Antirassistischer Rückblick auf eine Woche voller Rassismus: Kriminalisierung von nach Geld fragenden Menschen in Basel | Rassistischer Mord und drohende Nazis in Portugal | Italien verspricht weitere 11 Mio für tunesische Küstenwache | Deutsche Behörden sprechen Festhalteverfügung gegen Schiffe der Mare Liberum aus | Küstenwachen lassen in internationalen Gewässern mindestens 45 Menschen sterben | Zwölf Menschen sterben auf der Flucht nach Melilla, Gran Canaria und Grossbritannien | Bürgerwehr gegen Migrant*innen in Bosnien und neuer Grenzzaun in Serbien | Rechtsextreme greifen Geflüchtete und NGOs auf Lesbos an und legen Feuer | „Entwicklungszusammenarbeit“ oder wenn der globale Norden den globalen Süden auffordert, Klimaschutz zu betreiben | Neuer Bericht zum Accountability Regime von Frontex | Über den Umgang mit dem rassistischen Wandbild des Schulhaus Wylergut | Deutschland: Ohne richterlichen Beschluss sind Verhaftungen im Asylcamp zwecks Abschiebung illegal | IsolationWatch: Aufruf – Call – Appel | Stopp Isolation: „Wir geben nicht auf!“
Was ist neu?
Kriminalisierung von nach Geld fragenden Menschen in Basel
In Basel wurde vor einigen Wochen das «nicht-bandenmässige» Bettelverbot aufgelöst. Das ist ein kleiner aber wichtiger Schritt für die Entkriminalisierung von Armut. Doch seither findet in den Medien eine kaum vorstellbare Hetze gegen Menschen statt, die Passant*innen in den Strassen nach Geld fragen. Die Rede ist von einer «Überschwemmung osteuropäischer Bettlerbanden, die Geschäftskund*innen und Passant*innen aggressiv belästigen». Vor allem Reporter*innen der Basler Zeitung spionierten die um Geld fragenden Menschen aus, protokollierten Begegnungen, um eine kriminelle Zusammenarbeit nachzuweisen. Sie bedrängten die Menschen an ihren Schlafplätzen, hielten sogar detailliert fest, wie sie aufs Klo gehen. Die Zeitung lässt jeglichen Respekt vor der elementarsten Privatsphäre vermissen. Wobei die Basler Zeitung nicht als einziges Medium solche Hetze betreibt: Die Reporter*innen von «20 Minuten» zählten um Geld fragende Menschen in der Innenstadt und die Newsplattform «Prime News» bediente sich nationalsozialistischen Vokabulars, als sie sich über eine «Bettlerplage» ausliess, gesteuert von «Geschäftsleuten der Finsternis».
Eine riesige mediale Aufregung um vielleicht zwei Dutzend Menschen, die versuchen, ihr Überleben zu sichern. Gegenrede zum üblen Diskurs gibt es kaum. SP-Nationalrat Beat Jans forderte gegenüber SRF, die Polizei müsse intervenieren. Sie solle Familien, die am Wettsteinplatz unter freiem Himmel übernachten, doch einfach vertreiben. Schliesslich sei «Campieren in der Stadt nicht erlaubt». Als würden dort Rucksacktourist*innen hausen.
Gerade Sinti und Roma, die um Geld fragen, werden im öffentlichen Diskurs sehr häufig kriminalisiert. Sie werden als kriminelle Banden mit mafia-ähnlichen Strukturen dargestellt, in denen Kinder und Frauen instrumentalisiert werden und das auf der Strasse erhaltene Geld an ihre Bosse abliefern müssen. Wer mit den um Geld fragenden Menschen spricht, merkt schnell, dass dies ein klar stereotypisierter Diskurs ist, der auf nichts basiert ausser auf rassistischer Hetze gegen Roma und Sinti. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Menschen um Einzelpersonen oder kleine Familien, die schlicht irgendwie versuchen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Eine Person erzählt, dass sie aufgrund von Corona an der Weiterreise gehindert wurde und sie und ihre Familie nun eher unfreiwillig in Basel sind, da sie weder zurück nach Rumänien noch weiter nach Frankreich können. Auf die Frage nach einer bandenmässigen Struktur angesprochen meint sie, man sei gemeinsam unterwegs und versuche, die Weiterreise zu finanzieren. Das Geld müsse sie niemandem abgeben. Klar, organisiert sei man, aber einen Boss, der alles einsackt, gebe es nicht. Wie auch: 20 Franken erwirtschafte sie etwa pro Tag. Die mafiaähnlichen Netzwerke seien eine reine Fantasie.
Es ist ein Muster, das oft zu finden ist bei rassistischer Abwertung: Menschen müssen sich ihre rassistische Haltung irgendwie legitimieren, um sich selbst nicht als komplett unmenschlich zu fühlen. Zur Zeit des Sklav*innenhandels oder des Kolonialismus war es die wissenschaftliche Forschung, die gewisse Menschen als biologisch minderwertig darstellte und dadurch deren Ausbeutung «legitimierte». Heute beobachten wir oft den Verweis auf die angeblich kriminelle Energie gewisser Menschen, der dann als Legitimation für deren Ausschluss, Abwertung und Diskriminierung herangezogen wird.
Die ganze Debatte ist auch eng verknüpft mit Fragen um den öffentlichen Raum. Wer findet Platz im öffentlichen Raum, welche Verhaltens- und Lebensweisen werden akzeptiert und welche sollen unsichtbar gemacht werden? Welche Menschen und Lebensweisen gelten als stadtaufwertend, welche gelten als «Belästiung» oder «Störung der öffentlichen Ordnung»? Wie auch die ganze rassistische Berichterstattung zu Transitplätzen für Fahrende gezeigt hat, wird die Lebensweise von Menschen ohne festen Wohnsitz oder von Menschen, die einen grossen Teil ihrer Zeit im öffentlichen Raum verbringen, auf drastische Weise abgewertet und kriminalisiert.
https://www.woz.ch/-ad70
https://www.swissinfo.ch/ger/armut_das-bettelverbot-in-der-schweiz-trifft-die-schwaechsten/45778336
https://telebasel.ch/2020/08/18/gibt-es-mehr-bettelbanden-das-sagen-die-betroffenen/?channel=105100
Rassistischer Mord und drohende Nazis in Portugal
Portugal ist mit der Aktualität seiner kolonialen und faschistischen Vergangenheit konfrontiert. In wenigen Wochen kam es zu einem rassistischen Mord und zu Drohungen gegen Antirassist*innen, die von einer Neonazi-Gruppe ausgingen. Am 25. Juli erschoss ein Rassist den Schwarzen Schauspieler Bruno Candé in Lisabon auf offener Strasse. Während seiner Verhaftung sagte der 76-jährige weisse Mörder offenbar: „Ich habe in Angola viele Menschen wie ihn getötet“. Angola war bis 1974 eine portugiesische Kolonie. Noch 1953 schlug das portugiesische Militär antikoloniale Aufstände blutig nieder und brachte dabei gemäss Schätzungen rund 50.000 Menschen um. Erst nachdem die Nelkenrevolution in Portugal der faschistischen Diktatur ein Ende bereitete, gelang es den antikolonialen Bewegungen in Angola das Land zu befreien.
