Medienspiegel 23. Juli 2020

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+++BERN
bernerzeitung.ch 23.07.2020

Rückkehrzentrum Aarwangen: Unerwünscht

Seit Monatsbeginn leben in der Kollektivunterkunft nur noch Menschen mit negativem Asylbescheid. Zahlreiche bisherige Bewohnerinnen und Bewohner wurden inmitten der Corona-Ausnahmesituation andernorts untergebracht.

Kathrin Holzer

In Aarwangen angekommen, um alsbald zu gehen: Das ist das Schicksal von derzeit gut 120 Personen, die administrativ erfasst sind in der Kollektivunterkunft im ehemaligen Knabenheim an der Eyhalde. Seit Anfang Juli – zeitgleich mit der Übergabe von der Heilsarmee als bisherige Betreiberin an die ORS Service AG als neue Mandatsträgerin des Kantons – wird die Unterkunft nun als eines von vier sogenannten Rückkehrzentren im Kanton Bern betrieben.

Der Unterschied: Waren in Aarwangen zuvor sowohl abgewiesene Asylbewerberinnen und -bewerber als auch solche mit laufendem Verfahren untergebracht, leben im Rückkehrzentrum nun ausschliesslich Nothilfe beziehende Personen. Sie haben vom Staatssekretariat für Migration (SEM) bereits einen Negativ- und Wegweisungsentscheid erhalten und haben daher die Pflicht, die Schweiz zu verlassen.

Für das Dorf ist diese Situation an sich nichts Neues: Schon früher beherbergte die Kollektivunterkunft zeitweise ausschliesslich abgewiesene Asylbewerberinnen und -bewerber. Eine gute Betreuung der Asylsuchenden mit Fachpersonal und deren Unterstützung auch bei der Wiedereingliederung in der Heimat vorausgesetzt, sah Gemeindepräsident Kurt Bläuenstein (FDP) der neuerlichen Zweckänderung der Kollektivunterkunft im April denn auch ohne grosse Besorgnis entgegen.

Die einen kommen, die anderen gehen

Inzwischen ist der Wechsel zum Rückkehrzentrum vollzogen – trotz Ausnahmezustands angesichts der Pandemie. Wobei wegen der Corona-Massnahmen aktuell über alle vier kantonalen Rückkehrzentren gegen 50 Personen extern platziert seien, heisst es beim zuständigen Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern auf Anfrage. Unter normalen Umständen hätten in der Unterkunft in Aarwangen dem Amt zufolge sogar 180 Bewohnerinnen und Bewohner Platz. Zuletzt sei die Belegung in der Kollektivunterkunft aber bei durchschnittlich 145 Personen gelegen. Diejenigen von ihnen, deren Asylbescheid noch aussteht, galt es nun andernorts unterzubringen.

Wie viele der bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner der Aarwanger Unterkunft im Zug der Umstrukturierung umplatziert werden mussten, kann das Amt für Bevölkerungsdienste angesichts der generell hohen Fluktuationen in den Kollektivunterkünften nicht sagen. Die Betroffenen seien aber in verschiedene andere Unterkünfte im Kanton Bern «transferiert» worden.

Etwas konkretere Angaben liefert Gundekar Giebel von der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI): Ein grosser Teil der betroffenen Menschen sei in der Kollektivunterkunft Schafhausen im Emmental platziert worden. Wobei die Pandemie ebenfalls ihren Einfluss hatte: «Die gesamten Transfers mussten aufgrund von Covid-19 sehr schnell und pragmatisch vonstattengehen», verweist Giebel auf die angestrebte Belegung von maximal 60 Prozent und die daraus resultierte Eröffnung weiterer Unterkünfte im Kanton.

Hoffen auf die Bundesrichter

Ebenfalls wegen Covid-19 konnten manche Personen auch bei Verwandten, Bekannten und Freunden wohnen, allerdings nur für einen befristeten Zeitraum. Für sie kämen anschliessend wieder die Bestimmungen für einen Auszug in eine Individualunterkunft zum Tragen, heisst es bei der GSI. Auch Flüchtlinge, die schon länger in den Kollektivunterkunftsstrukturen waren, seien teilweise in Wohnungen untergebracht worden. Wobei Familien primär in Kollektivunterkünften platziert würden und in der Regel erst bei Erreichen der Integrationsziele in Wohnungen ziehen sollen.

Im Aarwanger Rückkehrzentrum hoffen derweil einige Bewohnerinnen und Bewohner weiterhin auf eine wenigstens vorläufige Aufnahme in der Schweiz. Gemäss Auskunft des Amtes für Bevölkerungsdienste sind von etwa 400 Dossiers im Kanton Bern gegenwärtig um die 70 ausserordentliche Rechtsmittel beim Bundesverwaltungsgericht hängig.



Der Kanton sieht Handlungsbedarf

Quasi zeitgleich mit der Eröffnung der neuen Rückkehrzentren im Kanton haben Bewohnerinnen und Bewohner von diesen Kritik geübt an ihren neuen Unterkünften. Darin sei ein Leben in Würde und Respekt nicht möglich. Die Betroffenen erhalten dort die verfassungsrechtliche Nothilfe, heisst: Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Hygiene, obligatorische Krankenversicherung und für schulpflichtige Kinder den Zugang zur Volksschule. Einer Arbeit nachgehen oder Deutschkurse besuchen dürfen sie nicht.

