für die Angeklagten reist aus Erfurt der völkische Publizist Ulrich Fleischhauer an. Er muss zwar im Laufe der Verhandlung einräumen, dass große Teile des Werkes abgeschrieben, geklaut oder erfunden sind. Aus seiner Sicht beweist das jedoch nur umso mehr die grundsätzlich jüdische Urheberschaft von Text und großem Plan.

In seinem Schlussplädoyer Anfang Mai 1935 erklärt Fleischhauer: “Gefälscht wären die Protokolle nur, wenn das darin entwickelte Programm jüdischer Denkungsweise zuwiderliefe, wenn es ungerechtfertigt wäre, von einer Weltherrschaftssucht des jüdischen Volkes zu sprechen. Echt dagegen sind sie, wenn das Streben des Judentums, alle Völker nach und nach unter seine […] Oberleitung zu bringen, als Tatsache angenommen werden muss.” Dass dem so ist, will er “in erschöpfender Weise” bewiesen haben.

Am 14. Mai 1935 spricht Richter Walter Meyer das Urteil: Die Protokolle sind eine Fälschung und ein Plagiat. Außerdem trifft der Vorwurf der “Schundliteratur” im Sinne des Gesetzes zu. Zwei der fünf Angeklagten werden zu eher symbolischen Geldstrafen verurteilt, die anderen drei freigesprochen. Die Verurteilten müssen den Großteil der Prozesskosten tragen. Das Berner Obergericht revidiert das Urteil zwei Jahre später, weil es den Text nicht für “Schundliteratur” hält – ästhetisch und literarisch schon, aber nicht rechtlich.

Richter Meyer widmet sich 1935 in seiner Begründung kaum den Angeklagten, dafür umso mehr der Schrift: Er hoffe, sagt er, es werde eine Zeit kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, warum sich mehr als ein Dutzend Menschen so viele Prozesstage lang “über die Echtheit oder Unechtheit dieser sogenannten ‘Protokolle’ die Köpfe zerbrechen konnten, die bei allem Schaden, den sie bereits gestiftet haben und noch stiften mögen, doch nichts anderes sind als ein lächerlicher Unsinn”.

Das ist eine vergebliche Hoffnung. Die Zeit, in der man über die Protokolle lachen kann, ist bis heute nicht gekommen. Dass der Schatten des “Schadens”, den sie noch anrichten, bis nach Auschwitz reicht, kann Richter Meyer nicht ahnen. Aber er ringt in seinem Urteilsspruch 1935 bereits mit der noch im Jahr 2020 virulenten Frage: Warum schenken Menschen diesem Text Glauben?

Nach 1945 war es zwar eine Weile still geworden um die Protokolle, aber seit den Fünfziger- und Sechzigerjahren verbreiten sie sich vor allem in der arabischen Welt, wo sie auch von Staatschefs wie Muammar al-Gaddafi, Gamal Abdel Nasser oder König Faisal al-Saud zitiert wurden – stets, um den Staat Israel zu delegitimieren. Bis heute ist die Schrift im Nahen Osten ein Dauerbrenner: Nach Angaben der Jerusalem Post warben Verlage 2019 auf Buchmessen in Abu Dhabi, Kuwait, Oman und Saudi-Arabien mit “neuen” Ausgaben; auf der Kairoer Buchmesse lädt im Februar 2020 ein Herausgeber zur Signierstunde unter dem Titel “Hidden World Government: Protocols of the Elders of Zion”.

Auch im Westen sind sie nicht verschwunden: Auf der Verkaufsplattform Amazon lassen sie sich auf Deutsch erwerben, Hugendubel und Thalia bieten in ihren Online-Shops englischsprachige Ausgaben an. Beim Videoportal YouTube gibt es Dutzende Möglichkeiten, den Text als Audiobuch anzuhören. Bei Facebook treffen sich Verschwörungstheoretiker in deutschen und englischen Gruppen unter dem Namen der Protokolle – sie posten und kommentieren kurze Passagen und reden einander ein, wie wahr das alles sei. Nebenbei hetzt man gegen Israel oder die “Pharmalobby”. Dabei kann jeder, der will, sehr schnell herausfinden, um welche Art von Werk es sich bei den Protokollen der Weisen von Zion handelt. Zwar ist bis heute unklar, wer den Text zusammenstellte – worauf sich seine Apologeten gern kaprizieren –, aber seit fast hundert Jahren ist bekannt, dass die Schrift keinesfalls das ist, was sie vorgibt zu sein.