Seit Mitte August gibt zudem die faschistische Gruppe «Nationaler Widerstand» zu sprechen. In Drohmails fordern sie antirassistische Aktivist*innen und Parlamentarier*innen auf, Portugal innerhalb von 48 Stunden zu verlassen. Die E-Mail endet mit dem Satz: „Der August wird ein Monat des Kampfes gegen die Verräter der Nation und ihre Unterstützer sein“. Auch Aktivist*innen der Gruppe «SOS Racismo» erhielten diese Mails. Vergangenen Samstag demonstrierten die Nazis von „Nationaler Widerstand“ mit weissen Masken und Fackeln vor dem SOS Racismo Büro, um gegen „antinationalen Rassismus“ zu protestieren. SOS-Rassismus bezeichnete diese Zusammenrottung als „Ku-Klux-Klan-Parade“.
https://fr.euronews.com/2020/08/13/portugal-un-groupe-neo-nazi-menace-une-dizaine-de-personnes
https://www.laender-lexikon.de/Angola_Geschichte
https://fr.euronews.com/2020/08/13/portugal-un-groupe-neo-nazi-menace-une-dizaine-de-personnes
https://zap.aeiou.pt/parada-ku-klux-klan-sos-racismo-339944
Was passiert auf Flucht- und Migrationsrouten?
Italien verspricht weitere 11 Mio für tunesische Küstenwache
Eine EU-Delegation macht weiter Druck auf die tunesische Regierung, die Fluchtroute über die tunesische effektiver zu blockieren. Bei einem Treffen in Tunis wurden von der italienischen Regierung 11 Millionen Euro zugesichert. Diese sollen jedoch nicht in die Stärkung der tunesischen Wirtschaft fliessen, womit ansatzweise eine Fluchtursache bekämpft werden könnte. Die seit Jahren andauernde Wirtschaftskrise ist einer der Hauptgründe, warum vor allem junge Tunesier*innen nach Perspektiven in Europa suchen. Das Geld dient mal wieder der Stärkung der Festung Europa, konkret zur Instandhaltung und zum Kauf von Patrouillenbooten, der Ausbildung von Sicherheitskräften und dem Kauf eines Radar- und Informationssystems, das es der Küstenwache erlaubt, die Boote der Geflüchteten aufzuspüren, bevor sie internationale Gewässer erreichen. Von den 15.000 Menschen, die in diesem Jahr über das Mittelmeer in Italien angekommen sind, kamen 6.500 aus Tunesien. Dahin werden, nach einem coronabedingten Abschiebeunterbuch, seit dem 10. August wieder jede Woche 80 Menschen per Charterflug zurückgebracht.
https://www.infomigrants.net/en/post/26715/italy-and-tunisia-discuss-aid-border-patrols
https://www.repubblica.it/cronaca/2020/08/17/news/immigrazione_lamorgese_e_di_maio_in_tunisia_con_loro_anche_l_ue-264809620/
https://www.agensir.it/quotidiano/2020/8/18/migranti-forti-caritas-italia-tunisia-meglio-decreti-flussi-e-politiche-europee/
https://gds.it/articoli/cronaca/2020/08/04/migranti-il-governo-punta-sui-rimpatri-dal-10-agosto-i-voli-charter-per-la-tunisia-931c7575-c1d8-4027-b7d5-52331d195e21/
Deutsche Behörden sprechen Festhalteverfügung gegen Schiffe der Mare Liberum aus
Nächstes Kapitel „deutscher Staat gegen Seenotrettung“: Nachdem die Mare Liberum angekündigt hat, trotz blockierender neuer Schifffahrtsverordnung rauszufahren, wurde nun von den deutschen Behörden eine Festhalteverfügung gegen die beiden Schiffe „Mare Liberum“ und „Sebastian K“ verhängt. Der Verein bereitet bereits einen Eilantrag gegen diese Verfügung vor – und ist zuversichtlich, die Verordnung auf gerichtlichem Wege zu kippen. Bereits im März 2019 wies das Bundesministerium für Verkehr (BMVI) die Berufsgenossenschaft Verkehr an, für „im Rahmen der Seenotrettung im Mittelmeer eingesetzten Fahrzeuge“ Schiffssicherheitszeugnisse zu fordern, wie sie bisher nur in der gewerblichen Schifffahrt notwendig waren. Im April 2019 erhielt Mare Liberum für das gleichnamige Schiff eine Festhalteverfügung, da das geforderte Schiffssicherheitszeugnis nicht vorlag. Der Verein klagte daraufhin erfolgreich in zwei Instanzen. Als Konsequenz veränderte das BMVI die Schiffssicherheitsverordnung, um den Einsatz doch noch blockieren zu können. „Danach werden alle Schiffe, die für humanitäre oder ähnliche Zwecke eingesetzt werden, hinsichtlich Bauweise, Ausrüstung und Besatzung mit Anforderungen konfrontiert, die sonst nur die gewerbliche Berufsschifffahrt erfüllen muss. Je nach eingesetztem Bootstyp sind diese Anforderungen mit unverhältnismässig hohen Kosten im sechsstelligen Bereich verbunden oder objektiv gar nicht umsetzbar,“ heisst es beim Verein Mare Liberum. Über die Verordnungsänderung wurden die betroffene Vereine Mare Liberum, Mission Lifeline und Resqship im April dieses Jahres informiert.
https://mare-liberum.org/de/news/germany-detains-ships-of-human-rights-organization-mare-liberum/
Küstenwachen lassen in internationalen Gewässern mindestens 45 Menschen sterben
Am vergangenen Montag starben 45 Menschen, als ein Boot mit Geflüchteten vor der libyschen Küste sank. 37 Menschen wurden von lokalen Fischern aus Seenot geholt und befinden sich nun wieder in libyschen Internierungslagern. Das Schiff hatte am Samstag Kontakt zum Alarmphone und berichtete, dass sie einen defekten Motor, kein Wasser und keine Lebensmittel hätten. Das Alarmphone informierte unmittelbar die sogenannte libysche Küstenwache sowie die maltesischen und italienischen Behörden über den Notfall und die genaue Position des Bootes und erhielt wie unzählige Male zuvor keine Antwort. Bei der tunesischen Küstenwache hiess es, man arbeite am Wochenende nicht. Am Mittwoch bestätigte dann das UNHCR das bisher grösste Schiffsunglück vor Libyen in diesem Jahr. Wieder sind Menschen gestorben, denen aktiv fundamentalste Rechte verweigert wurden. Wieder macht sich die Rettungslücke bemerkbar, die durch staatliche Blockadeaktionen nicht mehr von zivilen Rettungsschiffen gefüllt wird. „Europa, das ist das Ergebnis deiner Politik – ein weiterer Massenmord im Mittelmeer“ (Alarmphone).
https://alarmphone.org/en/2020/08/17/shipwreck-off-libya-feared/?post_type_release_type=posthttps://www.neues-deutschland.de/artikel/1140683.seenotrettung-mindestens-tote-bei-untergang-von-fluechtlingsschiff-vor-libyen.html
Zwölf Menschen sterben auf der Flucht nach Melilla, Gran Canaria und Grossbritannien
In Melilla versuchten am Donnerstag etwa 300 Menschen den Grenzzaun zu überwinden, um spanischen Boden zu erreichen. Von den 30 Personen, denen dies gelang, ist einer nach dem Überklettern gestorben – nach Angaben der örtlichen Behörden an Herzversagen.
