Medienspiegel 27.07.2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
bernerzeitung.ch 27.07.2020

Ein Schatten ihrer selbst: Was von der Flüchtlingshilfe übrig blieb

Vier Jahrzehnte lang war sie die Partnerin des Kantons, im Umbau des Berner Asylwesens büsste die Heilsarmee-Flüchtlingshilfe ihren Einfluss ein. Eine Bilanz.

Chantal Desbiolles

– Während der Flüchtlingskrise verantwortete die Heilsarmee-Flüchtlingshilfe (HAF) 25 Kollektivunterkünfte im ganzen Kanton mit bis zu 4000 Menschen.
– Sie entstand, als vor 40 Jahren in Sri Lanka Krieg herrschte und die Heilsarmee sich den Flüchtenden annahm.
– Aus dem improvisierten Einsatz wuchs die grösste Asylorganisation im Kanton Bern.
– Im April letzten Jahres hat der Kanton seine Mandate im Asylsozialbereich neu vergeben.
– Die HAF ist in keiner der fünf Asylregionen direkt zuständig.
– Eine Massenentlassung war die Folge; seit Ende Juni stehen noch 25 Mitarbeitende in ihren Diensten.

Die meisten Ehen halten weniger lang. Als der Kanton die Leistungsverträge im Asylbereich neu verteilte, kündete er der Heilsarmee-Flüchtlingshilfe auf Ende Juni nach vier Jahrzehnten seine Liebe. Es war, wie es in langjährigen Beziehungen oft der Fall ist: Die langjährige Partnerin, so treu und beständig sie auch war, zog den Kürzeren gegen eine schneidige Anwärterin, die härter kalkuliert.

«Es war eine sehr emotionale Phase», sagt Lukas Flückiger, Geschäftsleiter der Heilsarmee-Flüchtlingshilfe (HAF). Zu akzeptieren, dass nach langen Jahren die Dienstleistung nach christlichen Massstäben am Menschen nicht mehr gefragt sei: Das hätten er und seine Mitarbeitenden erst verdauen müssen. Und dann schliesslich 165 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen zu müssen: Das habe wehgetan.

Die Heilsarmee hat einen eigenen Sozialplan entworfen, mit Coachings, Ombudsstelle, einer Regelung für Härtefälle und einer Abgangsentschädigung. Gut die Hälfte der HAF-Mitarbeitenden ist bei den neuen Asylpartnern angestellt worden, drei Viertel hätten eine berufliche Lösung gefunden, sagt Flückiger. Und wirkt dabei erleichtert.

Auch Paul Mori hat der Entscheid des Kantons sehr betroffen gemacht. «Schliesslich habe ich jahrelang gekämpft wie ein Löwe für die Flüchtlingshilfe.» Flückigers Vorgänger als HAF-Geschäftsleiter hat einige Sträusse ausgefochten, heute lobbyiert er im Bundeshaus als Sonderbotschafter der Heilsarmee. Seinen früheren Wirkungsbereich auf den Bestand aus den Anfangszeiten zusammenschrumpfen zu sehen: schmerzhaft, auch für ihn.

Die Firma

Mori und Flückiger sitzen in einem schmucklosen Besprechungszimmer im Untergeschoss des Territorialen Hauptquartiers der Heilsarmee an der Laupenstrasse in Bern. Von hier aus werden die Geschicke der Wohlfahrtsorganisation in der ganzen Schweiz, Österreich und Ungarn gelenkt.

Hinter der bunt beflaggten freikirchlichen Fassade verbirgt sich eine nicht gewinnorientierte Firma mit knapp 2000 Angestellten, 400 Millionen Franken Organisationskapital und gigantischem Immobilienbesitz. Locker würde sich die Heilsarmee mit diesen Kennzahlen in die Liga der 500 grössten Unternehmen der Schweiz einreihen, schrieb die «Bilanz» vor zwei Jahren. Sie spielt in der gleichen Liga wie der Zahnbürstenhersteller Trisa, die Optikerkette Visilab oder das Gastrounternehmen Bindella.

Der angestaubte Auftritt der musizierenden Salutisten in den weihnachtlichen Fussgängerzonen weltweit vermag nicht darüber hinwegzutäuschen: Die Heilsarmee ist eine breit diversifizierte und bestens strukturierte Nonprofitorganisation.

Inzwischen seien bei der Flüchtlingshilfe weniger als 1 Prozent der Mitarbeitenden Mitglieder der Kirche, schätzt Flückiger. Das Kader selbstredend; bei allen anderen reicht es, wenn sie sich mit christlichen Grundwerten wie Nächstenliebe konform erklären.

Das Image der marineblauen Wohltäter ist intakt. Es sorgt dafür, dass sich die Kollektentöpfe der Freikirchler füllen – in einer Zeit, da sich die Kirchenbänke zusehends leeren. In Bern kamen gemäss «Bilanz» schon 3800 Franken in einer Stunde zusammen, in der ganzen Schweiz eine Viertelmillion innert sechs Tagen. Während des Lockdown spendeten Schweizerinnen und Schweizer übrigens in praktisch derselben Grössenordnung.

Der Anfang

Es war auch eine Krise, welche die Flüchtlingshilfe vor vier Jahrzehnten gebar. In Sri Lanka herrschte Krieg, vor dem junge tamilische Männer in die Schweiz flüchteten. Zwei Stockwerke über dem Besprechungszimmer, in dem Mori und Flückiger an diesem Nachmittag sitzen, klingelte das Telefon. Ob die Heilsarmee die Flüchtlinge aufnehmen könne, wollte der damalige Leiter des stadtbernischen Fürsorgeamtes wissen.

