antira-Wochenschau: Graue Wölfe in Wien, Systematische Abschottung an EU-Aussengrenzen, Schweizer Verstrickung in die Sklaverei

Bild: Neue europäische Flagge vor dem Camp Moria

Antirassistischer Rückblick auf eine Woche voller Rassismus: Wien: Die „Grauen Wölfe“ greifen linkes Zentrum an | Ägais: Schwimmende Grenzbarriere, maskierte Angreifer*innen und die Banalisierung von Pushbacks | Bis zu 60 Tote und Vermisste nach Bootsuntergang auf türkischem Gebirgssee | Europäische Staaten finanzieren weiteres Überwachungssystem vor Tunesien | Verantwortung Italiens für systematische Folterung in Libyen soll untersucht werden | Weiterhin zögerliche Öffnung der Häfen für zivile Seenotrettungsschiffe | Italienisches Gesetz zur „Legalisierung“ von Migrant*innen floppt  | Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Frankreich | Antisemitismus in der Schweiz: weiterhin ein präsentes Problem | Fragwürdige Medienberichterstattung | Strukturen rassistischer Polizeigewalt | Die Verstrickungen der Schweizer Textilindustrie in die Sklaverei | Hans Kissling | Die Seabird fliegt ihre erste Mission | Über Schokoküsse | Proteste gegen Isolation in Berner Camps | Basel: Gemeinsam gegen Faschismus | Exit-Racism- Flashmobs in Schweizer Städten


Was ist neu?
Wien: Die „Grauen Wölfe“ greifen linkes Zentrum an
Anhänger*innen der faschistischen „Grauen Wölfe“ haben am 25. Juni das Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) in Wien angegriffen. Das linke Zentrum wurde mit Flaschen und Brandsätzen beworfen, an einer Stelle am Dach brach ein Feuer aus. Der Mob, der Parolen wie „Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet“ (türkisch: „Ne mutlu Türküm diyene“) rief und den sogenannten Wolfsgruss und ausgestreckten Zeigefinger zeigte, versuchte ausserdem, die Türen des EKH einzutreten. Die „Grauen Wölfe“ griffen auch das angrenzende Lokal der türkeistämmigen Föderation Demokratischer Arbeitervereine an. Bereits am Vortag griffen mehr als hundert Faschist*innen eine von kurdischen und türkischen Frauenorganisationen initiierte Kundgebung gegen den Mord an drei kurdischen Aktivistinnen an. Die drei Aktivistinnen starben bei einem Drohnenangriff der türkischen Armee gegen Kobanê.

Bild: „Grauen Wölfe“ und ihr faschistischer Gruss

Am Freitagnachmittag versammelten sich mehrere hundert kurdische, türkische und österreichische Aktivist*innen vor dem EKH zu einer Protestdemonstration. Auch an diesem Tag wurden sie mit Stöcken angegriffen. Die Sozialwissenschafterin Zeynep Arslan beschreibt die Grauen Wölfe als eine gewaltbereite Gruppe, die sich als Verteidiger von Erdoğan und seinen politischen Ideen sieht.
https://anfdeutsch.com/aktuelles/wien-faschisten-greifen-erneut-linkes-ekh-an-20024
https://mosaik-blog.at/graue-woelfe-favoriten/
https://www.bonvalot.net/wir-werden-die-faschisten-aus-wien-favoriten-vertreiben-842/

Ägais: Schwimmende Grenzbarriere, maskierte Angreifer*innen und die Banalisierung von Pushbacks
Anfang des Jahres kündigte die rassistische Regierung in Griechenland an, nordöstlich der Insel Lesbos eine schwimmende Barriere gegen (flüchtende) Migrant*innen zu errichten. Gemäss dem Nachrichtenportal Real und der Nachrichtenagentur AFP wird das Repressionsprojekt nun Ende August in Betrieb genommen. Eine halbe Million Euro kostet die 2.7 km lange Barriere. Starke Lampen sollen das abschottende Signal bereits auf 10 Kilometer sichtbar machen. Um diese Abschottung durchzusetzen, gelten in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei weder Moral noch Gesetze. Alle Mittel sind recht. Im Juni wurden Schlauchboote mit Geflüchteten mehrmals von maskierten Personen angegriffen, die die Boote zerstörten. Ein Video und Bilder dokumentieren z.B. einen Vorfall am 4. Juni. Sie zeigen das Loch im Boot, den zerstörten Motor und Menschen, die schliesslich ins Wasser springen, um das Boot schwimmend in Richtung Lesbos zu schieben. Der Angriff erfolgte unter Beobachtung der griechischen Küstenwache. Diese war ständig in der Nähe. Eine überlebende Person erklärte gegenüber der Onlinezeitung DW, dass die Maskierten griechische Einsatzkräfte seien, die vom Schiff der Küstenwache gekommen seien und mit diesem ständig im Kontakt standen. Auch die Gruppe Belingcat konnte nachweisen, dass das Boot der maskierten Gewalttäter*innen von der griechischen Küstenwache stammt. Nebst solchen Angriffen finden immer mehr Pushbacks statt. Dass das Zurückdrängen von Booten mit Geflüchteten von griechischen in türkische Gewässer nicht nur lebensgefährlich ist, sondern auch gegen alle denkbaren Abkommen und Gesetze verstösst, stört offizielle Akteur*innen kaum mehr. Der vorherrschende Rassismus hat den Wert eines flüchtenden Menschen derart heruntergedrückt, dass Todesfälle politisch ohne Gefahr in Kauf genommen werden können.
https://www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2020/06/23/masked-men-on-a-hellenic-coast-guard-boat-involved-in-pushback-incident/
https://www.dw.com/de/griechenland-%C3%BCbergriffe-von-maskierten-auf-gefl%C3%BCchtete-in-der-%C3%A4g%C3%A4is/a-53977111
https://www.infomigrants.net/en/post/25739/greece-to-deploy-anti-migrant-barrier-off-lesbos