Rückkehrzentren seien «offene Gefängnisse am Rande der Gesellschaft», monieren die Mitglieder der Gruppe Stopp Isolation. Und sie erinnern daran, dass sie «nicht zum Spass in der Schweiz» seien, sondern weil sie nicht anders könnten. Die Verzweiflung der Betroffenen: Sie wurde auch am vergangenen Montag wieder deutlich, als sich ein in einem der Rückkehrzentren untergebrachter Mann bei einer Demonstration auf dem Bundesplatz selber anzündete.

Im Kanton Bern sei die Ausrichtung der Nothilfe gesetzlich klar und umfassend geregelt, sagt indes die Sicherheitsdirektion. Die in den kantonalen Rückkehrzentren untergebrachten und betreuten Personen hätten sich bis anhin ihrer gesetzlichen Pflicht widersetzt, die Schweiz zu verlassen. Ein menschenwürdiges Dasein sei in den Zentren zu jeder Zeit gewährleistet. «Sollten punktuell Defizite bekannt werden, werden diese umgehend geprüft und wenn nötig behoben.»

Wobei der Kanton in Aarwangen offenbar ohnehin Handlungsbedarf erkannt hat. So habe sich «im Zuge der Übernahme der Liegenschaft von der bisherigen für die Betreuung zuständigen Betreiberin die Notwendigkeit von Instandsetzungsarbeiten ergeben», schreibt das Amt für Bevölkerungsdienste. Das Amt sei mit der ORS Service AG im Gespräch, damit punktuelle Massnahmen «die nicht optimale infrastrukturelle Situation zeitnah verbessern».

Neben Einzelpersonen leben in der Kollektivunterkunft Aarwangen auch Familien. Um den Betrieb gemäss den kantonalen Richtlinien sicherzustellen, setzt die ORS Service AG derzeit bis zu zwölf Mitarbeitende ein. Den gut 120 Bewohnerinnen und Bewohnern stehen in der Unterkunft 6 Küchen mit mehreren Kochgelegenheiten zur Verfügung sowie 13 WCs und 9 Duschen.

Bei der Zimmerbelegung werde auf die kulturellen und ethnischen Hintergründe der Bewohner Rücksicht genommen, schreibt das Amt für Bevölkerungsdienste. Auch werde darauf geachtet, dass Familien zusammen in einem Zimmer untergebracht würden. «Je nach Zimmergrösse und Bedürfnissen kann die Belegung variieren. Die Zuteilung erfolgt situativ, wobei auf die Einhaltung der Corona-Schutzmassnahmen geachtet wird.» So stünden für Verdachtsfälle und positiv getestete Personen in der Unterkunft Isolierzimmer zur Verfügung, mit vermehrten Kontrollgängen und regelmässigen Temperaturmessungen werde der Gesundheitszustand überprüft, und je nach Krankheitsverlauf wird in Absprache zwischen Pflegefachpersonen, Ärzten und Behörden über weiterführende Massnahmen entschieden. (khl)
(https://www.bernerzeitung.ch/unerwuenscht-448843240773)


+++AARGAU
Einige Flüchtlinge im Kanton Aargau erhielten zu wenig Geld
Flüchtlinge im Aargau sollen teilweise zu wenig Geld erhalten haben. Ab Oktober werden Anpassungen vorgenommen. Die Kursänderung durch den SVP-Asyldirektor Jean-Pierre Gallati löst auf politischer Ebene unterschiedliche Reaktionen aus.
https://www.telem1.ch/aktuell/einige-fluechtlinge-im-kanton-aargau-erhielten-zu-wenig-geld-138543187
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/gewisse-fluechtlinge-erhalten-zu-wenig-geld-vom-kanton-das-soll-sich-nun-aendern-138515366


+++POLEN
EGMR-Urteil: Polen wegen Abweisung von Flüchtlingen verurteilt
Mehrfach sind Asylsuchende an der polnischen Grenze zurückgewiesen worden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Polen zu Entschädigungszahlungen.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/egmr-urteil-polen-asylsuchende-zurueckweisung-weissrussland-menschenrechte


+++GRIECHENLAND
Asyl in Griechenland: Anerkannte Flüchtlinge in Not
Für Flüchtlinge in Griechenland wird das Leben nach der Anerkennung nicht etwa einfacher – sondern schwieriger: Ihnen drohen Armut und Obdachlosigkeit, auch wenn sie vom Krieg traumatisiert sind.
https://www.dw.com/de/fl%C3%BCchtlinge-griechenland/a-54067638


+++BALKANROUTE
Abschottung wird verschärft
Wien: Neue Institution zwischen EU und Ländern des Westbalkan »gegen illegale Migration«
https://www.jungewelt.de/artikel/382815.eu-und-fl%C3%BCchtlinge-abschottung-wird-versch%C3%A4rft.html


+++MITTELMEER
Seenotrettung: Italienische Küstenwache setzt Rettungsschiff „Ocean Viking“ fest
Mit der „Ocean Viking“ wird nun auch das letzte im zentralen Mittelmeer verbliebene Schiff an der Seenotrettung gehindert. Hilfsorganisationen sprechen von Schikane.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/ocean-viking-fluechtlinge-italien-rettungsschiff-festsetzung
-> https://www.derstandard.at/story/2000118927995/italienische-kuestenwache-setzt-rettungsschiff-ocean-viking-fest?ref=rss
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1135606.fluechtlinge-und-corona-das-corona-logbuch-italien-setzt-rettungsschiff-ocean-viking-fest.html