Theo Stettler, zu diesem Zeitpunkt Chef der Berner Division der Heilsarmee, nahm sich dieser Aufgabe an. Er legte den Grundstein für das Asylstandbein der Heilsarmee im Kanton Bern. Man erzählt sich noch heute, dass er auch später als prägende Figur in der Leitung der Heilsarmee weiterhin Asylunterkünfte besuchte und in deren Logbüchern blätterte.

Die ersten Flüchtlinge wurden in Kirchengebäuden und im Passantenheim an der Taubenstrasse in Bern einquartiert. Im selben Jahr eröffnete die Flüchtlingshilfe das erste Durchgangszentrum in einer ehemaligen Gastarbeiterunterkunft an der Weissensteinstrasse. Ein einfacher Anfang war es keineswegs, gab es doch auch Demonstrationen gegen die Unterbringung.

Der Aufstieg

Aus dem improvisierten Einsatz wuchs die grösste Asylorganisation im Kanton Bern, die seither mehr als 100’000 Flüchtlinge begleitete. Mit Asylkoordinatorinnen und Jobcoaches wurden in den letzten vier Jahren 1000 Personen in den ersten Arbeitsmarkt integriert – ein Ziel, von dem man glaubte, es zu erreichen, sei fast nicht möglich.

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor vier, fünf Jahren weitete die HAF ihre Zuständigkeit aus: Sie betreute bis zu 25 Kollektivunterkünfte im ganzen Kanton mit bis zu 4000 Menschen. Gleichzeitig erkannte sie den Bedarf in der Arbeitsintegration, baute die kantonal grösste Sprachschule für Migrantinnen und Migranten auf und beständig weiter aus. Früh band sie Gruppen der Landeskirchen ein, sodass Freiwillige Integrationsarbeit leisteten, indem sie mit Flüchtlingen beispielsweise Ausflüge organisierten. Sie professionalisierte den Betrieb, liess sich zertifizieren, baute ihre Vorreiterrolle aus, die auf Improvisationsgeschick und Erfahrung beruhte.

Die Wertmassstäbe der Gesellschaft und die politischen Bedingungen: Sie sind in ständiger Bewegung. Für Mori als Sozialpädagoge ist das kein Ärgernis, im Gegenteil. Das sei die Realität. «Früher war eine Scheidung eine Katastrophe, heute sind viele Leute geschieden und bereits wieder verheiratet.» Das Bild der langjährigen Ehe, die mit der neuen Ausschreibung und dem Entscheid des Kantons für andere Asylsozialhilfepartner in die Brüche ging, lässt Mori nicht los. Flückiger widerspricht: Das Verhältnis mit den kantonalen Zuständigen sei eigentlich nach wie vor sehr gut.

Die Krisen

Die Organisation, die sich den Menschen in Not verschrieben hat, ist nicht skandalfrei. Im Kanton Bern musste sie sich Kritik an den Unterkünften stellen, sich Seilschaften und intransparente Buchführung vorwerfen lassen. Es sei wohl schon so, dass die bernische Administration nicht immer verstanden habe, was im Flüchtlingsbereich bei ihnen genau abgehe: So erklärt Mori die Auseinandersetzung heute. «Eine Art Ehekrise auf verschiedenen Ebenen, die über die Zahlen ausgetragen wurde.»

Kritisiert wurde die Heilsarmee auch dafür, dass sie Leistungen der zentralen Dienste in Bern an die Aussenposten verrechnet. Oder dass sie 800’000 Weihnachtsbriefe billiger in Tschechien mit Suppenbeuteln ausrüsten liess als in der Schweiz. «Als Gutmenschen sind wir natürlich immer ein wenig verdächtig», stellt Mori fest. Weil man nicht durchschaue, was jemanden bewege, für den halben Lohn zu arbeiten.

Auch personelle Zwiste machten Schlagzeilen und sorgten für breiten Protest: Eine Heimleiterin musste 2012 gehen, weil die Heilsarmee im Kaderpersonal keine gelebte Homosexualität duldet.

Der Ausblick

Auch der Markt ist im Wandel. Die Aufträge zur Integration und Betreuung von Asylsuchenden gehen weg von den Hilfswerken hin zu städtischen Organisationen oder gewinnorientierten Firmen. Flückiger glaubt, dass dieses Pendel auch wieder in die andere Richtung ausschlagen wird. «Man wird feststellen, dass jene Businessmodelle, die auf dem Buckel der Menschen versuchen Geld zu machen, auf lange Sicht nicht funktionieren werden.» Auch die Hoffnung, man könne im Flüchtlingsbereich noch weiter optimieren, habe sich immer wieder zerschlagen. Flückiger geht davon aus, dass das neue Modell nicht günstiger wird als das alte. «Wir sind bereits am Limit gelaufen.»

Den Verlust der HAF sieht er nicht darin, den 40-Millionen-Franken-Auftrag des Kantons verpasst zu haben. In der alten Struktur habe die Heilsarmee eine prägende Rolle gespielt, als Subakkordantin sei das nicht im selben Ausmass möglich. In Zollikofen und Köniz betreut die HAF im Auftrag der Stadt Bern Unterbringungen für je 70 Personen, dazu kommt nächsten Monat der Standort am Kanonenweg in der Stadt Bern.

Die HAF mag wohl auf den Personalbestand aus ihrer Gründerzeit geschrumpft sein – 25 Mitarbeitende sind es noch. Doch das Know-how, das dadurch in die kleinere Struktur zu retten gelungen sei, sagt Flückiger, mache es möglich, in neuerlichen Krisen den Betrieb wieder hinaufzufahren.



