Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++SCHWEIZ
augenauf-Bulletin Nr. 105 Juli 2020:
– Corona: In der Krise blüht die Repression ab S. 4
– Gewalt im BAZ Bässlergut S. 12
– Ausschaffungs-flüge: Mit Zwang, aber ohne Ärzt*innen S. 14
– Bürokratie verhindert Familiennachzug S. 16
– NBD-Akten über augenauf S. 19
https://www.augenauf.ch/images/BulletinProv/Bulletin_105_Juli2020.pdf
+++GRIECHENLAND
Flüchtlingskinder auf Lesbos: Die verlorene Generation
In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln wächst eine
Generation Kinder ohne jede Schulbildung heran. Und mit der Corona-Krise
ist alles noch schlimmer geworden.
https://www.tagesschau.de/ausland/moria-lesbos-korri-bormann-101.html
+++MITTELMEER
Seenotrettungsverein Sea Eye verklagt Italiens Behörden
Der Regensburger Verein Sea Eye hat am Mittwoch gegen die Festsetzung
seines Schiffes „Alan Kurdi“ in Italien Klage eingereicht. Es ist ein
bisher einzigartiger Schritt.
https://www.sueddeutsche.de/politik/seenotrettung-see-eye-italien-1.4990485-0#seite-2
-> https://www.derbund.ch/sea-eye-klagt-gegen-italien-wegen-stopps-des-schiffs-alan-kurdi-915535533302
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Outing von Securitas-Angestellten im Bundeslager Basel
Schluss mit dem Schweigen! Schluss mit dem Nichtstun!
Dass im Bundeslager Basel systematisch körperliche Gewalt ausgeübt wird,
hat in der Öffentlichkeit nur kurzzeitig für Empörung gesorgt.
https://barrikade.info/article/3758
Stellungnahme zur Reportage: „Antifa: Was wollen Linksradikale?“
Am 29.07.2020 veröffentlichten die „Reporter“ im Rahmen des Schwerpunkts
#Extremland des Medienportals Funk die Reportage „Antifa: Was wollen
Linksradikale?“ der Journalisten Timm Giesbers und Tobias Dammers, in
dem auch Mitglieder unserer Gruppe zu Wort kommen. Uns wurde in der
Anfrage zu dem Stück vermittelt, dass ein differenziertes Bild von
Antifaarbeit gezeichnet werden soll. Das ist nicht geschehen. Im
Gegenteil: Das Ergebnis entspricht keinen journalistischen Standards und
liefert ein verzerrtes Bild. Wir wurden über Kontext und inhaltliche
Ausrichtung der Reportage getäuscht. Wir wären nicht Teil der Reportage,
wenn wir die realisierte Stoßrichtung und das extremismustheoretische
Framing hätten antizipieren können. Im Folgenden führen wir unsere
Kritik aus, machen unsere Motivation zur Teilnahme transparent und
wollen damit in eine öffentliche Reflexion gehen.
https://antifalinkemuenster.blackblogs.org/2020/08/04/stellungnahme-zur-reportage-antifa-was-wollen-linksradikale/
-> Antifa: Was wollen Linksradikale? I reporter: https://youtu.be/S3ziFuR49MQ
+++GASSE
Basler Polizei knöpft Roma-Bettler*innen ihr Geld ab
Mit der Begründung «bandenmässiges Betteln« beschlagnahmt die Basler
Polizei Roma-Almosen – und stellt dafür unvollständige und nicht
nachvollziehbare Quittungen aus.
https://bajour.ch/a/QWAdgeoIc1y9G7Na/basler-polizei-knopft-roma-bettlerinnen-ihr-geld-ab
Grössere Gruppe beim Wettsteinplatz: Durchreisende verunsichern das Quartier
Sie schlagen Zelte auf, legen Matratzen aus und waschen sich und ihre Wäsche: Eine Gruppe treibt sich beim Wettsteinplatz herum.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/groessere-gruppe-beim-wettsteinplatz-durchreisende-verunsichern-das-quartier-138660456
+++BIG BROTHER
Türkisches Internet-Gesetz: Die bislang schlimmste Kopie des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes
Das türkische Gesetz gegen Hassrede im Netz öffnet eine neue Dimension
staatlicher Zensur und Überwachung. Als Vorbild nennt die Regierung in
Ankara ausgerechnet das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz.