Updates Ägäis
Ein neuer sehr gut dokumentierter Bericht vom Legal Centre Lesvos über die aktuellen Pushbacks in der Ägäis (von Stränden und im Wasser, mit Aussetzen auf Liferafts etc), mit detaillierter Aufarbeitung verschiedener Einzelfälle
https://ffm-online.org/updates-aegaeis/


+++EUROPA
EU-Flüchtlingspolitik in Tunesien: Fortlaufende Grenzverschiebung
Über verschiedene Verträge rüsten Deutschland und die EU Tunesiens Grenzschützer aus. Es geht darum, Flüchtende von Europa fernzuhalten.
https://taz.de/EU-Fluechtlingspolitik-in-Tunesien/!5703464/


EU und Westbalkan: Mit Plattform gegen illegale Migration
Angesichts erneut steigender Migranten-Zahlen wollen die Staaten entlang der Balkanroute ihre Zusammenarbeit zur Bekämpfung illegaler Zuwanderung wieder verstärken. Das ist das Ergebnis einer Konferenz von Vertretern aus rund 20 Staaten in Wien.
https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/eu-und-westbalkan-mit-plattform-gegen-illegale-migration-138539046


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Sicherheits-Firma Vüch in Bern angegriffen
Die Vüch ist eine Sicherheits-Firma mit Hauptsitz in Bern.
Es gibt viele Gründe, solche „Sicherheits“-Institutionen anzugreifen.
Um wenigstens zwei Gründe zu nennen:
Sie patroullieren um ehemals besetzte Häuser, wie zum Beispiel das Fabrikool oder das Haus an der Brunnmattstrasse, damit diese nicht wiederbesetzt werden können. Somit verteidigen sie jahrelangen Leerstand.
https://barrikade.info/article/3720


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Oberstaatsanwalt im Interview«Je gefährlicher ein Straftäter, desto höher die Ausschaffungsquote»
Neue Zahlen des Bundes haben eine Debatte über die Härtefallklausel bei Ausschaffungen entfacht. Beat Oppliger versteht die Reaktion – zweifelt aber an den Daten.
https://www.derbund.ch/je-gefaehrlicher-ein-straftaeter-desto-hoeher-die-ausschaffungsquote-881364811597


Landesverweise für kriminelle Ausländer sind möglicherweise noch seltener als bekannt: Bund hält die wahren Ausschaffungszahlen zurück!
Fast die Hälfte der straffälligen Ausländer darf trotz Ausschaffungs-Initiative in der Schweiz bleiben. Und in der Realität sind es noch mehr. Wie viel mehr, verheimlicht der Bund. Dabei hat er die Zahlen, wie BLICK-Recherchen zeigen.
https://www.blick.ch/politik/zahlenpuff-bei-kriminellen-auslaendern-wie-viele-werden-wirklich-ausgeschafft-id16006701.html


Ausschaffungen und Härtefallklausel: Bund bestätigt Statistikfehler
Das Bundesamt für Justiz räumt ein, dass die Daten zur Berechnung der Ausschaffungsquote teilweise falsch erfasst wurden. Der Fehler sei auf Kantonsebene passiert.
https://www.derbund.ch/bund-bestaetigt-statistikfehler-539503029577


+++KNAST
derbund.ch 23.07.2020

Neuer Thorberg-Direktor: «Das ist keine Verweichlichung»

Brave Gefangene kriegen mehr Geld, und kurze Hosen sind jetzt erlaubt: Unter Hans-Rudolf Schwarz bricht in der Anstalt in Krauchthal eine neue Epoche an.

Martin Erdmann

Herr Schwarz, Ihr Job als Thorberg-Direktor ist eigentlich einfach. Sie müssen bloss aufpassen, dass Ihnen niemand ausbricht.

Das ist das, was die Bevölkerung primär von mir erwartet. Das ist aber sehr kurzfristig gesehen.

Wie sieht denn die langfristige Sicht aus?

Einsperren alleine reicht nicht. Es geht darum, dass die Gefangenen nach ihrer Entlassung nicht rückfällig werden. Der Strafvollzug muss über die eigentliche Inhaftierung hinaus eine Wirkung erzielen. Denn diese Leute werden neben uns im Tram sitzen, mit uns im Shoppyland einkaufen oder sogar neben uns wohnen. Dabei sprechen wir von Resozialisierung – wobei dieser Ausdruck oft nicht ganz zutreffend ist.

Was haben Sie daran auszusetzen?

Ich kenne die Gefangenen. Viele von ihnen sind durch sämtliche sozialen Netze gefallen. Sie haben gegen ihre Eltern rebelliert, die Lehre abgebrochen, kamen mit Drogen in Kontakt, schlugen eine kriminelle Laufbahn ein und sind so in unserem Sinne gar nie sozialisiert worden. Deshalb müssen sie zuerst einmal sozialisiert werden.

Wie merken Sie denn, ob ein Gefangener nicht mehr rückfällig wird?

Es gibt keine Garantie, aber Indizien. Ein wichtiger Punkt ist beispielsweise, dass der Gefangene sich des Unrechts seiner Tat bewusst ist, er einen Veränderungsprozess durchgemacht hat und an sich und seinem Verhalten gearbeitet hat. Die Arbeitseinstellung ist ebenfalls ausschlaggebend. Wer im Strafvollzug nicht 8,5 Stunden seriös arbeiten kann, wird in der realen Arbeitswelt nicht bestehen können und seinen Job rasch hinschmeissen. Und dadurch wird die Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass er wieder kriminell wird.

