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+++GENF
derbund.ch 03.09.2020
Drama um jungen Flüchtling: Er starb, und niemand merkte es
Als 14-Jähriger flüchtete Ali Reza H. nach Europa. Vier Jahre später
begeht er in einer Genfer Asylunterkunft Suizid. Sein Fall wirft ein
Licht auf die Situation minderjähriger Asylsuchender in der Schweiz.
Philippe Reichen aus Lausanne
«Etwas stimmt da nicht!» Das sagte sich eine Sozialarbeiterin am Abend
des 29. März 2019 in der Genfer Asylunterkunft Foyer de l’Etoile. Der
18-jährige Flüchtling Ali Reza H. hatte sie um ein Beruhigungsmittel
gebeten. Die Sozialarbeiterin händigte ihm Pillen aus und sah, wie der
18-Jährige statt einer einzigen gleich alle Pillen schluckte.
Der Frau wurde mulmig. Als Ali auf sein Zimmer verschwand, kontaktierte
sie die Genfer Universitätsspitäler. «Er kann nicht sterben, aber man
muss ihn überwachen», hiess es da.
Doch die Sozialarbeiterin habe danach das Drama nicht bemerkt, das sich
zeitgleich im selben Gebäude abgespielt habe, sagt die Genfer Anwältin
Leïla Batou, die den Fall aufgearbeitet und jüngst ein
Bundesgerichtsurteil erwirkt hat. Mutmasslich sediert und von den
Beruhigungstabletten betäubt, erhängte sich Ali Reza H. an einem
Radiator. Er starb zwei Tage später im Spital.
Alis Freunde waren fassungslos. Wie Ali waren sie als unbegleitete
minderjährige Asylsuchende (UMA) in die Schweiz gekommen. «Wir alle
haben als Kinder in unserer Heimat Verletzungen erlitten, darum sind wir
hier», sagt sein Freund Feizollah. Doch auch Feizollah weiss: Ali war
von seinem Vorleben besonders gezeichnet.
Als 4-Jähriger floh er mit seinen Eltern aus ihrer Heimat in Afghanistan
in den Iran. Als Teil der ethnischen Minderheit der Hazara wurde die
Familie systematisch benachteiligt. Im Iran setzten sich die
Diskriminierungen fort. Aufenthaltspapiere waren nicht zu bekommen. Die
Familie musste Schutzgeld zahlen, hatte keinen Zugang zum Rechtsstaat.
Ali sah für sich keine Perspektiven. 2015 begab er sich als 14-Jähriger
allein auf eine Fluchtroute nach Europa. Den Schweizer Asylbehörden
sagte er, sein Vater sei von der iranischen Polizei gefoltert worden,
und auf der Flucht habe er erlebt, wie auf Menschen geschossen worden
sei.
Im Foyer de l’Etoile in Genf begann er, den Kopf gegen die Wand zu
schlagen. «Posttraumatische Störung», lautete die Diagnose. Um sich zu
beruhigen, rauchte er Cannabis.
In der Asylunterkunft, einer Art Gebäude aus Wohncontainern, fehlten
Rückzugsorte und Behandlungsmöglichkeiten. 180 UMA lebten hier auf engem
Raum. Die Lebensumstände müssten dringend verbessert werden, hielt im
Februar 2018 der Rechnungshof des Kantons Genf in einen Prüfbericht
fest.
Im Sommer 2018 kam Ali in eine stationäre jugendpsychiatrische
Behandlung. Aus dem Spital entlassen, verschlimmerte sich die
Depression. Die Behörde verwehrte ihm den Wunsch, in eine andere,
kleinere Asylunterkunft umzuziehen. Ein halbes Jahr später nahm er sich
das Leben.
Nächtliche Prügelei
Alis Freunde waren sich sicher: Die Verantwortlichen im Flüchtlingsheim
hätten den Freitod verhindern können. Sie zeigten Journalisten
Alltagsszenen aus dem Foyer de l’Etoile, darunter ein verstörendes
Handyvideo, auf dem fünf private Sicherheitsleute mitten in der Nacht
auf sie einprügelten, wobei die Jugendlichen zurückschlugen. Zur
Schlägerei war es gekommen, weil Ali und die Jugendlichen sich die Haare
schneiden wollten, was die Sicherheitsleute in ihrer Rolle als
Nachtwächter als Provokation empfanden.
Ein Jugendrichter verurteilte Ali Reza H. zu einem Tag gemeinnütziger
Arbeit. Eine Strafuntersuchung gegen die Sicherheitsleute wegen Gewalt
an Minderjährigen gab es nicht.
Nach Alis Tod wollten seine Eltern und seine Freunde die Gerechtigkeit
wiederherstellen. Hilfsorganisationen schickten sie zur Genfer Anwältin
Laïla Batou. Man bat sie, womöglich Verantwortliche zu eruieren und vor
Gericht zu bringen. Anwältin Batou willigte ein.
Beim Aktenstudium stiess sie auf einen weiteren Vorfall mit privaten
Sicherheitsleuten. Vertreter des Staatssekretariats für Migration (SEM)
entdeckten bei einem Interview eine Beule auf Alis Stirn. Woher die
Beule stamme, erkundigten sie sich gemäss einem Wortprotokoll. Von einer
Auseinandersetzung mit Sicherheitsleuten, sagte der Jugendliche. Er
solle sich an seinen Vormund wenden und eine Klage einreichen, rieten
ihm die SEM-Vertreter. Das sagten sie schliesslich auch der Kinder- und
Jugendschutzbeauftragten, die bei der Anhörung anwesend war. Sie wurde
gebeten, den Fall ernst zu nehmen.
Anwältin Batou sagt: «Ali hat immer wieder erklärt, dass er vom
Sicherheitsbeamten vor zahlreichen Zeugen angegriffen wurde, aber die
Kinderschutzbehörde hat weder ihn noch andere Zeugen formell angehört
und auch keine Untersuchung eingeleitet.» Sie betont: «Aufgrund von
Aussagen eines einzigen Sicherheitsbeamten ist es Ali, der sanktioniert
wird: einmal von seinen Betreuern im Foyer und ein zweites Mal von der
Polizei, die ihn grundlos eine ganze Nacht lang in Polizeigewahrsam
nimmt, ohne dass die Jugendschutzbehörde sich dagegen wehrt.»