Bis zu 60 Tote und Vermisste nach Bootsuntergang auf türkischem Gebirgssee
Auf dem Van-See in der Türkei nahe der iranischen Grenze ist ein Boot mit 55-60 Menschen auf der Flucht gesunken. Es bot Platz für 20 Personen und hielt der Überladung bei stürmischen Wetter nicht stand. Es wurden bisher sechs Leichen geborgen. Das Boot befand sich 8 km vom Ufer entfernt. Der See ist dort bis zu 450 Meter tief. Es ist unwahrscheinlich, dass Tage nach dem Unglück Menschen lebend gefunden werden. Der See liegt insbesondere für Menschen aus Pakistan, Afghanistan, dem Iran und dem Irak auf der Fluchtroute nach Europa. Zuletzt sind im Dezember bei einem ähnlichen Vorfall sieben Menschen ertrunken. Die türkischen Behörden geben an, dass sie allein in diesem Jahr etwa 16.000 Migrant*innen daran gehindert haben, über die türkisch-iranische Grenze in die Türkei einzureisen, und dass sie 4.500 weitere festgenommen haben, denen es gelang, illegal in die Provinz Van einzureisen.
Die EU hat der Türkei vergangene Woche eine weitere halbe Milliarde Euro zugesprochen. Im offiziellen Wortlaut, um den syrischen Geflüchteten im Land humanitäre Hilfe zu leisten. In der Praxis wohl eher,  damit die türkischen Behörden Menschen an ihrer Weiterreise nach Europa hindern.
https://www.nytimes.com/reuters/2020/07/01/world/middleeast/01reuters-turkey-migrants-boat.htmlhttps://www.infomigrants.net/en/post/25727/dozens-of-migrants-feared-dead-in-lake-van-turkey
https://www.nzz.ch/international/die-eu-und-die-tuerkei-brauchen-einen-neues-fluechtlingsabkommen-ld.1563124?reduced=true

Europäische Staaten finanzieren weiteres Überwachungssystem vor Tunesien
Eine neue Anlage zur Kontrolle tunesischer Küsten soll die „irreguläre Migration“ über das Mittelmeer verhindern. Es nennt sich „Integrated System for Maritime Surveillance“ (ISMariS) und wird von der Schweiz und der EU finanziert. Es ergänzt unter anderem die Militärmission „Irini“ und die Frontex-Mission „Themis“. ISMariS soll möglichst viele Informationen aller Behörden zusammenführen und mit bereits vorhandenen Komponenten von Behörden in Tunesien kompatibel sein, darunter Führungs- und Kontrollsysteme der Küstenwachen, Radaranlagen, Sender und Empfänger zur Positionsbestimmung, Nachtsichtgeräte sowie thermische und optische Sensoren. Die für Europa vielleicht wichtigste Komponente des „ISMariS“ ist ein ebenfalls enthaltenes Kommunikationssystem. Damit sollen die Küstenwache und Marine „zur Verbesserung der operativen Zusammenarbeit“ mit Italien und anderen EU-Mitgliedstaaten Informationen austauschen, z.B. mit Frontex und EUROSUR, dem europaweiten Überwachungssystem der EU-Grenzagentur. Frontex überwacht die Küstenregionen vor Libyen und Tunesien bereits unter anderem mit Satelliten und einem Flugdienst.
Das Mittelmeer gehört zu den am besten überwachten Gebieten der Welt, dennoch werden Menschen in Not immer seltener von den EU-Mitgliedstaaten gerettet. Stattdessen helfen die Staaten der tunesischen oder libyschen Küstenwache, die Geflüchteten (oft gewaltvoll) zurückzuholen.
https://netzpolitik.org/2020/eu-zahlt-ueberwachung-im-golf-von-tunis/

Verantwortung Italiens für systematische Folterung in Libyen soll untersucht werden
Das Centre Suisse pour la Défense des Droits des Migrants (CSDM) fordert vom UNO-Ausschuss gegen Folter eine Untersuchung der Rolle Italiens mit Blick auf die systematische Folterung von Geflüchteten und Migrant*innen, die nach Libyen zurückgeführt wurden.
Das CSDM zeigt auf, dass die libysche «Küstenwache» bei der Rückführung («pull back») von (geflüchteten) Migrant*innen im Auftrag Italiens handelt. Zudem ist die libysche Küstenwache durch die umfassende materielle und logistische Unterstützung Italiens überhaupt erst handlungsfähig. Diese Unterstützung umfasst etwa Finanzierung, Schiffe, Ausbildung sowie Kommando- und Kontrollstrukturen. Die Echtzeitüberwachung auf See und aus der Luft werden durch Italien selbst sowie über EU-Programme, an welchen Italien beteiligt ist, sichergestellt. Ein 2017 unterzeichneter bilateraler Vertrag regelt die Zusammenarbeit zwischen Italien und Libyen. Dieser wurde auch in einem am 29. Juni von den NGOs Statewatch und Osservatorio Solidarietà veröffentlichten Brief an die International Maritime Organisation (IMO) kritisiert. Der erklärte Zweck des Vertrags ist die «Eindämmung illegaler Migration», welcher erreicht werden soll, indem Italien «den libyschen Institutionen, die für den Kampf gegen die illegale Immigration zuständig sind», so etwa der «Küstenwache», Ressourcen zur Verfügung stellt. Ohne die Bereitstellung dieser Ressourcen wäre die libysche Küstenwache weder in der Lage noch willens, Boote mit (geflüchteten) Migrant*innen in der eigenen Such -und Rettungszone abzufangen, oder auch nur zu lokalisieren. Über diese Zusammenarbeit konnte Italien die Grenzkontrolle vollständig an Libyen externalisieren. Dies hat dazu geführt, dass seit Beginn der Zusammenarbeit rund 50.000 Personen abgefangen und zur Rückkehr in libysche Folterlager gezwungen wurden, allein dieses Jahr waren es mindestens 4.231 Personen. Italien möchte die Zuschüsse für die so genannte libysche Küstenwache zudem weiter erhöhen. In diesem Jahr sollen drei Millionen Euro mehr in das Bürgerkriegsland fliessen, dessen „Küstenwache“ weiterhin in Notfällen nicht oder schwer erreichbar ist und das Geflüchtete in Folterlager zurückschickt, wenn sie diese auf See stoppt. Somit gehen 2020 58,28 Millionen Euro direkt an die libyschen Behörden. Dieses Vorgehen Italiens hat massenhaft Folter, Vergewaltigungen und Versklavung von tausenden (geflüchteten) Migrant*innen zur Folge, die nach Libyen zurückgeführt («pulled back») werden. Die Strategie der Pull-backs wird vor allem von europäischen Staaten seit 2012 angewendet, als Push-backs vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für illegal erklärt wurden. Statt die Menschen also selbst ohne Verfahren abzuschieben, werden jetzt die Behörden und Regierungen der Abfahrtsländer bezahlt, um die Menschen (oft sehr gewaltvoll) zurückzuziehen und so an einer Überfahrt oder einem Marsch nach Europa zu hindern. Sechs Menschen starben allein am 26. Juni während eines Pull-Backs nach Khoms mit 93 Menschen an Bord. Eine Frau hatte zudem während der  Überfahrt entbunden.
https://centre-csdm.org/wp-content/uploads/2020/06/Medienmitteilung-CSDM-26-Juni-2020.pdf
https://www.borderline-europe.de/sites/default/files/projekte_files/Newsletter%20Juni%202020%20-%20final_0.pdf

https://www.aljazeera.com/news/2020/06/migrants-drown-93-rescued-libya-coast-200627112416685.html