Sie sagten einmal, dass Sie streng wissenschaftlich gar nicht wissen, warum ein Gefangener nicht mehr rückfällig wird. Sie wissen also eigentlich nicht so genau, was Sie überhaupt tun?

Es ist tatsächlich so, dass man nicht weiss, was wirkt. Bewiesen ist hingegen, dass Strafvollzug eine Wirkung erzielt. Das kann verschiedene Gründe haben: ein Arbeitsmeister als Vorbild, eine Therapie, die wirkt, oder wenn der Gefangene Familie hat und künftig für seine Kinder da sein will. Oder wenn er draussen ein neues Umfeld findet und sich dadurch verändert, weil er sich sozial integriert fühlt.

Resozialisierung setzt von den Gefangenen den Willen voraus, sich zu ändern. Spüren Sie solche Vorsätze im Thorberg?

Aus meiner 20-jährigen Erfahrung im Strafvollzug kann ich sagen, dass die Bereitschaft, sich zu ändern, bei Straftätern sehr hoch ist. Das mag auf den ersten Augenblick erstaunen, aber die allermeisten Gefangenen wissen, dass kriminell zu bleiben, ihnen keine Perspektiven gibt.

Dennoch gibt es immer wieder Rückfälle.

Das stimmt. Wenn jemand direkt aus dem geschlossenen Vollzug entlassen wird, liegt die Rückfallwahrscheinlichkeit bei 60 Prozent.

Eine alarmierende Zahl.

Deshalb sollte niemand direkt aus dem Thorberg entlassen werden. Wir beobachten im Vollzug, dass rasch ein Verlust von Selbstständigkeit und Kommunikationsfähigkeit eintritt. Gefangene sollen vor der Entlassung zuerst in den offenen Vollzug geschickt werden, wo sie lernen, wieder selbstverantwortlich zu handeln.

Wird dies in der Praxis umgesetzt?

Nicht immer. Erst letzte Woche mussten drei Gefangene direkt ab Thorberg entlassen werden. Zusammen mit den einweisenden Behörden soll sichergestellt werden, dass rechtzeitig vom geschlossenen in den offenen Vollzug gewechselt werden kann.

Sie sagen, Resozialisierung kann nur in der Freiheit geschehen. Sind die Bemühungen in der Gefangenschaft also bloss Trockenübungen mit ungewissem Ausgang?

Der Justizvollzug ist eine künstliche Welt. Eine geschlossene Anstalt ist sogar eine sehr unnatürliche Umgebung. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, eingesperrt zu sein. Das verändert uns. Die sozialen Kompetenzen nehmen sehr schnell ab, und man konzentriert sich nur noch auf die täglichen Bedürfnisse. Wenn die Konfitüre Safran enthält, dann ist das schon ein Thema, das bis zum Direktor kommt.

Sie sind ein grosser Anhänger der Arbeitsagogik, also der Betreuung der Gefangenen am Arbeitsplatz. Das ist eigentlich ein Begriff aus dem Therapiebereich. Ist der Thorberg jetzt mehr Therapiezentrum denn Vollzugsanstalt?

Solche Vorwürfe kriege ich seit 13 Jahren zu hören. Die Vorurteile, dass Arbeitsagogik einfach etwas herumbasteln bedeutet, sind völlig falsch. Das lässt sich schon nur wirtschaftlich belegen. Als ich Direktor der Justizvollzugsanstalt Witzwil wurde, betrug der Jahresumsatz 18 Millionen Franken. Heute liegt er bei 24 Millionen. Wenn der Gefangene arbeitsagogisch behandelt wird, lernt er am Arbeitsplatz soziale Kompetenzen und wird effizienter.

Sie wollen künftig mehr auf die Insassen eingehen, ihre Stärken und Schwächen herausfinden, mehr auf sie einwirken. Kritiker könnten von einer Verweichlichung des Strafvollzugs sprechen.

Es ist keine Verweichlichung, sondern eine Professionalisierung. Wenn man nichts über einen Menschen weiss, können für ihn auch keine Ziele definiert werden. Diese werden wir künftig sehr genau verfolgen und evaluieren. Und drücken das sogar im Arbeitsentgelt aus. Das ausbezahlte Geld soll künftig auch vom Fortschritt des Gefangenen im Vollzug abhängen.

Ist denn Geld die richtige Motivation, um die Gefangenen zur Läuterung zu bewegen?

Die Veränderung sollte natürlich von Innen kommen. Aber Geld kann einen Anreiz bieten. Denn dieses spielt im Strafvollzug eine wichtige Rolle. Es wird gebraucht um fernzusehen, um Schokolade oder Zigaretten zu kaufen oder für die Austrittsvorbereitungen.

Ihre neue Strategie bedeutet deutlich mehr Aufwand. Das Budget bleibt mit 20 Millionen aber unverändert. Wie soll das funktionieren?

