Medienspiegel 4. Juli 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Konolfingen – Vorübergehendes Zentrum für abgewiesene Asylsuchende
Der Kanton Bern hat am 1. Juli in Konolfingen eines der Rückkehrzentren (RZB) in Betrieb genommen. Sie sind Teil der Neustrukturierung des Asyl- und Flüchtlingsbereichs des Kantons Bern. Damit stehen insgesamt vier Unterkünfte für abgewiesene, ausreisepflichtige Asylsuchende zur Verfügung.
https://www.bern-ost.ch/Konolfingen—Rueckkehrzenter-voruebergehend-in-Betrieb-624276


+++ZÜRICH
In den Zürcher Rückkehrzentren regt sich Widerstand
Im Zürcher Nothilfe-System bedeuten Corona-Lockerungen die Rückkehr zu alter Härte. In Urdorf geht die Sicherheitsdirektion neu sogar noch weiter. Dagegen wehren sich jetzt Asylsuchende aus allen fünf Rückkehrzentren mit einem offenen Brief. Die Behörde scheint indes keine Lust darauf zu haben, sich zu erklären.
https://daslamm.ch/zuercher-asylregime-widerstand-von-ganz-unten/


+++MITTELMEER
Italien lässt Migranten von «Ocean Viking» auf Quarantäne-Schiff
Italien erlaubt nach tagelangem Zögern den rund 180 Migranten auf dem privaten Rettungsschiff «Ocean Viking» den Wechsel auf das italienische Quarantäneschiff «Moby Zaza».
https://www.tagblatt.ch/newsticker/international/italien-lasst-migranten-von-ocean-viking-auf-quarantane-schiff-ld.1235468
-> https://www.blick.ch/news/ausland/italien-italien-laesst-migranten-von-ocean-viking-auf-quarantaene-schiff-id15971339.html
-> https://www.blick.ch/news/ausland/italien-italien-laesst-migranten-von-ocean-viking-auf-quarantaene-schiff-id15971339.html?utm_source=twitter&utm_medium=social_page&utm_campaign=bli


Notstand an Bord der Ocean Viking ausgerufen!
Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,
wir brauchen jetzt eure Hilfe! Zum ersten Mal in vier Jahren Einsatz haben wir an Bord den Ausnahmezustand ausgerufen. Das bedeutet, dass wir die Sicherheit der 180 Geretteten und der Crew nicht mehr länger gewährleisten können. Doch kein europäischer Staat übernimmt bislang die Verantwortung, uns einen sicheren Ort zuzuweisen.
Seid für uns und die Menschen an Bord laut! Teilt unsere Posts mit dem Hashtag #SOSNotstand in den sozialen Medien.
https://ffm-online.org/notstand-an-bord-der-ocean-viking-ausgerufen/
-> https://www.blick.ch/news/ausland/schweizer-fluechtlingsretter-verzweifelt-auf-der-ocean-viking-mit-180-gefluechteten-mehrere-menschen-sind-ueber-bord-gesprungen-id15971238.html?utm_source=twitter&utm_medium=social_page&utm_campaign=bli


+++TÜRKEI
Türkei: In der Not gefangen
Für die fast vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei war das Leben schon vor der Corona-Krise hart. Nun kämpfen viele um ihre Existenz – und eine Perspektive.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/tuerkei-fluechtlinge-istanbul-ekrem-imamoglu-coronavirus/komplettansicht


+++FREIRÄUME
Ça suffit
Femmes* Fatales hat genug. Heute Nacht, 4.7., machen wir auf leerstehende Räume in der Stadt Bern aufmerksam.
Räume, wie das Betagtenheim Zollikofen, welches für hunderte Personen Platz bietet, um zu wohnen und sich auszuleben, stehen leer. Versuche, dies zu ändern, wie die Besetzung im Oktober 2019, werden im Keim erstickt. Auch die fünf weiteren Standorte, die Teil dieser Aktion sind, stehen seit längerer oder kürzerer Zeit leer und Belebungsversuche werden immer wieder abgelehnt. Dazu gehören das Punto, ein Hotel im Egghölzli, Tilierstrasse 25 im Kirchenfeldquartier, das Haus an der Lorrainestrasse 27 sowie eine Villa an der Landorfstrasse in Köniz. Bei einigen der genannten Orte wurde schon nach kurzer Zeit interveniert und die Aktion unsichtbar gemacht.
https://barrikade.info/article/3654


+++GASSE
tagesanzeiger.ch 04.07.2020

Essensausgabe für Corona-Betroffene: Die Menschenschlange verschwindet – die Not bleibt

Samstag für Samstag stehen an der Langstrasse in Zürich seit Ausbruch der Corona-Krise Leute an für einen Sack Esswaren. Aber die private Ausgabestelle macht bald dicht.

David Sarasin

Die Grenze zwischen bedürftig und nicht bedürftig ist an der Langstrasse mit rot-weiss gestreiften Verkehrshütchen markiert. Es ist Samstag, 14 Uhr, die Abgabe der Essenspakete beginnt in drei Stunden. Die Schlange, die sich innerhalb der Markierung gebildet hat, reicht vom Restaurant Hiltl an der bis um die Ecke Hohlstrasse.

Karl Wolf, ein Priester, geht von Person zu Person und händigt Infoblätter aus. Damit es nicht zu Spannungen kommt auf dem Trottoir, sollen die Leute ihre Pakete gestaffelt abholen. Zwischen 17 und 19.30 Uhr verteilen Wolf und rund 30 Freiwillige der katholischen Vereinigung Incontro hier knapp 1600 Essenssäcke mit Grundnahrungsmitteln. Einen Sack pro erwachsene Person.

Der Papiersack enthält Gemüse, Konservendosen, Fertigsuppen oder Toastbrot und hat einen Wert von rund 50 Franken. Für alle, die hier anstehen, ist er gratis. Am Schluss, gegen 20 Uhr, sind die Säcke weg. «Wer hier mehrere Stunde ansteht für einen Essenssack, hat es auch nötig», sagt Wolf. «Die Not ist gross.»

Diese Menschenschlange wurde zu einer Art Symbol der Corona-Zeit in Zürich. Laut Schwester Ariane, einem anderen Mitglied von Incontro, zeigt sie, was die meisten Menschen in Zürich nicht sehen wollen: Not in einer der reichsten Städte der Welt.