Ebenfalls spanischen Boden erreichen wollten Migrant*innen über die kanarischen Inseln. Auf der Suche nach einem anderen vermissten Boot entdeckte ein Flugzeug ein Boot mit 10 Leichen 150 km vor der Küste Gran Canarias. Seit August letzten Jahres sind mindestens 357 Menschen auf dieser Fluchtrouten ums Leben gekommen.
Ein weiteres Todesopfer gab es auf dem Ärmelkanal. Diesen versuchten zwei jugendliche Flüchtende mit einem Schlauchboot zu überqueren. Einer der Jugendlichen ertrank – seine Leiche wurde am Mittwochmorgen an der französischen Küste gefunden. Sein Name war Abdulfatah Hamdallah. Wieder nutzen die britischen Behörden dieses Ereignis für Hetze, statt an Lösungen zu arbeiten: Die britische Innenministerin Priti Patel nannte in London den Tod des Jugendlichen eine „brutale Erinnerung“ daran, dass Schleuser die Verwundbaren ausbeuteten. Man müsse gemeinsam mit Frankreich dem entgegenwirken“, betonte die Politikerin.
https://www.infomigrants.net/en/post/26751/sea-land-crossings-deadly-for-migrants-trying-to-enter-spanish-territory
https://de.euronews.com/2020/08/20/1-toter-bei-sturm-auf-spanische-enklave
https://apnews.com/c598291a0fc48554aba51a8a9a4a364e?fbclid=IwAR1J8jyTW0hXTFThrVPcbPWGz-zUqzxn0F2smRuxUQC6tX313mjve47uwdg
https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/aermelkanal–jugendlicher-tot-an-franzoesischer-kueste-aufgefunden-9383296.html
https://www.theguardian.com/uk-news/2020/aug/20/drowned-sudanese-teenager-identified-as-abdulfatah-hamdallah-wajdi
Bürgerwehr gegen Migrant*innen in Bosnien und neuer Grenzzaun in Serbien
In der bosnischen Stadt Velika Kladusa versammelten sich an mehreren Tagen Menschen aus der lokalen Bevölkerung. Sie fingen Busse ab, die sich der Stadt näherten, und kontrollierten die Passagiere auf Migrant*innen. Diejenigen, die sie fanden, wurden abgefangen und zurückgeschickt. Die Polizei war vor Ort, stoppte die Selbstjustizoperation aber nicht. Am Mittwochmorgen verboten die Behörden im Kanton Una-Sana, zu dem Velika Kladusa gehört, den Transport von Migrant*innen. Die Stimmung vor Ort ist seit Jahren angespannt, da keine politischen Lösungen für den Umgang mit den Menschen auf der Flucht gesucht wird. Von den etwa 7.000 Menschen, die sich aktuell im Kanton aufhalten, ist die Hälfte in offiziellen Lagern untergebracht. Die anderen Menschen kommen in provisorischen, selbst organisierten Schlafplätzen unter. Sie berichteten in der vergangenen Woche von gewalttätigen Übergriffen aus der lokalen Bevölkerung, der Notwendigkeit einer Nachtwache, von einem angezündeten Zelt. Anfang des Monats wurde von den bosnischen Behörden mal wieder eine inoffizielle Siedlung geräumt, was hunderte Menschen ohne Perspektive obdachlos machte. Die Liste der Gewalt, die die Menschen in dieser Region erleben müssen, lässt sich lang fortsetzen und wird monatlich unter anderem im Border Violence Report Balkan dokumentiert.
Derweil haben die serbischen Behörden mit dem Bau eines Zauns an der Grenze zu Nordmazedonien begonnen. Dieser diene dazu, die «nationale Grenze zu schliessen», um die «Ausbreitung des neuartigen Coronavirus» im Falle von «illegalen Massenüberquerungen» zu verhindern, heisst es auf der Webseite des Finanzministeriums. Weitere Details beispielsweise zur Länge und den Kosten des Zauns wurden noch nicht bekannt.
https://www.derstandard.de/story/2000119458789/serbien-baut-zaun-an-grenze-zu-nordmazedonienhttps://www.nau.ch/politik/international/serbiens-regierung-aussert-sich-nicht-zu-zaun-bau-an-grenze-zu-nordmazedonien-65766338https://balkaninsight.com/2020/08/19/on-bosnias-border-with-croatia-tensions-build-over-migrants-refugees/
Rechtsextreme greifen Geflüchtete und NGOs auf Lesbos an und legen Feuer
Am Donnerstag wurde vom griechischen Migrationsminister Mitarakis eine neues Covid-Center auf Lesbos eingeweiht, welches die niederländische Regierung gestiftet hat. Ein hohes Polizeiaufgebot war vor Ort und drängte Geflüchtete zurück und verhinderte ihre Proteste. Hingegen kam es zu gewalttätigen Protesten von über 200 Menschen aus der lokalen Bevölkerung und Attacken von Faschist*innen. Diese griffen Geflüchtete, NGO-Mitarbeiter*innen, Journalist*innen und Infrastruktur unter anderem mit Steinwürfen an. Ausserhalb der Klinik von Médecins Sans Frontières für Kinder und Schwangere wurde ein Feuer entzündet, dass von den Mitarbeitenden gelöscht werden musste, während diese angeschrien, bedroht und die Klinik mit Steinen beworfen wurde. In der Einrichtung waren zu diesem Zeitpunkt etwa 50 Mitarbeitende damit beschäftigt, Frauen und Kinder aus dem Lager Moria zu behandeln. Faschist*innen drangen auch ins Lager ein und griffen dort, ungehindert von der anwesenden Polizei, Geflüchtete an und zerstörten Zelte. In der Umgebung des Lagers wurde Feuer gelegt. Die Gewalt ging laut Polizeiangaben von etwa 30-40 Personen aus. Es ist ein weiteres Mal eine Eskalation, die zeigt, wie wenig Schutz Menschen auch mitten in Europa finden, die auf der Flucht sind. In den sozialen Medien berichten Geflüchtete täglich von der unerträglichen Situation im Lager, aktuell in brütender Hitze mit noch immer über 13.000 Menschen in einem Camp, das für knapp 3.000 Menschen ausgelegt ist.
https://www.msf.ch/de/neueste-beitraege/pressemitteilung/griechenland-aerzte-ohne-grenzen-schockiert-ueber-angriff-auf?fbclid=IwAR1cxQbQzcrzxkIZlVSpT8qy7q9sAPkrcvfWJcFBgE3dQ4mayX_hsywf7dU
https://www.msf.ch/de/neueste-beitraege/pressemitteilung/griechenland-aerzte-ohne-grenzen-schockiert-ueber-angriff-auf?fbclid=IwAR1cxQbQzcrzxkIZlVSpT8qy7q9sAPkrcvfWJcFBgE3dQ4mayX_hsywf7duhttps://www.facebook.com/europeansforhumanity/videos/316188986363117
Was geht ab beim Staat?