Am 4. Juni 2019, zwei Monate nach Alis Suizid, reichten dessen Eltern
und dessen Schwester mithilfe von Laïla Batou eine Strafanzeige gegen
unbekannt ein: wegen der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht,
einfacher Körperverletzung, Gefährdung des Lebens und der Gesundheit,
Amtsmissbrauch und anderer Straftatbestände. Der fallführende
Staatsanwalt Stéphane Grodecki eröffnete ein Verfahren, wollte aber nur
die Offizial-, nicht aber die Antragsdelikte untersuchen. Die
Familienangehörigen schloss er als Privatkläger vom Verfahren aus. Laïla
Batou zog bis vor das Bundesgericht, das diesen Sommer ein Machtwort
sprach. Die Genfer Staatsanwaltschaft muss alle Klagepunkte untersuchen
und die Familie als Klägerin zulassen. Damit beginnt die
Strafuntersuchung erst jetzt, eineinhalb Jahre nach dem Suizid.
Laïla Batou hat Ali Reza H. nie gekannt, aber viel über ihn erfahren.
Sie sagt: «Er war ein Teenager, der durch ein Trauma schwer gezeichnet
war, der um Hilfe rief und Hilfe annahm, wenn sie ihm angeboten wurde
und er das Gefühl hatte, dass die Leute ihm zuhörten.»
Mitarbeiter klagen über Erschöpfung
Im Fokus der Strafuntersuchung sind diverse Genfer Institutionen: die
Asylunterkunft Foyer de l’Etoile, Genfs Sozialbehörde Hospice Général,
die Kinder- und Jugendschutzbehörde, aber auch die Polizei. Letztere
verneint, dass sie in Fällen wie dem vorliegenden Aussagen von
Minderjährigen ignoriert. Es würden immer die Aussagen aller
ausgewertet, so ein Sprecher. Die Kinderschutzbehörde weist den Vorwurf
zurück, sie begleite Minderjährige bei Problemen mit der Justiz
unzureichend. Darüber hinaus will sie sich wegen des laufenden
Verfahrens zum Fall nicht äussern. Genfs Sozialbehörde betont, in der
Asylunterkunft hätten sich zahlreiche Dinge geändert: Die Betreuung der
UMA sei heute näher, zeitintensiver und individueller.
Mitarbeiter des Foyer de l’Etoile erhoben nach Alis Tod schwere Vorwürfe
gegen ihren Arbeitgeber. In einem Brief an die Sozialkommission des
Kantonsrats schrieben sie: «Der Suizid des Jugendlichen ist das
befürchtete, unbegreifliche Ereignis, als Folge von vier Jahren voller
Erschöpfung und Instabilität.»
–
Zahl minderjähriger Asylsuchender ist rückläufig
Die Schweiz hat in diesem Jahr auf Initiative von Bundesrätin Karin
Keller-Sutter über 50 UMA aus griechischen Flüchtlingslagern übernommen,
die bereits einen familiären Anknüpfungspunkt in der Schweiz hatten.
Die Zahl der Asylgesuche von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden
(UMA) ist seit längerem rückläufig. Im Jahr 2015 stellten 2713 UMA ein
Asylgesuch, 2020 gingen bislang 262 Asylgesuche ein. In den letzten
beiden Jahren betrug die Zahl gemäss Angaben des Staatssekretariats für
Wirtschaft jeweils 400. Derzeit leben 4860 Personen in der Schweiz, die
entweder als UMA ein Asylgesuch stellten und inzwischen das
Erwachsenenalter erreichten oder die aktuell minderjährig sind. Im
Genfer Foyer de l’Etoile leben momentan 26 UMA von insgesamt 53, die der
Kanton betreut. (phr)
(https://www.derbund.ch/er-starb-und-niemand-merkte-es-378684794008)
+++SCHWEIZ
«Aber sorry, dort ist Krieg»
Der Dokumentarfilm «Volunteer» von Anna Thommen und Lorenz Nufer gewann
am letztjährigen Zurich Film Festival den Publikumspreis. Er porträtiert
sechs Schweizer Flüchtlingshelfer und erinnert an das Elend an Europas
Aussengrenzen – das aktuell immer schlimmer wird. Wegen Corona wurde der
Start verschoben, jetzt läuft der Film in den Kinos.
https://www.saiten.ch/aber-sorry-dort-ist-krieg/
+++FRANKREICH
Frankreichs Behörden greifen 116 Flüchtlinge im Norden auf
Immer mehr Menschen wagen Reise in unsicheren Booten über Ärmelkanal
Die französischen Behörden haben 116 Flüchtlinge aufgegriffen, die
vergeblich versuchten, über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu
gelangen. Die Zahl der Menschen, die von Frankreich aus in unsicheren
Booten unterwegs ist, hat stark zugenommen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141310.migration-frankreichs-behoerden-greifen-fluechtlinge-im-norden-auf.html
-> https://www.blick.ch/news/ausland/so-viele-wie-noch-nie-an-einem-tag-mehr-als-400-migranten-ueberqueren-aermelkanal-id16074115.html
+++BALKANROUTE
Fünf Jahre Balkanroute, fünf Jahre Ankommen
Im Herbst 2015 machten sich über eine Million Menschen auf nach Europa.
Über die Balkanroute flohen sie vor Krieg und Perspektivenlosigkeit. Sie
hofften, Schutz zu finden, vielleicht sogar eine neue Heimat. Was ist
aus den Menschen geworden? Wie haben sie die Gesellschaft in Deutschland
verändert?
https://www.srf.ch/sendungen/kontext/fuenf-jahre-balkanroute-fuenf-jahre-ankommen
+++ITALIEN
Migrantenhotspot auf Lampedusa wird geräumt
Rund 1.200 Menschen sollen an Bord von Quarantäneschiffen gehen
https://www.derstandard.at/story/2000119761514/migrantenhotspot-auf-lampedusa-wird-geraeumt?ref=rss
-> https://www.srf.ch/news/international/krisengipfel-in-italien-fluechtlinge-auf-lampedusa-muessen-auf-quarantaene-schiffe
+++MITTELMEER
Raus aus der Hölle
Geflüchtete berichten von Camps in Libyen
Die Flüchtlingsroute über das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden.
Flüchtlinge, die nach Europa wollen, nehmen bei der Überfahrt tödliche
Gefahren in Kauf. „SOS MEDITERRANEE“ und „Médecins Sans Frontières“
haben die „Ocean Viking“ gechartert.
https://www.zdf.de/politik/auslandsjournal/fluechtlinge-in-camps-in-libyen-vor-ueberfahrt-ueber-das-mittelmeer-100.html
+++FLUCHT
Dina Nayeris Sachbuch „Der undankbare Flüchtling“: „Wir haben keine Schuld zu begleichen“
Von Geflüchteten wird erwartet, dass sie ihrem Aufnahmeland dankbar und
demütig gegenübertreten. Warum das eine völlig irregeleitete Erwartung
ist, legt Dina Nayeri in ihrem Buch „Der undankbare Flüchtling“ dar.
https://de.qantara.de/inhalt/dina-nayeris-sachbuch-der-undankbare-fluechtling-wir-haben-keine-schuld-zu-begleichen
+++GASSE
Unigebäude in Berner Engenhalde: Gebäude neben Reitschule wird umgebaut und umzäunt
„Zum Projekt gehört der Bau eines Zauns ums Areal. Die geplante
Aufwertung des Innenhofes bedinge eine zeitweise Schliessung des Areals,
schrieb die Kantonsregierung dem Grossen Rat. Sämtliche Möblierung sei
in der Vergangenheit dem Vandalismus zum Opfer gefallen und nicht
versiegelte Beläge seien zum Vergraben von Drogen missbraucht worden
seien.