Lücken im staatlichen Auffangnetz

Wer hat es nötig, hier in der Nachmittagssonne anzustehen? «Die Gruppe setzt sich sehr divers zusammen», sagt Wolf. Es sind Asylbewerberinnen, Alleinerziehende, psychisch Beeinträchtigte, Suchtkranke, Working Poor, Ehepaare mit kleinen Renten oder Sans-Papiers. Kurz: Leute, für die 200 Franken im Monat stark ins Gewicht fallen.

Was diese Schlange ebenso zeigt, und was auch die Vertreter anderer Hilfswerke sagen: Das staatliche Auffangnetz hat Lücken. «Für manche genügt schon eine von Kurzarbeit verursachte Einkommenseinbusse von 20 Prozent, um ans Limit zu kommen», sagt Sandra Rauch, die Sprecherin von Caritas Zürich.

Prekär lebt etwa die 55-jährige Marianna K.* aus Zürich-Wiedikon, die seit 14 Uhr an der Langstrasse ansteht. «Ich lebe von der IV, und eigentlich reicht es nie», sagt sie. Aufgrund eines Traumas sei regelmässige Arbeit für sie unmöglich. Das Essenspaket helfe ihr, über die Runden zu kommen.

Oder da sind Kasar Khalid und Fiona Gautschi, ein junges Paar aus Winterthur, er 23 sie 18. Khalid sagt, er sei als Jugendlicher straffällig geworden und habe Zeit in einem Massnahmenzentrum verbracht. Gautschi könne aufgrund von Angststörungen nicht arbeiten. Zusammen würden sie von rund 800 Franken im Monat leben, das sei knapp.

Aus Angst verzichten sie auf Hilfe

Stadt und Kanton haben die von Armut Betroffenen im Blick. Im April schon haben sie Gelder gesprochen. Ebenso hat Sicherheitsdirektor Mario Fehr früh in der Krise bekannt gegeben, dass auch Leute mit provisorischer Aufenthaltsbewilligung Sozialhilfe beantragen dürfen. Normalerweise und ohne Corona-Krise würden sie damit ihren Aufenthaltsstatus verlieren.

Doch diese Information erreichte manche Betroffenen nicht. «Viele mit provisorischen Aufenthaltsbewilligungen verzichten auch jetzt auf Sozialhilfe», sagt Rauch von der Caritas Zürich. Die Leute zögerten, weil die Angst vor einer Ausweisung nicht von einem Tag auf den anderen verschwinde.

Karl Wolf steht zwar in engem Kontakt mit der Stadt, doch er wünscht sich auch mehr Engagement in der Direkthilfe. Sein Verein hat nach seinen Aussagen mehr als 600’000 Franken für aufsuchende Arbeit sowie die Essensabgabe ausgegeben. Und er wird diese Aufgabe auch bei einer möglichen erneuten Einschränkung des öffentlichen Lebens wieder übernehmen.

Ob die Stadt Wolfs Wunsch nachkommt und bei einer zweiten Welle zu Hilfe eilt, ist fraglich. Sozialvorsteher Raphael Golta sagte zwar in der NZZ, es sei mittelfristiges Ziel der Stadt, «die strukturellen Ursachen der aktuellen Misstände zu beheben». Mindestlöhne etwa, wie derzeit von einer Initiative gefordert, müssten dafür sorgen, dass erwerbstätige Menschen ihre Existenz selbstständig zu sichern vermögen. Doch von heute auf morgen wird das nicht passieren.

Ansturm auf Caritas-Läden

Bilder wie jene von der Schlange an der Langstrasse sind also auch in naher Zukunft wieder möglich. Ebenso jene vor den Caritas-Läden. Die Hilfe von Caritas und anderen nicht staatlichen Hilfswerken wurde in den Monaten des Lockdown so stark beansprucht wie noch nie. Sie verzeichneten nach eigenen Angaben Rekordumsatzzahlen.

Auch die Beratungsstelle für Sans-Papiers war gefordert und sammelte eine halbe Million Franken an Spenden, um Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung zu unterstützen. Der Verein verwendete das Geld für Nothilfe und Lebensmittelgutscheine, Mieten und Krankenkassenprämien.

Ab kommender Woche wird Incontro an der Langstrasse keine Essenspakete mehr ausgeben. «Wir haben die beschränkte Laufzeit von Beginn weg so geplant», sagt Wolf. In der Menschenschlange verteilt er Zettel mit städtischen Stellen, an die sich die Betroffenen von nun an wenden können. «Jetzt haben städtische Einrichtungen wieder geöffnet und können übernehmen», sagt Wolf.

Beibehalten wird Incontro die aufsuchende Gassenarbeit, die sie seit zweineinhalb Jahren betreibt. Jeden Abend sind die Wägelchen von Incontro an der Langstrasse zu sehen, von wo aus Freiwillige 250 Essensprotionen an Bedürftige verteilen.

Ein Rentner aus Oerlikon kommt deswegen jeden Abend an die Langstrasse fürs Nachtessen, wie er selbst sagt, während er auf sein Essenspaket wartet. Sein monatliches Einkommen betrage 1600 Franken, da könne er Unterstützung brauchen. Ähnliches sagen zwei syrische Kriegsflüchtlinge, beide auf Jobsuche. Keine Sorgen macht sich jener Schweizer aus Zürich, der ebenfalls Woche für Woche einen Sack Essen abholte. Er wisse von einem vergrabenen Goldschatz, den er dereinst bergen wolle, sagt er. «Problem gelöst.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/jetzt-ist-schluss-mit-essenspaketen-an-der-langstrasse-277813501817)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Hunderte demonstrieren in Schweizer Städten gegen Rassismus
In Schweizer Städten haben am Samstagnachmittag insgesamt mehrere hundert Menschen gegen Rassismus demonstriert. Die von den Behörden bewilligten Kundgebungen verliefen friedlich.
https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/593151733-hunderte-demonstrieren-in-schweizer-staedten-gegen-rassismus
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/demos-gegen-rassismus-in-mehreren-schweizer-stadten-65737259
-> https://www.blick.ch/news/rassismus-mehrere-hundert-menschen-demonstrieren-gegen-rassismus-id15970924.html