„Entwicklungszusammenarbeit“ oder wenn der globale Norden den globalen Süden auffordert, Klimaschutz zu betreiben
Der Fokus der schweizer Entwicklungszusammenarbeit wird immer absurder. Dem neusten Strategiebericht ist zu entnehmen, dass die Bekämpfung des Klimawandels und dessen Auswirkungen einer der vier thematischen Schwerpunkte der nächsten Jahre sein soll. Eigentlich eine gute Idee, wenn wir bedenken, dass die Folgen des Klimawandels gerade im globalen Süden verheerende Auswirkungen haben. Aufgrund von Überschwemmungen, Erosion, Bodenverseuchung etc. wird Menschen regelmässig ihre Lebensgrundlage entzogen und die Folgen des Klimawandels stellen dadurch eine der Hauptfluchtursachen dar. Gleichwohl kennt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 noch keine Umwelt- bzw. Klimaflucht; der völkerrechtliche Status dieser Menschen ist bis heute völlig ungeklärt. Für die Betroffenen gibt es daher weder juristischen Schutz noch zuständige Institutionen.
Hauptsächlich verantwortlich für die Vorantreibung des Klimawandels sind die Lebensweise der Menschen im globalen Norden sowie die dort angesiedelten Grosskonzerne. Der globale Norden verbraucht ungefähr vier Fünftel der weltweiten Ressourcen und verursacht 80 Prozent der klimaschädlichen Emissionen. Dies vor allem deshalb, weil immer mehr Güter importiert werden, deren Produktion im Ausland die Umwelt belastet. Die Folgen sind vor allem im globalen Süden zu spüren, denn oft liegen die umweltschädigenden Produktionsstätten von multinationalen Konzernen im globalen Süden und beuten diesen zum Zwecke der Profitsteigerung im globalen Norden aus. Die Schweiz produziert beispielsweise drei Viertel ihrer Umweltbelastung im Ausland.
Fazit: Die Folgen des Klimawandels als Schwerpunkt der neuen Strategie zur Entwicklungszusammenarbeit zu nehmen, ist keine schlechte Idee. Bei sich selber anzufangen, bevor man anderen erklärt, wie sie es zu machen haben, scheint dagegen nicht das Motto der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (DEZA) zu sein. Denn dem Stategiepapier ist zu entnehmen, dass der Fokus der schweizer Entwicklungshilfe nicht etwa darauf liegt, die genannten Hauptursachen des Klimawandels zu bekämpfen. Stattdessen will sie die Staaten und Menschen im globalen Süden zu einer klimafreundlicheren Lebensweise drängen. Der Bundesrat hat letzte Woche entschieden, den Grünen Klimafonds mit insgesamt 150 Mio. USD zu unterstützen. In seiner Selbstbeschreibung «unterstützt der globale Klimafonds Entwicklungsländer bei der Umsetzung der Klimakonvention der Vereinten Nationen. Er finanziert in diesen Ländern Massnahmen zur Minderung von Treibhausgasemissionen und zur Anpassung an den Klimawandel.» Einer der hauptverantwortlichen Staaten für den Klimawandel gibt jetzt also gerade 150 Mio. USD aus, damit die Länder Klimaschutz machen, die hauptsächlich vom Klimawandel gebeutelt werden, jedoch nur sehr wenig dazu beitragen. Wie wäre es, wenn die 150 Mio. USD dafür verwendet würden, den Klimaschutz in der Schweiz und allgemein im globalen Norden voranzutreiben? Im weiteren Beschrieb des Grünen Klimafonds heisst es, «Der GCF leistet einen zentralen Beitrag zur Förderung einer emissionsarmen und klimaresilienten Entwicklung in Ländern niedrigen Einkommens. Der GCF investiert unter anderem in klimakompatible Städte, emissionsarme und widerstandsfähige Landwirtschaft, den Schutz der Wälder, den Umbau der Energieproduktion und den Zugang zu sauberen Energiequellen. Dadurch werden Treibhausgasemissionen verringert, die Lebensgrundlagen der Menschen in den Partnerländern verbessert sowie eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung gefördert. Bis heute hat der Fonds in über 130 Projekte in mehr als 100 Ländern investiert, die über 350 Millionen Menschen zugutekommen werden.»
Ein Grossteil all dieser Projekte ist nur notwendig, weil sich multinationale Konzerne herzlich wenig für Klimaschutz interessieren und beispielsweise durch den Rohstoffabbau ganze Regionen zerstören. Konsequenterweise würden diese Konzerne in ihrer Macht eingeschränkt, statt sie weiter ausbeuten zu lassen und anschliessend den Menschen im globalen Süden erklären zu gehen, wie sie diese Misere nun wieder gradbiegen können oder ihnen für ein paar tausend Franken irgendwo einen Brunnen zu bauen und sich als gute Menschen darzustellen. Ausgerechnet mit diesen hauptverantwortlichen Parteien, also mit der Privatwirtschaft, will die DEZA aber zum Zwecke des Klimaschutzes stärker zusammenarbeiten.
Abschliessend schreibt die DEZA im Strategiepapier: «Die Schweiz stellt mit diesem Beitrag neben den finanziellen Mitteln auch Fachwissen und technische Lösungen für den Klimaschutz und Anpassungsmassnahmen in Ländern niedrigen Einkommens bereit.» Wie wärs, dieses «Fachwissen» mal in der Schweiz anzuwenden, statt paternalistisch den anderen erklären zu wollen, wie Klimaschutz funktioniert?
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80116.html
Was ist aufgefallen?