Weiterhin zögerliche Öffnung der Häfen für zivile Seenotrettungsschiffe
Seit dem 28. Juni wartete die Ocean Viking zwischen Malta und Italien vergeblich auf einen Hafen. An Bord befanden sich 180 Menschen, die sie aus Seenot gerettet hatten. Am 3. Juli schliesslich rief die Crew den Notstand aus, nachdem die Menschen so verzweifelten, dass 44 von ihnen äusserten, sich das Leben nehmen zu wollen. Am 4. Juli verhielten sich die italienischen Behörden endlich zu der Situation und kündigten an, die Menschen am Sonntag vor Sizilien auf die Moby Zaza in 14-tägige Quarantäne zu nehmen. Drei Menschen berichten von den Verhältnissen, vor denen sie aus Libyen flohen. Imran aus Pakistan erzählt, wie er noch am Flughafen als Zwangsarbeiter verkauft und mit 40 Menschen in einem Raum eingesperrt wurde. Naeem befand sich in einer ähnlichen Situation. Er wurde versklavt und bekam gerade genug Nahrung, um zu überleben. Arslan Ahmid wurde mit Elektroschocks gefoltert. Ihm wurde teilweise tagelang Essen verweigert. Er sagt: „Im Mittelmeer können wir einmal sterben. In Libyen sterben wir jeden Tag.“
https://www.derstandard.at/story/2000118456622/rettungsschiff-ocean-viking-mit-180-migranten-wartet-weiter-auf-hafen?ref=rss

https://www.infomigrants.net/en/post/25669/here-in-the-mediterranean-we-can-die-once-in-libya-we-die-every-day


Was ist aufgefallen?

Italienisches Gesetz zur „Legalisierung“ von Migrant*innen floppt 
Im Mai hatte die Landwirtschaftsministerin angekündigt, bis zu 600.000 Sans-Papiers temporär  und wirtschaftsfördernd zu regularisieren (vgl. https://antira.org/2020/05/18/antira-wochenschau-securitas-gewalt-im-bundesasyllager-juedinnen-liste-wegen-polizei-migrantinnen-streik-gegen-spargelhof-ritter/). Bisher sind jedoch nur 32.000 Anfragen beim Ministerium eingegangen, grösstenteils von Haushaltshilfen und privaten Pflegekräften, also nicht von dringend benötigten Erntehelfer*innen. Die Gründe dafür liegen sowohl in den komplexen Verfahren, als auch in der mangelnden Bereitschaft von Unternehmer*innen ihre bisherige Nutzung von irregulären Arbeitskräften einzugestehen und 500 € pro Verfahren zu zahlen sowie nicht zuletzt im Fehlen von Dokumenten, die die Aufenthaltsdauer der Migrant*innen in Italien belegen.
Widerstand gegen die Bedingungen der Regularisierung wurden am vergangenen Wochenende von der Gruppe „Forum Antirazzista Palermo“ auf die Strasse getragen.

Sie kritisieren die unfairen Bedingungen des Gesetzes, das nur in den vier Sektoren Landwirtschaft, Fischerei, Pflege und Haushaltshilfe zur Anwendung kommt. Dies entmenschliche Migrant*innen zu reinen Arbeitsmitteln und schliesse viele aufgrund ihrer Hautfarbe aus: „In Italien leben 700.000 unsichtbare Menschen, Frauen und Männer, die aufgrund der italienischen und europäischen Einwanderungsgesetze, die sie in den letzten zehn Jahren illegal gemacht haben, keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten können. Die jüngste Bellanova-Amnestie schliesst die meisten dieser Personen aus.“ Die Initiative fordert daher die sofortige Ausdehnung der Regularisierungsverfahren auf alle Bereiche der Arbeit und auf alle Personen, auch wenn ihre Aufenthaltsgenehmigung längst abgelaufen ist sowie die Ausstellung einer Aufenthaltsbewilligung zur Arbeitssuche oder für gesundheitliche Notfälle und die Beseitigung der Kosten des Verfahrens.
https://www.borderline-europe.de/sites/default/files/projekte_files/Newsletter%20Juni%202020%20-%20final_0.pdfhttps://www.facebook.com/events/2018869091579090/

Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Frankreich
Bezüglich dreier Fälle von Asylsuchenden hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Frankreich wegen „unmenschlicher und entwürdigender Lebensbedingungen“ für Asylsuchende verurteilt. Das Gericht kam zum Schluss, dass die drei Männer „Opfer einer erniedrigenden Behandlung“ seien. Frankreich hatte ihnen nach ihrem Asylantrag weder finanzielle Unterstützung für ihre Grundbedürfnisse, noch Zugang zu sanitären Einrichtungen bereitgestellt. Die Asylsuchenden hatten zudem erst nach sehr langer Verzögerung ihre temporäre Aufenthaltserlaubnis bekommen. Das Gericht sprach zwei Antragstellern 10.000 Euro und dem dritten 12.000 Euro Schadenersatz zu. Es ist das vierte Mal in einem Monat, dass der EGMR Frankreich wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Ob solche Verurteilungen für das Land, das seinen Ruf als Geburtsnation der Menschenrechte wenig pflegt, unbequem sind, scheint unklar.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/menschenrechte-migranten-frankreich-urteil-europaeischer-gerichtshof-fuer-menschenrechte

https://www.francetvinfo.fr/monde/europe/demandeurs-d-asile-la-france-condamnee-par-la-cedh-pour-des-conditions-inhumaines-d-existence_4031459.html

Antisemitismus in der Schweiz: weiterhin ein präsentes Problem
Eine in der letzten Woche veröffentlichte Studie der ZHAW zeigt auf, dass Antisemitismus auch in der Schweiz Alltag ist. Die Häfte der 500 Teilnehmer*innen gab an, in den letzten fünf Jahren antisemitische Belästigungen erlebt zu haben, mehrheitlich in Form von beleidigenden oder bedrohlichen Kommentaren an öffentlichen Orten, am Arbeitsplatz und an (Hoch-) Schulen. Zwei Drittel der Befragten vermeiden oft oder manchmal Dinge zu tragen, die sie als Jüd*innen erkennbar machen. Diese Ergebnisse bestätigen eine frühere Erhebung des Bundesamts für Statistik, laut welcher jede zehnte Person in der Schweiz eine negative Meinung über jüdische und/oder muslimische und schwarze Personen hat. Ein weiterer Grund, antirassistische Sensibilisierung an Schulen und in der öffentlichen Diskussion zu fördern.
https://www.tagesanzeiger.ch/judenhass-kommt-in-der-schweiz-aus-der-mitte-der-gesellschaft-846570400090