Die Uni Engehalde befindet sich in der Nähe der Notschlafstelle an der
Neubrückstrasse 19, zur Reitschule auf der Schützenmatte und zur
Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse 22. Auch befindet sich auf dem
Areal der Nachtclub ISC. Ein SVP-Grossrat scheiterte mit dem Antrag, auf
den Bau des Zauns zu verzichten und den Kredit entsprechend zu kürzen.“
https://www.derbund.ch/gebaeude-neben-reitschule-wird-umgebaut-und-umzaeunt-299222117336
-> https://www.bernerzeitung.ch/uni-gebaeude-an-der-engehalde-werden-aufgewertet-576616266496
+++DROGENPOLITIK
Interpellation SVP/EDU: Menschenversuche mit dem Rauschgift Cannabis
https://www.gr.be.ch/gr/de/index/geschaefte/geschaefte/suche/geschaeft.gid-0cacdfcce99043cb91affcd4a48cfb6c.html
++++REPRESSION DE
»Seit 2017 waren sie nun dreimal bei mir«
Razzien gegen die Gruppe Roter Aufbau sind ein Versuch der
Kriminalisierung linker und antifaschistischer Politik. Ein Gespräch mit
Halil Simsek
https://www.jungewelt.de/artikel/385655.razzien-gegen-linke-gruppe-seit-2017-waren-sie-nun-dreimal-bei-mir.html
+++REPRESSION ONLINE
Facebook sperrt linke Accounts
Das Kollektiv »Crimethinc« klagt über Kriminalisierung
In der letzten Zeit wird viel über das Sperren von rassistischen und
antisemitischen Texten bei Facebook, Google und anderen Internetgiganten
diskutiert. Weniger bekannt ist hingegen, dass Facebook in den letzten
Wochen auch Accounts von linken und libertären Initiativen blockiert
hat. So wurden bereits am 20. August die Konten von »Crimethinc« und
scheinbar mit diesem nordamerikanischen Kollektiv sympathisierenden
Künstler*innen und Autor*innen gesperrt.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141332.facebook-sperrt-linke-accounts.html
+++KNAST
Justizvollzugsanstalt Cazis – Gefängnisdirektorin: «Auch Verbrecher haben Respekt verdient»
Ines Follador ist Direktorin der Justizvollzugsanstalt Cazis Tignez (GR) und erzählt aus ihrem Berufsalltag.
https://www.srf.ch/radio-srf-1/radio-srf-1/justizvollzugsanstalt-cazis-gefaengnisdirektorin-auch-verbrecher-haben-respekt-verdient
Häftling nimmt sich in Schwyzer Gefängnis das Leben
Ein 67-jähriger Häftling hat sich in der Nacht auf Donnerstag im
Gefängnis im Sicherheitsstützpunkt Biberbrugg das Leben genommen. Der
Gefängnisinsasse befand sich in Sicherheitshaft.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/schwyz/haeftling-nimmt-sich-in-schwyzer-gefaengnis-das-leben-ld.1253526
++POLIZEI DE
taz-Recherche zum „NSU 2.0“: Wieder Polizeidaten abgefragt?
Seit zwei Jahren wird die Anwältin Seda Başay-Yıldız vom „NSU 2.0“
bedroht. Eine neue Drohmail nennt sogar ihre aktuelle Adresse.
https://taz.de/taz-Recherche-zum-NSU-20/!5712254/
-> https://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-2-0-seda-basay-yildiz-erneut-bedroht-verfasser-kennen-neue-adresse-a-8c284295-081a-48c2-84f2-4b6e0943129d
Wiederholt gedemütigt
Fall Oury Jalloh: Abschlussbericht der Sonderberater des Landtags Sachsen-Anhalt weiter in der Kritik
https://www.jungewelt.de/artikel/385662.oury-jalloh-wiederholt-gedem%C3%BCtigt.html
Nur unabhängige Beschwerdestelle hilft
Zum Thema Rassismus bei der Polizei stehen sich Opferberatung und Behörde konträr gegenüber
Beschwerden über die Berliner Polizei führen selten zu Konsequenzen. Die
Beamten rechtfertigen ihre Einsätze mit der Gesetzeslage. Immer wieder
kommt es zu Täter-Opfer-Umkehr, beklagen unabhängige Beratungsstellen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141318.rassismus-bei-der-polizei-nur-unabhaengige-beschwerdestelle-hilft.html
+++POLIZEI USA
New York: Festgenommener Schwarzer erstickt nach Polizeieinsatz mit Spuckhaube
Daniel Prude wurde im US-Bundesstaat New York von mehreren Polizisten
festgenommen. Nun zeigen Videos: Ihm wurde eine Spuckhaube übergezogen,
bevor er erstickte. Die Gerichtsmedizin sieht ein Tötungsdelikt.
https://www.spiegel.de/panorama/new-york-festgenommener-schwarzer-erstickt-nach-polizeieinsatz-mit-spuckhaube-a-924cfcf9-90b1-425c-8291-974ce4da6233
-> https://www.tagesschau.de/ausland/usa-polizei-rochester-101.html
-> https://www.watson.ch/!858771427
-> https://www.blick.ch/news/ausland/schockvideo-zeigt-verhaftung-in-rochester-usa-polizist-kniet-auf-nackten-afroamerikaner-41-tot-id16074971.html
+++RECHTSPOPULISMUS
Selber schuld, wer bei «Onkel Dolf» an Adolf Hitler denkt
Ist die SVP rassistisch? Ach was! Eine kleine Übersicht über all die
bedauerlichen «Missverständnisse» oder «Einzelfälle» der letzten Jahre.
https://www.republik.ch/2020/09/03/selber-schuld-wer-bei-onkel-dolf-an-adolf-hitler-denkt
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Schwarzfahrer ficht Busse mit abstruser Begründung vor Obergericht an
Ein Mann, der ohne Billett Tram fuhr, begründet sein Tun damit, dass er
jegliche Zahlungen an staatliche Organisationen verweigern könne, da die
Schweiz eine nationalsozialistische Terrororganisation sei.