Das neue Asylregime

Die fünf regionalen Asylsozialhilfestellen Belp, Bolligen, Burgdorf, Konolfingen und Langenthal sind geschlossen. Die letzten sechs Kollektivunterkünfte verantworten seit diesem Monat neue Asylpartner, die der Kanton per Ausschreibung erkor: Halenbrücke und Mühleberg das Rote Kreuz, Schafhausen die ORS Services AG, die auch Aarwangen als Rückkehrzentrum betreibt. Gegen den Entscheid haben die Heilsarmee-Flüchtlingshilfe (HAF), Caritas und Asyl Biel & Region (ABR) Beschwerde geführt. Einen Fuss in der Türe der Kollektivunterkünfte hat die HAF weiterhin: Sie ist im Auftrag der Stadt Bern zuständig für die Standorte Zollikofen und Köniz, quasi als Subunternehmerin. (cd)
(https://www.bernerzeitung.ch/was-von-der-fluechtlingshilfe-uebrig-blieb-528974445902)


+++BASEL
Velotour d’Horizon Radio X (17.07.2020)
Die Velotour d’Horizon informiert über Asylpolitik und die Lage Geflüchteter
https://radiox.ch/hoeren/archiv.html?search=Velotour%20d%27Horizon
-> Hintergrundtext: https://radiox.ch/news-archiv/velotour_d_horizon.html


+++SCHWEIZ
Illegale Einreisen wieder so häufig wie vor der Corona-Krise
Nach der Aufhebung der Corona-bedingten Grenzkontrollen haben illegale Einreisen in die Schweiz wieder zugenommen. Während sie im März, April und Mai deutlich zurückgingen, lagen sie im Juni praktisch wieder auf Vorjahresniveau.
https://www.nzz.ch/schweiz/illegale-einreisen-wieder-so-haeufig-wie-vor-der-corona-krise-ld.1568412


+++DEUTSCHLAND
»Solch ein Aufwand für so minimale Hilfsleistung«
Mehrere Familien aus griechischen Geflüchtetenlagern in BRD angekommen. Tausende noch in »Hotspots«. Ein Gespräch mit Karl Kopp
https://www.jungewelt.de/artikel/383111.gefl%C3%BCchtete-aus-griechischen-lagern-solch-ein-aufwand-f%C3%BCr-so-minimale-hilfsleistung.html


»Es geht nicht immer nur abwärts. Das muss aus den Köpfen raus«
Fast vier Jahrzehnte lang hat Bernd Mesovic in unterschiedlichen Aufgabenbereichen die Menschenrechtsarbeit von PRO ASYL mitgeprägt. Im Herbst 2019 ging der rechtspolitische Experte in den Ruhestand – und lässt mit uns die gemeinsam gekämpften Jahre Revue passieren.
https://www.proasyl.de/news/es-geht-nicht-immer-nur-abwaerts-das-muss-aus-den-koepfen-raus/


+++GRIECHENLAND
Moria: Migrant in Flüchtlingslager auf Lesbos erstochen
Immer wieder kommt es im völlig überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos zu Gewalttaten. Seit Jahresbeginn wurden mindestens sieben Menschen erstochen.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/moria-fluechtlingslager-lesbos-erstochen-toter-griechenland-krise
-> https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-afghanischer-asylsuchender-bei-auseinandersetzung-auf-lesbos-erstochen-a-9e302742-c924-43fa-b6b8-ea83ce462290


+++ITALIEN
Fortgesetzte Tragödie auf Lampedusa
Politik ignoriert unhaltbare Zustände im Auffanglager für Flüchtlinge und Migranten auf der Mittelmeerinsel
Auch während der Coronakrise kommen weiter Flüchtlinge an. Italiens rechtsextreme Lega setzt in ihrer Propaganda nun wieder verstärkt auf Angstmache vor Migration. Politiker in Lampedusa wollen für das dortige Lager den Notstand ausrufen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1139686.gefluechtete-im-mittelmeer-fortgesetzte-tragoedie-auf-lampedusa.html


Migranten in Italien Zahl der Bootsflüchtlinge steigt wieder
Nachdem 2019 weniger Migranten auf dem Seeweg nach Italien kamen, steigt die Zahl wieder. Das Aufnahmezentrum auf der Insel Lampedusa ist um ein Vielfaches überbelegt. Der Bürgermeister nennt die Situation „unkontrollierbar“.
https://www.tagesschau.de/ausland/lampedusa-127.html


+++GASSE
Gegen Drogendeals und Alkoholkonsum: Nun erhält die Dreirosen drei Ranger
Der Brennpunkt Dreirosenanlage kommt nicht aus den Negativschlagzeilen. Seit Juni soll ein Rangerteam die Probleme an der Wurzel packen.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/gegen-drogendeals-und-alkoholkonsum-nun-erhaelt-die-dreirosen-drei-ranger-138569355


Europaweit 28 Kiffer-Tote in zwei Jahren –  Krampfanfälle und Erbrechen: In Luzern ist gefährliches Gras im Umlauf
Kiffen statt Pillen schmeissen: Weil während des Lockdowns keine Partys stattfanden, sind viele Drogen-Konsumenten von Ecstasy und MDMA auf Cannabis umgestiegen. Das ist gefährlich – weil derzeit mit Stoff gedealt wird, der im schlimmsten Fall tödlich wirken kann.
https://www.zentralplus.ch/krampfanfaelle-und-erbrechen-in-luzern-ist-gefaehrliches-gras-im-umlauf-1849391/


+++DROGENPOLITIK
spiegel.de 27.07.2020

Schweizer Ex-Bundespräsidentin: „Wir können belegen, dass eine andere Drogenpolitik erfolgreicher ist“

War es klug, den Drogen den Krieg zu erklären? Keineswegs, sagt die ehemalige Schweizer Bundespräsidentin Ruth Dreifuss.