Ich sage jetzt etwas, das nicht falsch interpretiert werden darf. Im Justizvollzug muss man heute den Mut haben zu differenzieren. Mit den knappen Ressourcen, die wir haben, müssen wir zwischen den Straftätern unterscheiden, die einsichtig sind und an sich arbeiten wollen, und denen, die sich quasi für eine kriminelle Laufbahn entschieden haben. Auch die Aufenthaltsdauer spielt eine Rolle. Jemandem einen Computer- oder Englischkurs anzubieten, der nur sechs Monate hier ist, hat keinen Sinn.

Das Thorberg-Programm soll künftig aus Arbeit, Therapie, Bildung, Sport und Freizeit bestehen. Das klingt für potenzielle Straftäter nicht gerade abschreckend.

Die abschreckende Wirkung des Strafvollzugs ist sowieso nicht erwiesen. Es gibt andere Punkte, die präventiver wirken. Zum Beispiel die soziale Ächtung. Also die Angst, von der Familie verlassen oder aus dem Dorf ausgeschlossen zu werden. Dennoch kann Abschreckung gerade bei jungen Leuten etwas bewirken. Gewisse Leute müssen einfach einmal die Härte eines Gefängnisses zu spüren bekommen.

In Witzwil liessen Sie für Ihr Personal einen Ethikkodex erstellen. Gibt es einen solchen auch im Thorberg?

Das war das Erste, was ich hier gemacht habe. Dabei spielt die Selbstverantwortung eine grosse Rolle. So habe ich zum Beispiel die bis vor kurzem geltenden Kleiderregeln abgeschafft. Auf dem Thorberg dürfen jetzt auch kurze Hosen und Röcke getragen werden.

Aber gerade das Personal hat in der Vergangenheit mit ungebührlicher Nähe zu den Gefangenen für Schlagzeilen gesorgt. Wie wollen Sie das künftig verhindern?

Der Erfolg einer Vollzugsanstalt hängt schlussendlich von glaubwürdigen Mitarbeitenden ab. Ich erwarte, dass sie sich bewusst sind, in einer Vertrauensorganisation zu arbeiten. Deshalb geht es nicht, dass sie noch irgendwelche Nebenjobs haben, bei denen sie mit ehemaligen Häftlingen in Kontakt kommen könnten. Das ist einfach nicht mit ihrer Arbeit auf dem Thorberg vereinbar.

Ihnen ist ein menschengerechter geschlossener Vollzug wichtig. Die Antifolterkommission hat den Thorberg in der Vergangenheit kritisiert, weil hier Gefangene in Sicherungszellen an die Wand gekettet wurden. Wird es sogenannte Fixierungen auch unter Ihnen geben?

Nein, das gibt es nicht mehr. Ich habe auch schon renitente Leute erlebt. Oder es gibt so Verzweifelte, die versuchen, sich mit den Zähnen die Pulsadern aufzureissen. Da muss aber mit medizinischen Mitteln, therapeutischen Gesprächen und einer entsprechend eingerichteten Zelle entgegenwirkt werden. Nicht mit Fixierungen.

Sie plädieren dafür, bei Gefangenen das Delikt vom Menschen zu trennen. Wie gelingt Ihnen das in Ihrer täglichen Arbeit?

Eigentlich sehr gut. Wenn ich mit einem Gefangenen rede, sehe ich ihn nicht als Pädophilen oder als Bankräuber. Das lernt man bereits während der Ausbildung. Aber wenn ich mir überlegen würde, ob ich mit dieser Person eine freundschaftliche Beziehung haben könnte, dann gelingt mir diese Trennung nicht mehr. Doch eine professionelle Beziehung im Strafvollzug endet ohnehin mit der Entlassung.



Eine Anstalt mit ihren Tücken

Die Justizvollzugsanstalt Thorberg hat eine Geschichte voller Skandale. Mehrmals musste der Direktor seinen Posten verlassen. Zudem ist der historische Bau hoch über der Gemeinde Krauchthal in schlechtem Zustand. Wegen der räumlichen Enge ist eine Sanierung oder gar Ausbau nicht möglich. Deshalb ist es möglich, dass der Thorberg mittelfristig geschlossen wird.

Hans-Ulrich Schwarz soll etwas Konstanz in die Vollzugsanstalt bringen. Er trat das Amt in Thorberg auf ausdrücklichen Wunsch vom zuständigen Regierungsrat Philippe Müller an. Zuvor war er während 13 Jahren Direktor der offenen Vollzugsanstalt in Witzwil.
(https://www.derbund.ch/das-ist-keine-verweichlichung-732828734471)


+++POLIZEI GE
Bundesgericht hebt Verurteilung eines Genfer Polizisten auf
Das Bundesgericht hat die Verurteilung eines Genfer Polizisten wegen Amtsmissbrauchs aufgehoben. Eine gegen ihn verwendete Videoaufnahme war unzulässig.
https://www.nau.ch/news/schweiz/bundesgericht-hebt-verurteilung-eines-genfer-polizisten-auf-65748532
-> https://www.strafprozess.ch/video-im-verfahren-gegen-polizisten-nicht-verwertbar/


+++POLIZEI USA
Streit über Bundestruppen in den USA: Nach Portland jetzt Chicago
US-Präsident Donald Trump schickt jetzt Sicherheitskräfte des Bundes auch nach Chicago und Kansas City. Chicagos Bürgermeisterin protestiert.
https://taz.de/Streit-ueber-Bundestruppen-in-den-USA/!5703576/
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/trump-will-sicherheitskraefte-in-weitere-staedte-schicken,S5XTtWM
-> https://www.nzz.ch/international/streit-um-einsatz-von-bundespolizisten-us-buergermeister-wehren-sich-ld.1567709
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/trumps-martialische-bundespolizisten-warum-us-grossstaedte-ploetzlich-wie-kriegsschauplaetze-wirken/26030234.html
-> https://www.heise.de/tp/features/Ausweitung-der-Kampfzone-4851177.html