Die “Protokolle” enstanden wohl in Russland

Ihre Ahnentafel beginnt mit dem Roman Biarritz, verfasst 1868 von einem deutschen Autor, der sich John Retcliffe nannte, aber Hermann Goedsche hieß. Ein Kapitel des Buches beschreibt eine Rabbinerversammlung nachts auf dem jüdischen Friedhof von Prag, die ein Deutscher belauscht. Geplant wird die Weltherrschaft des Judentums: “Unser ist die Zukunft! […] Der Kopf wird die Faust besiegen.” Die Börse und das Gold der Welt wollen die Rabbiner unter ihre Kontrolle bringen, den Adel durch Schulden in ihre Abhängigkeit. Handwerker werden proletarisiert, Fabriken begünstigt. Die Kirche wird vom Staat getrennt und ihr Besitz konfisziert. Das freie Denken will die Versammlung bestärken, das Militär entwaffnen, Revolutionen anzetteln, den Handel kontrollieren und die Waren verknappen. Juden sollen die Presse dominieren, die Kunst und die Wissenschaft, sie sollen Bürgerrechte bekommen; Ehen zwischen den Konfessionen werden erlaubt.

Goedsche verklammert hier klassische Machtpolitik mit einigen Forderungen des Liberalismus und schiebt alles den “Rabbinern” als geheimen Plan unter – was sowohl den Liberalismus diskreditiert als auch Juden, die zur Zeit von Biarritz um Emanzipation und Anerkennung kämpfen. Dazu strotzt das Kapitel nur so vor antisemitischen Details bei der Schilderung der Rabbiner und des jüdischen Viertels.

Schon vor Goedsche sind in der europäischen Literatur ähnliche Szenen einer geheimen Versammlung zu finden: Meistens geht es um Freimaurer, die einen Umsturz planen wie die Französische Revolution, etwa im Roman Joseph Balsamo von Alexandre Dumas. Neu bei Goedsche ist, dass es ausschließlich Juden sind, die sich versammeln, um sich zu verschwören. Der Romanabschnitt macht eine erstaunliche Karriere: 1872 taucht er in russischer Fassung auf, aber dieses Mal mit dem Hinweis, dass es sich um einen realen Vorgang handele. 1881 erscheint die Geschichte auch in Frankreich als Tatsachenbericht, wobei dieser auf die bloße “Rede” eines “Oberrabbiners” verdichtet wird. Das politische Programm, das bei Goedsche formuliert wurde, findet sich am Ende der Kette beinahe Punkt für Punkt in den Protokollen wieder. Am Beginn der Geschichte dieser Schrift steht also reine Fiktion.

Der heute bekannte Text der Protokolle spart in seinen, je nach Ausgabe, meist 24 Abschnitten Details wie Ort, Zuhörer oder Zeitpunkt aus. Zu Beginn spricht kurz ein “Ich”, das zu einem “Wir” und “wir Juden” wird. Der Rahmen des Verschwörertreffens ist dabei stets mitgedacht und wird von den jeweiligen Herausgebern in Vorwort, Einleitung oder Beitexten referiert und ausgeschmückt. Auf diese Weise bleibt die Fiktion vom Friedhof “außerhalb der Kontrolle des logischen Diskurses”, schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Jeffrey Sammons. “Es kann selbstverständlich nicht bewiesen werden, dass eine Fiktion nicht wahr ist. Folglich schwebt der Text in einem Niemandsland zwischen Phantasie und zugerechneter Wahrheit […]. Da kann er jeden Beweis, dass er gefälscht ist, getrost überleben.”