Ein Interview von Marco Evers

Dreifuss, 80, war von 1994 bis 2002 Chefin des Schweizer Ministeriums für Gesundheit, Soziales und Kultur, 1999 war sie Bundespräsidentin. Seit 2016 steht die Sozialdemokratin der prominent besetzten „Weltkommission für Drogenpolitik“ vor, die sich für eine an Gesundheit und Menschenrechten orientierte Wende im staatlichen Umgang mit Cannabis und anderen Suchtmitteln einsetzt.

SPIEGEL: Vor fast 50 Jahren haben die USA den „Krieg gegen die Drogen“ ausgerufen. Was hat er gebracht?

Dreifuss: Er ist voll und ganz gescheitert. Repression wirkt nicht. Der Drogenkonsum hat sich fast weltweit verschlimmert, und ebenso die gesellschaftlichen Probleme, die von den Drogen ausgehen. Der Schwarzmarkt stärkt die organisierte Kriminalität und steigert die Gefährlichkeit der Stoffe. Insbesondere Lateinamerika verzeichnet eine Explosion von Gewalt, die in der Geschichte dieser Länder einzigartig ist.

SPIEGEL: Wie lautet die Alternative?

Dreifuss: Wir können belegen, dass eine Drogenpolitik erfolgreicher ist, wenn sie auf die Gesundheit und soziale Integration der Nutzer setzt. In der Schweiz haben wir vor über 25 Jahren die kostenlose, kontrollierte, heroingestützte Behandlung für schwerabhängige Menschen eingeführt. Viele dieser Süchtigen führen seither ein stabiles Leben im Gleichgewicht, manche werden allmählich so alt, dass sie nach und nach in Seniorenheime ziehen, die sich für diese besondere Klientel rüsten müssen. Das ist ein schönes Problem. Wahrscheinlich würde ohne diese Behandlung keiner von ihnen heute noch leben.

SPIEGEL: Viele Länder bekämpfen Drogen und ihre Nutzer immer noch brutal, was viele Menschenleben kostet.

Dreifuss: Die Philippinen, Singapur, aber auch Thailand oder Kambodscha, hängen nach wie vor dem Modell des totalen Krieges an. Aber selbst Staaten, von denen man es kaum erwarten würde, öffnen sich langsam den Maßnahmen zur Schadensminderung, die in Europa entwickelt wurden. In China und in Iran gibt es zum Beispiel die Methadonsubstitution für Süchtige, ihnen wird auch sauberes Injektionsmaterial gestellt.

SPIEGEL: Kündigt sich da ein grundlegender Umbruch an?

Dreifuss: Ich glaube schon. Viele Länder wollen die gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden nicht mehr tragen, die mit der Repression einher gehen. Ecuador zum Beispiel hat Tausende von kleinen Drogen-Schmugglern von der Haft verschont, weil die politisch Verantwortlichen erkannt haben: Es ist besser, wenn sie für ihre Familien sorgen, als dass sie ins Gefängnis gehen.

SPIEGEL: Zahlreiche Staaten lassen in der Coronakrise Gefangene frei, die wegen gewaltlosen Drogendelikten einsaßen. Ist das ein Beispiel dafür, dass Gesundheitsschutz jetzt höher bewertet wird als Strafjustiz?

Dreifuss: Die überfüllten Gefängnisse sind jedenfalls sehr gefährliche Infektionsherde für Gemeinschaften innerhalb und außerhalb der Mauern. Viele Menschen erkennen jetzt aber auch, dass diese Leute dort nichts zu suchen hatten. Die Gefährdung der Gesellschaft geht nicht von ihnen aus.

SPIEGEL: Sind Drogen nicht verboten, eben weil sie so gefährlich sind?

Dreifuss: Leider nein. Cannabis zum Beispiel ist von der Pharmakologie und den sozialen Folgen her weniger riskant als Alkohol oder Tabak. Aber wie so oft bei psychoaktiven Substanzen, hat die Beurteilung, was legal konsumierbar sein soll und was nicht, eher wenig mit der Realität zu tun. Sie hat aber sehr viel zu tun mit Vorurteilen über die Konsumenten des jeweiligen Mittels. Die Tendenz dabei geht so: Wenn die Nutzer weiß sind, gut integriert, mit so wenig Migrationshintergrund wie möglich, dann ist ihre Droge wahrscheinlich legal.

SPIEGEL: Der „Weltkommission für Drogenpolitik“ gehören unter anderem 14 Ex-Premierminister und Ex-Staatschefs aus allen Erdteilen an, mit dem Schriftsteller Mario Vargas Llosa ist sogar ein Literaturnobelpreisträger dabei. Wie oft treffen Sie sich – und was bringt Sie als Gruppe zusammen?

