Medienspiegel 5. August 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
augenauf-Bulletin Nr. 105 Juli 2020:
– Corona: In der Krise blüht die Repression ab S. 4
– Gewalt im BAZ Bässlergut S. 12
– Ausschaffungs-flüge: Mit Zwang, aber ohne Ärzt*innen S. 14
– Bürokratie verhindert Familiennachzug S. 16
– NBD-Akten über augenauf S. 19
https://www.augenauf.ch/images/BulletinProv/Bulletin_105_Juli2020.pdf


+++GRIECHENLAND
Flüchtlingskinder auf Lesbos: Die verlorene Generation
In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln wächst eine Generation Kinder ohne jede Schulbildung heran. Und mit der Corona-Krise ist alles noch schlimmer geworden.
https://www.tagesschau.de/ausland/moria-lesbos-korri-bormann-101.html


+++MITTELMEER
Seenotrettungsverein Sea Eye verklagt Italiens Behörden
Der Regensburger Verein Sea Eye hat am Mittwoch gegen die Festsetzung seines Schiffes „Alan Kurdi“ in Italien Klage eingereicht. Es ist ein bisher einzigartiger Schritt.
https://www.sueddeutsche.de/politik/seenotrettung-see-eye-italien-1.4990485-0#seite-2
-> https://www.derbund.ch/sea-eye-klagt-gegen-italien-wegen-stopps-des-schiffs-alan-kurdi-915535533302


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Outing von Securitas-Angestellten im Bundeslager Basel
Schluss mit dem Schweigen! Schluss mit dem Nichtstun!
Dass im Bundeslager Basel systematisch körperliche Gewalt ausgeübt wird, hat in der Öffentlichkeit nur kurzzeitig für Empörung gesorgt.
https://barrikade.info/article/3758


Stellungnahme zur Reportage: „Antifa: Was wollen Linksradikale?“
Am 29.07.2020 veröffentlichten die „Reporter“ im Rahmen des Schwerpunkts #Extremland des Medienportals Funk die Reportage „Antifa: Was wollen Linksradikale?“ der Journalisten Timm Giesbers und Tobias Dammers, in dem auch Mitglieder unserer Gruppe zu Wort kommen. Uns wurde in der Anfrage zu dem Stück vermittelt, dass ein differenziertes Bild von Antifaarbeit gezeichnet werden soll. Das ist nicht geschehen. Im Gegenteil: Das Ergebnis entspricht keinen journalistischen Standards und liefert ein verzerrtes Bild. Wir wurden über Kontext und inhaltliche Ausrichtung der Reportage getäuscht. Wir wären nicht Teil der Reportage, wenn wir die realisierte Stoßrichtung und das extremismustheoretische Framing hätten antizipieren können. Im Folgenden führen wir unsere Kritik aus, machen unsere Motivation zur Teilnahme transparent und wollen damit in eine öffentliche Reflexion gehen.
https://antifalinkemuenster.blackblogs.org/2020/08/04/stellungnahme-zur-reportage-antifa-was-wollen-linksradikale/
-> Antifa: Was wollen Linksradikale? I reporter: https://youtu.be/S3ziFuR49MQ


+++GASSE
Basler Polizei knöpft Roma-Bettler*innen ihr Geld ab
Mit der Begründung «bandenmässiges Betteln« beschlagnahmt die Basler Polizei Roma-Almosen – und stellt dafür unvollständige und nicht nachvollziehbare Quittungen aus.
https://bajour.ch/a/QWAdgeoIc1y9G7Na/basler-polizei-knopft-roma-bettlerinnen-ihr-geld-ab


Grössere Gruppe beim Wettsteinplatz: Durchreisende verunsichern das Quartier
Sie schlagen Zelte auf, legen Matratzen aus und waschen sich und ihre Wäsche: Eine Gruppe treibt sich beim Wettsteinplatz herum.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/groessere-gruppe-beim-wettsteinplatz-durchreisende-verunsichern-das-quartier-138660456