https://netzpolitik.org/2020/tuerkisches-internet-gesetz-die-bislang-schlimmste-kopie-des-deutschen-netzwerkdurchsetzungsgesetzes/
+++RECHTSPOPULISMUS
Hasskampagne der Springerpresse: »Das Ganze ist aber auch ein Geschäftsmodell«
Kolumne von Welt-Autor Rainer Meyer löst im Internet Hasskampagne gegen
österreichische Autorin aus. Ein Gespräch mit Natascha Strobl
https://www.jungewelt.de/artikel/383667.hasskampagne-der-springerpresse-das-ganze-ist-aber-auch-ein-gesch%C3%A4ftsmodell.html
+++RECHTSEXTREMISMUS
Nazi-Parolen: Zöllner in Jestetten verhaften Schweizer
Beamte der Bundeszollverwaltung kontrollierten am Dienstagabend einen
30-Jährigen Schweizer Staatsangehörigen am Bahnhof Jestetten. Bei der
Überprüfung der Person stellten die Beamten fest, dass gegen den Mann
noch ein Haftbefehl zu vollstrecken war. Bei dem Schweizer wurde 2017
anlässlich einer Polizeikontrolle ein Eisernes Kreuz aufgefunden.
https://www.shn.ch/region/grenzregion/2020-08-05/nazi-parolen-zoellner-in-jestetten-verhaften-schweizer
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Verschwörungen: Müller im Kaninchenbau
Als Snowboarder ist Nicolas Müller einzigartig. Als
Verschwörungsfanatiker ist er einer von vielen. Was ihn dazu brachte,
seine Karriere wegzuwerfen.
https://www.woz.ch/2032/verschwoerungen/mueller-im-kaninchenbau
Messengerdienst Telegram: „Noch nicht gesehene Radikalisierung“
Bei Telegram treffen verunsicherte Menschen auf
Verschwörungstheoretiker, Weltuntergangspropheten und Rechtsextreme.
Viele radikalisierten sich in der Corona-Krise – das zeigt eine Analyse
von NDR und SZ.
https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-telegram-101.html
Qanon: Verschwörungsideologie zum Mitmachen
Eliten, die Kinder aufessen? Auf der Berliner Corona-Demo waren teils
irre Erzählungen zu hören. Sie gehören zur derzeit erfolgreichsten
Verschwörungsideologie im Netz: QAnon. Der Spott fällt leicht – ist aber
falsch.
https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/qanon-verschwoerungsideologie-zum-mitmachen-a-8656ef8e-b2dc-4b90-a09f-8cb6e4a4db19
Corona und Verschwörungsanhänger
Warum ist QAnon so gefährlich?
In Berlin haben Tausende Menschen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen
demonstriert – darunter auch Verschwörungsideologen mit besonders
abstrusen und gefährlichen Theorien. Mit dabei waren auch Anhänger der
QAnon-Bewegung.
https://www.zdf.de/politik/frontal-21/warum-ist-qanon-so-gefaehrlich-100.html
+++WORLD OF CORONA
Keine Verlängerung der Schliessungsanordnung von Berner Club
Das Kantonsarztamt verlängert die Schliessungsanordnung des Berner Clubs
«Kapitel Bollwerk» nicht. Die zehntägige Schliessung war am 25. Juli
angeordnet worden, nachdem es im Club zu mehreren Coronafällen gekommen
war. Weiter wird der kantonale Webshop für den Bezug von
Gesundheitsmaterial geschlossen.