Kundgebung in Zürich150 Personen mit Maske an Anti-Rassismus-Demo
Am Samstagnachmittag haben Teilnehmer einer Kundgebung 8 Minuten und 46 Sekunden lang eine Schweigeminute gehalten. Die Veranstalter verteilten Gesichtsmasken.
https://www.tagesanzeiger.ch/150-personen-mit-maske-an-anti-rassismus-demo-460762528070
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/150-personen-schweigen-an-zuercher-anti-rassismus-demo-00137514/


Hart auf hart: Linksextreme Gewalt in Basel nimmt zu
Die Strafverfolgung folgt der zunehmenden linksextremen Gewalt auf dem Fuss. Das zeigt nicht zuletzt eine Serie von Prozessen, die nächste Woche beginnt.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/hart-auf-hart-linksextreme-gewalt-in-basel-nimmt-zu-138355980


Basel im Demo-Fieber: Gleich drei Demonstrationen legen Verkehr lahm
Im Kleinbasel demonstrierten am Samstag die Kurden, auf dem Barfi gab es eine Kundgebung gegen Rassismus und bei der Heuwaage sorgte die Antifa für Lärm.
https://www.bazonline.ch/gleich-drei-demonstrationen-legen-verkehr-lahm-590513719422
-> https://telebasel.ch/2020/07/04/rund-250-menschen-protestieren-in-basel-gegen-rassismus
-> ab 7.18: https://telebasel.ch/telebasel-news/?channel=15881
-> https://twitter.com/basel_nazifrei¬¬¬¬¬¬


Polizei löst unbewilligte Demo auf und kontrolliert 70 Personen
Die Kantonspolizei Basel-Stadt hat am Samstagnachmittag eine unbewilligte Kundgebung aufgelöst und rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kontrolliert.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/polizei-loest-unbewilligte-demo-auf-und-kontrolliert-70-personen-138364518
-> https://www.onlinereports.ch/News.117+M5bf990b4c63.0.html
-> https://www.polizei.bs.ch/nm/2020-unbewilligte-kundgebung-aufgeloest–rund-70-personen-kontrolliert-jsd.html



primenews.ch 04.07.2020

Heisser Samstag: Gleich mehrere Demos in Basel

Besinn­licher Protest gegen Rassismus und aggressives Antifa-Säbelrasseln: So war der Demo-Samstag in Basel.

von Luca Thoma

Es war nicht nur aufgrund der Juli-Hitze ein heisser Samstag: Gleich mehrere Demos fanden heute Nachmittag in Basel statt.

Um 13.30 wurde eine Demo unter dem Titel «Exit Racism Now!» auf dem Barfüsserplatz organisiert, um 15.30 wiederum folgte vor der Staatsanwaltschaft eine Antifa-Kundgebung.

Es waren zwei Veranstaltungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten – die eine friedlich und gesittet, die andere laut und aggressiv.

Hund­erte gedachten George Floyd auf dem Barfüsser­platz

Um 14.00 legten sich mehrere hundert Männer und Frauen synchron auf den Boden und blieben exakt 8:46 Minuten liegen – aus Solidarität für den tragischen Tod des Afroamerikaners George Floyd. Ein eindrückliches Bild.

Als dieses Zeitfenster abgelaufen war, reckten alle Teilnehmer die Faust in die Luft. Trotz der martialischen Geste war die Stimmung sehr ruhig, eher besinnlich.

Die Teilnehmer der «Exist Racism Now»-Demo, vom Augenschein her etwa 300 bis 400 grösstenteils sehr junge Menschen, waren ganz in schwarz gekleidet und trafen ab 13.30 auf dem Barfüsserplatz ein. Die Organisatoren verteilten Schutzmasken, sodass ausnahmslos alle Demo-Teilnehmer eine solche anzogen.

Keine Polizei vor Ort

Viele trugen zudem weisse Schilder mit den Namen von Menschen aus aller Welt, welche rassistischen Übergriffen zum Opfer fielen.  Bis zu der gemeinsamen Aktion um 14.00 achteten die Teilnehmer darauf, Abstand zu halten.

Ab und an umarmten sich Menschen, doch im Grossen und Ganzen blieben Verbrüderungsszenen aus. Einsatzkräfte der Kantonspolizei waren keine zu sehen.

Während die Teilnehmer der Demo die Fäuste in die Luft streckten, wurden sieben Forderungen der Organisatoren von «Exit Racism Now» verlesen.

Denkmal­stürze gefordert

Dazu gehört die Forderung nach einer «unabhängigen Beschwerdestelle bei der Polizei» gegen «Racial Profiling», nach «Antirassismus-Stellen bei Bund, Kantonen und Städten», aber auch der Anspruch, dass alle Strassen, Berge und Plätze die an koloniale Figuren erinnern, umbenennt werden sollen.

Zudem sollen auch alle Denkmäler solcher Figuren aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Eine radikale Forderung.

Parallel zur Aktion in Basel fanden auch in Genf, Zürich, Luzern, Lausanne und Winterthur Demos derselben Organisation statt.

Antifa-Säbel­rasseln vor der Staats­anwalt­schaft

Zum Schluss empfahlen die Veranstalter der Anti-Rassismus-Demo eine Folgeveranstaltung:

Ab 15.30 versammelten sich Antifa-Anhänger und -Sympathisanten zu einer Kundgebung vor der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt an der Binningerstrasse.

Hintergrund: Im Rahmen einer rechtsextremen Demo auf dem Messeplatz im Jahr 2018 griffen rund 200 gewaltbereite Personen aus der linken Szene die Polizeikräfte mit Bierflaschen und Baumaterial an.

Einem Aktivisten wird nächste Woche am Basler Strafgericht der Prozess gemacht und die Demo unter dem Motto «Wir sind alle antifaschistisch» sollte den «Druck» auf die Behörden erhöhen.

Die Stimmung war deutlich gereizter als auf dem Barfüsserplatz. Transparente und Fahnen schwingend zog eine Gruppe von rund hundert Menschen vom Eingang des Amts für Statistik über die Strasse hin zur Staatsanwaltschaft.