Dreifuss: Wir sehen uns nur einmal im Jahr auf einer Konferenz. Aber wir reisen sehr viel in wechselnden Zweier- und Dreierdelegationen. Im Thema Drogenpolitik bündelt sich sehr vieles, für das wir uns auch früher schon eingesetzt haben. Hier geht es um Gesundheit, um Soziales, Kulturelles, um Grundrechte und Wirtschaft – und um den Kampf zwischen Ideologie und Sachlichkeit.
(https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/ruth-dreifuss-der-krieg-gegen-die-drogen-ist-voll-und-ganz-gescheitert-a-18e740bf-b712-4b71-9c6b-d21b132e46bf)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Unsere Kämpfe lassen sich nicht einkesseln!
Ein Statement zum TINF (Trans-Inter-Non-Binär-Frauen)-Streik am 14.6.2020 in Basel, verfasst von einigen TINF-Personen, die teilgenommen haben.
https://barrikade.info/article/3734


Stoppt die menschenverachtende Asylpolitik!
In Basel wurde ein Transpi zu den Asylentscheiden des SEM’s entdeckt.
https://barrikade.info/article/3733


+++REPRESSION DE
BUND DEUTSCHER KRIMINALBEAMTER: FIEDLER FORDERT VIDEOÜBERWACHUNG ALS SIGNAL GEGEN RANDALIERER
Videoüberwachung sende das Signal, wer randaliere werde auch identifiziert und dem Richter vorgeführt, sagte Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter im Dlf. Eine Videoüberwachung „relevanter Hotspots“ sei deshalb geboten. Auch Alkoholverbotszonen in eng begrenzten Arealen seien sinnvoll.
https://www.deutschlandfunk.de/bund-deutscher-kriminalbeamter-fiedler-fordert.694.de.html?dram:article_id=481281


+++REPRESSION IL
Mit Wasserwerfer gegen Protestierende
Offenbar schon seit einiger Zeit verwendet die israelische Polizei Wasserwerfer, um Teilnehmende der Protestaktionen gegen die Regierung auseinanderzutreiben. Gegen die geltenden internen Vorschriften wurde der starke Wasserstrahl auch gegen die Köpfe der Menschen gerichtet.
https://www.tachles.ch/artikel/news/mit-wasserwerfer-gegen-protestierende


+++KNAST
Häftling im Bostadel in Menzingen positiv getestet – ganzes Gefängnis musste in Quarantäne
Im Gefängnis Bostadel in Menzingen hat sich ein Häftling mit dem Coronavirus infiziert. Nachdem alle 120 Gefangenen und 85 Mitarbeitenden getestet wurden, konnte die Quarantäne gelockert werden.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/haeftling-im-bostadel-in-menzingen-positiv-getestet-ganze-strafanstalt-musste-in-quarantaene-ld.1241936
-> https://www.zentralplus.ch/haeftling-positiv-getestet-ganzes-zuger-gefaengnis-unter-quarantaene-1853823/
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/zentralschweiz/haeftling-vom-bostadel-in-menzingen-zg-positiv-auf-corona-getestet-ganzer-knast-unter-quarantaene-id16013838.html


+++RASSISMUS
antira-Wochenschau: Letztes NGO-Rettungsschiff festgesetzt, Sonderflüge alle 10 Tage, antirassistische Technologiekritik
https://antira.org/2020/07/27/antira-wochenschau-letztes-ngo-rettungsschiff-festgesetzt-sonderfluege-alle-10-tage-antirassistische-technologiekritik/


„Rassismus hat übrigens nichts mit der Hautfarbe zu tun.“
„Rassismus hat übrigens nichts mit der Hautfarbe zu tun.“ – Seite 1
In einer rassistischen Welt gilt: Je heller die Haut, desto besser. Colorism schürt auch in Schwarzen Communities Konkurrenz, sagt Wissenschaftlerin Maisha-Maureen Auma.
https://www.zeit.de/campus/2020-07/maureen-maisha-auma-erziehungswissenschaftlerin-colorism-schwarze-community-rassismus/komplettansicht


+++RECHTSEXTREMISMUS
NSU 2.0: Beschuldigter Ex-Polizist ist rechter Blogger
Im Fall der Bedrohung von Politikerinnen verdächtigen die Ermittler einen ehemaligen Kollegen. Der sieht sich als Opfer einer Intrige.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-07/nsu-2-0-ex-polizist-verdaechtiger-rechter-blogger-drohschreiben


„NSU 2.0“-Drohmails: Rechte Trittbrettfahrer
Mit der Festnahme im Komplex „NSU 2.0“-Drohmails sind die Ermittlungen noch längst nicht abgeschlossen. Die Verdächtigen aus Bayern sind offenbar Trittbrettfahrer. Der Überblick.
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-2-0-drohmails-was-ist-zu-dem-fall-bekannt-a-856231e7-4885-4f1c-b034-bf8912d9553d
-> https://www.hessenschau.de/politik/festgenommener-ex-polizist-bestreitet-verbindung-zu-nsu-20-drohschreiben,nsu-2-0-festnahme-100.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/deutsches-paar-wird-voruebergehend-festgenommen-270244081855
-> https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-07/zwei-vorlaeufige-festnahmen-wegen-nsu-2-0-drohmails
-> https://www.br.de/nachrichten/bayern/nsu-2-0-drohmails-ex-polizist-aus-bayern-unter-verdacht,S5wcxkP
-> https://www.tagesschau.de/inland/nsu20-drohmails-101.html
-> https://www.nzz.ch/international/nsu-drohmails-staatsanwaltschaft-verdaechtigt-bayerisches-ehepaar-ld.1568462
-> https://www.derstandard.at/story/2000119009302/zwei-personen-wegen-nsu-2-0-drohmails-voruebergehend-festgenommen


Datenmissbrauch durch Polizeibeamte: Keine Einzelfälle
Deutschland diskutiert über hunderte Fälle missbräuchlicher Datenzugriffe durch Polizist:innen. Doch die Dunkelziffer dürfte noch weit über der bekannten Zahl liegen. Das Problem ist fehlende Kontrolle.
https://netzpolitik.org/2020/datenmissbrauch-durch-polizeibeamte-keine-einzelfaelle-nsu20-hessen/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/383113.freie-radikale-des-tages-hessische-polizisten.html