https://www.nzz.ch/schwarzfahrer-ficht-busse-mit-abstruser-begruendung-vor-obergericht-an-ld.1574779
-> https://www.landbote.ch/schwarzfahrer-zahlt-nicht-an-nazi-terrororganisation-schweiz-831504871949
Coronavirus: Konstanz-Demo wird Schweizer Rechtsextreme mobilisieren
Skeptiker der Massnahmen gegen das Coronavirus locken immer mehr
Rechtsextreme an ihre Demos. Ein Beobachter glaubt: Für die
Distanzierung ist es zu spät.
https://www.nau.ch/coronavirus-konstanz-demo-wird-schweizer-rechtsextreme-mobilisieren-65773260
Steirischer Arzt bietet „Attest gegen Masken-Wahnsinn“ ab zehn Euro online an
Auf Facebook und der Website des Mediziners können Interessierte sich die Bescheinigung mit Wartezeit sichern
https://www.derstandard.at/story/2000119767253/steirischer-arzt-bietet-attest-gegen-masken-wahnsinn-ab-zehn-euro?ref=rss
Rechte machen Rom unsicher
Faschisten und Verschwörungstheoretiker planen Großkundgebung gegen eine angebliche Corona-Diktatur
Faschisten und andere Gruppen aus dem rechten Spektrum wollen den Unmut
in der italienischen Bevölkerung über die Maßnahmen zur Eindämmung der
Corona-Pandemie für sich nutzen. Sie trommeln zu einer Großdemo in Rom.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141335.rechte-machen-rom-unsicher.html
Traum vom Umsturz: Querdenker, Reichsbürger, QAnon, Trump, Eliten, Tiefer Staat
Vieles vermengt sich bei den Corona-Protesten, die Heilpraktikerin
Tamara K., die zur Besetzung der Treppe des Reichstags aufrief, ist
Inbegriff der wirren und religiösen Gedankenwelt
https://www.heise.de/tp/features/Traum-vom-Umsturz-Querdenker-Reichsbuerger-QAnon-Trump-Eliten-Tiefer-Staat-4885363.html
Bei der Demonstration der »Coronarebellen« in Berlin war der Verschwörungsglaube das verbindende Element
Im Wahn vereint
Qanon-Gläubige und Reichsbürger stürmten am Wochenende die Treppen vor
dem Reichstagsgebäude. Ihre Ideologie ist längst bei den sich moderat
gebenden Anführern und Anhängern von »Querdenken 711« angekommen.
https://jungle.world/artikel/2020/36/im-wahn-vereint
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141329.laues-windchen.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141320.immun-gegen-angst-vor-dem-coronavirus.html
Esoterik, Rechtsextreme und Proteste gegen Corona-Maßnahmen: „Gegen denselben Feind“
In den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen schließen sich
unterschiedliche Milieus gegen „die da oben“ zusammen, beobachtet der
Religionswissenschaftler Andreas Grünschloß. Der Glaube an eine
„alternative Weltsicht“ verbinde Esoteriker, Fundamentalisten und
Rechtsextreme, sagte er im Dlf.
https://www.deutschlandfunk.de/esoterik-rechtsextreme-und-proteste-gegen-corona-massnahmen.886.de.html?dram:article_id=483421
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-09/corona-demos-rechtsextremismus-burka-demonstranten-corona-massnahmen/komplettansicht
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derbund.ch 03.09.2020
Milo Raus «Sturm auf den Reichstag»: Haben die Reichsbürger beim Schweizer abgekupfert?
Der Theaterpionier Milo Rau sprach in einem Interview über den
Corona-Schock und die Folgen – und erzählte von seinem Ärger mit den
Reichsbürgern.
Alexandra Kedves
Der rechtsradikale Sturm auf den Reichstag am Wochenende hat Deutschland
ziemlich mitgenommen – selbst wenn es de facto nur ein Stürmchen war.
Die Bilder aus Berlin schockten, die Haltung der Menschen, die da mit
schwarz-weiss-roten Reichsflaggen und Corona-Skepsis-Plakaten
aufmarschierten, auch. Die Medien suchten händeringend nach Einordnung;
und beim Magazin «Der Spiegel» erinnerte man sich: Dieser Schweizer
Starregisseur, der jetzt in Belgien ein Theater leitet, der hat doch vor
ein paar Jahren auch einen «Sturm auf den Reichstag» orchestriert.
So kam Milo Rau, der Berner Theatermann aus dem flämischen Gent, zu
einem «Spiegel»-Gespräch übers aktuelle Drama in Deutschland und zeigte
dabei das, was er immer zeigt: Brillanz. Konzis fasste er zu Beginn
zusammen: «Die bildpolitische Wirkung ist enorm. Dass das eine sehr
beschränkte Aktion von ein paar Wirrköpfen ist, sieht man nicht. Die
Bilder sehen ja toll aus.»
Remake der Oktoberrevolution
Anders gesagt: Es verhält sich genau andersherum als damals bei Raus
eigenem «Sturm auf den Reichstag» im Jahr 2017. Der Polittheaterpionier,
der Massstäbe setzt und stets auch seine und unsere Verantwortung am
Weltgeschehen thematisiert, spielte damit auf den Sturm auf den
Winterpalast in St. Petersburg an, dieses Symbol der Oktoberrevolution
1917.
Ein Umweltaktivist, ein Roma-Vertreter und andere Repräsentanten der
Unterdrückten dieser Erde hielten vor dem Berliner Gebäude kurze Reden.
Danach choreografierte Rau mit ihnen und den Zuschauern einen gesitteten
Aufmarsch bis ans Absperrgitter.
Es war eine tiefenscharf durchdachte Angelegenheit: ein Aufruf zur
Demokratie-Erweiterung und eben gerade nicht zu ihrer Abschaffung, wie
Rau jetzt im Interview unterstrich. Alle Stimmen, die von den
Entscheidungen des Bundestags betroffen seien, sollten dort auch Gewicht
haben, fordert er.
Es gab Theaterkritiker, die seinerzeit mit beissendem Spott auf Raus
Remake des Winterpalast-Sturms reagierten. Aufregung freilich gabs kaum –
was Theaterleute meist bedauern.
Rechtsstreit mit «zornigen Spiessern»
Aber halt! Immerhin hatten Rau und sein Team hinterher, wie er
formulierte, einen «kleinen Rechtsfall an der Backe». Denn – und so
schliesst sich der Kreis zum jetzigen Reichstagssturm – der Regisseur
und die Seinen hatten damals im Zuge ihrer Aktion den Infostand einer
Reichsbürger-Gruppe umgerannt, den diese vor dem Gebäude aufgebaut
hatte.
«Vielleicht», so Rau, «kam ihnen da die Idee, das auch mal zu machen.»