Nicht alle Demon­stran­ten trugen Masken

Dabei skandierten sie Parolen und behinderten den Verkehr. Pikant: Viele der Demonstranten, die sich sonst bei ihren Aktionen gerne vermummen, verzichteten auf eine Schutzmaske.

Die Polizei reagierte mit einem Grossaufgebot und drängte die Demonstranten weg von der Binningerstrasse auf das Areal vor der Osteria Acqua.

Die Beamten sperrten den Vorplatz ab, führten Personenkontrollen bei allen Anwesenden durch und liessen diese daraufhin nach Hause gehen. Das Prozedere zog sich auf über eine Stunde hinaus.

Rund um die Demo hatten sich zahlreiche Sympathisanten versammelt, darunter Basta-Grossrätin Tonja Zürcher. Die Polizisten wurden ausgebuht und als «Nazis» oder «Faschos» beschimpft.

Zwei Demos, die unter­schied­li­cher nicht sein könnten

Trotz aller Drohgebärden beliessen es die Demonstranten beim Säbelrasseln. Langsam, aber sicher wurde die Kundgebung aufgelöst.

Der Kontrast zur Anti-Rassismus-Kundgebung auf dem Barfüsserplatz war dennoch erstaunlich:

Auf der einen Seite ein ruhiger, besinnlicher Protest, der starke Bilder schuf – auf der anderen Seite eine lärmige und pöbelhafte Kundgebung, die ihren Teilnehmern in erster Linie einen Sonnenstich verschaffte.
(https://primenews.ch/articles/2020/07/heisser-samstag-gleich-mehrere-demos-basel)



Black Lives MatterDemonstration gegen Rassismus in Winterthur
Rund 30 Frauen und Männer haben am Samstag beim Bahnhof Winterthur gegen Rassenhass und -diskriminierung demonstriert.
https://www.landbote.ch/demonstration-gegen-rassismus-in-winterthur-830947036671


«Black Lives Matter»: Keine Afterdemo-Party aus Angst vor zweiter Coronawelle
Am vergangenen 13. Juni fand in St.Gallen die erste «Black Lives Matter»-Demo statt. Nun hätte diesen Samstag ab 16 Uhr eine After Party in der «Wilden Möhre» im alten Güterbahnhof über die Bühne gehen sollen. Hätte. Denn wie die Organisatoren am Samstagmorgen auf Instagram verlauten liessen, findet der Anlass nun doch nicht statt. Der Grund: Sicherheitsvorkehrungen gegen die zweite Coronawelle:
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/stgaller-stadt-ticker-schwere-entscheidung-afterdemo-party-zu-black-lives-matter-kurzfristig-abgesagt-rorschacher-strasse-im-neudorf-am-wochenende-gesperrt-juni-2020-oder-juni-2021-ld.1084940


Schweizweit koordiniert: Heute wird in Luzern ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt
Rassismus sei eine Realität in der Schweiz, schreiben die Organisatoren der Kundgebung am heutigen Samstag auf dem Jesuitenplatz in Luzern. Ihre Protestaktion verbinden sie mit einem Katalog an Forderungen.
https://www.zentralplus.ch/heute-wird-in-luzern-ein-zeichen-gegen-rassismus-gesetzt-1836741/


+++JUSTIZ
Grosse Unterschiede bei Ausschaffungen: Luzern weist neun von zehn kriminellen Ausländern aus – Zürich nur jeden zweiten
Die Kantone setzen die Ausschaffungs-Initiative sehr unterschiedlich um. Einige wenden die Härtefallklausel wie vorgesehen nur in Ausnahmen an. Andere erklären die Ausnahme zur Regel. Das Kantons-Ranking.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/grosse-unterschiede-bei-ausschaffungen-luzern-weist-neun-von-zehn-kriminellen-auslaendern-aus-zuerich-nur-jeden-zweiten-138358422


+++POLICE ZH
Häftling (19) tot in Zelle aufgefunden
Ein 19-jähriger Mann ist in seiner Zelle im Zürcher Polizeigefängnis verstorben. Am Samstagmorgen wurde er laut der Kantonspolizei tot aufgefunden, es bestünden keine Hinweise auf einen Suizid oder ein Drittverschulden.
https://www.20min.ch/story/haeftling-19-tot-in-zelle-aufgefunden-382863060870
-> https://www.kapo.zh.ch/internet/sicherheitsdirektion/kapo/de/aktuell/medienmitteilungen/2020_07/2007041x.html
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/panorama/19-jaehriger-haeftling-stirbt-in-zuercher-gefaengnis-138362332
-> https://www.zsz.ch/19-jaehriger-verstirbt-in-zelle-783905073565
-> https://www.landbote.ch/19-jaehriger-verstirbt-in-zelle-783905073565
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/haeftling-stirbt-in-zuercher-polizeigefaengnis-00137515/
-> https://www.nau.ch/ort/zurich/19-jahriger-haftling-tot-im-zurcher-polizeigefangnis-aufgefunden-65737444
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/zuerich/kein-hinweis-auf-suizid-oder-drittverschulden-haeftling-19-tot-in-zelle-aufgefunden-id15970822.html


+++POLIZEI DE
Racial Profiling: Innenministerium sagt Studie zu Rassismus bei der Polizei ab
Es sollte eine Untersuchung zu Racial Profiling durch Polizisten geben. Horst Seehofer hat nach Informationen von ZEIT ONLINE entschieden, dass sie nicht benötigt wird.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/racial-profiling-studie-polizei-abgesagt-justizministerium-horst-seehofer


+++RECHTSEXTREMISMUS
Faschistische Jugend: Die Grauen Welpen aus Favoriten
„Das sind ja vor allem Wölfchen, keine Wölfe“, sagt eine Kollegin am Rande der faschistischen Provokationen in Wien-Favoriten zu mir. Sie hat völlig Recht. Es fällt auf, wie jung viele Angreifer sind. Warum ist das so? Und was tun? Teil 5 der Serie über die Wölfe.
https://www.bonvalot.net/faschistische-jugend-die-grauen-welpen-aus-favorit
en-893/


+++HISTORY
Wegen der Rassismusdebatte werden seine Statuen überall gestürzt – doch wer war Leopold II., der vielleicht schlimmste aller Kolonialherren?
Der belgische König Leopold II. verantwortete im Kongo ein Terrorregime. Aktivisten fordern nun, dass seine Statuen und Denkmäler demontiert werden – und dass sich Belgien endlich seiner Geschichte stellt.
https://www.tagblatt.ch/leben/wegen-der-rassismusdebatte-werden-seine-statuen-ueberall-gestuerzt-doch-wer-war-leopold-ii-der-schlimmste-aller-kolonialherren-ld.1234960



derbund.ch 04.07.2020

Entlarvender Blick auf die Bundesstadt: Berns vergessene schwarze Stimme

Im Werk «The Bern Book» hielt der afroamerikanische Autor und Künstler Vincent O. Carter der Stadt Bern und ihren Bewohnern einen Spiegel vor. Wohl deshalb gingen Autor und Werk in Bern vergessen.