Prozess gegen Halle-Attentäter: Spendable Scharfmacher
Terrorprozess in Magdeburg: Halle-Attentäter erhielt ideologische und finanzielle Anreize via Internet
https://www.jungewelt.de/artikel/383085.prozess-gegen-halle-attent%C3%A4ter-spendable-scharfmacher.html


USA: Rechter Wahlkampf zwischen Corona und Black Lives Matter
Die gute Nachricht zuerst: Drei Wochen Massenproteste gegen Rassismus und Polizeibrutalität infolge des Mordes an George Floyd haben die Zustimmungsraten für den US-Präsidenten und die Trumpisten noch weiter nach unten gehen lassen. Der Demokrat Joe Biden, der seit Wochen US-weit mit bis zu acht Prozentpunkten vor Trump liegt, hat sich mittlerweile auch in wichtigen Swing States – dort also, wo die Präsidentschaftswahlen wegen des komplizierten Wahlsystems entschieden werden – knapp vor Trump gesetzt. Die schlechte Nachricht: Die Demokraten haben bis heute kaum eine Vorstellung oder einen Begriff von der durch Trump beschädigten bürgerlichen US-Demokratie, ganz zu schweigen von einem tragfähigen Konzept, wie die langsame „Faschisierung“ aufgehalten werden könnte.
https://www.antifainfoblatt.de/artikel/usa-rechter-wahlkampf-zwischen-corona-und-black-lives-matter


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Waldspaziergang mit Extremisten: „Spiegel“ sieht Hildmann vor lauter Bäumen nicht
All jenen, die sich in den sozialen Medien gerade darüber aufregen, dass der „Spiegel“ sich mit dem Extremisten Attila Hildmann zu einem lauschigen „Waldspaziergang“ getroffen hat, muss man, wie üblich, zurufen: Lest das Stück erstmal! Lest es doch erstmal! Es ist nämlich noch viel schlimmer, als ihr glaubt.
https://uebermedien.de/51469/spiegel-sieht-hildmann-vor-lauter-baeumen-nicht/



spiegel.de 26.07.2020

Waldspaziergang mit Attila Hildmann: „Seit 75 Jahren hat sich in Deutschland keiner so aus dem Fenster gelehnt wie ich“

Seit Monaten verbreitet der vegane Koch Attila Hildmann Verschwörungsmythen, nun ermittelt die Berliner Polizei. Ein Treffen mit einem Mann, der sich auf erstaunliche Weise radikalisiert hat.

Von Alexander Kühn und Jean-Pierre Ziegler

Wer Attila Hildmann mal ganz sanft erleben will, muss mit ihm in den Wald gehen. Unweit des Wandlitzer Sees, nördlich von Berlin, wo Hildmann fast täglich seinen Husky Akira ausführt, so auch an diesem Mittwoch. „Na, Süßer“, sagt er zu dem Hund. Er habe „den kleinen Racker“ aus dem Tierheim zu sich geholt, vor zweieinhalb Jahren. Neulich hätten anonyme Mailschreiber damit gedroht, Akira zu töten, „sie wollen mir das Liebste nehmen“.

Auf dem Waldweg liegt ein Käfer auf dem Rücken, er schafft es nicht aus eigener Kraft auf die Füße. Hildmann dreht ihn um und setzt ihn an den Wegesrand. Kein Tier soll leiden, wenn es nach Hildmann geht, dem veganen Kochbuchautor und Unternehmer. Der Grüne Volker Beck hingegen schon. „Wenn ich Reichskanzler wäre, dann würde ich die Todesstrafe für Volker Beck wieder einführen, indem man ihm die Eier zertretet auf einem öffentlichen Platz!“ Das verkündete Hildmann vorigen Samstag auf einer Corona-Protestaktion vor dem Alten Museum in Berlin.

Tiere schützen, Menschen schlachten, so recht passt das nicht zusammen. Aber das trifft auf vieles zu, was Hildmann in den vergangenen Wochen von sich gab. Seit Mai organisiert der 39-Jährige Kundgebungen, auf denen er Verschwörungsmythen verbreitet. Er behauptet, US-Milliardär Bill Gates und die Kanzlerin wollten die Menschheit dezimieren, oder ruft: „Die Weltbank wird regiert von den Rothschilds, und das sind nun mal die Zionisten!“

Erstaunliche Radikalisierung

Juristische Konsequenzen seiner Tiraden sind bislang nicht bekannt, doch bei der jüngsten Kundgebung vor dem Alten Museum ging er womöglich zu weit. Statt seiner schwarz-rot-goldenen Flagge schwenkte er die schwarz-weiß-rote des Deutschen Reichs, nannte Adolf Hitler verglichen mit Angela Merkel „einen Segen“ und ließ seiner Gewaltfantasie gegen Ex-Politiker Beck freien Lauf. Der zeigte Hildmann daraufhin an wegen Beleidigung, Volksverhetzung und Anstiftung zu einer Straftat. Das Landeskriminalamt Berlin ermittelt, die Versammlungsbehörde hat seine für diesen Samstag geplante Demonstration untersagt. Es wird ernst.

Die Strafverfolger hätten Hildmanns Treiben zu lange tatenlos zugesehen, monieren Kritiker. Hildmanns Drohungen schienen die Behörden bislang „nicht die Bohne“ zu interessieren, sagte Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) nannte Hildmanns Äußerungen „brandgefährlich“, seine „faschistische Rhetorik stiftet entsprechende Taten an“. Thorsten Frei, Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag, sagte der „Rheinischen Post“, eine harte Verfolgung sei „rechtlich möglich“.