+++BIG BROTHER
Türkisches Internet-Gesetz: Die bislang schlimmste Kopie des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes
Das türkische Gesetz gegen Hassrede im Netz öffnet eine neue Dimension staatlicher Zensur und Überwachung. Als Vorbild nennt die Regierung in Ankara ausgerechnet das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz.
https://netzpolitik.org/2020/tuerkisches-internet-gesetz-die-bislang-schlimmste-kopie-des-deutschen-netzwerkdurchsetzungsgesetzes/


+++RECHTSPOPULISMUS
Hasskampagne der Springerpresse: »Das Ganze ist aber auch ein Geschäftsmodell«
Kolumne von Welt-Autor Rainer Meyer löst im Internet Hasskampagne gegen österreichische Autorin aus. Ein Gespräch mit Natascha Strobl
https://www.jungewelt.de/artikel/383667.hasskampagne-der-springerpresse-das-ganze-ist-aber-auch-ein-gesch%C3%A4ftsmodell.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
Nazi-Parolen: Zöllner in Jestetten verhaften Schweizer
Beamte der Bundeszollverwaltung kontrollierten am Dienstagabend einen 30-Jährigen Schweizer Staatsangehörigen am Bahnhof Jestetten. Bei der Überprüfung der Person stellten die Beamten fest, dass gegen den Mann noch ein Haftbefehl zu vollstrecken war. Bei dem Schweizer wurde 2017 anlässlich einer Polizeikontrolle ein Eisernes Kreuz aufgefunden.
https://www.shn.ch/region/grenzregion/2020-08-05/nazi-parolen-zoellner-in-jestetten-verhaften-schweizer


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Verschwörungen: Müller im Kaninchenbau
Als Snowboarder ist Nicolas Müller einzigartig. Als Verschwörungsfanatiker ist er einer von vielen. Was ihn dazu brachte, seine Karriere wegzuwerfen.
https://www.woz.ch/2032/verschwoerungen/mueller-im-kaninchenbau


Messengerdienst Telegram: „Noch nicht gesehene Radikalisierung“
Bei Telegram treffen verunsicherte Menschen auf Verschwörungstheoretiker, Weltuntergangspropheten und Rechtsextreme. Viele radikalisierten sich in der Corona-Krise – das zeigt eine Analyse von NDR und SZ.
https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-telegram-101.html


Qanon: Verschwörungsideologie zum Mitmachen
Eliten, die Kinder aufessen? Auf der Berliner Corona-Demo waren teils irre Erzählungen zu hören. Sie gehören zur derzeit erfolgreichsten Verschwörungsideologie im Netz: QAnon. Der Spott fällt leicht – ist aber falsch.
https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/qanon-verschwoerungsideologie-zum-mitmachen-a-8656ef8e-b2dc-4b90-a09f-8cb6e4a4db19


Corona und Verschwörungsanhänger
Warum ist QAnon so gefährlich?
In Berlin haben Tausende Menschen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen demonstriert – darunter auch Verschwörungsideologen mit besonders abstrusen und gefährlichen Theorien. Mit dabei waren auch Anhänger der QAnon-Bewegung.
https://www.zdf.de/politik/frontal-21/warum-ist-qanon-so-gefaehrlich-100.html


+++WORLD OF CORONA
Keine Verlängerung der Schliessungsanordnung von Berner Club
Das Kantonsarztamt verlängert die Schliessungsanordnung des Berner Clubs «Kapitel Bollwerk» nicht. Die zehntägige Schliessung war am 25. Juli angeordnet worden, nachdem es im Club zu mehreren Coronafällen gekommen war. Weiter wird der kantonale Webshop für den Bezug von Gesundheitsmaterial geschlossen.
https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.mm.html/portal/de/meldungen/mm/2020/08/20200805_0844_aufhebung_der_schliessungsanordnungvonbernerclub
-> https://www.20min.ch/story/berner-club-kapitel-bollwerk-darf-wieder-oeffnen-762282377718
-> https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/kanton-bern/keine-verlaengerung-der-schliessungsanordnung-von-berner-club