Bernhard Ott

Er war Schriftsteller, er war Künstler, und er war schwarz. Als Vincent O. Carter (1924–1983) Mitte der Fünfzigerjahre in Bern «The Bern Book» schrieb, war er allein durch seine Lebensweise und seine Hautfarbe eine Provokation. Es war die Zeit der ersten Waschmaschinen und eines ungebrochenen Glaubens an ein stetiges Wirtschaftswachstum. Und es war die Zeit des Kalten Kriegs, in der die «geistige Landesverteidigung» wieder auflebte. Jede Kritik am System Schweiz wurde als schleichende kommunistische Unterwanderung taxiert. Das gesellschaftliche Klima war von Prüderie und altväterischer Zucht-und-Ordnung-Mentalität geprägt.
Kritik an den herrschenden Zuständen wurde erst zögerlich geäussert. Zwar gab es den Rock’n’Roll, und im sogenannten Kerzenkreis trafen sich ab 1955 die ersten Nonkonformisten. Doch da versammelten sich Männer aus dem Bildungsbürgertum (Frauen waren bloss als Zuhörerinnen geduldet), um über «Volkskultur», Reformpädagogik und Literatur zu diskutieren. Ein junger Afroamerikaner aus ärmlichen Verhältnissen gehörte nicht dazu.

«Der erste Schwarze Berns»

Immerhin hat es Carter ins Berner Nonkonformismus-Archiv geschafft, das vom Autor und Journalisten Fredi Lerch angelegt wurde. Wobei der Eintrag zu seiner Person eher knapp ausfällt: «Der erste Schwarze Berns, Schriftsteller aus den Südstaaten, den es nach Bern verschlagen hatte, Faktotum der Berner Altstadt, hochsensibler Künstler, Maler und später Meditationslehrer von vielen.»

Der erste Schwarze Berns. Das liest sich leicht. Aber wie es sich angefühlt hat, war weniger angenehm. Carter beschreibt es in «The Bern Book» so:

«Alle, Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Katzen und andere Tiere, ob Wild- oder Haustiere, starrten mich an – die ganze Zeit!»

Vincent O. Carter traf im Juni 1953 in Bern ein. Er war auf der Suche nach einem Ort in Europa, wo er seinen künstlerischen Ambitionen nachgehen konnte. Es war die Enge der McCarthy-Ära und der strikten Rassentrennung, die ihn aus den USA vertrieben hatte. Und es war die Vision eines Paris der Kultur und der Lebensfreude, die ihn nach Europa zog.

Als GI in Paris

Jahre zuvor hatte er als GI an der Befreiung des Städtchens Barfleur in der Normandie teilgenommen. Als Angehöriger der Versorgungstruppen gelangte er im Tross der alliierten Armeen nach Paris. Nach den dunklen Jahren der Besetzung war der Empfang für die Alliierten euphorisch, was bei Carter einen nachhaltigen Eindruck hinterliess.

Doch zu Beginn der Fünfzigerjahre fiel das Wiedersehen mit der Stadt der Liebe frostig aus. Denn der Wind gegenüber US-Amerikanern im Besonderen und Schwarzen im Speziellen hatte gedreht. «In den Hotels gab es keinen Platz für einen wie ihn», sagt die schottische Schriftstellerin und Physikerin June Graham. Sie hat in den Jahren 2002 bis 2009 als Klimaforscherin am Institut für Angewandte Physik der Universität Bern gearbeitet. Beim Stöbern in einem Antiquariat stiess sie per Zufall auf das «Bern Book» und war bei der Lektüre von Beginn an in seinen Bann geschlagen. Heute schreibt June Graham ein Buch über Carter.

Pleite in Bern

Carter zog von Paris über Amsterdam und München nach Bern, wo er nur für drei Tage bleiben wollte. Daraus wurden dreissig Jahre. Dabei schlug ihm bei der Zimmersuche anfänglich ein ähnliches Misstrauen entgegen wie in Paris. Manche Vermieterinnen hatten Angst, wenn sie beim Öffnen der Wohnungstüre des schwarzen Mannes ansichtig wurden. Aber irgendwann ergatterte Carter sein erstes Privatzimmer im Kirchenfeldquartier.

«Vielleicht liebte ich die Kirchenfeldbrücke so sehr, weil es das Erste war, was ich in der Stadt zu lieben lernte. Und weil ich sie so oft überqueren musste (…) Und vermutlich liebte ich sie auch deshalb, weil es in Kansas-City keine solch hübsche kleine Brücke gibt.»

Dass er angestarrt wurde, daran hatte sich Carter nach einiger Zeit gewöhnt. Als Schriftsteller und Künstler sah er sich jedoch ebenfalls Schwierigkeiten ausgesetzt, die ihn ein Leben lang begleiten sollten. Viele Vermieterinnen fühlten sich durch das nächtliche Klacken der Schreibmaschine und das Kommen und Gehen zur Unzeit verunsichert. Carter musste in der ersten Zeit mehrfach das Zimmer wechseln, seine Bohème-Lebensweise löste Abwehr aus. Das Unverständnis nahm noch zu, als er nach einiger Zeit pleite war.

«‹Sie können ja arbeiten gehen!›, sagten alle mit durchtriebenem Lächeln. (…) Schreiben ist keine Arbeit. Schreiben ist Schreiben. (…) Ich hatte den Eindruck, sie waren froh, dass mir das Geld ausging, nicht aus Schadenfreude, aber weil sie sich wünschten, dass ich mich ihren scheinbar unausweichlichen Lebensmustern anpassen musste. War es nicht ein Sakrileg, dem Gott Arbeit die Huldigung zu verweigern?»