+++RASSISMUS
8-Jähriger über Rassismus-Erfahrungen: „Das fing schon im Kindergarten an“
Desmond geht zu „Black Lives Matter“-Demonstrationen. Kürzlich hielt er in Hannover vor über 1000 Menschen eine Rede. Hier berichtet er von Rassismus im Bildungswesen, und er sagt, was sich ändern müsste.
https://www.spiegel.de/deinspiegel/rassismus-in-deutschland-das-fing-schon-im-kindergarten-an-a-00000000-0002-0001-0000-000172059698


«Wegen euch muss die ganze Schweiz eine Maske tragen» – wie Asiaten in Zürich wegen des Coronavirus angefeindet werden
Bespuckt, angeschrien und beschimpft: Auch nach dem Lockdown kommt es zu Anfeindungen gegen Personen mit asiatischem Hintergrund. Doch die Betroffenen melden die Vorfälle kaum.
https://www.nzz.ch/zuerich/scheiss-chinesen-anfeindungen-gegen-asiaten-nehmen-zu-ld.1566505


Meister der Abwehr: Er blockt Hornusse und rassistische Sprüche ab
Jürg Schneeberger hat sich zu einem der erfolgreichsten Spieler im Land hochgearbeitet. Wie der gebürtige Schweizer mit Sprüchen über seine Hautfarbe umgeht.
https://www.derbund.ch/er-blockt-hornusse-und-rassistische-sprueche-ab-177658965679


«Vo wo chunnsch du?»: Wil setzt ein Zeichen gegen Rassismus
Eine aktuelle Plakatkampagne will das Thema Rassismus und Diskriminierung enttabuisieren und die Menschen sensibilisieren.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wil/vo-wo-chunnsch-du-wil-setzt-ein-zeichen-gegen-rassismus-ld.1240833


+++RECHTSEXTREMISMUS
Bundeswehr: Soldaten, die den Umsturz planen
Aktive und ehemalige Soldaten haben in einer bisher unbekannten Chat-Gruppe rechtsextreme Hetze verbreitet. Mit im Chat: eine mutmaßliche Terrorunterstützerin.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/bundeswehr-rechtsextremismus-chat-hetze-soldaten/komplettansicht


Rechtsextreme in der Bundeswehr: Gleich zwei neue Nazi-Skandale
Der Social-Media-Chef der Bundeswehr soll Kontakt zur „Identitären Bewegung“ gehabt haben. Und es gibt Berichte über eine rechte Chatgruppe von Soldaten.
https://taz.de/Rechtsextreme-in-der-Bundeswehr/!5703598/
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1139555.bundeswehr-social-media-chef-mit-rechtsdrall.html


Bundeswehr: Social-Media-Leiter sympathisiert mit Rechtsradikalem
Der Leiter der Social-Media-Abteilung der Bundeswehr sympathisiert öffentlich mit einem Rechtsradikalen. Wie Recherchen von Panorama zeigen, ist Oberstleutnant Marcel B. auf dem sozialen Netzwerk Instagram mit einem Anhänger der „Identitären Bewegung“ seit Jahren vernetzt und kommentiert einschlägige Beiträge des Mannes mit dem Netznamen „incredible bramborska“ mit „Gefällt mir“. Darunter sind auch Beiträge mit eindeutigem Bezug zu Parolen der „Identitären Bewegung“ wie „Defend Europe“.
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Bundeswehr-Social-Media-Leiter-sympathisiert-mit-Rechtsradikalem,bundeswehr2302.html


Polizisten mit Uniter-Vergangenheit stellten über 100 dubiose Datenabfragen
In Brandenburg wird gegen zwei Polizisten ermittelt, die Datenabfragen ohne dienstlichen Bezug gestellt haben. Beide waren außerdem Mitglieder im Verein Uniter. Insgesamt sollen sie über 100 unerlaubte Abfragen gestellt haben.
https://www.rnd.de/politik/brandenburg-polizisten-stellten-uber-100-dubiose-datenabfragen-beamten-sind-mitglieder-bei-uniter-BPZ74BUHOBABBCB5AC3BMDI2K4.html
-> https://www.maz-online.de/Brandenburg/Brandenburger-Polizisten-stellten-mehr-als-100-dubiose-Datenabfragen


Rechtsextreme bedrohen linke und migrantische Prominente
Im Visier des »NSU 2.0«
Rechtsextreme, die über Informationen aus hessischen Polizeidatenbanken verfügen, bedrohen immer mehr linke und migrantische Prominente – insbesondere Frauen.
https://jungle.world/artikel/2020/30/im-visier-des-nsu-20


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Anonymous macht Ernst und hackt die nächste Website von Schweizer Verschwörungs-Sekte
Netz-Aktivisten von Anonymous Germany haben die Website des Elaion-Verlags gehackt. Der Verlag gehört zur Verschwörungssekte OCG des Schweizers Ivo Sasek, der auch das Fake-News-Portal Kla.tv betreibt.
https://www.watson.ch/!200594235