Neuer Bericht zum Accountability Regime von Frontex
Unabhängig davon, dass antira.org der momentanen europäischen Migrationspolitik grundsätzlich widersprecht und damit einhergehend einer europäischen Grenz- und Küstenwache ihre Daseinsberechtigung absprecht, gibt es auch Lücken innerhalb der herkömmlichen Logik, von der grosse und machtvolle Institutionen, wie Frontex, in einem kapitalistischen System durchdrungen sind. Mit diesen Lücken setzen sich Lena Karamanidou und Bernd Kasparek in dem kürzlich erschienenen wissenschaftlichen Paper ‚Fundamental Rights, Accountability and Transparency in European Governance of Migration: The Case of the European Border and Coast Guard Agency FRONTEX’ auseinander. Wir versuchen die hundert Seiten einigermassen zusammenzufassen.
Eines der grundsätzlichen Probleme von Frontex sind fehlende unabhängige Kontrollmechanismen. Die Möglichkeiten der von Frontex selbst eingeführten Instanzen sind aus verschiedenen anderen Gründen, ausser ihrer fehlenden Unabhängigkeit, limitiert: Einerseits aufgrund fehlender finanzieller und zeitlicher Möglichkeiten, anderseits aufgrund fehlender Transparenz und unzulänglich oder nicht zeitnah bereitgestellter Informationen oder Einblicke in laufende Operationen. Zusätzlich sind die meisten Kontrollinstanzen rein beratender Art und das Management Board (MB) bzw. der*die Executive Director (ED) von Frontex müssen den Empfehlungen keine Folge leisten. Diese Machtverteilung ist fragwürdig, da die Entscheidungsmacht einzig und allein dem*der ED und dem MB obliegt. Die grundsätzliche Aufteilung der Verantwortbarkeit von Operationen, in denen häufig nicht eindeutig ist, ob Frontex-Offizier*innen oder Nationalstaats-Offizier*innen verantwortlich sind, ist ein weiteres grundlegendes Problem. Hinzu kommen Ungenauigkeiten in Formulierungen und in der juristischen Rahmung, die Schlupflöcher bieten.
Frontex wurde 2004 in Warschau gegründet. Der Name ist ein Akronym von frz. frontières extèrieures, also zu deutsch Aussengrenzen. Die Namenswahl ist insofern interessant, als dass die Aussengrenzen der EU damit so konzeptualisiert werden, als gehörten sie noch zur EU. Nachdem seit der Gründung im Jahr 2004 wiederholt Ressourcen aufgestockt und Zuständigkeitsbefugnisse verändert und erweitert wurden, und nachdem diese Veränderungen und Erweiterungen im Jahr 2019 erheblich waren (10.000 neue Offizier*innen bis zum Jahr 2027 etc.), bleiben die Fragen zur Verantwortlichkeit von Frontex nach wie vor weitgehend mangelhaft beantwortet. Die sechs seit 2011 geschaffenen Kontrollinstanzen, die die Verletzung fundamentaler Menschenrechte während Frontex-Operationen verhindern und überwachen sollen, erweisen sich als nicht funktionsfähig. Sie fungieren alle Frontex-Intern, Personen werden entweder von Frontex angestellt oder von Frontex ausgesucht, sind also alles andere als unabhängig.
1. Das Consultative Forum (CF) besteht aus fünfzehn Organisationen, teilweise EU-Organisationen, teilweise zwischenstaatlichen Organisationen und teilweise NGO’s. Die meisten von ihnen sind gross und verfügen über finanzielle Mittel. Über die Zusammensetzung des CF entscheidet das MB. Als sich z.B. die NGO SeaWatch bewarb, wurde sie mit der Begründung abgelehnt, ihr Wissen und ihre Expertise stimme nicht mit den Kriterien überein, die eine Teilnahme am CF bedürfe. Wenn ausgewählt kommt das CF dreimal im Jahr zusammen und schreibt Empfehlungen an den*die Executive Director (ED) und das Management Board (MB) von Frontex. Diesen Empfehlungen muss jedoch nicht Folge geleistet werden. Oftmals wird sich anderweitig entscheiden, ohne Folgen befürchten zu müssen. Auch Zugang zu Informationen gestaltet sich häufig schwierig. Dokumente werden von Frontex nicht zeitnah oder nur in redigierter Form zur Verfügung gestellt.
2. Die zweite Kontrollinstanz ist der*die Fundamental Rights Officer (FRO). Diese Instanz ist ebenfalls beratender Art und auch ihre Empfehlungen müssen der*die ED und das MB nicht befolgen. Die Person, die den FRO-Posten besetzt, ist von Frontex angestellt, was eine hohe eine spricht Empfehlungen aus, wie Menschenrechte in einer zukünftigen Operation wohl am besten eingehalten werden können oder evaluiert Strategien, wie Menschenrechte in vorangegangenen Operationen besser hätten eingehalten werden können. Gleichzeitig hat sie auch eine überwachende Funktion. Sie kann sich von Operationen einen Einblick vor Ort verschaffen. Und da zwei weitere Kontrollinstanzen der Verantwortung des*der FRO obliegen, hat sie einen Überblick über die eingegangenen Beschwerden, sammelt Informationen bezüglich Menschenrechts-Verletzungen während Frontex-Operationen und kann seit 2019 auch eigenständig Untersuchungen in Frontex-Aktivitäten einleiten.
Sowohl das CF als auch der*die FRO werden nicht unbedingt pro-aktiv um Rat gebeten, gleichzeitig hatte der*die FRO bis 2019 nicht einmal das Recht, ungefragt seine*ihre Ansichten zu teilen.
3. Der Individual Complaints Mechanism besteht seit 2016 und liegt in der Verantwortung des FRO. Die Beschwerde ist entweder schriftlich an Frontex zu richten oder funktioniert über ein Online-Formular. Der*die FRO entscheidet erst einmal darüber, ob die Beschwerde ‚zulässig‘ erscheint. Wenn dies der Fall ist, wird die Beschwerde weitergeleitet. Ist diese gegen Offizier*innen der jeweiligen Länder gerichtet, an die Behörden vor Ort, richtet sie sich gegen Frontex-Offizier*innen, an den ED von Frontex. Die Agentur stellt also Untersuchungen ‚in ihren eigenen Reihen‘ an, was ähnlich wie in polizeilichen Strukturen eine zurecht stark kritisierte Praxis ist. Der*die FRO ist daraufhin dazu verpflichtet sowohl bei den zuständigen Staatsorganen, als auch bei dem*der ED von Frontex nachzuhaken, was die Beschwerde für Folgen hatte, hat jedoch keine weiteren Kompetenzen. Zudem können nur diejenigen, sich beschweren, welche von Menschenrechtsverletzungen selbst betroffen waren. Somit liegt einerseits die Beweislast auf den Betroffenen und andererseits können Beobachtungen von Menschenrechtsverletzungen von dritten nicht berücksichtigt werden. Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführer*innen von den Entscheidungen des*der FRO’s bezüglich der ‚Zulänglichkeit’ einer Beschwerde abhängig sind und diese nicht anfechten können. Zudem bleibt das Instrument, wie der Name schon sagt, individuell und scheitert daran, systematische Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Und letztlich bleibt vor allem fraglich, wie die zuständigen Staatsorgane oder der*die ED von Frontex mit den Beschwerden umgehen werden, da es keine weiteren Bestimmungen hierzu gibt. So sind auch die registrierten Beschwerden des Individual Complaint Mechanisms sehr viel niedriger, als jene Menschenrechtsverletzungen, die extern von NGOs registriert werden.