Ein Dasein als Künstler war in der damaligen Zeit für die meisten Bernerinnen und Berner etwas Unverständliches. Ein richtiges Leben war ein bürgerliches Leben. «Richtige Arbeit» war Lohnarbeit. Im «Bern Book» thematisiert Carter dies immer wieder, meist auf zugespitzte Weise. «Vincent, du gehst sehr unbarmherzig mit den Menschen um», sagte ihm seine Lebensgefährtin Liselotte Haas.

Von zeitloser Klarheit

Carters Blick auf Bern und seine Bevölkerung geht aber weit über eine oberflächliche Kritik am herrschenden Puritanismus hinaus: Er seziert Phänomene wie die Unterdrückung der Frau, die Zerstörung der Landschaft, die Sanierung und Aushöhlung der Gebäude in der Altstadt und den zwiespältige Umgang der Schweiz mit ihren Künstlern, Literaten und Architekten. Dank seiner Biografie fielen ihm in Bern Dinge auf, die hier als völlig üblich galten. «The Bern Book» ist nicht nur ein Geschichtenbuch. Es ist auch ein Geschichtsbuch und eine Analyse der Schweiz der Fünfzigerjahre aus der Sicht eines Aussenseiters, der das Wesen dieses Landes mit einer Präzision erfasst hat, die schmerzen kann.

«Ralph Waldo Emerson sagte, die Geschichte der Menschheit könne mit der Geschichte eines Menschen verglichen werden. Auf die Schweiz trifft das mehr als auf jedes andere Land zu, das ich kenne: Der Kopf dieses Mannes kontrolliert den Körper derart, dass seine Emotionen leiden. Seine Organe und Extremitäten haben sich über Jahrhunderte daran gewöhnt, in gebückter Haltung zu leben. Denn der Mann muss immer daran denken, seinen Kopf hinter den Bergen in Deckung zu halten. (…) Der Überlebenswille der Schweizer ist derart stark, dass sie bei jedem Hauch von Armut oder Leiden zu Tode erschrecken. (…) Sie betrachten ihre fruchtbaren Felder und gut gefüllten Lager und sagen: ‹Zum Glück wurden wir vom Schicksal unserer Nachbarn verschont.› (…) Sie leiden aus Schuldgefühl, vom Elend der Welt verschont zu bleiben. (…) Sie geben den Armen nicht, um ihnen zu helfen, sondern, um sich selber zu helfen.»

Totgeschwiegen in Bern

Viele Berner hätten sich wohl «betupft» gefühlt bei der Lektüre von «The Bern Book», sagt Liselotte Haas. Denn obwohl Vincent O. Carter bald in Künstlerkreisen verkehrte und wegen seiner Jazzplatten beliebt war, wurde sein Schreiben kaum beachtet. «Vincent hat nie, nie ein Echo zum ‹Bern Book› erhalten. Das wurde totgeschwiegen», sagt Haas. Weder als Schriftsteller noch als Maler sei er anerkannt worden. Sie könne sich das nicht recht erklären. Allerdings hätten in dieser Zeit auch erst wenige Leute in Bern über Englischkenntnisse verfügt, sagt Haas.

June Graham erklärt es sich so. «Manchmal ist es schwierig, das Naheliegende zu bemerken.» Carter beschreibe im «Bern Book», wie ein weltberühmter Architekt wie Le Corbusier in der Schweiz kaum je einen Auftrag erhalten habe, sagt Graham. Und wie der Berner Architekt Hans Brechbühler eher zufällig mit dem Entwurf der Gewerbeschule in der Lorraine beauftragt wurde. Für Carter «eines der schönsten Gebäude in Bern, wenn nicht in der ganzen Schweiz».

«Zu radikal! Zu modern! Sagten die konservativen Stadtväter, als sie ihren berühmtesten Künstlern weitere Aufträge verweigerten.»

Ein ähnliches Schicksal erlitt in Carters Augen das Werk von Paul Klee, der heute längst als künstlerisches Aushängeschild der Stadt Bern gilt.

«Paul Klee war berühmt in New York und Detroit. Als ich in Bern ankam, war er praktisch unbekannt oder wurde kaum geschätzt. Ich hatte erwartet, dass ein Strom barfüssiger Kunstpilger zum alten Haus in Münchenbuchsee wallfahren würde, wo Klee geboren wurde. Aber immer wenn ich im Gespräch Klee erwähnte, wurde meinem Enthusiasmus mit hochmütigem Spott begegnet. (…) Selbst jetzt, wo man sich einig ist, dass Klee ein Genie ist, ist das für viele bloss ein Lippenbekenntnis, weil es eine Ausstellung von über 600 seiner Gemälde in Berns exzellentem Kunstmuseum gibt. Im vertrauten Gespräch hingegen äussert man Zweifel über die Werke des Meisters, weil seine Bäume, nicht wahr, sehen ja nicht wirklich wie Bäume aus.»

Klee selber schrieb in seinem Tagebuch, dass im Berner Milieu ein «sanfter Trug» geherrscht habe. «Damit meinte er, dass das künstlerische Suchen in Berns Gemächlichkeit einsam blieb und kaum oder nicht zur Kenntnis genommen wurde», hält der Kunstkritiker Konrad Tobler im Band zur «modernen Zeit» aus der Reihe «Berner Zeiten» fest. Kunstmuseum und Kunsthalle hatten zwar bereits einen ausgezeichneten Ruf und galten als Orte der Auseinandersetzung mit den internationalen Kunstströmungen. Doch die Wirkung aufs einheimische Publikum schien eher bescheiden zu sein. Arnold Rüdlinger, der damalige Leiter der Kunsthalle, hielt in den Fünfzigerjahren einmal fest: «Die schlichte Uninteressiertheit Berns sichert zwar keine Unterstützung, jedoch die nötige Toleranz.»