Ermittler könnten Corona-Gästelisten beschlagnahmen
In Deutschland nutzten Behörden Corona-Kontaktlisten zu Fahndungszwecken. In der Schweiz wäre dies auch möglich, wenn es richterlich angeordnet wird.
https://www.20min.ch/story/ermittler-koennten-auf-corona-gaestelisten-zurueckgreifen-458886855491


+++HISTORY
derbund.ch 05.08.2020

Streit um Berner Brunnenfigur: Kindlifresser erhitzt erneut die Gemüter

Ex-TV-Manager Roy Oppenheim fordert eine neue Plakette beim Kindlifresserbrunnen, um die zählebige antisemitische Deutung zu thematisieren.

Bernhard Ott

Was haben der Publizist Roy Oppenheim und der österreichische Lyriker Robert Schindel gemeinsam? Sie sind jüdisch und ärgern sich über den scheinbar antisemitischen Kindlifresserbrunnen auf dem Berner Kornhausplatz. Bei Schindel ist das 26 Jahre her. Bei Oppenheim ist es aktuell. In einem Gastbeitrag, der Ende Juli in den Tageszeitungen der CH Media publiziert wurde, holt er zum Rundumschlag aus. «Apropos Black Lives Matter», fragt er im Titel. «Warum protestiert eigentlich niemand gegen den Kindlifresser-Brunnen?» Der Beitrag schlug Wellen bis nach Deutschland. Er löste in den Kommentarspalten der Wochenzeitung «Jüdische Allgemeine» grosse Empörung aus.

Oppenheim meint die Frage rhetorisch. Denn für ihn ist Protest gegen die Figur berechtigt, weil sie antisemitisch sei. «Der Kindlifresser-Brunnen ist eine judenfeindliche Skulptur inmitten unserer stolzen Bundeshauptstadt.» Bis heute werde dieser Sachverhalt aber verdrängt. «Man behauptet gegen besseres Wissen, es sei eine humorvolle Fasnachts- und Kinderschreckfigur.» Dies sei unwahrscheinlich, weil die bernische Obrigkeit die Fasnacht nach der Reformation im Jahr 1529 verboten habe. Der Kindlifresserbrunnen wurde 1545 vom Freiburger Brunnenbauer Hans Gieng im Auftrag der Stadt Bern hergestellt. Quellen zu Sinn und Zweck der Figur sind keine erhalten.

Nichts als die Wahrheit

Oppenheims Interpretation ist dennoch eindeutig. Auf Nachfrage relativiert der einstige Leiter des SRF-Ressorts Kultur aber seine Aussagen. Es gehe ihm nicht um einen möglichen antisemitischen Charakter der Figur, der womöglich verschleiert worden sei. «Mir geht es darum, dass Touristen und Menschen aus nah und fern, insbesondere junge, nur die halbe Wahrheit erfahren. Die Rezeption ist das Problem.» Die antisemitische Lesart sei bis weit ins neunzehnte Jahrhundert verbreitet gewesen. Sie gehe auf eine Ritualmordlegende des späten Mittelalters zurück, wonach Juden christliche Kinder schlachten, deren Blut in ihr Passahbrot einbacken und damit Unheil auf die Christen heraufbeschwören. In Bern ist es im Mittelalter zu mehreren Judenverfolgungen gekommen.

Er behaupte nicht, dass diese Lesart der Figur auch heute noch dominant sei. Aber es gebe nach wie vor einen unterschwelligen Antisemitismus in der Schweiz. Und unvorbereitete Besucher der Bundesstadt assoziierten den Kindlifresser wegen des Spitzhuts nun mal mit einem Juden. «Steht ein junger Mensch erstmals davor, stellen sich alle diese Fragen wieder neu.»