Fragwürdige Medienberichterstattung
Dass die Black Lives Matter-Bewegung auf einmal eine breitere gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommt und auch von Institutionen akzeptiert wird, die Macht innehaben, zeigt sich u.a. in der neuartigen Reaktion vom SC St. Gallen, der sich beim FC Zürich-Stürmer Tosin entschuldigte, nachdem dieser während des letzten Spiels von Fans rassistisch beleidigt worden war. Und daran, dass mehrere Zeitungen darüber berichteten. Wie die Medienberichterstattung über die Auseinandersetzungen zwischen zivilen Anwohner*innen und Polizist*innen in Stuttgart vom 20./21. Juni verlief, zeugt jedoch davon, dass ihnen eine rassismuskritische Perspektive häufig noch neu ist. Die Entpolitisierung der Proteste spricht der Wut von Menschen die Legitimation ab. Von einem respektlosen Party-Mob ist die Rede, über Ursachen wird nicht gesprochen, vielmehr das Feindbild eines gewalttätigen migrantischen Jugendlichen geschürt. Verallgemeinerung statt Differenzierung. Und nachdem ein Audiomitschnitt von Funksprüchen des besagten Abends auftauchte, in dem die Randalierenden als Kan**** bezeichnet werden, fragt sich der Pressesprecher des Polizeipräsidiums tatsächlich noch, ob ein Fehlverhalten der Polizei vorliege. Dass auch Googles Such-Algorithmen seinen Teil zum rassistischen Klima beitragen, zeigt sich, sobald man wahlweise ‚Randale Stuttgart‘ oder ‚Stuttgart Randale‘ eingibt und sich die vorgeschlagenen Schlagwörter für die Suche anschaut.
https://www.derbund.ch/schwarzer-fcz-stuermer-als-scheiss-mohrechopf-beschimpft-806510448306
https://www.derstandard.at/story/2000118361410/rassistischer-vorfall-bei-geisterspiel-in-der-schweiz?ref=rss
https://www.20min.ch/story/der-wird-dafuer-buessen-816960053403
https://www.srf.ch/sport/fussball/super-league/fcz-tosin-verbal-attackiert-der-fcsg-verurteilt-rassistischen-vorfall-scharf
https://www.fr.de/panorama/randale-stuttgart-jugendliche-partyszene-seehofer-audio-polizei-rassismus-zr-13805497.html
https://www.nzz.ch/meinung/krawalle-in-stuttgart-ein-angriff-auf-die-zivilisation-ld.1563228
https://www.woz.ch/2027/krawalle-in-stuttgart/schwaebische-voelkerschau

Strukturen rassistischer Polizeigewalt

In der Auseinandersetzung mit rassistischer Polizeigewalt begegnen sich zwei Systeme – Rassismus und die Polizei – die beide darauf gründen, eine Norm gewaltvoll durchzusetzen, zu entmenschlichen und anhand dieser Entmenschlichung Ungleichheiten in der Behandlung zu rechtfertigen. Die Polizei baut letztlich auf dem Prinzip auf, alle Menschen zu kontrollieren, die sie ausserhalb der gesellschaftlichen Norm verortet. So berichtet z.B. die Zeitung neues deutschland davon, dass allein in den Jahren 2007 bis 2014 in Deutschland 16 Menschen von der Polizei getötet wurden, die eine psychiatrische Diagnose oder Psychiatrie-Erfahrung innehatten. Diese Zahlen sind nicht willkürlich und haben ihren Ursprung in der Entstehung des Polizeiapparates: Der Polizeiapparat, wie es ihn heute gibt, besteht auf ähnliche Weise erst seit dem 19. Jahrhundert. Er fusst auf dem Schutz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse vor den Eigentumslosen. Dass Polizeibeamt*innen und Gesetze neutral sein können, ist ein Irrtum, eine Fehleinschätzung. Sie waren es nie. So statteten damals Herrschende in den USA Menschen mit Uniformen und Waffen aus und ermöglichten ihnen sogar ein Rentensystem, um ihre eigenen Interessen vertreten zu sehen. Die Uniformierten gingen daraufhin vor allem gegen sog. Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung und gegen Landstreicherei vor. Im Süden der Nachkriegszeit wurden vor allem Schwarze verhaftet und in das System der Sträflingsarbeit gezwungen. Bis heute hat sich nicht viel an der Grundmotivation des Daseins der Polizei geändert: nämlich die bestehende Ordnung gegenüber Menschen durchzusetzen, die diese hinterfragen oder sie ablehnen. Und jede Änderung der Polizeiarbeit wird die Kontrolle und Überwachung jener Menschen lediglich verschieben, aber nicht aufheben. In Bremen z.B. versucht die links-grün-rote Stadtregierung die Polizei zu reformieren. Schwierig in einem System, das grundsätzlich krankt. Um gegen Befangenheit in Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamt*innen vorzugehen, soll dort eine unabhängige Instanz eingeführt werden, die z.B. Kompetenzen zur Akteneinsicht und zur Zeug*innen-Befragung erhält. Um gegen Racial Profiling vorzugehen, wurde endlich eingeführt, dass Menschen an sog. Gefahrenorten nicht mehr willkürlich kontrolliert werden dürfen, sondern nur noch aufgrund von ‚verdächtigem Verhalten‘ – wie verdächtiges Verhalten letztlich ausgelegt wird, liegt aber weiterhin in der Definitionsmacht der Polizist*innen. Die Betroffenen dürfen nun also einfach einen Grund für ihre Kontrolle erfragen. Auch werden gleichzeitig neue Gesetze zur Video-Überwachung eingeführt und der Zugriff auf Handy- und Internet-Daten erleichtert. Die Hamburger Polizei macht lieber mit ihren Plakatkampagnen auf sich aufmerksam: „Geh auf Nr. sicher, ruf die Polizei.“ Für welche Personen es letztlich ‚sicher‘ ist, wenn die Polizei gerufen wird, ist ohnehin eine der wichtigsten Fragen, die Menschen sich stellen müssen, bevor sie nach ihrem Telefon greifen. Die Plakatkampagne zumindest stigmatisiert Heroinabhängige und Diabetiker*innen, macht fragwürdige Anspielungen zu einem schwulen Pärchen und zieht zusätzlich noch die Debatte über rassistische Polizeigewalt ins Lächerliche. Und von Einsicht darüber, dass die Kampagne nicht witzig, sondern schlicht diskriminierend ist, gibt es selbstredend keine Spur. Uneinsichtigkeit zeigt auch ein Polizist in Basel-Stadt. Harry Szedenyi, zurzeit stellvertretender Ressortleiter der Einsatzzentrale sowie Vizepräsident des Polizeibeamtenverbands Basel-Stadt, lässt verlauten, es gebe keinen Rassismus in der Polizei und kein Racial Profiling. Er könne den pauschalen Vorwürfen nichts abgewinnen – doch genau darum geht es. Dass Rassismus eben keine persönliche Einzelmeinung ist, sondern ein System, auf dem das globale Weltgeschehen fusst und dies seit Jahrhunderten. Und an diesem System wirken alle mit. Das sagen auch Fatos Cebir und Hülya Emec, nachdem sie im Mai in der S-Bahn von einem weissen Mann aus rassistischen und sexistischen Motiven attackiert worden waren. Lange hatten andere Fahrgäste nicht eingegriffen und die herbeigerufene Polizei meldete sich erst über eine halbe Stunde nach dem Übergriff: «Es geht nicht nur um diesen Mann, der uns angegriffen hat. Es sind auch die gesellschaftliche Stille und die Rolle der Polizei, die diesen Angriff möglich gemacht haben.» Szedenyi erklärt trotzdem, es gebe schliesslich keine Anzeigen wegen Rassismus im Dienst. Doch Rassimus kann sich eben auch so ’subtil‘ äussern, dass ein Übergriff auf BIPoC (Black Indigenous and People of Color) von (weissen) Polizist*innen weniger ernst genommen wird. Und das ist nicht mehr subtil, wenn es mit schweren Verletzungen oder tödlich endet. Die Polizeibeamt*innen, die in besagtem Fall spät agierten, müssen sich die Frage stellen, ob sie schneller vor Ort gewesen wären, wenn die attackierten Frauen weiss gewesen wären oder derjenige, der sie attackierte nicht-weiss. Dass es keine Anzeigen gegen Polizt*innen im Dienst gibt, ist also auf keinen Fall ein Zeichen dafür, dass es rassistische Übergriffe aus den Reihen der Polizei nicht gibt. Eher ist es ein Zeichen dafür, dass Rassismus bis jetzt von vielen Weissen nicht ernst genommen und gesamtgesellschaftlich nicht aufgearbeitet wird. Und vor allem ein Zeichen dafür, dass dem Polizeiapparat kein Vertrauen geschenkt wird. Szedenyi beschreibt weiterhin, er würde niemanden aufgrund der Hautfarbe kontrollieren, sondern aufgrund des Verhaltens. Nun stellt sich aber wiederum die Frage: Würde er eine weisse Person, die das gleiche Verhalten an den Tag liegt, auch kontrollieren? Und genau dort fängt Rassismus an. Nicht in Hass und offenen Vorurteilen, sondern in eingeschriebenen Gedankenmustern, dem verschobenen Blick auf Menschen, der ungleich betrachtet. Es geht um Misstrauen. Es geht darum, nicht zuzuhören. Es geht darum, zu glauben, Menschen nicht ernst nehmen zu müssen. Zu behaupten, es gäbe kein Racial Profiling ist zum Beispiel rassistisch, denn es spricht allen BIPoC-Menschen, die tagtäglich kontrolliert werden, ihre Erfahrung ab.
https://antira.org/2020/07/02/medienspiegel-1-juli-2020/
https://twitter.com/human124/status/1276470267506757639
https://antira.org/2020/06/27/medienspiegel-26-juni-2020/
https://taz.de/Geplantes-Polizeigesetz-in-Bremen/!5691466/
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138394.polizei-im-ausnahmezustand.html
https://wirkommen.akweb.de/ausgaben/661/warum-sich-die-polizei-nicht-aendern-wird/
https://taz.de/Plakatkampagne-der-Polizei-Hamburg/!5693622/
https://www.woz.ch/2026/alltagsrassismus/spaetabends-in-der-s-bahn