So ist es möglich, dass spätere Protokollogen die Erzählung variieren und zum Beispiel behaupten, das Manuskript stamme vom ersten Zionistenkongress 1897 in Basel, der Redner sei Theodor Herzl. Auch auf den Überlieferungsweg, der ebenfalls in Vorworten und Kommentaren geschildert wird, hat die Anfangsfiktion Auswirkungen: Mal sollen es heimliche Mitschriften sein, die von Agenten kopiert und quer durch Europa geschmuggelt wurden, mal zufällig aufgetauchte Dokumente einer oder mehrerer jüdischer oder freimaurerischer Organisationen.

Der Prozess in Bern 1933 bis 1935 dauert auch deswegen so lasnge, weil Kläger wie Angeklagte in aufwendigen Recherchen versuchen, den Weg des realen Manuskripts zurück bis zu seinem Ursprung zu rekonstruieren – die einen, um es als Fälschung zu entlarven, und die anderen, um dies anzuzweifeln.

Tatsächlich entstehen die “Protokolle” wohl um 1895 in Russland. Neben Goedsches Szene verdanken sie sich vor allem einer zweiten Quelle: der Satire Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu des Franzosen Maurice Joly, die bereits 1864 erschienen war. Fast die Hälfte der Protokolle lässt sich auf Joly zurückführen, zum Teil Wort für Wort. Jolys Werk ist ein Totengespräch über das Für und Wider des Machiavellismus, also rücksichtsloser Machtpolitik. Jolys Leser erkannten darin eine Polemik gegen Kaiser* Napoleon III. – in den Protokollen aber wird das politische Kalkül nach dem Motto “Der Zweck heiligt die Mittel” der Rabbiner-Versammlung untergeschoben und damit dem Judentum allgemein.

Da sich im Text der Protokolle eine ganze Reihe konkreter Anspielungen auf die französische Politik zwischen 1892 und 1900 finden, kann er nicht vor dieser Zeit entstanden sein. In der Forschung ist umstritten, ob es sogar ein französisches Originalmanuskript gab. Lange hielt sich zudem die These, dass Mitarbeiter des zaristischen Geheimdienstes Ochrana in Paris die Urheber waren. Auch die Kläger beim Berner Prozess legten sich auf diese Version fest – sie wurde in jüngerer Vergangenheit jedoch von den Arbeiten des Historikers Michael Hagemeister entkräftet. Sicher ist, dass der Text aus dem Milieu monarchistischer, antidemokratischer Nationalisten und Antisemiten stammt, die um 1900 in Frankreich und Russland aktiv waren.

Der Text wirkt inkonsistent und zusammenkopiert

Im Zarenreich hatten die Protokolle nach ihrem Erscheinen 1903 kaum Verbreitung gefunden; sie waren nur eine unter vielen vermeintlichen Enthüllungsschriften über das Judentum. Auch als es 1905 und 1906 in russischen Städten zu blutigen Pogromen kommt, zieht sie niemand hervor – es fehlen dem Text die meisten klassischen Stereotype aus dem Arsenal der christlichen Judenfeindlichkeit.

Erst durch die Oktoberrevolution 1917 bekommt die Schrift eine neue Brisanz. Vor allem der religiöse Schriftsteller und orthodoxe Apokalyptiker Sergej Nilus stellt die Verbindung her. Er veröffentlicht die Protokolle von 1905 an mehrfach als Appendix seiner eigenen Werke, in denen er stets von der nahenden Endzeit raunt. Die Revolution der Bolschewiki, so scheint ihm, bestätigt nun den “Plan der Weisen”. Nilus sieht in der Machtübernahme der Kommunisten und dem folgenden grausamen Bürgerkrieg in Russland eine eschatologische Katastrophe, “den Beginn der offenen Herrschaft des Antichrist, des falschen Messias der Juden, der statt des himmlischen Jerusalems das Paradies auf Erden versprach”, wie Michael Hagemeister schreibt.