4. Der Serious Incident Report (SIR) ist eine Instanz, die Offizier*innen dazu anhalten soll, Menschenrechtsverletzung während Operationen an das sog. Frontex Situation Center zu übermitteln. Letztlich bedeutet es also, sich selbst oder ‚Kolleg*innen‘ intern anzuzeigen, wobei noch die Befehlskette eingehalten wird. Frontex oder die jeweils zuständigen staatlichen Behörden treffen dann aus ihrer Sicht nötige Entscheidungen zu möglichen Konsequenzen. Das CF empfahl 2018, den SIR wegen fehlender eingehender Meldungen zu überarbeiten.
5. Die Forced Return Monitors sind Personen, die von den Nationalstaaten vorgeschlagen und von Frontex angestellt werden, um Abschiebungen und Push-Backs zu dokumentieren. Die gesammelten Daten werden dann Frontex-Intern an den*die ED, den*die FRO und die staatlichen Behörden weitergeleitet.
6. Die Fundamental Rights Monitors (FRM) sind Personen, die von dem*der FRO ausgewählt werden, und ähnlich wie der*die FRO Frontex-Operationen in Hinsicht auf das Einhalten von Menschrechten vorbereiten und evaluieren und im weitesten Sinne Personal schulen sollen. Sie können auch Besuche vor Ort vornehmen und sollen dem*der FRO berichten, wenn sie vermuten, dass Menschenrechtsverletzungen stattfinden oder stattgefunden haben.
Bis 2016 waren Frontex-Offizier*innen juristisch nicht belangbar, da offiziell die Verantwortung für Operationen bei den Nationalstaaten lag und Frontex nur eine ‚unterstützende und koordinierende’ Aufgabe innehatte. Wiederholte Kritik daran, dass Menschenrechtsverletzungen jedoch während Operationen stattfanden, die von Frontex ‚koordiniert‘ wurden, führte schliesslich dazu, dass Frontex eine geteilte Verantwortlichkeit anerkannte. Hauptsächlich verbleibt diese jedoch bei den Nationalstaaten und ihren Behörden, und in der Praxis ist jene geteilte Verantwortung schwierig zu bewerten. Wenn eine Operation, die von Frontex geplant, aber offiziell vom jeweiligen Nationalstaat und ihren ‚Grenzschutz‘-Organen ausgeführt wird, zu Menschenrechtsverletzungen führt, wer sind dann die Verantwortlichen? Vor allem wenn den nationalstaatlichen Grenz-Offizier*innen ‚Unterstützung‘ in Form von Frontex-Personal und -Kapital zukommt? Und wie sieht es mit der Rechenschaftspflicht von Frontex-Offizier*innen aus, wenn sie z.B. einen Push-Back nicht selber durchführen, aber mit ansehen? Befehlsketten und Aufgabenverteilung innerhalb der Operationspläne, die Verantwortung deutlicher aufschlüsseln könnten, sind nicht öffentlich einsehbar und somit bleibt die Verantwortung häufig uneindeutig.
Zusätzlich wird die Belangbarkeit von Frontex-Offizier*innen und anderen Teilnehmenden in Frontex-Operationen durch Unklarheiten in Formulierungen oder durch fehlende Abmachungen erschwert. Durch eine vage Ausdrucksweise ist Frontex z.B. schriftlich momentan nur dazu verpflichtet, an den EU-Aussengrenzen Menschenrechte zu bewahren. Was bei Einsätzen an Grenzen innerhalb der EU verpflichtend ist, ist demnach nicht genau festgehalten. Auch zu Einsätzen in Drittstaaten ausserhalb der EU gibt es keine konkreten Vereinbarungen. Genausowenig zu den Verpflichtungen von Angestellten privater Firmen, die Frontex z.B. für Transporte einsetzt. Dass Frontex-Angestellte gesetzlich angestellt sind, ist es zudem äusserst schwierig, sie juristisch zu belangen, da sie vor keinen nationalen Gerichtshof gestellt werden können. Da sie von der EU angestellt sind, können sie einzig und allein vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EUGH) angeklagt werden, auch nicht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Schwelle bis zum EUGH zu gelangen ist jedoch sehr hoch und setzt Zugang zu Informationen und juristischer Beratung voraus, sowie dementsprechend hohe zeitliche und finanzielle Ressourcen. Das Modell der EU baut nämlich darauf auf, dass EU-Behörden, im Gegensatz zu Frontex, keine exekutiven Kräfte besitzen. Im Gegensatz dazu ist die weiterhin vorherrschende Praxis von Frontex jegliche Verantwortung auf nationalstaatliche Ebene abzuwälzen und Menschrechtsverletzungen weitgehend zu ignorieren. Dass Frontex, dessen Hauptziel sog. ‚Border Management‘ ist, also ‚unautorisierten Eintritt in die EU‘ zu verhindern, gleichzeitig Menschenrechte einhalten soll, erscheint ohnehin unvereinbar.
https://ffm-online.org/neuer-bericht-zum-accountability-regime-von-frontex/
Über den Umgang mit dem rassistischen Wandbild des Schulhaus Wylergut
Im Schulhaus Wylergut hängt ein Wandbild mit dem ABC, bestehend aus Bildern von Pflanzen und Tieren. Und drei Menschen und zwar beim Buchstaben N, I und C. Sie sind stereotypisiert und rassistisch dargestellt und durch die Buchstaben fremdbezeichnet. Das Wandbild stammt von den Künstlern Eugen Jordi und Emil Zbinden und prangt seit 1949 im Schulhaus Wylergut.
Im Frühling 2019 entstand wegen antirassistischer Kritik endlich eine öffentliche Debatte über das Wandbild und die Stadt Bern reagiert darauf, in dem sie einen Wettbewerb ausschrieb bei dem sich unterschiedlich zusammengesetzte Expert*innen (aus der Kunst, dem Antirassismusbereich und der Pädagogik) darüber Gedanken machen sollten, wie mit dem Wandbild zu verfahren sei. In der Ausschreibung steht, dass der Wettbewerb zum Ziel habe, «das implizit rassistisch geprägte Kunstwerk zeitgenössisch zu verorten und zu diskutieren». Letzte Woche präsentierten fünf Teams der Wettbewerbsjury ihre Projektideen in einem öffentlichen Hearing im Kornhausforum. Bis Oktober 2020 soll sich so das Siegerprojekt herauskristallisieren.