Also das mit dem Sturm. Das ist nun eine irgendwie grössenwahnsinnige,
aber auch wieder amüsant-ironische Spekulation. Oder womöglich gar eine
selbstironische: Schliesslich geisselt Rau den Reichsbürger-Sturm vom
Samstag als ein «pseudopolitisches Psychodrama», inszeniert von
ideenlosen, «aggressiven Kleinbürgern», von «zornigen Spiessern», denen
man sich als Echoraum verweigern solle. Besonders als Linker.
Stattdessen – und da wagt Milo Rau jenen grossartigen Sprung zum
Theatermissionar und moralischen Macher, den sich sonst keiner in der
Szene traut –, stattdessen solle man lieber kapieren, was der Motor für
dieses Aufständchen war: unser aller metaphysische Obdachlosigkeit, die
verschärft spürbar wird in Zeiten von Corona. «Wir sind eine
Gesellschaft ohne Transzendenz, ohne Boden.» Aber wir vertrügen es
nicht, mit dem Tod verloren zu sein.
Aus dieser Unfähigkeit speisten sich denn auch die
Verschwörungstheorien, sagt der 43-Jährige. Die Reichsbürger wollten ins
«Innere der Institutionen vordringen, als gäbe es da irgendeine
Verschwörung in einem Hinterzimmer, einen Weltgeist in Gestalt eines
Schachspielers wie bei Walter Benjamin». Doch den würden sie nicht
finden. «Weil es ihn nicht gibt.» Tusch – und getragener Applaus!
–
Nächste Milo-Rau-Aufführung in der Schweiz: Schiffbau Zürich, 25. Oktober, «Das Kongo Tribunal Kolwezi Hearings».
(https://www.derbund.ch/haben-die-reichsbuerger-beim-schweizer-abgekupfert-381522325338)
—
Nach „Querdenken“-Demonstrationen Katzenjammer und Spaltung in der Verschwörungsszene
38.000 Menschen standen am Wochenende mit „Querdenken“ in Berlin auf der
Straße, viele schwenkten Reichsflaggen oder „Pace“-Flaggen, trugen
rechtsextreme T-Shirts oder „QAnon“-Accessoires spazieren, einige
meditierten und hörten fragwürdige Musik, andere versuchten, das
„Reichstagsgebäude“ zu Fuß über die Treppe gewaltvoll zu betreten. Ist
die Szene der „Querdenken“-Hygiene-Demos jetzt rosig und glücklich?
Nein!
https://www.belltower.news/nach-querdenken-demonstrationen-katzenjammer-und-spaltung-in-der-verschwoerungsszene-103653/
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DEMO BERLIN:
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-demonstration-am-reichstag-fuer-sowas-braucht-man-waffen-a-fb98e9e5-1731-49cf-841f-d9bf176a0d6f?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph
-> https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-09/corona-demos-reichstagsgebaeude-parlament-sicherheit-bundestag-aeltestenrat
-> https://www.tagesschau.de/inland/aeltestenrat-treppe-101.html
+++HISTORY
«Die Erinnerungen an den Platzspitz kommen manchmal überfallartig» – Der
Zürcher Drogenarzt André Seidenberg war mitten drin in der offenen
Drogenszene
André Seidenberg reanimierte als junger Notfallarzt auf dem Platzspitz
Süchtige, gab saubere Spritzen ab und hörte unzählige Geschichten von
gescheiterten Existenzen. In einem Buch teilt er nun seine Erfahrungen.
https://www.nzz.ch/zuerich/drogenszene-in-zuerich-die-erinnerungen-kommen-ueberfallartig-ld.1574185
Sie haben noch einen Koffer in Berlin
»Abgetaucht in Venezuela« erzählt die Geschichte von drei ehemaligen Linksradikalen
Vom Untergrund in den Urwald: In seinem Dokumentarfilm »Gegen den Strom –
Abgetaucht in Venezuela« begleitet Regisseur Sobo Swobodnik drei
ehemalige Linksradikale, die vor der deutschen Justiz nach Südamerika
geflohen sind.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141336.sie-haben-noch-einen-koffer-in-berlin.html
Dunkles Kapitel in Schweizer Geschichte: „Verdinger“ ab Donnerstag in Schweizer Kinos
Die Verdingkinder sind ein dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte.
Der neue Dokumentarspielfilm „Verdinger“ zeigt die tragische
Lebensgeschichte von Alfred Ryter, der im Kiental verdingt wurde. Mit
seiner Echtheit will der Film jetzt in Schweizer Kinos überzeugen.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/dunkles-kapitel-in-schweizer-geschichte-verdinger-ab-donnerstag-in-schweizer-kinos-139002645
—
bernerzeitung.ch 03.09.2020
Kolonialismus und Rassismus: Ein neuer Stadtplan nimmt das koloniale Erbe Berns in den Blick
Keine wirklich neuen Erkenntnisse, dafür ein kompakter, leicht
verständlicher Überblick: Ein Onlinestadtplan dokumentiert, wo und wie
Bern in koloniale Geschäfte verstrickt war.
Lea Stuber
Bei ihm selber begann alles mit der Schokolade, diesem Produkt, das so
viel schweizerischer tut, als die Zutaten eigentlich sind. Der Kakao aus
Ghana oder Ecuador, der Zucker einst aus Kuba oder Indonesien. «Wir
sind so verbunden mit der Welt», sagt Karl Rechsteiner (62), Präsident
der Stiftung Cooperaxion. «Seit Jahrhunderten lebt die Schweiz von
diesem globalen Austausch, sie verdankt ihm ihren Wohlstand.»
Er merkte: Schokolade ist nicht das einzige Produkt, das als etwas
Schweizerisches inszeniert wird, obwohl es erst im Austausch mit anderen
Orten und Menschen entstanden ist. Da ist die Rösti, die es dank den
Kartoffeln aus Südamerika gibt, das Hackbrett, das auf ein indisches
Instrument zurückgeht, oder die Melodie des Volksliedes «Vreneli ab em
Guggisbärg», die aus dem Balkan stammt. «Oft haben wir nationalistische
Erklärungen für Dinge, die im Grunde das Resultat von kreativem
Austausch sind», sagt Rechsteiner.
Er sitzt am Fuss des Holländerturms am Waisenhausplatz. Die Fenster sind
geschmückt mit roten Geranien, dieser als «typisch schweizerisch»
betrachteten Pflanze, deren Heimat Tausende von Kilometern weit weg im
Süden Afrikas liegt.
Wie das Geranium nach Bern kam
Rechsteiner, gewissermassen das Gedächtnis, wenn es um Berns koloniale
Verstrickungen geht, holt aus, wie er das oft macht. Das tut er auch
während der von Cooperaxion organisierten Stadtrundgänge. In der Schweiz
macht die Berner Stiftung mit Ausstellungen oder Veranstaltungen
Bildungsarbeit, auch aktiv ist sie in Liberia und Brasilien.