Oppenheim plädiert für eine Überarbeitung der Plakette, die gegenüber dem Brunnen angebracht ist. Darauf ist vermerkt, dass es sich um einen «Kinderschreck» handelt. Dieser soll «die Bedeutung des Gehorsams, der Gottesfurcht und der Erziehung drastisch vor Augen führen». Verfasser dieser Zeilen ist der einstige kantonale Denkmalpfleger Jürg Schweizer, der sich dabei auf ein Buch über die Freiburger Skulpturen des 16. Jahrhunderts stützte, wie der «Bund» einst berichtete. Der Text müsse mit dem Vermerk ergänzt werden, «dass kinderverschlingende Männer mit Spitzhut lange als Symbol für jüdische Ritualmorde gegolten haben», sagt Oppenheim. Ihm gehe es letztlich darum, eine Debatte über den Brunnen anzustossen.

«Letztlich offen»

Der einstige GB-Stadtrat Peter Sigerist ist offen für eine neue Brunnen-Debatte. Aber die Behauptungen Oppenheims haben ihn trotzdem verärgert: «Er kann nicht so tun, als hätte es nie eine Kindlifresser-Debatte in Bern gegeben.» Der grüne Politiker war 1994 dabei, als Robert Schindel sich über den Brunnen enervierte. Er brachte das Thema in den Stadtrat und erhielt vom Gemeinderat zur Antwort, dass die Interpretation als Fasnachtsfigur die «einzig haltbare Erklärung» sei. Sigerist gab sich damit aber nicht zufrieden und gab Anstoss zu einer Forschungsarbeit an der Universität Bern. Diese kam 1997 zum Schluss, dass es rund ein Dutzend Interpretationen gebe, aber keine den Anspruch auf Richtigkeit erheben könne.

Umso mehr hatte sich Sigerist darüber geärgert, dass die aktuelle Plakette mit der«Kinderschreck»-Version erneut eine Lesart als alleingültig deklariert. «Ich gehe mit Oppenheim einig, dass es eine neue Plakette braucht.» Darauf könne die einst dominante antisemitische Rezeption thematisiert werden. Es müsse aber auch erwähnt werden, dass die Interpretation der Figur offen sei, sagt Sigerist. (Lesen Sie hier, wie Peter Sigerist vor fünf Jahren auf die damals neu angebrachte Plakette reagierte.)
(https://www.derbund.ch/kindlifresser-erhitzt-erneut-die-gemueter-969410767627)



derbund 7.12.2015

Habe die Ehre, «Kinderschreck»

Auf einer neuen Plakette wird die Kindlifresser-Figur als «Kinderschreck» gedeutet. Die neue Interpretation stösst aber auf Kritik.

Bernhard Ott

Peter Sigerist ist verärgert. «Die heutige Hinweistafel gibt dem Kindlifresserbrunnen wieder eine fix determinierte Bedeutung.» Dies sei aber «willkürlich» und entspreche nicht dem aktuellen Wissensstand, sagt der grüne Ex-Stadtrat. Die neue Tafel wurde erst vor kurzem im Zuge der Neubeschriftung aller relevanten Gebäude, Brunnen und Brücken in der oberen Altstadt montiert. Darauf wird unmissverständlich festgehalten: «Die Figur als Kinderschreck soll die Bedeutung des Gehorsams, der Gottesfurcht und der Erziehung drastisch vor Augen führen.»

Wille des Künstlers ist unbekannt

Auf der früheren Plakette klang das noch anders. Dort fand sich der Hinweis, dass die Bedeutung der Figur nicht überliefert sei. Sie sei denn auch immer wieder uminterpretiert worden. Hintergrund dieser offenen Darstellung war ein intensiver Streit in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts um eine vermeintlich antisemitische Bedeutung des Kindlifressers.