Alle Projekte suchen einen dekolonialisierenden Umgang mit dem rassistischen Wandbild. Bei allen Projekten – teilweise mehr oder weniger stark – geht es um die Etablierung mehr oder weniger stark gestalteter pädagogischer Räume. Darin soll ein konstruktiver Umgang mit der kolonialen Vergangenheit möglich werden. Bei manchen Projekten findet diese Auseinandersetzung im Schulhaus selber statt, bei manchen soll das Wandbild entfernt werden, z.B. ins historische Museum in Bern. Was auffällt beim Lesen der Projektbeschriebe ist der aufklärerische Aspekt: Eine Auseinandersetzung wird zu weniger Rassismus führen. Dem ist nicht per se zu widersprechen. Jedoch zeigt sich darin der Anspruch, es allen Seiten Recht zu machen, sich dialogisch auseinanderzusetzen und «gemeinsam» das Ziel einer weniger rassistischen Welt zu erreichen. Es stellt sich die Frage, ob ein antirassistischer Prozess so stark gerahmt stattfinden kann und soll. Rassismus zu verhindern ist auch immer eine kämpferische Praxis und nicht nur ein Lernprozess in gesichertem Rahmen. Deshalb ist die bisherige Antwort – dass die Buchstaben in einer Nacht und Nebelaktion von einer unbekannten Gruppe einfach übermalt wurden – die klarste. Darauf hat übrigens niemand Bezug genommen – weder die Jury noch die Projekte.
https://www.bernerzeitung.ch/muss-das-rassistische-alphabet-weg-875999900838)
https://www.bern.ch/themen/kultur/kunst-im-offentlichen-raum/wandbild-wylergut
Deutschland: Ohne richterlichen Beschluss sind Verhaftungen im Asylcamp zwecks Abschiebung illegal
Vielerorts ist es eine gängige Praxis, dass bei Abschiebungen (geflüchtete) Migrant*innen mitten in der Nacht im Asylcamp verhaftet werden. Dabei liegt meist kein richterlicher Beschluss vor. Ein administrativer Behördenentscheid reicht aus für diese Gewalt. Ein irakisches Ehepaar und ihre zwei kleinen Kinder haben 2019 zusammen mit der kirchlichen Hilfestelle fluchtpunkt gegen dieses Vorgehen geklagt und recht bekommen: Verhaftungen im Asylcamp zwecks Abschiebungen sind ohne richterlichen Beschluss illegal, hat das Hamburger Oberverwaltungsgericht entschieden. Das Gericht begründete das Urteil damit, dass auch ein Asylcamp als Wohnung zu betrachten sei. Diese stehe unter dem Schutz des Grundgesetzes. Wollen Behörden Menschen aus ihrer Wohnung holen, muss nach Artikel 13 des Grundgesetzes in Deutschland ein richterlicher Beschluss vorliegen.
Auch in der Schweiz ist diese Praxis gängig. Ein Behördenentscheid reicht aus, damit Geflüchtete nicht das gleiche Grundrecht auf Privatsphäre geniessen können, wie andere Menschen. Dies ist rassistisch.
https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Hamburger-Gericht-stellt-Abschiebepraxis-infrage,abschiebung916.html
Was nun?
IsolationWatch: Aufruf – Call – Appel
Aufruf zum Sammeln von Infos über Isolationsstrukturen
Wir versuchen zurzeit eine Website zu gestalten, die einen Überblick über das Schweizer Migrationsregime (Camps, Ausschaffungsknäste), anhand einer interaktiven Karte verschaffen soll. Konkret geht es in einem ersten Schritt darum, sämtliche Asylcamps und Ausschaffungsknäste der Schweiz auf einer Karte abzubilden. Dafür brauchen wir Hilfe.
https://barrikade.info/article/3779
Wo gabs Widerstand?
Stopp Isolation: „Wir geben nicht auf!“
Die Gruppe #stopisolation zog am Montag 17 August um 14:00 Uhr vor den Migrationsdienst des Kantons Bern in Ostermundigen. Durch den erneuten Protest machen sie deutlich, dass die bisherigen Forderungen (1) Aufenthaltsbewilligungen und eine verbesserte Härtefallpraxis; (2) Keine Isolation in Rückkehrzentren; (3) Keine ständigen Kontrollen, Bussen und Haftstrafen; (4) Respekt, Würde und Gleichberechtigung bestehen bleiben.
In einem neuen Brief an die berner Behörden fordert die Gruppe, „die Härtefallkriterien des Kantons offenzulegen und mitzuteilen, wieviele Gesuche der Kanton in den letzten fünf Jahren mit welchen Begründungen ans SEM weitergeleitet hat oder eben nicht.“
Betreffend der Freiheitsbeschränkung in den Rückkehrzentren hatte der Kanton der Gruppe gesagt, „das neue Gesetz steht im Einklang mit den bundesrechtlichen und verfassungsmässigen Vorgaben. Die Demokratischen Jurist*innen Bern kritisieren jedoch in einer Stellungnahme (vgl. https://www.djs-jds.ch/de/be-2/aktuell-be) die Nothilferegeln im Kanton Bern seien verfassungswidrig. Sie beruhe auf ungenügenden gesetzlichenGrundlagen und verstosse gegen die Gewaltenteilung. Es komme zu einer Verletzung des Rechts auf Hilfe in Notlagen sowie mehrerer Freiheitsrechte. Um uns ein genaues Bild zu machen, fordert Stopp Isolation den Kanton auf zu diesen Vorwürfen Stellung zu nehmen.
Schliesslich kämpft Stopp Isolation auch für den Anspruch auf Gleichberechtigung und schreibt im selben Brief an den Kanton: „Die Frauen*bewegung und die Black-Lives-Matter-Bewegung haben es einmal mehr klargestellt: Alle Menschen sind gleichwertig. Wir fühlen uns aber im Kanton Bern wie Menschen zweiter Klasse. Der Kanton Bern ist frei, dies zu ändern: Warum werden wir im Vergleich zu Bürger*innen der EU diskriminiert? Sie erhalten eine Aufenthaltsbewilligung, wenn sie einen Job finden. Und warum werden wir anders bestraft als Schweizer*innen? Für Schweizer*innen gilt, dass niemand zweimal für dieselbe Tat gebüsst werden darf. Für uns jedoch gilt der «illegale Aufenthalt» als Dauerdelikt. Wir erhalten immer wieder neue Bussen und können insgesamt bis zu einem Jahr weggesperrt werden. Was können Sie unternehmen, um diese Ungleichbehandlung zu vermeiden?“
https://migrant-solidarity-network.ch/2020/08/18/neuer-brief-der-gruppe-stopp-isolation-an-den-berner-migrationdienst/
https://www.lucify.ch/2020/08/19/wir-geben-nicht-auf/
Was steht an?
Sende deinen Veranstaltungshinweis an antira@immerda.ch.