Gegenthese zu Nizon

Carter war also nicht der Einzige, der an dieser Uninteressiertheit litt. Aber als einer unter wenigen griff er in seinen Betrachtungen über Architektur und Kunst das Thema immer wieder auf. Der ebenfalls aus Bern stammende Schriftsteller Paul Nizon machte Jahre später einen Topos daraus: Im Essay «Diskurs in der Enge» formulierte er anhand zahlreicher Schicksale von Schweizer Künstlern die These, dass diese oft gezwungen seien, ihr Land zu verlassen. Denn die Schweiz sei zu provinziell und zu eng, um eine eigene Kunstszene hervorzubringen. Auch Nizon hat darum das Land verlassen und lebt seit Jahrzehnten in Paris.

Carter ging den umgekehrten Weg: Er ist in die Schweiz eingewandert, um hier ein Umfeld für seine künstlerische Arbeit zu finden. Und tatsächlich war es ein dornenvoller Weg für ihn. Aber das Erstaunliche ist, dass er ihn trotz des Misserfolgs weiterverfolgt hat. «Auch das zweite Buch wurde ignoriert. Und das dritte und das vierte», erinnert sich Liselotte Haas. Eines Tages habe Vincent mit Malen begonnen. «Ich erinnere mich noch, wie er sagte: Liselotte, come on, I drew a line.»

Jenseits aller Klischees

Carter hat in seinen Büchern sämtliche Klischees von «schwarzer Literatur» und «schwarzer Kunst» hinter sich gelassen. Für seine Epoche war das völlig unverständlich. Seine Arbeit für das Radiostudio Bern ging unter anderem deshalb zu Ende, weil er es satthatte, seine Sendungen ausschliesslich mit «schwarzer Musik» zu begleiten. Unter «schwarzer Musik» verstanden die Radioleute primär Gospels und Spirituals. Sie wollten nicht, dass Carter seine Wortbeiträge mit Liedern einer schwarzen Opernsängerin wie Marian Anderson begleitete. Schwarze Musik war für die Radioleute die Musik der Sklaven und Landarbeiter, die zwei Jahrhunderte zuvor entstanden war. Auch tendenziell aufgeschlossene Radioleute hatten offenbar genaue Vorstellungen im Kopf, wie ein Schwarzer zu sein und sich zu verhalten hatte. Das letzte Argument in dieser Debatte lautete:

«Sie schämen sich für die schwarze Musik, weil sie sich für ihr Volk schämen. Sie schämen sich, ein Neger zu sein.»

Liebesbrief an Bern

Im «Bern Book» schreibe Carter über einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, sagt June Graham. «Aber es hat etwas universell Gültiges darin.» Die tiefere Wahrheit liege in der Botschaft, dass das, was die Menschen verbinde, letztlich viel wichtiger sei als das, was sie trenne – sei es nun Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder was auch immer.

Graham sieht das Bern-Buch trotz der Härte der Analyse als Beginn eines Liebesbriefes an die Stadt Bern. Carter selber formuliert es so:

«Ich schaute auf die Stadt und ihre Menschen wie ein Liebhaber, der einer gefährlichen Art von Liebe verfallen ist. Und ich schaute wie ein Liebhaber, der die verlorene Zeit und Anstrengung bedauert, weil die Widersprüche zwischen ihm und dem geliebten Objekt derart unberechenbar sind.»



Übersetzung und Ausstellung

Zwei der vier grösseren literarischen Werke von Vincent O. Carter sind in den USA erschienen: der Roman «Such Sweet Thunder» und «The Bern Book». Letzteres ist nur noch antiquarisch erhältlich. Nächstes Jahr soll aber im Zürcher Limmat-Verlag eine deutsche Übersetzung von «The Bern Book» erscheinen. Zu Carters zeichnerischem Werk wird im Künstlerhaus an der Postgasse 20 eine Ausstellung vorbereitet. Diese findet an vier Tagen statt: am 10./11. und am 18./19. September 2020. (bob)
(https://www.derbund.ch/berns-vergessene-schwarze-stimme-358867577353)



derbund.ch 04.07.2020

Anglistin Anna Iatsenko zum «Bern Book»: «Ich hoffe wirklich, dass die Zeit für Carter nun reif ist»

Die russische Anglistin Anna Iatsenko aus Genf hat vergeblich versucht, das Carter-Archiv in professionelle Hände zu legen. Nun stellt sie es ins Internet.

Bernhard Ott

Frau Iatsenko, was ist das «Bern Book»? Ein Roman?

Nein. Ich stimme mit June Graham überein, dass es eine «creative non-fiction» ist. Zuerst wurde es aber als eine Art Reisebuch klassifiziert.

Als Reisebuch?

Wahrscheinlich liegt in solchen Missverständnissen einer der Gründe, warum Carters Bücher zu Lebzeiten nie publiziert wurden. Die Verleger haben von afroamerikanischen Autoren eine bestimmte Art von Literatur erwartet. Erfüllten sie diese Erwartung nicht, wurden sie als «nicht genügend schwarz» taxiert. Ähnliches ist etwa auch James Baldwin widerfahren. Schwarze Autoren wurden in Schubladen gesteckt. Aber Carter war ein Künstler. Er war nicht primär Autor, Kunstmaler oder Musiker.

Woher kommt dieses Schubladendenken?

Die Bildung des amerikanischen Literaturkanons ist geprägt vom amerikanischen Mythos des Auserwähltseins. Die Gründerväter glaubten, ein neues Jerusalem zu gründen. Die Bildung eines afroamerikanischen Literaturkanons in den Achtzigerjahren kam aus dieser Tradition der Betonung von Unterschieden.

Und Carter passt in keinen Kanon?

Genau.

In Bern wurde seine Literatur nie gewürdigt. Weshalb?

Das Carter-Archiv, bestehend aus Manuskripten, Briefen und Kunstwerken, ist heute bei Carters Lebensgefährtin Liselotte Haas. Vor ein paar Jahren habe ich das Schweizerische Literaturarchiv angefragt, ob sie es übernehmen würden. «Carter ist nicht berühmt genug», lautete die Antwort. Das ist Ausdruck eines Umgangs mit afroamerikanischer Literatur, der heute im Zuge der «Black Lives Matter»-Bewegung problematisiert wird. Weil Carter einer der ersten Schwarzen in Bern war, einen anderen Blick auf die Welt hatte und eine andere Art von Kunst machte, wurde und wird er ignoriert. Ich möchte das nicht werten, das ist etwas Systemisches. Aber es wird sich nun hoffentlich ändern.