Einer der Protagonisten in diesem Streit war Peter Sigerist. Er hat sich denn auch bei den zuständigen Stellen in der Stadtverwaltung nach den Gründen für die neue Deutung erkundigt. Für die Absichten des Erbauers der Figur, des 1562 verstorbenen Hans Gieng, gebe es nämlich keine Belege, sagt Sigerist. Das Wiederaufleben einer abschliessenden Interpretation sei ein Rückfall hinter die Erkenntnisse der 90er-Jahre und inhaltlich ein Verlust. «Die Kinderschreck-Interpretation bleibt für mich jedenfalls unbefriedigend», sagt Sigerist.

Figur mit «klarem Charakter»

Verfasser des Textes auf der neuen Plakette ist Jürg Schweizer, ehemaliger kantonaler Denkmalpfleger. Er weist in einer Stellungnahme auf «die neueste Forschung» hin, die «den richtigen Weg» aufgezeigt habe. «Eine derartige Figur hatte sehr wohl eine Aussage zu machen.» Sie habe einen «klaren allegorischen und moralisierenden Charakter», wie dies die Brunnenfiguren im 16. Jahrhundert ganz allgemein gehabt hätten. Die von Schweizer zitierte «neueste Forschung» ist ein Buch des Historikers Stephan Gasser mit dem Titel «Die Freiburger Skulptur des 16. Jahrhunderts». Die Stadt Freiburg im Üechtland galt damals als Hochburg der Brunnen-Skulpteure.

Sigerist kann diese Erklärung nicht ganz befriedigen. Er warnt davor, «politische und allenfalls pädagogische Handlungsentscheidungen mit falschen historischen Begründungen vorzunehmen». Auch die Rede vom «allegorischen und moralisierendem Charakter» der Figur kläre die Frage nach deren Bedeutung nicht. Zumindest teilweisen Support erhält Sigerist von Parteikollege und Grossrat Blaise Kropf, der während seines Studiums in den Neunzigerjahren eine Arbeit über den Kindlifresserbrunnen verfasst hat. Kropf weist darauf hin, dass es im Laufe der Geschichte rund ein Dutzend verschiedene Interpretationen der Figur gegeben habe, diejenige des «Kinderschrecks» sei bloss eine davon. «Die richtige Interpretation gibt es nicht», sagt Kropf.

Brunnen vermittelten Botschaften

Buchautor Gasser stellt zunächst eines klar: «Hinter dem Inhalt der Brunnenfigur steht keine künstlerische Absicht.» Die Brunnen im 16 .Jahrhundert seien nicht nur zur Zierde errichtet worden. «Es waren ‹Leuchttürme› in der Stadt, die eine gewisse Aussage transportierten.» Deren Inhalt habe alleine die Stadt als Auftraggeberin bestimmt.

Welche Absichten die Stadt mit dem Kindlifresserbrunnen verfolgt habe, sei nicht dokumentiert. Die Symbolik der Figur sei damals aber festgelegt und weitverbreitet gewesen. So habe es etwa auch in Zürich einen Kindlifresserbrunnen gegeben. Ein wichtiges Dokument in diesem Zusammenhang ist laut Gasser ein Wandkalender aus dem Jahr 1556. Mit Wandkalendern seien in der Epoche auch moralische Botschaften transportiert worden. Der Kalender sei mit einer Kindlifresser-Figur und einem Gedicht illustriert, die keine Zweifel an der erzieherischen Botschaft mehr liessen. Als Adressaten seien nebst den Kindern auch die Eltern gemeint gewesen, die ihre Kinder gut erziehen sollten. «Kinder galten damals als eine Art Masse, die man formen musste.» Deren Erziehung sei von «staatstragender Bedeutung» gewesen, sagt Gasser.

Natürlich sei es so, dass der Kindlifresser im Laufe der Zeit unterschiedlich interpretiert worden sei. «Als Historiker interessiert mich aber primär, was ursprünglich damit gemeint gewesen ist», sagt Gasser.
(https://www.derbund.ch/bern/stadt/habe-die-ehre-kinderschreck/story/23653305)



derbund.ch 05.08.2020

Diskriminierung und VerfolgungAls Bern die Juden verbrannte

Der Kindlifresser wird auch als antisemitische Figur gedeutet. Ein Grund dafür könnte sein, dass es in Bern im Mittelalter mehrmals zu Pogromen kam.