https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.mm.html/portal/de/meldungen/mm/2020/08/20200805_0844_aufhebung_der_schliessungsanordnungvonbernerclub
-> https://www.20min.ch/story/berner-club-kapitel-bollwerk-darf-wieder-oeffnen-762282377718
-> https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/kanton-bern/keine-verlaengerung-der-schliessungsanordnung-von-berner-club
Ermittler könnten Corona-Gästelisten beschlagnahmen
In Deutschland nutzten Behörden Corona-Kontaktlisten zu
Fahndungszwecken. In der Schweiz wäre dies auch möglich, wenn es
richterlich angeordnet wird.
https://www.20min.ch/story/ermittler-koennten-auf-corona-gaestelisten-zurueckgreifen-458886855491
+++HISTORY
derbund.ch 05.08.2020
Streit um Berner Brunnenfigur: Kindlifresser erhitzt erneut die Gemüter
Ex-TV-Manager Roy Oppenheim fordert eine neue Plakette beim
Kindlifresserbrunnen, um die zählebige antisemitische Deutung zu
thematisieren.
Bernhard Ott
Was haben der Publizist Roy Oppenheim und der österreichische Lyriker
Robert Schindel gemeinsam? Sie sind jüdisch und ärgern sich über den
scheinbar antisemitischen Kindlifresserbrunnen auf dem Berner
Kornhausplatz. Bei Schindel ist das 26 Jahre her. Bei Oppenheim ist es
aktuell. In einem Gastbeitrag, der Ende Juli in den Tageszeitungen der
CH Media publiziert wurde, holt er zum Rundumschlag aus. «Apropos Black
Lives Matter», fragt er im Titel. «Warum protestiert eigentlich niemand
gegen den Kindlifresser-Brunnen?» Der Beitrag schlug Wellen bis nach
Deutschland. Er löste in den Kommentarspalten der Wochenzeitung
«Jüdische Allgemeine» grosse Empörung aus.
Oppenheim meint die Frage rhetorisch. Denn für ihn ist Protest gegen die
Figur berechtigt, weil sie antisemitisch sei. «Der
Kindlifresser-Brunnen ist eine judenfeindliche Skulptur inmitten unserer
stolzen Bundeshauptstadt.» Bis heute werde dieser Sachverhalt aber
verdrängt. «Man behauptet gegen besseres Wissen, es sei eine humorvolle
Fasnachts- und Kinderschreckfigur.» Dies sei unwahrscheinlich, weil die
bernische Obrigkeit die Fasnacht nach der Reformation im Jahr 1529
verboten habe. Der Kindlifresserbrunnen wurde 1545 vom Freiburger
Brunnenbauer Hans Gieng im Auftrag der Stadt Bern hergestellt. Quellen
zu Sinn und Zweck der Figur sind keine erhalten.
Nichts als die Wahrheit
Oppenheims Interpretation ist dennoch eindeutig. Auf Nachfrage
relativiert der einstige Leiter des SRF-Ressorts Kultur aber seine
Aussagen. Es gehe ihm nicht um einen möglichen antisemitischen Charakter
der Figur, der womöglich verschleiert worden sei. «Mir geht es darum,
dass Touristen und Menschen aus nah und fern, insbesondere junge, nur
die halbe Wahrheit erfahren. Die Rezeption ist das Problem.» Die
antisemitische Lesart sei bis weit ins neunzehnte Jahrhundert verbreitet
gewesen. Sie gehe auf eine Ritualmordlegende des späten Mittelalters
zurück, wonach Juden christliche Kinder schlachten, deren Blut in ihr
Passahbrot einbacken und damit Unheil auf die Christen heraufbeschwören.
In Bern ist es im Mittelalter zu mehreren Judenverfolgungen gekommen.
Er behaupte nicht, dass diese Lesart der Figur auch heute noch dominant
sei. Aber es gebe nach wie vor einen unterschwelligen Antisemitismus in
der Schweiz. Und unvorbereitete Besucher der Bundesstadt assoziierten
den Kindlifresser wegen des Spitzhuts nun mal mit einem Juden. «Steht
ein junger Mensch erstmals davor, stellen sich alle diese Fragen wieder
neu.»