Im Gepäck monarchistischer russischer Soldaten und Emigranten, die nach der Oktoberrevolution ihre Heimat verlassen, kommen die Protokolle nach Deutschland. Anfang 1920 erscheint die erste Übersetzung. Schon kurz danach enttarnt der Lübecker Senator und Journalist Otto Friedrich in einer kleinen Schrift die Ähnlichkeiten zwischen den Protokollen und dem Roman Biarritz.

Es ist die Ausgabe von Sergej Nilus, die Grundlage der deutschen Übersetzung wird – und diese Version ist es auch, die den Text über Westeuropa hinaus in der Welt bekannt macht. Nilus folgend, verstehen Leser im Westen die Protokolle vor allem als Warnung vor der “jüdisch-bolschewistischen Gefahr”. Das gilt auch für den Automobilfürsten Henry Ford, der Schrift und Gedankengut in den Zwanzigerjahren millionenfach in den USA verbreitet. Antibolschewismus findet man in den Protokollen jedoch nicht, davon war um 1895 noch keine Rede.

Im Juli 1921 beweist dies auch der Journalist Philip Graves, Korrespondent der Times in Istanbul, in einer Reihe von Artikeln, die aller Welt zeigen, dass die Protokolle von Maurice Jolys Dialogue abgeschrieben wurden. Spätestens durch die Enthüllung dieser zweiten Quelle sind sie als Plagiat enttarnt – wie auch als Fälschung und Fiktion. Der österreichische Journalist Benjamin Segel fasst diese Fakten in seiner Erledigung der Protokolle 1924 pointiert in Buchform zusammen. Damit hätte die Geschichte enden können. Tat sie aber nicht.

Der Grund dafür kann womöglich im Werk selbst gefunden werden. Wer seine etwa hundert Buchseiten studiert, dem fällt auf, wie redundant, wirr und widersprüchlich es ist. Der geheimnisvolle Sprecher beschreibt beispielsweise ausführlich, dass die Verschwörer die gesellschaftliche Modernisierung radikal vorantreiben wollen, damit Europas Gesellschaften implodieren – nur um dann wieder auf eine Monarchie hinzuarbeiten, dieses Mal mit einem “König aus dem Blute Zion”. Aber vorher wird noch das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Mal will man mit Zensur und Steuern auf Zeitungen die öffentliche Meinung unterdrücken, dann soll die Presse den Streit der Parteien anfachen. Hier wollen die Verschwörer die Trunksucht bekämpfen, dort soll sie zum Niedergang der gesellschaftlichen Moral beitragen. Der Text wirkt inkonsistent und zusammenkopiert, weil er genau dies ist. Angeblich spricht ein Rabbiner, aber das alttestamentliche Buch der Sprüche zitiert er auf Latein. Warum nicht auf Hebräisch, im Original? Geradezu selbstentlarvend wirken Passagen, in denen der Sprecher die eigene Perfidie herausstreicht. So heißt es: “Wir verfügen über einen unbändigen Ehrgeiz, brennende Habgier, schonungslose Rachsucht und unerbittlichen Hass.”

Fast alle Herausgeber fügten den Protokollen deutende Zwischentitel hinzu, nicht selten steht über jedem Absatz ein neuer: “Die Masse ist blind” zum Beispiel, “Wirtschaftskriege als Grundlage der jüdischen Vorherrschaft”, “Wie beherrschen wir die öffentliche Meinung?” oder “Die Nichtjuden sind Hammel”. In diesen Lesehilfen sieht die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn den Schlüssel zur Frage, warum die Protokolle für wahr gehalten wurden und werden. Zusammen mit Einleitungen und Interpretationen der Herausgeber – eine der bekanntesten ist aus dem Jahr 1923 und stammt aus der Feder des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg – lüften diese Texthäppchen “das Geheimnis einer Rezeption, die sich um Lektüre nicht wirklich schert”, wie Horn schreibt. Diese Art, den Text nicht zu lesen, sei eine Bedingung, um ihn ernst zu nehmen. Konsumiert werden die Protokolle “vor allem auszugweise, in zitierbaren Bruchstücken”: “Ich sehe die Überschrift, weiß, worauf es hinausläuft, und brauche es nicht mehr durchzulesen. […] Die Zwischenüberschriften sind das Mittel, einen Text ›lesen‹ zu lassen, ohne dass man ihn je verstehen und entziffern muss.” Ähnlich dem Prinzip von Online-Netzwerken wie Facebook, Twitter oder Instagram führt ein Stichwort, ein Hashtag zum nächsten kleinen Baustein, der in neuer Variante absichert, wovon der Leser ohnehin überzeugt ist, in diesem Fall: die Bosheit der Juden.