Die Verstrickungen der Schweizer Textilindustrie in die Sklaverei
Die Schweiz besass selbst keine Kolonien und hat deshalb auch keine Verantwortung für die Gräueltaten, die während dieser Zeit verübt wurden oder für deren postkoloniale Auswirkungen. Solchen Aussagen begegnen wir immer und immer wieder. Sie werden genutzt, um sich sämtlicher Schuld zu entziehen und das Märchen des selbst geschaffenen, auf harter Arbeit basierenden Wirtschaftsaufschwungs aufrechtzuerhalten. Tatsächlich aber basiert die heutige wirtschaftliche Macht der Schweiz massgeblich auf der Ausbeutung von Menschen und Staaten während der Sklaverei und des Kolonialismus. Viele für die heutige Wirtschaft relevante Strukturen und Institutionen entstanden während dieser Zeit und waren nur durch die Profite aus dem Sklavereihandel möglich. Das zeigt zum Beispiel die Geschichte der Indiennes, der bunten Baumwolltücher: Der Handel mit Indiennes brachte der Schweiz enormen Wohlstand. Die Stoffe wurden als eine Art Währung verwendet, um sie in Afrika gegen versklavte Menschen einzutauschen – die dann nach Amerika geschifft wurden. Bei der Herstellung sowie beim Handel mit den Indiennes spielten Schweizer*innen eine entscheidende Rolle. Auf dem Schiff „Necker“ beispielsweise, das 1789 nach Angola segelte, machten Schweizer Stoffe drei Viertel des Warenwerts aus, der gegen Sklav*innen getauscht wurde. Die Baumwollindustrie, die massgeblich auf der Ausbeutung versklavter Menschen basierte, war enorm wichtig für die industrielle Entwicklung der Schweiz. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hat die Schweiz über längere Zeit in absoluten Zahlen sogar mehr Baumwolle importiert als England. Nebst der Tatsache, dass das Endprodukt (Indiennes) für den Handel mit versklavten Menschen eingesetzt wurde, entstand auch das importierte Rohprodukt aus versklavter Arbeit. Schweizer Textilunternehmen investierten ihr Vermögen ganz direkt in den Handel mit versklavten Menschen. Aufzeichnungen zeigen, dass das in Basel ansässige Textilunternehmen Christoph Burckardt & Cie zwischen 1783 und 1792 an 21 Schiffsexpeditionen mit versklavten Menschen beteiligt war, die rund 7.350 Menschen aus Afrika nach Amerika transportierten. Ein Grossteil des Wohlstands in Schweizer Textilzentren war mit dem Handel mit versklavten Menschen verbunden. Abgesehen von der Produktion von und dem Handel mit Indiennes wirkten Schweizer*innen an der Sklaverei mit, indem sie sich mit Sachgütern am Handel mit versklavten Menschen, der Produktion von und dem Handel mit Gütern aus versklavter Arbeitskraft sowie dem Besitz von Plantagen beteiligten. Auch bei Finanzgeschäften mischten Schweizer*innen kräftig mit, beispielsweise durch Investitionen, Versicherungen oder Beteiligungen. Besonders bei der Finanzspekulation nahmen Schweizer*innen immer wieder eine zentrale Rolle ein. Ein Beispiel ist die «Compagnie de la Louisiane ou d’Occident», die sogenannte «Mississippi-Gesellschaft»: Sie betrieb Handel mit versklavten Menschen und Produkten aus der Sklaverei. Viertgrösster Aktionär war – nebst vielen weiteren Schweizer*innen – Louis Guiguer aus Bürglen. Auch der Staat Bern beteiligte sich im grossen Stil an Finanzgeschäften: Die 1711 gegründete «South Sea Company» übernahm englische Staatsschulden und erhielt dafür 4 Schiffe sowie das exklusive Recht, die spanischen Kolonien mit versklavten Menschen zu beliefern. Gemäss Vertrag wurden pro Jahr 4.800 versklavte Menschen gehandelt. Zwischen 1719 und 1734 besass der Staat Bern Aktien bei der South Sea Company. In dieser Zeit wurden etwa 20.000 Menschen verschifft, 2.000 sind dabei gestorben. Zeitweise war der Staat Bern sogar grösster Aktionär noch vor der Bank of England und noch vor König George I. Ein weiteres Beispiel ist David de Pury (1709-1786), dem heute immer noch eine Statue in Neuchatel gewidmet ist. Er war unter anderem Aktionär bei der portugiesischen Frachtgesellschaft „Pernambuco e Paraìba“, die 42.000 versklavte Menschen nach Brasilien verschiffte. Damit häufte er ein Vermögen an, wovon er einen Grossteil (600 Mio CHF) der Stadt Neuenburg vererbte. All diese Verstrickungen hatten einen enormen Einfluss auf den Wirtschaftsstandort Schweiz, welcher wiederum massgeblich für den heutigen Wohlstand in der Schweiz verantwortlich ist. Der Handel mit versklavten Menschen hat durch seine Profite, durch die im Dreieckshandel erworbenen Kenntnisse und Techniken (Plantagenorganisation, Bankenwesen, Versicherungen) sowie durch die Anregung vor- und nachgelagerter Industrien (Schiffsbau, Baumwollindustrie, Zuckerraffinerie, Metallindustrie) die materielle Entwicklung Europas im 18. und 19. Jh wesentlich geprägt und die industrielle Revolution erst ermöglicht. Als Teil des europäischen Wirtschaftsraums hat die Schweiz allgemein an jenem Aufschwung von Produktion und Handel teilhaben können, der wesentlich auf der atlantischen Sklavereiwirtschaft beruhte (aus Hans Fässler, Reise in Schwarz-Weiss).