Basel Special – «Volunteer» mit anschliessender Q&A
25.08.20 I 20.00 Uhr I Neues Kino Basel
Das Gässli Film Festival präsentiert gemeinsam mit Balimage den Dokumentarfilm «Volunteer». Die Regieführenden Anna Thommen und Lorenz Nufer erhielten dafür 2019 den Basler Filmpreis. Den Abend werden wir in einem anschliessenden Q&A mit Lorenz Nufer abrunden.https://www.facebook.com/events/277228613575321/
Bern kolonial. Launch Online-Stadtplan
29.08.20 I 14.00 Uhr I Kunstmuseum Bern
Die Stiftung Cooperaxion hat eine interaktive Stadtkarte von Bern entwickelt, mit der die Spuren des Kolonialismus in Bern sichtbar gemacht werden. Im Zusammenhang mit der verstärkten Beschäftigung mit Rassismus in der Schweiz wird das Projekt von Cooperaxion im Kunstmuseum Bern der Öffentlichkeit vorgestellt.
https://www.kunstmuseumbern.ch/sehen/heute/965-bern-kolonial-launch-online-stadtplan-120.html
Aktionstag gegen Arbeit auf Abruf
29.08.20 I ab 11.00 Uhr I Reitschule und Casinoplatz
Am 29. August veranstaltet die Gwerkschaft FAU zusammen mit anderen Gruppen einen Aktionstag gegen Arbeit auf Abruf. Austausch ab 11.00 Uhr in der Reitschule Bern, anschliessend gemeinsames Mittagessen und um 14.00 Uhr Kundgebung auf dem Casinoplatz.
https://www.faubern.ch/index.php/calendar/aktionstag-gegen-arbeit-auf-abruf.html
Enough. Aktionstage zu Migrationskämpfen und antirassistischem Widerstand
29. – 30.08.20 I Park Platz Zürich
Wir schaffen Raum, um antirassistische Intitativen und den Widerstand gegen das Migrationssystem sichtbar zu machen. Migration und Rassismus sind nicht dasselbe: es sind zwei Phänomene mit unterschiedlichen Auswirkungen, die sich aber vielfach überschneiden. Beide beruhen auf post- und neokolonialen Denkmustern, die reale Auswirkungen haben: im europäischen Grenzregime, genauso wie im Alltagsrassismus in der Schweiz oder bei rassistischer Polizeigewalt weltweit. Antirassistischer Widerstand und Migrationskämpfe haben viele Gesichter. Diese wollen wir zeigen: verschiedene Themen neben sich stehen lassen und unterschiedliche Ansätze einzelner Initiativen und Netzwerke für sich sprechen lassen.
https://aktionstage-enough.ch
„Antirassistische Summer School“
01. – 09.09.20 I online
Embipoc – Empowerment von Black, Indigenous und People of Color veranstalten eine offene, antirassistische Summer Scool mit Vorträgen zu verschiedenen Formen des Rassismus, kritischem Weisssein und rassistischen Strukturen an Hochschulen. Anmeldung über embipoc@gmail.com.
https://www.facebook.com/Embipoc/photos/a.2437055696317955/3274603885896461
Demo: Jetzt! Ein ökologischer und solidarischer Neustart
05.09.20 I 15.00 Uhr I Bahnhofplatz Luzern
Packen wir jetzt die Zukunft an! Nach der Coronakrise zurück zum Status Quo zu kehren ist keine Option. Denn die Normalität vor der Krise war auch eine Krise. Gemeinsam können wir die Weichen stellen, damit alle die Krise überstehen und die Gesellschaft künftig ihre soziale und ökologische Verantwortung wahrnimmt.
https://www.facebook.com/events/374246013566341
China and the Left – Critical Analysis & Grassroots Activism
05.-26.09.20 I 14.00 Uhr I online
This online discussion series brings together activists and researchers with a left-wing perspective in order to shed more light on China’s changed role in the world as well as on the social conflicts and mobilizations in the country. It tries to instigate more direct exchanges and solidarity at the grassroots level between overseas initiatives and social struggles and activists in China. In doing so, it also aims to undermine the rising tide of anti-Chinese racism in countries of the Global North that governments and right-wing players stir up to promote their own economic and political nationalism.
https://www.gongchao.org/2020/08/17/online-discussion-series-china-and-the-left/
Lesens -/Hörens -/Sehenswert
«Wir können wirklich etwas verändern»
Was bewegt Menschen aus der antirassistischen Bewegung in Zeiten von «Black Lives Matter»? Surprise hat vier Aktivist*innen zum Gespräch eingeladen und ausnahmsweise einfach nur zugehört.
https://www.surprise.ngo/surprise/ueber-uns/news/news/wir-koennen-wirklich-etwas-veraendern
Zürcher Geschichtsstreit: Bührle wird beschönigt
Stadt und Kanton Zürich wollten die Geschichte von Naziwaffenhändler und Kunstsammler Emil Georg Bührle unabhängig aufarbeiten lassen. Dann entdeckte ein Forscher Verharmlosungen im Text. Ein Geschichtskrimi um Antisemitismus, Standortmarketing und die Wissenschaftsfreiheit.
https://www.woz.ch/2034/zuercher-geschichtsstreit/buehrle-wird-beschoenigt
https://www.woz.ch/2034/sammlung-emil-g-buehrle/durchs-hoellentor-ins-kunsthaus
Entkolonisieren
Von Algerien über Indien bis Vietnam erzählt ARTE in drei Teilen die Geschichte der Dekolonisierung.
https://www.arte.tv/de/videos/086124-001-A/entkolonisieren-1-3/
Racial Profiling: Politiker sehen in Satirevideo Verunglimpfung der Polizei
Ein Satireclip des öffentlich-rechtlichen Angebots Funk zum Thema Rassismus in der Polizei hat für Empörung unter Innenpolitikern gesorgt. Der Autor verteidigt den Film.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-08/racial-profiling-video-aurel-mertz-funk-satire-polizeigewalt
Das Völkerrecht gilt auch für deutsche Reeder
Das Ausschiffen von geretteten Geflüchteten in Libyen ist nach deutschen Gesetzbüchern strafbar, auch für Handelsschiffe. Dies belegt ein Bundestags-Gutachten. Das Auswärtige Amt und die Staatsanwaltschaften verschleppen jedoch die Verfolgung von Kapitänen und Schiffseignern
https://www.heise.de/tp/features/Das-Voelkerrecht-gilt-auch-fuer-deutsche-Reeder-4874338.html
Legal Centre Lesvos – Monthly Report
In the past month, Greek authorities have extended the discriminatory lockdown on migrant camps for a seventh time, depriving residents of Moria and Kara Tepe refugee camps in Lesvos of respite outside the camps or access to basic services – and further paving the way towards closed camps, for which the European Commission has approved €130 million funding.
http://legalcentrelesvos.org/2020/08/18/despite-the-discriminatory-lockdown-on-camps-and-hostility-towards-migrants-and-those-in-solidarity-with-them-resistance-grows/?_thumbnail_id=1473