Vielleicht ist diese Beobachtung tatsächlich eine Antwort auf die Frage, warum die lange Reihe von Aufklärern die Protokolle bis heute nicht erledigen konnte; zu ihnen gehörten neben Richter Meyer aus Bern auch Hannah Arendt oder Umberto Eco. Mit Eva Horn könnte man dann sagen: An die Protokolle kann nur glauben, wer sie nie gelesen hat.
(https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2020/03/protokolle-der-weisen-von-zion-faelschung-verschwoerung-antisemitismus/komplettansicht)



tagblatt.ch 27.09.2020

Suche nach Geld, Karriere, Natur, sexuellen Verheissungen, Exotik: Deshalb wanderten unsere Vorfahren in ferne Länder aus

Auch  die Ostschweiz hat ihre koloniale Vergangenheit. Eine Tagung in Heiden  wird sie beleuchten, zwei Historiker nehmen vorab Stellung.

Rolf App

Es  ist eine Karriere, die gar nicht selten ist in dieser Zeit. Mit 17  Jahren tritt Johann Conrad Sonderegger eine Lehre im Handelshaus von  Salomon Zellweger-Walser im ausserrhodischen Trogen an, schon vier Jahre  später trifft er in Batavia ein, dem heutigen Jakarta. Dort ist er im  Textilhandel tätig, kümmert sich als Konsul um die vielen Schweizer im  niederländischen Kolonialreich, und beteiligt sich auch an der  Finanzierung und am Aufbau von Kaffee- und Zuckerplantagen.

Man  weiss nicht viel über die private Seite dieses Einzelgängers, der 1885  mit nur gerade fünfzig Jahren nach einer Leberoperation stirbt.  Immerhin: In einer der in den Zeitungen publizierten Passagierlisten  wird er mit «Sonderegger und Bediente» verzeichnet. Der Historiker  Andreas Zangger, der Sondereggers Leben im kürzlich erschienenen Buch  «Ferne Welten – fremde Schätze» (Edition Clandestin) erzählt, vermutet,  dass diese «Bediente» eine Nyai war, eine einheimische Haushälterin und  Konkubine. «Geheiratet  wurde in solchen Fällen nicht, denn Europäer heirateten ausschliesslich  Europäerinnen oder ihnen Gleichgestellte. Das hatte mit der Angst zu  tun, die gängigen Rassenhierarchien zu durchbrechen.»

Männer auf der Suche nach Geld und Karriere

Zangger  hat Sondereggers Leben erforscht, weil Sonderegger zu jenen  Auswanderern gehört, deren Spuren man noch heute in Ostschweizer Museen  finden kann. Denn sie waren leidenschaftliche Sammler, und es gab auch  schon früh Bestrebungen, die von ihnen zusammengetragenen Zeugnisse  fremder Kulturen öffentlich zugänglich zu machen. Das ist auch der  Grund, warum das Museum Heiden über eine kleine ethnografische Sammlung  aus Indonesien verfügt. Daraus ist jetzt die Ausstellung «Ferne Welten –  fremde Schätze» über Appenzeller Kolonialherren in  Niederländisch-Indien hervorgegangen, in deren Rahmen am kommenden  Sonntag eine Tagung stattfindet.