Doch Hildmann wiegelt ab. Die Vorwürfe gegen ihn seien „absolut lächerlich“. Man versuche, ihm „Angst einzujagen, aber dafür müssen die sich einen anderen Idioten suchen“. Zurücknehmen mag er nichts, gleichwohl weist er darauf hin, dass er im Konjunktiv spreche: „Ich habe gesagt: Wenn ich Reichskanzler wäre, würde ich das anordnen. Und? Haben wir in Deutschland einen Reichskanzler? Nein. Sehen Sie! Ich hätte auch sagen können ‚Wenn ich Kaiser von China wäre‘, das ist dasselbe!“

Hildmann hat eine erstaunliche Radikalisierung hinter sich. Als Autodidakt schrieb er erfolgreich vegane Kochbücher und trat als hipper Gesundheitskoch im Fernsehen auf. Schon 2016 fiel er mit rechten Aussagen zur Flüchtlingskrise auf, doch seit Corona werden seine Aussagen im Wochentakt schärfer, absurder, irrlichternder.

Zum Waldspaziergang trägt er ein olivgrünes T-Shirt mit einem Bundesadler. Wenn er erzählt, geht es häufig darum, dass er sich nie unterkriegen ließ. Geboren wurde er in Berlin als Kind türkischer Eltern, die ihn zur Adoption freigaben. Er wuchs bei einem deutschen Ehepaar auf. Nach eigenen Aussagen wurde er Veganer, nachdem sein Adoptivvater 2000 an einem Herzinfarkt gestorben war.

Als Schüler gehörte er nirgends dazu. Die deutschen Mitschüler hätten nichts mit ihm anfangen können, sagt er, „für die Ausländer war ich ein Bastard“. Er sei von Gangs verprügelt worden, „bis ich mich wehrte und zu einem Mann wurde“. Er zeigt eine Narbe am Hals, „da hat mir jemand ein Messer an die Kehle gehalten“. Und eine am linken Arm, „eine Messerstecherei“. Jetzt, als Erwachsener, steht er da und will Deutschland verteidigen.

Hildmann redet auch gern über seine Bildung. Bereits als Jugendlicher habe er sich „mit den großen Philosophen beschäftigt“. Wer sich mit ihm unterhält, hat allerdings den Eindruck, dass er einiges nicht mitbekommt von der Welt. Oder zu viel davon, je nachdem. Die Verarbeitung der Informationen, die er sich ergoogelt, scheint ihm jedenfalls einiges abzuverlangen. Es wirkt, als werde alles, was Hildmann aufschnappt, in seinem Kopf wild zusammengemischt. Heraus kommt eine ungenießbare Masse.

Er ist nicht stringent, weder in seinen Argumenten noch in seinen Taten. Am Dienstag veröffentlichte er ein YouTube-Video, in dem er für seinen Energydrink wirbt, aber auch sagt: „Der SPIEGEL hat mich 20-mal angerufen. Der will unbedingt ein Interview, das werde ich nicht geben.“ Am nächsten Vormittag schlägt er per SMS einen Spaziergang im Wandlitzer Wald vor: „Wann können Sie da sein?“ Er wohnt in der Nähe.

Der Wald ist eine perfekte Kulisse für seine Inszenierung. Ernst Jünger, Lieblingsautor der deutschen Rechten, zudem Käfersammler, vertrat einst die These, dass der Mensch nur im Wald wahrhaft frei sein könne. Als „Waldgänger“, der sich gedanklich unabhängig hält und Widerstand leistet, falls der Staat verbrecherisch wird. So ähnlich sieht Hildmann sich: Als einen der letzten Aufrechten in einem Land, das auf dem Weg in die Diktatur sei.

Hildmann weist wie beiläufig darauf hin, dass Huskys „nah am Wolf“ seien. Dass der Hitlers Lieblingstier war, muss er nicht extra erwähnen. Es ist eine von vielen Anspielungen an diesem Tag. Er sagt auch: „Seit 75 Jahren hat sich in Deutschland keiner so aus dem Fenster gelehnt wie ich.“ Er habe keine Angst davor, ins Gefängnis zu kommen. „Im schlimmsten Fall sperren die mich zwei Jahre ein. Dann habe ich genügend Ruhe, ein Buch zu schreiben.“

Es sind Provokationen, Testballons. Auf die Frage, wie weit er von Hitler entfernt sei, grinst er. „So weit weg, dass wir dieselben Initialen haben.“ Hildmann zählt die Spitznamen auf, die sie ihm bei Twitter verpasst haben. „Hirse-Hitler“, „Avocadolf“. Er lacht, als wären es Ehrentitel. Hildmann wirkt wie die Hauptfigur in einem Remake der Komödie „Er ist wieder da“, in der eine schlechte Hitler-Kopie durchs heutige Berlin irrt und erstaunlich viel Anklang findet. Nur dass die Hildmann-Fassung als Trauerspiel angelegt ist.

Probebühne des Grauens

Es gibt zwei Orte, an denen Hildmann seinen Anhängern eine Heimat bietet. Der eine ist sein Imbisslokal in Berlin-Charlottenburg, am Dienstagabend waren dort anzutreffen: eine ältere Frau mit „Gib Gates keine Chance“-Sticker auf dem Oberteil, die sich damit brüstete, nie eine Schutzmaske zu tragen; und eine Frau, die stolz berichtete, ihr HNO-Arzt habe sie heute per Attest vom Maskentragen befreit. Feierstimmung am Tisch.