Im 18. und im 19. Jahrhundert, erzählt Rechsteiner, waren viele Berner
Söldner – die der Armut entkommen wollten – in Südafrika stationiert,
sie waren Teil der Kolonialarmeen von Holland. Es war die Kolonialmacht
Holland, welche die Geranien, die südafrikanische Wildblume, nach Leyden
oder Rotterdam brachte. Und kurz darauf auch nach Bern. Bald waren die
städtischen Patrizierhäuser mit den Geranien geschmückt. Da die
Hausangestellten, die sie pflegten, Stecklinge mit in ihre Emmentaler
Häuser nahmen, verbreiteten die Blumen sich nicht nur in der Stadt,
sondern auch auf dem Land.
Neu kann man sich nicht nur während des eineinhalbstündigen
Stadtrundgangs mit dem kolonialen Erbe Berns beschäftigen. Jetzt geht
das auch von zu Hause aus mit einem interaktiven, gratis abrufbaren
Stadtplan.
Cooperaxion hat unter anderem mit der finanziellen Unterstützung der
Stadt Bern von 45’000 Franken dreissig Spuren zusammengetragen. Diese
zeigen auf, wie Bern und die Schweiz, das Land ohne eigene Kolonien, in
den Handel von Sklaven, Rohstoffen (wie Baumwolle, Zucker oder Gewürzen)
und Waren (wie Textilien oder Rum) involviert war, dies im sogenannten
Dreieckshandel zwischen Afrika, Amerika und Europa. Die Spuren zeigen
auch, wie diese Beziehungen aus der Vergangenheit noch heute nachwirken.
Auslöser für die städtische Beteiligung am Projekt war ein 2014
überwiesenes Postulat im Stadtrat, das die Aufarbeitung der städtischen
kolonialen Vergangenheit thematisierte.
Der überhebliche Globi
In Bern sehe man diese kolonialen Verstrickungen oft nicht direkt, sagt
Karl Rechsteiner. Anders als etwa in Neuenburg mit seinen Palästen,
erbaut mit Vermögen aus dem Sklavenhandel.
Doch manchmal verweisen auch kleinere Dinge auf eine koloniale
Vergangenheit und rassistisches Denken. Ein Beispiel ist Globi. Die
Figur wurde als Maskottchen des Warenhauses Globus erschaffen. In einem
Comic von 1944, in dem Globi um die Welt reist, heisst es: «Kinder
huckepack zu tragen / Macht doch allzu grosse Plagen / Welch ein
Rückstand hier im Kaff / Globi sieht es und ist baff.» Also baut Globi
den Menschen einen Kinderwagen. «Diese überhebliche Art», Rechsteiner
schüttelt den Kopf. «Im Comic wird der Kinderwagen als Fortschritt
präsentiert. Und heute, viele Jahre später, tragen in Bern alle ihre
Kinder huckepack.»
Von der kolonialistischen Praxis – europäische Staaten, die über andere
Gebiete und Bevölkerungen herrschen – sei es nicht weit zu rassistischem
Denken. Genau das zeige ein Kinderbuch wie das um Globi, sagt
Rechsteiner.
Wo man lebt, findet man die Spuren
Seit der «Black Lives Matter»-Bewegung stellt Rechsteiner ein wachsendes
Bewusstsein fest. Immer mehr Menschen, auch in Bern, realisieren, dass
sie Spuren kolonialer Vergangenheit nicht weit weg an anderen Orten
suchen müssen, sondern da finden, wo sie leben. Das zeige die
Auseinandersetzung mit dem rassistischen Wandbild im Wylergut-Schulhaus.
Oder die Bar am Kornhausplatz, wo früher ein Kolonialwarengeschäft
Schokolade und Kaffee verkaufte, die nun nicht mehr Colonial Bar,
sondern Versa heisst. Die Bar will mit einem QR-Code Hintergrundwissen
über Kolonialwaren und den Dreieckshandel zur Verfügung stellen.
Oft würden Geschichten wie diese verdrängt, sagt Rechsteiner. «Wir
müssen uns bewusst sein, wie Bern von den Ressourcen und den Reichtümern
des afrikanischen und des amerikanischen Kontinents profitiert hat.»
Was Karl Rechsteiner sagt, ist nichts wirklich Neues. Ähnlich ist es mit
dem neuen Onlinestadtplan. Mit dem Stadtplan existiert für die Stadt
Bern aber erstmals eine einfach zugängliche Übersicht der verschiedenen
Spuren kolonialer Vergangenheit und rassistischer Hintergründe. Doch
fertig sei der Stadtplan nicht, sagt Rechsteiner. Er und das Team von
Cooperaxion erarbeiten im Moment vier weitere Spuren.
–
Der Onlinestadtplan: Nicht nur beim Waisenhaus- oder Kornhausplatz, beim
Wylergut-Schulhaus oder bei der Unitobler, der ehemaligen
Schokoladefabrik in der Länggasse, finden sich Spuren des kolonialen
Erbe Berns. Weitere Spuren führen zum Bierhübeli mit den früheren
Menschenzoos, zum Bundesplatz mit den Grossbanken, zum Wankdorfstadion
oder zum Loeb-Egge mit dem Berner Kolonisten Christoph von Graffenried,
der in den USA die Siedlungskolonie New Bern gründete. Die ganze
Übersicht finden Sie unter www.bern-kolonial.ch.
(https://www.bernerzeitung.ch/ein-neuer-stadtplan-nimmt-das-koloniale-erbe-berns-in-den-blick-837819705288)
—
tagesanzeiger.ch 03.09.2020
Rassismusalarm im Schulhaus: Das N-Wort an der Wand
Die links-grüne Berner Stadtregierung führt einen Kreuzzug gegen einen
halben Quadratmeter angeblich rassistischer Kunst in einem
Quartierschulhaus. Ein Lehrstück über sogenannte politische Korrektheit.
Michael Marti
Es geschieht zwischen 13.30 und 14.15 Uhr, während der ersten
Nachmittagslektion. Die Schülerinnen und Schüler lernen in den
Klassenzimmern, als die Täter ins Schulhaus eindringen und Teile des
Wandbildes attackieren, das seit 71 Jahren das lichte und hohe
Treppenhaus schmückt. Mit Farbrollen schmieren sie dicke Schichten
schwarzen Kunstharzlacks über drei Tafeln des Freskos – diese stehen je
für einen Buchstaben des Alphabets und zeigen: einen Schwarzafrikaner
(N), einen nordamerikanischen Indianer (I) und einen Chinesen-Buben (C).
Das Werk steht unter Denkmalschutz, und die Kunstwissenschaft ist sich einig über dessen hohe künstlerische Qualität.