Hauptredner  Andreas Zangger wird dabei auf ein hochaktuelles Thema zu sprechen  kommen. Denn in mehreren Zusammenhängen ist in den letzten Monaten die  Rolle der Schweiz im Kontext von Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei  debattiert worden. Das führt rasch zur Frage, wes Geistes Kind  eigentlich diese Schweizer in Südostasien gewesen sind. Sie seien keine  homogene Gruppe gewesen, sagt Zangger: «Man  findet vom armen Söldner bis zum steinreichen Plantagenbesitzer ein  ganzes Spektrum: Kaufleute, Erdölgeologen, Missionare, Monteure, Köche,  Hauslehrerinnen.»

Überwiegend  seien es Männer auf der Suche nach Geld und Karriere gewesen. Es zeigen  sich auch romantischere Motive: «Die prächtige Natur, sexuelle  Verheissungen, Exotik. Insbesondere den Plantagenbesitzern schmeichelte  das Bild des Herrenmenschen in seinem eigenen Reich.»

Das  Leben der Arbeiter auf diesen Plantagen – verarmte Bauern, chinesische  Kulis, indische Bauarbeiter – sei hart gewesen, «Gewalt gehörte zum  Alltag». In den Briefen der Schweizer finde man «ein Spektrum von  offenem Rassismus bis zu sanfter Kritik am Kolonialsystem», erklärt  Andreas Zangger, der 2011 in seiner Dissertation «Koloniale Schweiz»  (Transcript-Verlag) ihre Rolle in Südostasien vertieft untersucht hat.  «Aber generell verhalten sich die Schweizer konform und profitieren vom  System.» Was ihn nicht erstaunt. Denn «die Idee der weissen  Vorherrschaft ist tief ins Gedankengut der Aufklärung eingeschrieben».

Kein abgeschiedenes Bauern- und Hirtenidyll

Dass  die Schweiz «schon im 18. und 19. Jahrhundert kein abgeschiedenes  Bauern- und Hirtenidyll, sondern ausgesprochen gut an die globale  Ökonomie angeschlossen ist», wie Andreas Zangger erklärt, das bestätigt  auch die Historikerin und Ausserrhoder Kantonsbibliothekarin Heidi  Eisenhut, die sich in ihrer Forschung vertieft mit der  Textilhandelsfamilie der Zellweger beschäftigt hat. Während in den  Städten die Zünfte das Wirtschaftsleben stark reglementieren, werden  einige ländliche, vom Protestantismus geprägte Regionen wie Appenzell  Ausserrhoden, Glarus und der Neuenburger Jura zu Taktgebern jenes  Wirtschaftswunders, das 1968 der Publizist Lorenz Stucki in seinem  Bestseller «Das heimliche Imperium» mit unverhohlener Bewunderung  beschrieben hat. Es macht aus dem armen Auswanderungsland ohne  Bodenschätze im Lauf der Jahrhunderte ein reiches Einwanderungsland.

Eine  ganz andere Haltung legt 2005 der Lehrer, Politiker, Kabarettist und  Teilzeithistoriker Hans Fässler an den Tag, als er in «Reise in  Schwarz-Weiss» die «Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei»  referiert. Dabei legt er keinen Wert darauf, Hintergründe auszuleuchten,  Ursachen zu ergründen oder zeitbedingten Auffassungen nachzuspüren. Und  er will auch nicht differenzieren nach Art und Ausmass der Verflechtung  einzelner Familien in ein System der Sklaverei, das zu ihrer Zeit nicht  nur rechtlich erlaubt, sondern weithin auch moralisch akzeptiert war.  Fässler orientiert sich vielmehr am Diktum von Bertolt Brecht, das Böse  habe eine Adresse und eine Telefonnummer.