Oppenheim plädiert für eine Überarbeitung der Plakette, die gegenüber
dem Brunnen angebracht ist. Darauf ist vermerkt, dass es sich um einen
«Kinderschreck» handelt. Dieser soll «die Bedeutung des Gehorsams, der
Gottesfurcht und der Erziehung drastisch vor Augen führen». Verfasser
dieser Zeilen ist der einstige kantonale Denkmalpfleger Jürg Schweizer,
der sich dabei auf ein Buch über die Freiburger Skulpturen des 16.
Jahrhunderts stützte, wie der «Bund» einst berichtete. Der Text müsse
mit dem Vermerk ergänzt werden, «dass kinderverschlingende Männer mit
Spitzhut lange als Symbol für jüdische Ritualmorde gegolten haben», sagt
Oppenheim. Ihm gehe es letztlich darum, eine Debatte über den Brunnen
anzustossen.
«Letztlich offen»
Der einstige GB-Stadtrat Peter Sigerist ist offen für eine neue
Brunnen-Debatte. Aber die Behauptungen Oppenheims haben ihn trotzdem
verärgert: «Er kann nicht so tun, als hätte es nie eine
Kindlifresser-Debatte in Bern gegeben.» Der grüne Politiker war 1994
dabei, als Robert Schindel sich über den Brunnen enervierte. Er brachte
das Thema in den Stadtrat und erhielt vom Gemeinderat zur Antwort, dass
die Interpretation als Fasnachtsfigur die «einzig haltbare Erklärung»
sei. Sigerist gab sich damit aber nicht zufrieden und gab Anstoss zu
einer Forschungsarbeit an der Universität Bern. Diese kam 1997 zum
Schluss, dass es rund ein Dutzend Interpretationen gebe, aber keine den
Anspruch auf Richtigkeit erheben könne.
Umso mehr hatte sich Sigerist darüber geärgert, dass die aktuelle
Plakette mit der«Kinderschreck»-Version erneut eine Lesart als
alleingültig deklariert. «Ich gehe mit Oppenheim einig, dass es eine
neue Plakette braucht.» Darauf könne die einst dominante antisemitische
Rezeption thematisiert werden. Es müsse aber auch erwähnt werden, dass
die Interpretation der Figur offen sei, sagt Sigerist. (Lesen Sie hier,
wie Peter Sigerist vor fünf Jahren auf die damals neu angebrachte
Plakette reagierte.)
(https://www.derbund.ch/kindlifresser-erhitzt-erneut-die-gemueter-969410767627)
—
derbund 7.12.2015
Habe die Ehre, «Kinderschreck»
Auf einer neuen Plakette wird die Kindlifresser-Figur als
«Kinderschreck» gedeutet. Die neue Interpretation stösst aber auf
Kritik.
Bernhard Ott
Peter Sigerist ist verärgert. «Die heutige Hinweistafel gibt dem
Kindlifresserbrunnen wieder eine fix determinierte Bedeutung.» Dies sei
aber «willkürlich» und entspreche nicht dem aktuellen Wissensstand, sagt
der grüne Ex-Stadtrat. Die neue Tafel wurde erst vor kurzem im Zuge der
Neubeschriftung aller relevanten Gebäude, Brunnen und Brücken in der
oberen Altstadt montiert. Darauf wird unmissverständlich festgehalten:
«Die Figur als Kinderschreck soll die Bedeutung des Gehorsams, der
Gottesfurcht und der Erziehung drastisch vor Augen führen.»
Wille des Künstlers ist unbekannt
Auf der früheren Plakette klang das noch anders. Dort fand sich der
Hinweis, dass die Bedeutung der Figur nicht überliefert sei. Sie sei
denn auch immer wieder uminterpretiert worden. Hintergrund dieser
offenen Darstellung war ein intensiver Streit in den Neunzigerjahren des
vorigen Jahrhunderts um eine vermeintlich antisemitische Bedeutung des
Kindlifressers.