Bild: Iniennes

Um dieses ausbeuterische Verhalten irgendwie verantworten zu können, musste eine moralische Legitimierung her. Diese schaffte unter anderem Louis Agassiz an der Uni Neuchatel mit seinen Rassentheorien, welche eine biologisch natürliche Hierarchie zwischen Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben propagierten. Ogette beschreibt es in ihrem Buch «Exit Racism» wie folgt: «Die Europäer*innen […] wurden Rassist*innen, um Menschen für ihren eigenen Profit versklaven zu können. Sie brauchten eine ideologische Untermauerung; eine moralische Legitimierung ihrer weltweiten Plünderungsindustrie. […] Die Idee der Rassentheorie musste geboren werden. […] Und von Anfang an wurden diese vermeintlichen ‹Rassen› mit Bewertungen ausgestattet. Es wurde eine Hierarchie aufgestellt, bei der die weisse Rasse immer an der Spitze stand.“ Eine weitere Folge der Sklaverei sind somit bis heute bestehende, tief in Köpfen und Strukturen verankerte rassistische Ideologien, die wiederum die moralische Legitimierung für die heutige Ausbeutung des globalen Südens sowie von BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) schafften.
Lese-Empfehlungen zu diesem Thema:
– Tupoka Ogette: Exit Rasicm
– Hans Fässler: Reise in Schwarz-Weiss
https://www.swissinfo.ch/ger/die-unappetitliche-vergangenheit-der-schweizer-textilindustrie/45855368

Kopf der Woche Hans Kissling

Hans Kissling fordert Strafen statt Perspektiven. Offizielle Schätzungen sagen, dass in der Schweiz rund 100.000 Sans-Papiers, also Menschen ohne geregelten Aufenthalt, leben und arbeiten. Während der Corona-Krise haben viele ihren Job im Gastgewerbe oder als Reinigungskräfte verloren. Mangels finanzieller Reserven und ohne Rückgriff auf Sozialversicherungen konnten viele auch die Miete nicht mehr bezahlen und so stand bei ihnen die gesamte Existenz in der Schweiz auf dem Spiel, denn wer sich zeigt, wird ausgeschafft. Vor diesem Hintergrund kommentierte Hans Kissling vom statistischen Amt in Zürich in der Zeitung Bund die Regularisierungspraxis in der Schweiz. Während in Genf die „Operation Papyrus“ nach den extrem restriktiven Kriterien der Härtefallregelung (Familien mit Kindern müssen seit mindestens fünf, Alleinstehende seit mindestens zehn Jahren im Kanton wohnhaft und finanziell unabhängig sein sowie keine Verurteilung und keine Schulden haben) legalisiert, versuchen verschiedene Städte in der Deutschschweiz die Situation für Sans-Papiers über eine „City Card“ zu verbessern. Zum Beispiel in Zürich und Bern werden derzeit Modelle ausgearbeitet, um Sans-Papiers schon vor der Härtefallregularisierung im städtischen Hoheitsgebiet einen verbesserten Zugang zu städtischen Ressourcen zu ermöglichen. Wie stark die City Card die Polizei dazu bringen wird, auf Racial Profiling-Personenkontrollen zu verzichten bzw. Menschen mit City Card nicht zu verhaften, um sie auszuschaffen, bleibt noch offen. Obwohl sich nun Kissling für die miserable Situation der Sans-Papiers schämt („Für eine moderne Gesellschaft ist das ein unhaltbarer Zustand“), schlägt der Sozialdemokrat nicht etwa eine schnellere und menschenfreundlichere Regularisierungspraxis vor. Zum Beispiel alle nicht-europäischen Menschen den europäischen Menschen gleichzustellen und allen, die einen Job haben, eine Aufenthaltsbewilligung zu garantieren oder Ähnliches. Stattdessen will der weisse Mann die Arbeitgebenden von Sans-Papiers stärker bestrafen. Die Folgen für die Sans-Papiers: Weniger Jobs und mehr Druck für jene, die einen Job haben. Was Kissling höher gewichtet als ein stressfreieres Leben der Sans-Papiers ist nämlich die abschreckende Wirkung auf potenziell neue Sans-Papiers. Jeden Monat wägen Menschen, die in den Nothilfecamps leben ab, ob sie nicht besser beraten wären, unterzutauchen und die Strapazen des Überlebens im Untergrund auf sich zunehmen, statt von der Nothilfe abhängig zu sein. Auch für diese Personen hat Kissling keine Perspektive übrig, denn aktuell gibt es in der Schweiz für untergetauchte abgewiesene Asylsuchende keine Möglichkeit der Härtefalllregularisierung. Ihnen bleibt nur die Heirat oder der Wegzug als Ausweg aus der Illegalisierung.
https://www.derbund.ch/legalisierung-der-sans-papiers-411424450618


Was war eher gut?