Ermittlungen wegen Volksverhetzung:  Berlin verbietet Demonstration von Attila Hildmann
Die Berliner Versammlungsbehörde untersagt einen von dem veganen Koch organsierten Autokorso. Grund sind unter anderem Ermittlungen wegen Volksverhetzung
https://www.tagesspiegel.de/berlin/ermittlungen-wegen-volksverhetzung-berlin-verbietet-demonstration-von-attila-hildmann/26031776.html?244=
-> https://www.stern.de/gesundheit/gesundheitsnews/attila-hildmann–geplante-demonstration-des-verschwoerungstheoretikers-untersagt-9349210.html
-> https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/07/attila-hildmann-demonstration-berlin-verboten.html
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/attila-hildmann-demonstration-verbot-berlin-volksverhetzung-corona-abstandsregeln
-> https://taz.de/Demo-von-Attila-Hildmann-verboten/!5703691/
-> https://www.spiegel.de/panorama/attila-hildmann-versammlungsbehoerde-verbietet-geplante-demonstration-a-8f8abe84-60f0-4d39-9759-d6d4c5135c01
-> https://www.queer.de/detail.php?article_id=36662


Attila Hildmann: Buchhandlung Hugendubel schickt Bücher an Verlag zurück
Die Buchhandlungskette Thalia hat angekündigt, Kochbücher von Attila Hildmann weiter zu vertreiben – trotz seiner rechtsextremen Aussagen. Ganz anders reagiert Konkurrent Hugendubel. Hier werden sogar alte Bestände seiner Bücher an den Verlag zurückgeschickt.
https://www.rnd.de/kultur/attila-hildmann-buchhandlung-hugendubel-schickt-bucher-an-verlag-zuruck-UM577TX3RNDIXCFYTN2HCVP7YM.html
-> https://www.rnd.de/kultur/thalia-verkauft-weiter-hildmann-bucher-weggucken-und-wegducken-OY7WKKU7MZH6VM4RVVPHF6LUBU.html


Hunderte Radikale siedeln über: Eva Herman baut rechte Kolonie in Kanada
Hunderte Deutsche mit „braunem Gedankengut“ haben sich laut einem „Spiegel“-Bericht auf einer Insel in Kanada angesiedelt. Dahinter stecken die ehemalige „Tagesschau“-Sprecherin Eva Herman und der Rechtsradikale Andreas Popp. Gemeinsam verbreiten sie rechte Propaganda – und nehmen die Siedler aus.
https://www.n-tv.de/panorama/Eva-Herman-baut-rechte-Kolonie-in-Kanada-article21929930.html


+++HISTORY
Rassismus und die Schweiz – «Die Schweiz hat eine koloniale Vergangenheit ohne Kolonien»
Im Zuge der «Black Lives Matter»-Proteste entbrannten weltweit Diskussionen über Statuen von umstrittenen Figuren aus der Kolonialzeit. Auch hierzulande wurde vermehrt über Rassismus und die koloniale Vergangenheit der Schweiz diskutiert. Der St. Galler Historiker und Aktivist Hans Fässler beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit dem Thema und erklärt im Gespräch, inwiefern die Schweiz vom Kolonialismus und der damit verbundenen Sklaverei profitiert hat.
https://www.srf.ch/news/regional/ostschweiz/rassismus-und-die-schweiz-die-schweiz-hat-eine-koloniale-vergangenheit-ohne-kolonien?ns_source=mobile&srg_sm_medium=tw
-> https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video/kolonialherren-aus-appenzell?id=4e2cc3b6-6e66-4445-8e08-3fa8589c2ab4


Das dreckige Geld der Diktatoren – die Banktresore füllen sich woanders
Die Liste der Skandale um ausländische Fluchtgelder in der Schweiz ist lang. Der Journalist Balz Bruppacher zeigt nun in einem Buch, wie sich der Umgang der Eidgenossenschaft mit Vermögenswerten von Potentaten radikal gewandelt hat.
https://www.nzz.ch/schweiz/wie-diktatoren-gelder-in-die-schweiz-geschafft-haben-ld.1567731?mktcid=smch&mktcval=twpost_2020-07-23


Disput um Geschichtsschreibung – Buch wegen 12 von 160 Seiten aus dem Verkehr gezogen
2500 Bücher über das «Knabenheim auf der Grube» in Niederwangen landeten in der Entsorgung. Ist das vertretbar?
https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/disput-um-geschichtsschreibung-buch-wegen-12-von-160-seiten-aus-dem-verkehr-gezogen
-> http://www.journal-b.ch/de/082013/kultur/3652/Gegen-das-Verbrennen-von-B%C3%BCchern.htm
-> http://www.journal-b.ch/de/082013/kultur/3650/Kommentar-Die-Zerst%C3%B6rung-eines-Buches.htm
-> http://www.journal-b.ch/de/082013/kultur/3648/Schmutzwasser-aus-der-%C2%ABGruebe%C2%BB.htm



derbund.ch 23.07.2020

Umstrittenes Buch«Ich habe meinen Text verraten»

Autor Fredi Lerch bereut seine Einwilligung in ein Verbot des Buches über das einstige Knabenheim «Auf der Grube». Er hätte sich wehren sollen.