Einer der Protagonisten in diesem Streit war Peter Sigerist. Er hat sich
denn auch bei den zuständigen Stellen in der Stadtverwaltung nach den
Gründen für die neue Deutung erkundigt. Für die Absichten des Erbauers
der Figur, des 1562 verstorbenen Hans Gieng, gebe es nämlich keine
Belege, sagt Sigerist. Das Wiederaufleben einer abschliessenden
Interpretation sei ein Rückfall hinter die Erkenntnisse der 90er-Jahre
und inhaltlich ein Verlust. «Die Kinderschreck-Interpretation bleibt für
mich jedenfalls unbefriedigend», sagt Sigerist.
Figur mit «klarem Charakter»
Verfasser des Textes auf der neuen Plakette ist Jürg Schweizer,
ehemaliger kantonaler Denkmalpfleger. Er weist in einer Stellungnahme
auf «die neueste Forschung» hin, die «den richtigen Weg» aufgezeigt
habe. «Eine derartige Figur hatte sehr wohl eine Aussage zu machen.» Sie
habe einen «klaren allegorischen und moralisierenden Charakter», wie
dies die Brunnenfiguren im 16. Jahrhundert ganz allgemein gehabt hätten.
Die von Schweizer zitierte «neueste Forschung» ist ein Buch des
Historikers Stephan Gasser mit dem Titel «Die Freiburger Skulptur des
16. Jahrhunderts». Die Stadt Freiburg im Üechtland galt damals als
Hochburg der Brunnen-Skulpteure.
Sigerist kann diese Erklärung nicht ganz befriedigen. Er warnt davor,
«politische und allenfalls pädagogische Handlungsentscheidungen mit
falschen historischen Begründungen vorzunehmen». Auch die Rede vom
«allegorischen und moralisierendem Charakter» der Figur kläre die Frage
nach deren Bedeutung nicht. Zumindest teilweisen Support erhält Sigerist
von Parteikollege und Grossrat Blaise Kropf, der während seines
Studiums in den Neunzigerjahren eine Arbeit über den
Kindlifresserbrunnen verfasst hat. Kropf weist darauf hin, dass es im
Laufe der Geschichte rund ein Dutzend verschiedene Interpretationen der
Figur gegeben habe, diejenige des «Kinderschrecks» sei bloss eine davon.
«Die richtige Interpretation gibt es nicht», sagt Kropf.
Brunnen vermittelten Botschaften
Buchautor Gasser stellt zunächst eines klar: «Hinter dem Inhalt der
Brunnenfigur steht keine künstlerische Absicht.» Die Brunnen im 16
.Jahrhundert seien nicht nur zur Zierde errichtet worden. «Es waren
‹Leuchttürme› in der Stadt, die eine gewisse Aussage transportierten.»
Deren Inhalt habe alleine die Stadt als Auftraggeberin bestimmt.
Welche Absichten die Stadt mit dem Kindlifresserbrunnen verfolgt habe,
sei nicht dokumentiert. Die Symbolik der Figur sei damals aber
festgelegt und weitverbreitet gewesen. So habe es etwa auch in Zürich
einen Kindlifresserbrunnen gegeben. Ein wichtiges Dokument in diesem
Zusammenhang ist laut Gasser ein Wandkalender aus dem Jahr 1556. Mit
Wandkalendern seien in der Epoche auch moralische Botschaften
transportiert worden. Der Kalender sei mit einer Kindlifresser-Figur und
einem Gedicht illustriert, die keine Zweifel an der erzieherischen
Botschaft mehr liessen. Als Adressaten seien nebst den Kindern auch die
Eltern gemeint gewesen, die ihre Kinder gut erziehen sollten. «Kinder
galten damals als eine Art Masse, die man formen musste.» Deren
Erziehung sei von «staatstragender Bedeutung» gewesen, sagt Gasser.
Natürlich sei es so, dass der Kindlifresser im Laufe der Zeit
unterschiedlich interpretiert worden sei. «Als Historiker interessiert
mich aber primär, was ursprünglich damit gemeint gewesen ist», sagt
Gasser.