Andreas  Zangger kann mit dieser Haltung wenig anfangen. Der Kolonialismus habe  zu grossen strukturellen Ungleichheiten in der Welt geführt, stellt er  zwar fest, und der Rassismus verstärke ungleiche Strukturen. «Farbige  Menschen laufen gegen Hürden an, die weisse Menschen nicht kennen.» Doch  werde die Frage des Kolonialismus «zu schnell auf eine moralische  Schiene gelenkt, statt die strukturellen Barrieren anzugehen. Für mich  ist die moralische Frage vor allem, ob wir heute bereit sind, uns diesem  Problem zu stellen. Der moralische Vorwurf an die Vorfahren lenkt davon  ab.»

Eintauchen in eine fremde Welt

Ähnlich  argumentiert Heidi Eisenhut. Zwar seien die kaufmännischen Aktivitäten  der Zellwegers Teil jenes transatlantischen Wirtschaftssystems gewesen.  Dieses habe auf der Versklavung zahlreicher schwarzer Afrikanerinnen und  Afrikaner beruht, aber auch auf der Ausbeutung von Kindern und schlecht  bezahlten Arbeiterinnen und Arbeitern in den Webkellern der Ostschweiz  oder den frühindustrialisierten Metropolen Englands, die das  Maschinengarn lieferten, um feine Gewebe herzustellen. Dennoch ist Heidi  Eisenhut der entschiedenen Ansicht, dass das aktuell zu beobachtende  «Schwarz-Weiss-Denken» nicht weiterführt. «Denn wie wir in unserer, so waren unsere Vorfahren gefangen in ihrer Welt.»

Weshalb  Heidi Eisenhut dazu rät, «einzutauchen in die ferne, fremde Welt  unserer Vorfahren, geduldig die ganze Vielfalt an Texten und Bildern zu  studieren – was im schnelllebigen 21.Jahrhundert allerdings nicht  besonders gefragt ist. Dabei wären Briefe oder Tagebücher von Reisenden –  von Kaufleuten, Missionaren oder Erzieherinnen – ausgezeichnete  Quellen, um den Umgang der Menschen miteinander zu studieren.»

«Welche Abscheulichkeit, Unmenschlichkeit»

Zu  entdecken gibt es einiges, auch bei den Zellwegers. Zum Beispiel, dass  sie nicht nur sehr reich waren, sondern, getrieben von ihrem  protestantischen Ethos, immer wieder auch sehr hilfsbereit, etwa wenn  Missernten die Bauern an den Rand einer Hungersnot brachten. Dass sie  nicht nur die Ausserrhoder Kantonsschule zur Heranbildung ihrer  Nachwuchskräfte begründeten, sondern auch eine wegen ihres  fortschrittlichen Konzepts weitherum geachteten Armenschule. Der Mensch  müsse seine Talente entfalten können, glaubten sie – allerdings nur im  Rahmen einer gottgegebenen gesellschaftlichen Hierarchie.

Dass  diese Reichen ihre Zeit durchaus kritisch sahen, das belegt ein langer  Brief, den 1830 der 25-jährige Kaufmann Caspar Zellweger aus New York an  seinen Vater schreibt. New York kenne nur «Herren», entsetzt er sich  über das Gebaren der Weissen. Die Schwarzen müssten sogar eigene Kirchen  haben, denn «ein weisser Amerikaner würde neben keinem Schwarzen in der  Kirche sitzen». Und er fügt hinzu: «Welche Abscheulichkeit,  Unmenschlichkeit.»



«Ferne Welten – fremde Schätze»

Am  Sonntag, 27. September, findet in Heiden eine Tagung zur Ausstellung  «Ferne Welten – fremde Schätze» statt. Sie beginnt um 11 Uhr im Kursaal  Heiden mit einem Eröffnungsvortrag des Historikers Andreas Zangger. Ab  13.30 Uhr finden dann Kurzführungen zu verschiedenen Aspekten statt.  Programm unter www.museum-heiden.ch, Anmeldung erforderlich unter info@museum-heiden.ch. (R.A.)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/suche-nach-geld-karriere-natur-sexuellen-verheissungen-exotik-deshalb-wanderten-unsere-vorfahren-in-ferne-welten-aus-ld.1261248)