Noch an demselben Tag, am 15. Juni 2020, verschickt die unbekannte
Täterschaft ein Bekennerschreiben an den Berner «Bund» und fordert, das
Wandgemälde im Stadtberner Quartierschulhaus Wylergut als Ganzes müsse
weg. Es sei «Ausdruck eines institutionellen Rassismus».
Amnestie für Kunstvandalen
Die schwarz übermalten Gemäldeteile sind wohl, so die Fachleute, für
immer beschädigt, wenn nicht zerstört. Kunstfrevel im Namen von
Antirassismus – was geht da vor in der Landeshauptstadt? Die Frage
stellt sich umso dringlicher, seit die links-grüne Stadtregierung
bekannt gab: Sie verstehe die «Wut» der Täterschaft. Und reiche deshalb
gegen diese keine Anzeige ein.
Bern zeigt der Schweiz derzeit in plastischer Weise, auf welche Irrwege
ein Kreuzzug gegen vermeintlich rassistische Kunst führen kann. Der
Stadtregierung und einer Entourage aus Rassismusexpertinnen,
Kolonialismusforschern, Migrationspädagoginnen ist es gelungen, einen
halben Quadratmeter Kunst am Bau – der in der Wahl seiner Sujets
unbestritten nicht mehr in die Zeit passt, aber seit 1949 keinen
nachgewiesenen Schaden angerichtet hat – als eine für die Bevölkerung
akut gefährliche, hochtoxische rassistische Altlast zu dämonisieren. Sie
soll nun nach allen Künsten der politischen Korrektheit und mit viel
Steuergeldern entschärft und entsorgt werden. Was es kosten darf?
115’000 Franken sind schon mal bewilligt.
Dabei kann man sich kaum ein friedvolleres Quartierschulhaus vorstellen
als das Wylergut. Gebaut in den Vierzigerjahren des letzten
Jahrhunderts, ist es zwar in die Jahre gekommen, mit seinem leichten und
lichten Pavillonstil jedoch freundlich und charmant. Im
Wylergutquartier wohnt gehobener Mittelstand, der talentierte und
fleissige Kinder in die Primarstufe schickt.
Instrumentalisierung des Lehrkörpers
Doch nichts ist mehr, wie es war. «Die Schule wird nun dauernd mit dem
Schlagwort Rassismus in Zusammenhang gebracht», sagt Jürg Lädrach, seit
2011 Schulleiter. Lädrach ist Lehrer und Heilpädagoge, ein besonnener
Mann, der langsam spricht und seine Worte sorgfältig wählt. Er sagt:
Selbstverständlich solle über das Gemälde kritisch diskutiert werden,
selbstverständlich würde heute niemand mehr eine solche Motivwahl
gutheissen. «Aber die Debatte, die über unser Wandbild geführt wird, hat
nichts zu tun mit der Realität an unserer Schule, schon gar nicht mit
der Realität von Kindern.»
Die Lehrerinnen und Lehrer, Lädrachs Team, fühlen sich
instrumentalisiert. Benutzt als Rassismusexempel für den Grundkurs in
politischer Korrektheit, den die Stadtregierung mit viel Aufwand
inszeniert. 2020 feiert die politische Mehrheit Berns das
10-Jahr-Jubiläum ihrer Anti-Rassismus-Aktionswochen (Slogan: «Bern,
Hauptstadt gegen Rassismus»), und dafür sind die drei Freskotafeln aus
dem Schulhaus Wylergut ein didaktischer Glücksfall. Ob es nicht
lehrreicher wäre, konkreten und gegenwärtigen Rassismus aufzuzeigen,
wenn er sich denn ereignet, bei Polizeikontrollen womöglich, bei den
Stadtbehörden, in den Medien oder in der Werbung – diese Frage stellt
sich offenbar niemand.
Jedenfalls lancierte Bern vor etwas mehr als einem Jahr einen Wettbewerb
zum Wandbild, der längliche Titel: «Transdisziplinärer Wettbewerb zum
Kulturerbe der Kolonialzeit: Das Wandbild Wylergut Bern als Beispiel».
Künstlerinnen und Künstler reichten mehr als 30 Vorschläge ein, wie mit
dem Gemälde in Zukunft zu verfahren sei, Ende September will eine Jury
das Siegerprojekt verkünden. Unglücklich natürlich, dass seit der
Schändung die vorgeblich so gravierende Diskriminierung nicht mehr zu
sehen ist, verdeckt von schwarzem Kunstharz, von schwarzen Zensurbalken.
Wird die eigene Klientel geschützt?
Offen liegt die juristische Lage: Vor dem Gesetz ist der Freskofrevel
eine Sachbeschädigung, und nichts anderes. «Ich war schockiert, als die
Stadt, die Besitzerin von Schulhaus und Werk, verkündete, sie werde
keine Anzeige einreichen», sagt Schulleiter Lädrach. Selbstverständlich
ist er nicht der Einzige, den die grosse Milde der links-grünen
Stadtregierung erstaunt. SVP-Stadtrat Janosch Weyermann, Absender einer
Eingabe zum Beschluss, sagt: «Wie will man dies den Schülern erklären?
Dass jemand einfach so in einem Schulhaus ein Kunstwerk beschädigen
darf?»
Und offensichtlich legt die Regierung der «linkesten Grossstadt der
Schweiz» (NZZ) keinen Wert darauf, den Vorwurf zu entkräften, sie wolle
mit dem Verzicht auf eine Anzeige bloss die eigene politische Klientel
vor einer Strafverfolgung schützen.
Wenig Verständnis bringen die Regierenden hingegen fürs Lehrpersonal im
Schulhaus Wylergut auf, für die eigenen Arbeitnehmer. Die
Kulturbeauftragte der Stadt Bern, Franziska Burkhardt, richtet in
schriftlicher Form aus: «Inwiefern sich Lehrpersonen instrumentalisiert
fühlen, kann ich nicht beurteilen. Sie sind eingeladen, sich in die
Debatte einzubringen.»
Man kann diese Aufforderung durchaus als zynisch empfinden. Schulleiter
Jürg Lädrach hat die Zivilcourage zur öffentlichen Kritik an seinen
Vorgesetzten: «Die Stadt beugt das gültige Recht, das empfinde ich als
Skandal.» Dass andere Lehrerinnen und Lehrer sich nicht dermassen zu
exponieren wagen, spricht nicht gegen sie, sondern gegen ihren
Arbeitgeber, die Stadt.