Die Seabird fliegt ihre erste Mission
Auf dem Mittelmeer ist ein neues ziviles Aufklärungsflugzeug im Einsatz. Betrieben von Sea-Watch und der Schweizerischen Humanitarian Pilots Initiative HPI ergänzt die Seabird die Moonbird, die Lampedusa für Wartungsarbeiten verlassen hatte. Das neue Flugzeug hat eine grössere Reichweite und kann flexibler auf  politische Hürden reagieren, wie etwa den Entzug der Starterlaubnis von Malta 2018. Seither musste die Luftaufklärung ab Lampedusa starten.
Die Luftaufklärung ergänzt die zivile Flotte an Rettungsschiffen auf dem zentralen Mittelmeer. Sie kann ein riesiges Seegebiet abdecken, Seenotfälle früher entdecken und melden. Allein im Jahr 2017 sichtete die Moonbird 119 Boote in Seenot, einige davon bereits sinkend. Ohne den Einsatz des Aufklärungsflugzeugs wären es wahrscheinlich bis zu 1.000 Tote mehr im Mittelmeer geworden, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommen hätte. 2017 starben etwa 3.500 Menschen im Mittelmeer. Häufig kann die Crew jedoch lediglich dokumentieren, was auf dem Mittelmeer passiert. Sie wird zunehmend Zeugin von Push-backs nach Libyen oder unterlassener Hilfeleistung durch die offiziellen Rettungsleitstellen.
https://www.facebook.com/seawatchprojekt/
https://www.hpi.swiss/moonbird


Was nun?

Über Schokoküsse
Über das rassistische M-Wort berichteten diese Woche wieder viele. Hierzu startet in Kürze die antirassistische Kampagne „Aus den Mündern – Aus den Köpfen“ (https://ausdenkoepfen.noblogs.org/) . Folgender Brief (https://ausdenkoepfen.noblogs.org/files/2020/06/Brief_20200630.pdf) wird an Geschäfte, Restaurants, Kioske, Tankstellen, etc. geschickt, welche die rassistischen Süssigkeiten immer noch im Sortiment haben. Diese haben zwei Wochen Zeit über die Sortimentänderung zu informieren. Wenn dies nicht geschieht, dann werden sie auf der Karte der Website rot markiert und boykottiert. Wechseln sie das Produkt aus, erhalten sie eine grüne Markierung auf der Triggermap.
Was kannst du tun? Kennst du Orte, wo ebenfalls Süssigkeiten mit M-Wort verkauft werden? Dann schicke diesen Brief dorthin und kennzeichne das Geschäft mit Namen und Adresse auf der Karte orange. Je nachdem wie sie antworten, könnt ihr sie auf der Karte rot oder grün markieren.


Wo gabs Widerstand?

Proteste gegen Isolation in Berner Camps

Am 02. Juli fanden in den Berner Rückkehrcamps in Bözingen und Gampelen Protestaktionen statt. Die geflüchtete Migrant*innen mit Negativentscheid  sprachen sich gegen Rückkehrzentren und für ein Recht auf Leben und Freiheit aus. In ihrer Stellungnahme heisst es:
„Die Gruppe „Stopp Isolation“ fordert Aufenthaltsbewilligungen für ein Leben in Respekt und Würde. Rückkehrzentren sind offene Gefängnisse am Rande der Gesellschaft. Wir werden dort isoliert. Es gibt dort: Freiheitsbeschränkungen wegen Anwesenheitspflicht, Arbeit ohne Mindestentschädigung, krankmachende Lebensbedingungen und Stress wegen Polizei, Securitas oder ORS AG. Viele Menschen, die nicht in Zentren lebenmüssen, denken wir sind kriminell. Aber wir sind nicht zum Spass in der Schweiz, sondern weil wir nicht anders können. Wir sind seit Jahren hier – einige schon seit Jahrzehnten. Wir haben viel Zeit unseres Lebens verloren. Hört auf uns zu diskriminieren. Hört auf uns ausschaffen zu wollen. Wir brauchen Respekt und Gleichberechtigung im Zugang zu Arbeit, Wohnungen, Gesundheit und Bildung. Wir sind auch Menschen!“ „Stopp Isolation“
https://migrant-solidarity-network.ch/2020/07/02/2-7-2020-stopp-isolation-protestaktionen-in-den-berner-rueckkehrcamps-in-boezingen-und-gampelen

Basel: Gemeinsam gegen Faschismus
In Basel haben hunderte Menschen gegen den Faschismus des türkischen Staates und die Besatzungsangriffe auf Kurdistan protestiert. Aufgerufen zu der Demonstration, die mit einer Schweigeminute am Bahnhofvorplatz begann, hatte das Demokratische Kräftebündnis Schweiz.
BIld: https://anfdeutsch.com/aktuelles/basel-gemeinsam-gegen-faschismus-20198

Exit-Racism- Flashmobs in Schweizer Städten
In den Städten Zürich, Lausanne, Basel, Luzern, Winterhur, Genf und Aarau gingen am Samstag insgesamt hunderte Menschen auf die Strasse, um die Proteste gegen Rassismus in der Schweiz fortzusetzen.  Die Kundgebungen begannen mit einem Die-In, einer Aktionsform, bei der sich Aktivist*innen reglos auf den Boden legen. Dieser dauerte 8 Minuten und 46 Sekunden, solange wie der tödliche Polizeieinsatz gegen George Floyd  am 25. Mai in Minneapolis. Anschliessend stellte das Bündnis Black Lives Matter Schweiz sieben Forderungen:

  • Stop Racial Profiling –Schwarze Menschen, People of Color und Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus dürfen nicht mehr einzig aufgrund der Hautfarbe polizeilich kontrolliert werden – schiebt einen Riegel gegen institutionellen Rassismus der Polizei in der Schweiz
  • Wir fordern eine unabhängige Beschwerdestelle bei Polizei- und Behördengewalt
  • Antirassismus-Stellen bei Bund, Kantonen und Städten müssen von BPOC besetzt sein
  • Die Schweiz äussert sich offiziell zur eigenen Beteiligung am Kolonialismus und der Apartheid und integriert diese als Bestandteil des Unterrichtsmaterials an Schulen.
  • Entfernung aller Statuen und Umbenennung aller Strassen, Berge und Plätze, die eine Referenz an rassistische/koloniale Figuren aufweisen
  • Stopp der rassistischen, unmenschlichen und kriminalisierenden Ausschaffungs- und Abschottungspolitik in der Schweiz und an den Grenzen der Festung Europas
  • Stopp der tagtäglichen Diskriminierung von BPOC (Arbeitssuche, Wohnungssuche, in Schule und Kindergarten, am Arbeitsplatz, im Gesundheitswesen…)
    https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/593151733-hunderte-demonstrieren-in-schweizer-staedten-gegen-rassismushttps://www.facebook.com/search/top/?q=exit%20racism%20forderungen&epa=SEARCH_BOX


Was steht an?

Aktionswoche auf der Schützenmatte Bern
Do, 2. Juli bis Do, 9. Juli
Diese Woche soll allen Beteiligten und Interessierten Gelegenheit bieten, miteinander ins Gespräch zu kommen und so gemeinsam eine neue alte Vision dieses Platzes zu erträumen, erspielen, ersingen, erzeichnen, erdenken.
Mo, 6. Juli: Musikworkshop und «Der Platz erzählt»
Di, 7. Juli: Drawing Session
Mi, 8. Juli: Kinderspass
Do, 9. Juli: Future Assembly
https://wirallesindbern.ch/calendar-2/
http://www.journal-b.ch/de/082013/politik/3634/Ein-Platz-f%C3%BCr-die-Zukunft.htm

Film: No Apologies
06.07.2020 I 20:00 I Autonome Schule
10.07.2020 I 21:00 I ParkPlatz Zürich
11.07.2020 I 21:30 I Kochareal Zürich
16.07.2020 I 20:00 I Bahnhöfli Biel
17.07.2020 I Neues Kino Basel, in Zusammenarbeit mit der Velotour d’Horizon
No Apologies beschreibt den physischen und psychischen Belagerungszustand, welchem schwarze Männer in prekären Verhältnissen in Lausanne ausgesetzt sind, sowie den Widerstand, welchen sie dieser Belagerung entgegenhalten. Sie erzählen – mit oder ohne Maske – von ihrer persönlichen Reise, vom täglichen Überleben und der Polizeigewalt. Dabei hinterfragen sie ihren Platz in der schweizerischen Gesellschaft, welche sie als Aussenseiter betrachtet.
Jeweils in Anwesenheit des Filmkollektivs mit Diskussion. Sprache: en/fr mit dt Untertiteln.
https://barrikade.info/article/3646

Velotour d’Horizon | 10.07. – 02.08.2020
Die Velotour d‘Horizon 2020 thematisiert, welches Ausmass die Einschränkung im Lageralltag angenommen hat. Wir besuchen verschiedene Lager, dokumentieren die Situation und machen mit Aktionstagen auf die Missstände aufmerksam. Während drei Wochen sind wir (in der Schweiz lebende Menschen aus der ganzen Welt) selbstorganisiert mit den Velos unterwegs, stärken bestehende Initiativen und vernetzen uns untereinander.
antira.org/velotour

Demo: Suruç – Kein Vergeben, Kein Vergessen
18.07.2020 I 17:00 I Barfüsserplatz Basel
Demo in Gedenken an das Suruç-Attentat vor 5 Jahren.
https://barrikade.info/event/1332


Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Buch: I will be different every time
Rassismus und Sexismus stehen in der Schweiz auf der Tagesordnung. Ein Buch versammelt die Erfahrungen schwarzer Frauen aus Biel.
http://diebrotsuppe.de/titel/i-will-be-different-every-time

Armut in der Schweiz: Kollateralschaden mit Ansage
In der aktuellen Wirtschaftskrise wird auch die breite Armut sichtbar, in die hierzulande nun weitere Zehntausende Menschen zu fallen drohen. Rassismus und Diskriminierung, über die derzeit debattiert wird, sind mit ein Grund.
https://www.woz.ch/2027/armut-in-der-schweiz/kollateralschaden-mit-ansage

Get out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien
„Bulgaria is very bad“ ist eine typische Aussage jener, die auf ihrer Flucht bereits etliche Länder durchquert haben. Der vorliegende Bericht geht der Frage nach, warum Bulgarien seit Langem einen extrem schlechten Ruf unter den Geflüchteten genießt.
https://bordermonitoring.eu/berichte/2020-get-out/

Kartenprojekt Tear This Down
Diese Initiative sammelt koloniales Erbe in Deutschland auf einer Karte, eine solche Karte und damit eine Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe ist auch in der Schweiz bitter nötig.
https://www.tearthisdown.com/de/

Maaza Mengiste: «Erschreckend viele Leute sind stolz auf Mussolini, aber niemand redet über Äthiopien»
Das koloniale Erbe wirkt überall dort weiter, wo Geschichte verdrängt wird: Die Schriftstellerin Maaza Mengiste über die Rolle der Frauen im Kampf gegen den Faschismus und über falsche Denkmäler.
https://www.woz.ch/2027/maaza-mengiste/erschreckend-viele-leute-sind-stolz-auf-mussolini-aber-niemand-redet-ueber

Armut nicht nur bunter machen
Bafta Sarbo über die Realität des Rassismus, Hautfarben und bürgerliche Anti-Diskriminierungspolitik
Die langlebigste Scheinerklärung des Sozialen: Warum Rassismus keine Hautfarben braucht, wie er die Wirklichkeit verzerrt, welche Rolle er im Kapitalismus spielt – und was schon Karl Marx zur US-amerikanischen Sklaverei zu sagen hatte.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138373.rassismus-armut-nicht-nur-bunter-machen.html

Rassismus ohne ‚Rassen‘. Über eine Ideo­logie und ihren schein­baren Grund­be­griff
Der Begriff ‚Rasse‘ markiert eine der langlebigsten Ausgrenzungsideologien der Moderne. Lässt sich diese aber wirklich eindämmen, indem man den Begriff eindämmt? Was ist gewonnen, wenn das Wort ‚Rasse‘ verschwindet, rassistisches Denken und Handeln sich aber längst von ihm gelöst hat?
https://geschichtedergegenwart.ch/rassismus-ohne-rassen-ueber-eine-ideologie-und-ihren-scheinbaren-grundbegriff/