Bernhard Ott

Nein, niemand ist glücklich, dass es keine verfügbare historische Aufarbeitung der 188-jährigen Geschichte des Knabenheims «Auf der Grube» in der Gemeinde Köniz gibt. Das faktische Verbot des Buches «Grube» sei ein «massiver Eingriff in die Aufarbeitung der Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen», sagte Historikerin Tanja Rietmann gegenüber dem «Bund».

Der Rückzug des Buches ist das Resultat eines Vergleichs zwischen Heimleiter Hans-Peter Hofer und Autor Fredi Lerch sowie dem Verlag und der Nachfolgestiftung der einstigen «Grube»-Stiftung. Die Vereinbarung von Anfang Februar 2017 sah unter anderem vor, dass das Werk nicht mehr vertrieben werde und sämtliche Exemplare des Buches an Hofer auszuhändigen seien. Dieser hat in der Folge 2500 Exemplare vernichtet, wie die «Berner Zeitung» berichtete. Selbst aus Institutionen wie der Nationalbibliothek ist das Werk verschwunden. Lerch hat sich bisher kaum zu seinen Beweggründen zur Unterzeichnung dieser Kapitulation geäussert. Gegenüber dem «Bund» bricht er nun sein Schweigen: Er akzeptiere die Kritik, «dass es ein Fehler war, den Vergleich zu unterschreiben», sagt der Autor auf Anfrage. «Ich habe damit meinen Text verraten.»

«Schnell und billig»

Heute werfe er sich vor, dass er die Vertreter des Verlags und der Nachfolgestiftung der «Grube»-Stiftung als Mitbeschuldigte hätte überzeugen müssen, «dass ein solcher Vergleich nicht unterzeichnet werden darf». Dies aus «grundsätzlichen publizistischen Überlegungen», insbesondere Gründen der Forschungsfreiheit, einerseits. Und aus «Solidarität mit den ehemaligen Gruebe-Buben» andererseits. Letztere sammeln mittlerweile Unterschriften für eine Petition, mit der sie die Aufhebung des Buchverbots fordern, weil die Publikation das «Ende der Stigmatisierung von uns Heimkindern» bedeute, wie Petitionär Heinz Kräuchi gegenüber dem «Bund» sagte.

Dass er die Auseinandersetzung mit den Mitbeschuldigten «nicht zumindest gesucht» habe und sich den Argumenten des Stiftungsanwalts angeschlossen habe, «bleibt mein Fehler», sagt Lerch. Denn Letzterer habe vor allem die «ererbte Altlast» der Vorgängerstiftung «möglichst schnell und billig» bereinigen wollen.

Autor räumt Fehler ein

Hofer sah in der Darstellung seines Wirkens als Heimleiter in den Jahren 2000 bis 2005 eine «fachliche Blossstellung», wie er in der «Berner Zeitung» sagte. Und er fand, dass seine Rolle und sein Leistungsausweis in Abgrenzung zum autoritären Führungsstil seiner Vorgänger zu wenig hervorgehoben würden.

Allfällige fehlerhafte Darstellungen waren auf gerichtlicher Ebene kein Thema. Trotzdem wirft Hofer Lerch verschiedene Fehler vor – zu denen dieser bisher öffentlich nicht Stellung genommen hat. Nun räumt er erstmals einen Fehler ein, bei dem es um die Ausbildung geht, die Hofer laut der damaligen Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) hätte machen müssen. Lerch schreibt im Buch, dass Hofer laut GEF «zwingend und sofort die Heimleiterausbildung absolvieren sollte». Tatsächlich war Hofer damals aber bereits diplomierter Heimleiter. Die GEF hatte eine sozial- oder heilpädagogische Qualifikation verlangt, die Hofer berufsbegleitend hätte erwerben müssen, was er nicht getan hatte. «Ja, das Wort Heimleiterausbildung ist falsch», sagt Lerch.

Hofer ist unbeeindruckt

Hofer misst Lerchs Fehlereingeständis keine allzu grosse Bedeutung bei. Dies sei «nicht der einzige Fehler» des Autors gewesen. Lerchs Hauptfehler sei es gewesen, dass er nicht das Gespräch mit ihm gesucht habe. «Ein echtes Fehlereingeständis wäre es, wenn Lerch bedauern würde, dass er nicht mit mir gesprochen hat», sagt der einstige Heimleiter. In diesem Fall hätte er Lerch zum Beispiel seine Diplomarbeit als Heimleiter zur Verfügung gestellt. Diese beinhalte eine «Ist-Soll-Analyse» der damaligen Verhältnisse auf der «Grube» und habe als Grundlage für die von ihm im Frühjahr 2001 vorgeschlagenen Reformen gedient. «Der Impuls zur Reform kam bereits damals und nicht erst vier Jahre später, als Regula Mader das Stiftungsratspräsidium übernahm, wie Lerch im Buch suggeriert», sagt Hofer.

«Brauchte ein neues Buch»

Auch Hofer ist nicht zufrieden, dass es nun keine greifbare historische Aufarbeitung der «Grube»-Geschichte gibt. «Ich bin aber nicht schuld daran, dass Lerch den Vergleich widerstandslos unterzeichnet hat.» Damit habe dieser letztlich auch die «Gruebe-Buebe» verraten. Diese hätten eine «saubere historische Aufarbeitung» der Heimgeschichte verdient. «Es brauchte ein neues Buch, das die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ins Zentrum rückt und die Heimbewohner selber zu Wort kommen lässt», sagt Hofer.
(https://www.derbund.ch/ich-habe-meinen-text-verraten-343892696971)