Ein lebens- und kunstferner Diskurs
Lange Jahre und Jahrzehnte schien es, als ob die Welt das Wandbild im
Wylergut vergessen hätte. Die Schule selber aber setzte sich immer
wieder mit den Freskotafeln auseinander. Ohne Projekte und Kulturkredite
zwar – dafür wirksam. «Immer wieder fragten Kinder, ob denn das N
wirklich für Neger stehe», erzählt Lädrach. «Wie das möglich sei, da es
sich doch um ein Schimpfwort handle.» Dann habe sich jeweils eine
Lehrerin oder ein Lehrer die Zeit genommen, mit den Kindern darüber zu
sprechen. Zu erklären, wie Bedeutung und Akzeptanz von Wörtern sich
ändern können. Wie sich in Wörtern Weltsicht ausdrückt. Wie Wörter
ausgrenzen können. Und wie man sprechen und schreiben kann, ohne
Menschen zu diskriminieren. «Das ging ganz ohne Aufruhr. Ohne Behörden,
ohne Medien.»
Wer sich vor dem Farbanschlag die Zeit nahm, das N-Porträt genau
anzuschauen, erkannte zwei Bohrlöcher über der Tafel. Dort drin steckten
früher eine Zeit lang Schrauben, die einen Karton mit aufgemaltem
Nashorn fixierten. N wie Nashorn! Es heisst, aus Furcht vor dem
Denkmalschutz sei diese zweckmässige Modifikation des Werkes, die ohne
Sonderkredit möglich war, später entfernt worden.
Die grosse Ironie – oder müsste man sagen: die grosse Tragik? – der
Geschichte ums Wandbild im Schulhaus Wylergut besteht darin, dass die
Schöpfer, die beiden Berner Künstler Eugen Jordi (1894–1983) und Emil
Zbinden (1908–1991), beide bekennende und sozial engagierte Linke waren.
Bitter, wie die Vaterstadt die beiden nun in die Rassistenecke stellt –
als hätten sie Rassen-Stereotype für einen Globi-Band oder ein
Pippi-Langstrumpf-Abenteuer gezeichnet. Obendrein geht im lebens- und
kunstfernen Rassismusdiskurs der Stadtberner Behörden die hohe
ästhetische Qualität des Freskos unter: Jordi und Zbinden zeichnen die
drei Porträts für die Tafeln C, I und N eben nicht als Klischees,
sondern als selbstbewusste Individuen. Es ist eine intelligente und
respektvolle Darstellung.
Der zensurierte Chinese an sich
Doch gemäss den Theorien der städtischen Kunstexpertin Franziska
Burkhardt ist allein schon das Abbilden einer ethnisch identifizierbaren
Hautfarbe ein Akt der Diskriminierung. So sei das Porträt des Chinesen
nicht nur deshalb rassistisch, weil dieser «sozusagen für alle Asiaten
steht». Sondern ebenso durch «die gelbe Darstellung seines Gesichtes,
welche eine genetisch bedingte Differenz zum die Person kennzeichnenden
Merkmal macht».
Solche Sätze sind das Kennzeichen des staatlich moderierten
Anti-Rassismus-Diskurses. Falls Burkhardt tatsächlich meint, was sie
schreibt, wird in der Stadt Bern das künstlerische Abbilden einer
Chinesin oder eines Chinesen bald verboten sein.
Am Dienstagabend lud die Stadt Bern zu einer Podiumsdiskussion zum
Wandbild. Geschätzte 50 Zuhörerinnen und Zuhörer trafen sich im
Kornhausforum, der Moderator forderte gleich zu Beginn der Veranstaltung
vom Publikum einen «Rassismus-sensiblen Sprachgebrauch» ein: Es dürfe
nicht geschehen, dass an diesem Abend in dieser Diskussion das N-Wort
ausgesprochen werde.
Der Wunsch des Schulleiters
Gleich in den ersten Minuten einigten sich drei der vier Referentinnen
und Referenten, dass das Wandbild «auf den Schrottplatz gehöre», und der
Vertreter des Fördervereines Emil Zbinden wagte nur noch schüchtern,
die Entsorgung in einem Museum als Alternative vorzuschlagen.
Meinungsvielfalt klingt anders.
Bis Ende Oktober will die Stadt über das weitere Schicksal des
Wandbildes entscheiden. Egal, ob das Werk auf dem Schrottplatz landet
oder in einem Museum, ob es restauriert oder modifiziert wird – wie
könnte diese Geschichte zumindest fürs Schulhaus Wylergut noch glücklich
enden? Schulleiter Lädrach denkt lange nach. Dann sagt er: «Ich wünsche
mir eines: dass unser Schulhaus nicht mehr Teil der Rassismusdebatte
ist, wie sie derzeit in dieser Stadt und andernorts geführt wird.»
Lädrach weiss es selber am besten: Die Aussichten dafür stehen schlecht.
–
Was blüht dem Wandbild? Die Finalprojekte
Wie soll mit dem als rassistisch taxierten Wandbild im Schulhaus
Wylergut verfahren werden? Fünf Vorschläge liegen auf dem Tisch, bis
Ende September will Bern entschieden haben. Die Konzepte in Stichworten.
– «z. B. Wylergut»: Das Wandbild wird mit einer ungleichmässigen
Spiegelfläche ersetzt. Zudem sollen ausserhalb des Schulhauses den
Kacheln des Wandbilds nachempfundene Bildkästen aufgestellt werden für
ständig wechselnde künstlerische Beiträge zur
Dekolonialisierungsdebatte.
– «N wie Neu»: Ein Kollektiv namens «Kunst und Krise» will das Wandbild
mit einem Wechselrahmen für Wimmelbilder überdecken. In Workshops mit
den Schülerinnen und Schülern soll der Inhalt des Wimmelbilds erarbeitet
werden.
– «Das Wandbild muss weg»: Das Fresko soll demontiert und dem
Historischen Museum geschenkt werden. Verbunden wäre damit der Auftrag,
eine Ausstellung zur Berner Kolonialgeschichte zu erarbeiten. Aus diesem
Prozess soll ein Lehrmittel für alle Berner Schulen entstehen.
– «Störung im Dorf»: Monitore, eine Audioinstallation, Workshops und
spontane Aktionen sollen nebst vergammelnden Schweizklischees
«Gegenbilder» schaffen und der «Wirkmächtigkeit» des Wandbilds «ein Ende
setzen». Nach drei Jahren wird das Wandbild übermalt.
– «Wylerbet»: Das «Wylerbet» bestünde aus einem «Logbuch» und einer
Stadtkarte zur kolonialen Geschichte Berns. Im Logbuch würden
künstlerisch-forschende Zugänge von Schülerinnen und Schülern
festgehalten, die innerhalb des Lehrplans zu einer «machtkritischen
Analyse» ihres Umfelds angehalten würden. Mittels einer App und einer
Website bliebe dieses Lehrmittel aktuell.
(https://www.tagesanzeiger.ch/das-n-wort-an-der-wand-154998665073)