(https://www.derbund.ch/bern/stadt/habe-die-ehre-kinderschreck/story/23653305)
—
derbund.ch 05.08.2020
Diskriminierung und VerfolgungAls Bern die Juden verbrannte
Der Kindlifresser wird auch als antisemitische Figur gedeutet. Ein Grund
dafür könnte sein, dass es in Bern im Mittelalter mehrmals zu Pogromen
kam.
Simon Wälti
Als die Pest ab 1348 in Europa wütete und unzählige Menschen starben,
wurde nach Schuldigen gesucht. Man verdächtigte die Juden und argwöhnte,
sie hätten sich gegen die Christen verschworen und die Brunnen
vergiftet. Vielerorts befeuerte die Obrigkeit diese Verdächtigungen, und
es kam zu verheerenden Judenverfolgungen, die zur Vernichtung von
zahlreichen jüdischen Gemeinden in Europa führte – auch in Bern.
Die Stadt war aber nicht einfach Mitläuferin in einer von Todesangst
geprägten Verfolgungswut. Sie war vielmehr eine Anstifterin, wie Oliver
Landolt im Buch «Berns mutige Zeit» ausführt. Bern habe wahrscheinlich
eine «aktive Rolle in der Weitervermittlung des
Brunnenvergiftungsgerüchtes» übernommen. Bern forderte etwa die Räte in
verschiedenen Städten in der Schweiz, in Süddeutschland und im Elsass
auf, gegen die Juden vorzugehen und sie «auf dem Scheiterhaufen zu
verbrennen». So sind Korrespondenzen an die Stadt Strassburg erhalten.
Auch Solothurn wurde aufgefordert, die dort ansässigen Juden zu
verbrennen, was dann auch geschah.
Auch wirtschaftliche Motive
Laut Landolt wurden die Juden in Bern gefangen genommen, gefoltert und
nach dem erzwungenen Geständnis im November 1348 auf den Scheiterhaufen
geworfen. Wie viele Juden dabei den Tod fanden, ist nicht bekannt. Dass
sich der Volkszorn in dieser Weise entlud, hatte auch einen
wirtschaftlichen Hintergrund, weil Juden als Geldverleiher tätig waren:
Viele Bürger hatten Schulden und konnten sich so ihrer Schulden
entledigen. Die Obrigkeit hat wohl die Güter beschlagnahmt.
Interessanterweise werden die Ereignisse in den Berner Chroniken, etwa
in derjenigen von Konrad Justinger, weitgehend ausgeklammert.
Die Massaker konnten aber die Ausbreitung der Pest nicht verhindern.
Spätestens im Frühsommer 1349 erreichte die Seuche die Stadt, dabei
sollen an manchen Tagen bis zu 60 Tote gezählt worden sein. Auch die
ländlichen Gegenden wurden vom Schwarzen Tod nicht verschont, allerdings
waren sie wohl wegen der geringeren Siedlungsdichte weniger stark
betroffen.
Pogrom nach «Ritualmord»
Zu einer Verfolgungswelle war es bereits im 13. Jahrhundert gekommen.
Die Ermordung eines christlichen Knaben wurde gemäss Angaben des
Stadtarchivs einem jüdischen Geldhändler angelastet. Unter Druck der
Bürger beschloss der Rat, die des Mordes bezichtigten Juden hinzurichten
und die übrigen für eine unbestimmte Zeit aus der Stadt zu weisen. Der
angebliche Ritualmord soll einen Anstoss für die Figur des
Kindlifresserbrunnens gegeben haben. Einen schlüssigen Beweis dafür gibt
es allerdings nicht.
Nach dem Pogrom von 1348 müssen sich Juden wieder in Bern angesiedelt
haben. Um 1400 kam es erneut zu einer Vertreibung, und 1427 verbannte
Bern die Juden für mehrere Jahrhunderte aus der Stadt. Eine wichtige
Rolle spielte dabei auch Chronist Justinger, der eine von
antisemitischen Ressentiments geprägte Haltung einnahm. Juden durften
sich bis in die Mediationszeit nach 1798 nur als durchreisende Händler
und Ärzte in der Stadt aufhalten.
(https://www.derbund.ch/als-bern-die-juden-verbrannte-574576447300)