Die zweite Heimat ist Hildmanns Telegram-Kanal mit 67.000 Abonnenten, seine Probebühne des Grauens. Dort hatte er bereits die Gewaltfantasie zu Beck lanciert, bevor er sie vor dem Alten Museum kundtat. Auf Telegram hat er 1000 Euro geboten, um an Namen und Adressen missliebiger Personen zu kommen. Die Behörden schien es nicht zu stören. Mario Heinemann, Sprecher der Brandenburger Polizei, wehrt sich jedoch gegen den Eindruck, seine Kollegen seien untätig. „Wir tun ’ne ganze Menge“, vieles davon im Hintergrund: Drei Beamte seien in den vergangenen beiden Wochen ausschließlich mit Hildmanns Postings beschäftigt gewesen. 1300 Mitteilungen habe man binnen einer Woche bekommen.

Seit Mai läuft bei der Staatsanwaltschaft Cottbus ein Verfahren wegen Volksverhetzung gegen Hildmann; sie ist für Straftaten im Internet zuständig, wenn der Beschuldigte in Brandenburg wohnt. Anklage hat sie noch nicht erhoben, einem Sprecher zufolge gibt es lediglich einen Anfangsverdacht. Die Dauer des Verfahrens sei „völlig normal“.

Dass Hildmann sich auf Beck einschoss, ist offenbar das Resultat einer für ihn typischen Assoziationskette. Sie habe ihren Anfang genommen mit einem Anschlag, der Mitte Juli auf seinen Imbiss verübt worden sei, erzählt er. Hildmann vermutete dahinter die Antifa. Er habe gegoogelt und ein Zitat von Grünenpolitikerin Renate Künast gefunden, die eine verlässliche finanzielle Förderung der Antifa verlangte. Daraufhin habe er begonnen, sich in die Geschichte der Grünen einzugraben, und kam offenbar in den Achtzigerjahren wieder heraus. Damals wollte Jungpolitiker Beck Sex mit Kindern erlauben, wofür er sich später entschuldigte. Hildmann hatte in ihm ein neues Hassobjekt gefunden.

„Man müsste mit Pädophilen noch schlimmere Sachen machen“, sagt er. „Die Eier zertreten, das ist doch keine schlimme Todesstrafe für jemanden, der Sex mit Zwölfjährigen legalisieren wollte.“ Wie ginge er damit um, wenn jemand seine Fantasie gegen Beck in die Tat umsetzte? Hildmann lacht, reißt ein Blatt am Wegesrand ab, schweigt eine Zeit lang und sagt: „Niemand soll sich strafbar machen, das ist es nicht wert.“ Er denkt noch einmal nach. „Beck verdient lebenslange Haft. Ich hoffe, dass er sich bei mir entschuldigt.“

Hildmann sagt, er werde weitermachen, „bis ich die Macht habe“. Er wolle eine Partei gründen, in den kommenden Wochen werde man mehr davon hören. Das Ziel: „Der deutsche Arbeiter, der deutsche Bauer sollen endlich wieder das Gefühl haben, dass sie für Deutschland arbeiten, nicht für Europa.“ Den Hinweis, dass es bereits die AfD gebe, kontert er: „Die sind eine Linkspartei, im Vergleich zu mir.“

Triumphierendes Grinsen.

Man kann Hildmann widersprechen, ihn unterbrechen, abrupt das Thema wechseln, er bleibt fast durchweg freundlich. Man kann ihn auch fragen, ob er in psychologischer Behandlung sei oder es jemals war, beides verneint er. Nur einmal wird er zornig: Bei der Frage nach seinem Antrieb. Weil man immer noch nicht begriffen habe, warum er all das macht. Hildmann redet von Menschenrechten. Von Freiheit. Und Deutschland.

Geht es ihm nicht eher um ihn selbst, seine eigene Berühmtheit? Da schaut Hildmann beleidigt zu Boden.
(https://www.spiegel.de/panorama/attila-hildmann-seit-75-jahren-hat-sich-in-deutschland-keiner-so-aus-dem-fenster-gelehnt-wie-ich-a-00000000-0002-0001-0000-000172178900)


+++HISTORY
Anti-fascists linked to zero murders in the US in 25 years
As Trump rails against ‘far-left’ fascism, new database shows leftwing attacks have left far fewer people dead than violence by rightwing extremists
https://www.theguardian.com/world/2020/jul/27/us-rightwing-extremists-attacks-deaths-database-leftwing-antifa


Belgisches Kolonialerbe im Kongo: Ruhe vor dem Bildersturm
Während in Belgien Statuen von König Leopold II. abgebaut werden, blickt im Kongo das Abbild des Kolonialherrschers unbehelligt auf die Hauptstadt Kinshasa herab. Die Menschen hier haben andere Sorgen.
https://www.tagesanzeiger.ch/ruhe-vor-dem-bildersturm-478579913204


Spionagebuch mit lokalen Anekdoten: Wie der Zuger Stapi der Polizei unsichere Funkgeräte andrehen wollte
Ein Doku-Thriller, fast so spannend wie ein Agentenroman: Das neue Buch von Res Strehle über die Zuger Crypto AG enthält akribische Recherchen über den Spionagefall – und persönliche Erinnerungen.
https://www.zentralplus.ch/wie-der-zuger-stapi-der-polizei-unsichere-funkgeraete-andrehen-wollte-1852765/


«Operation Crypto»: Neues Buch über Zuger Firma – Strehle: So half Rohstoffhändler Marc Rich der CIA aus der Patsche
Erneut befasst sich der Journalist Res Strehle mit der Verschlüsselungsfirma Crypto AG, die jahrzehntelang im Besitz von ausländischen Geheimdiensten war. In seinem neuen Buch analysiert er die Rolle der Schweiz in der Affäre – und wartet mit zusätzlichen Überraschungen auf.
https://www.zentralplus.ch/strehle-so-verhalf-rohstoffhaendler-marc-rich-der-cia-aus-der-patsche-1852207/