Simon Wälti

Als die Pest ab 1348 in Europa wütete und unzählige Menschen starben, wurde nach Schuldigen gesucht. Man verdächtigte die Juden und argwöhnte, sie hätten sich gegen die Christen verschworen und die Brunnen vergiftet. Vielerorts befeuerte die Obrigkeit diese Verdächtigungen, und es kam zu verheerenden Judenverfolgungen, die zur Vernichtung von zahlreichen jüdischen Gemeinden in Europa führte – auch in Bern.

Die Stadt war aber nicht einfach Mitläuferin in einer von Todesangst geprägten Verfolgungswut. Sie war vielmehr eine Anstifterin, wie Oliver Landolt im Buch «Berns mutige Zeit» ausführt. Bern habe wahrscheinlich eine «aktive Rolle in der Weitervermittlung des Brunnenvergiftungsgerüchtes» übernommen. Bern forderte etwa die Räte in verschiedenen Städten in der Schweiz, in Süddeutschland und im Elsass auf, gegen die Juden vorzugehen und sie «auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen». So sind Korrespondenzen an die Stadt Strassburg erhalten. Auch Solothurn wurde aufgefordert, die dort ansässigen Juden zu verbrennen, was dann auch geschah.

Auch wirtschaftliche Motive

Laut Landolt wurden die Juden in Bern gefangen genommen, gefoltert und nach dem erzwungenen Geständnis im November 1348 auf den Scheiterhaufen geworfen. Wie viele Juden dabei den Tod fanden, ist nicht bekannt. Dass sich der Volkszorn in dieser Weise entlud, hatte auch einen wirtschaftlichen Hintergrund, weil Juden als Geldverleiher tätig waren: Viele Bürger hatten Schulden und konnten sich so ihrer Schulden entledigen. Die Obrigkeit hat wohl die Güter beschlagnahmt. Interessanterweise werden die Ereignisse in den Berner Chroniken, etwa in derjenigen von Konrad Justinger, weitgehend ausgeklammert.

Die Massaker konnten aber die Ausbreitung der Pest nicht verhindern. Spätestens im Frühsommer 1349 erreichte die Seuche die Stadt, dabei sollen an manchen Tagen bis zu 60 Tote gezählt worden sein. Auch die ländlichen Gegenden wurden vom Schwarzen Tod nicht verschont, allerdings waren sie wohl wegen der geringeren Siedlungsdichte weniger stark betroffen.

Pogrom nach «Ritualmord»

Zu einer Verfolgungswelle war es bereits im 13. Jahrhundert gekommen. Die Ermordung eines christlichen Knaben wurde gemäss Angaben des Stadtarchivs einem jüdischen Geldhändler angelastet. Unter Druck der Bürger beschloss der Rat, die des Mordes bezichtigten Juden hinzurichten und die übrigen für eine unbestimmte Zeit aus der Stadt zu weisen. Der angebliche Ritualmord soll einen Anstoss für die Figur des Kindlifresserbrunnens gegeben haben. Einen schlüssigen Beweis dafür gibt es allerdings nicht.

Nach dem Pogrom von 1348 müssen sich Juden wieder in Bern angesiedelt haben. Um 1400 kam es erneut zu einer Vertreibung, und 1427 verbannte Bern die Juden für mehrere Jahrhunderte aus der Stadt. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch Chronist Justinger, der eine von antisemitischen Ressentiments geprägte Haltung einnahm. Juden durften sich bis in die Mediationszeit nach 1798 nur als durchreisende Händler und Ärzte in der Stadt aufhalten.
(https://www.derbund.ch/als-bern-die-juden-verbrannte-574576447300)