Was geschieht nun mit dem Carter-Archiv?

Ich und zwei Freunde arbeiten daran, es im Web zu veröffentlichen. Es soll nicht nur ein Text-Sammelsurium, sondern eine Art Plattform für Carter-Studien werden. Das braucht Zeit. Wir hoffen, dass die Website im Oktober oder November fertig sein wird. Toni Morrison verglich in ihrer Rede zur Verleihung des Nobelpreises die Sprache als Vogel. Sie müsse sich bewegen, um zu leben. Dasselbe gilt auch für die Literatur.

Zuerst sollten aber Carters Bücher verlegt werden.

Natürlich. Er ist einer der wichtigsten afroamerikanischen Expat-Autoren. Aber ich möchte die Verantwortung nicht übernehmen, über Wert und Unwert von Literatur zu befinden. Und in diesem Sinne sehe ich einer Debatte über den «Wert» von Carters Literatur mit Unbehagen entgegen. In Anbetracht der jahrhundertelangen systematischen Missachtung afroamerikanischer Literatur in den USA wäre sie bizarr. Meine Studierenden reagierten immer positiv auf Texte von Carter. Sie wecken ihr Interesse durch ihre Andersartigkeit.

Sie leben in Genf. In den USA gibt es einzelne Professoren, die sich mit Carter beschäftigen. Und die schottische Autorin June Graham schreibt ein Buch über Carter. Warum gibt es niemanden in Bern?

Es gibt kaum Experten für afroamerikanische Literatur in der Schweiz. Es gibt keine Stipendien dafür.

Die Leute wissen wohl gar nicht, dass es einen afroamerikanischen Autor in Bern gab.

Doch, sie wissen es schon. Ich habe auch die Universität Bern angefragt, das Carter-Archiv zu übernehmen. Die Anfrage wurde abgelehnt, weil es schwierig sei, die grossformatigen Kunstwerke zu lagern. Und ich möchte nicht, dass Buchmanuskripte und Bilder auseinandergerissen werden.

Wie finanzieren Sie das Webprojekt?

Aus meiner Tasche.

Sie sollten einen Orden der Stadt Bern kriegen.

Wahrscheinlich. Aber das würde mir zu viel Zeit kosten, die ich für das Scannen der Dokumente nutzen kann.

Vielleicht ist es Carters Pech, dass er in einem Land lebte, das seine Verstrickung in die Sklaverei erst heute realisiert.

Solche Prozesse brauchen Zeit. Als die Sowjetunion unterging, haben die Menschen realisiert, dass es schwierig ist, 70 Jahre Geschichte zu verdrängen. Hier reden wir von Hunderten von Jahren Geschichte. Seit dem Beginn der Sklaverei findet ein systematischer Genozid an den Schwarzen in beiden Amerikas statt. Ich möchte mich gemässigter ausdrücken, aber es gelingt mir nicht. Jedes Neugeborene einer Sklavin war automatisch auch Sklave. Und wurde von seinen Verwandten getrennt. Wie kann man mit der Wut klarkommen, die das erzeugt? Aber ich hoffe wirklich, dass die Zeit nun reif ist. Ich hätte nie gedacht, dass ich es noch erleben würde, dass so viele Menschen gegen Rassismus auf die Strasse gehen.

Vielleicht kommt die Bewegung fürs Carter-Archiv zu spät. Afroamerikanische Literatur wurde erst in den Achtzigerjahren zum Thema. Das ist die Zeit, als Carter starb.

Daher ist er ein Visionär. Ein Visionär mit einer sehr speziellen Einstellung zur Welt und zur Kunst und zu deren Funktion. Er hat sehr sorgfältig über Sprache nachgedacht und darüber, was es bedeutet, Künstler zu sein. Manchmal wählt die Kunst einen Autor. Das ist nicht mystisch gemeint. Manchmal muss man Dinge tun, die man erst später versteht.



Anna Iatsenko

Die Russin ist Anglistin und Expertin für afroamerikanische Literatur. Sie ist administrative Direktorin des Centre de la Photographie in Genf. (bob)
(https://www.derbund.ch/ich-hoffe-wirklich-dass-die-zeit-fuer-carter-nun-reif-ist-716908964030)



bernerzeitung.ch 04.07.2020

Das Burgdorfer Suttergut: Wenig rühmliche Vergangenheit

Zu Ehren von Johann August Sutter verlieh die Landbesitzerin dem Burgdorfer Aebi-Areal den Namen Suttergut. Jetzt kreieren die Bauherren einen neuen Namen. Denn: Der Lack am Bild des Pioniers ist längst ab.

Urs Egli

Die Überbauung Suttergut-Süd im Burgdorfer Bahnhofquartier ist längst abgeschlossen, die Wohnungen vermietet oder verkauft. Seit März dieses Jahres baut die Immobilienunternehmung Alfred Müller AG aus Cham ZG die stillgelegten Produktionsgebäude der ehemaligen Maschinenfabrik Aebi & Co. AG zurück. An gleicher Stelle wird jetzt das Projekt Suttergut-Nord in die Tat umgesetzt. Bleibt die Frage: Warum wurde aus dem Aebi-Areal das Suttergut? Die Antwort gab vor zehn Jahren der Projektleiter der Alfred Müller AG, Beat Stocker, gegenüber der Berner Zeitung: «Der Name Sutter steht für Aufbruch, für Neues.»

Flucht nach Amerika

Johann August Sutter wurde 1803 im süddeutschen Kandern geboren, heimatberechtigt in Rünenberg BL. 1824 kam er nach Burgdorf, heiratete, kaufte an der Schmiedengasse ein Haus und eröffnete ein Tuch- und Garngeschäft. Doch das Geschäft lief schlecht, der Schuldenberg wuchs, der Konkurs drohte. Um einem gegen ihn hängigen Konkursverfahren und der zu verbüssenden Strafe im Schulden- und Konkursgefängnis zu entgehen, flüchtete Sutter 1834 in die USA.

Statue wurde abmontiert

Die Schweizer Historikerin Rachel Huber hat unlängst das Leben und Wirken von Johann August Sutter aufwendig recherchiert und nachgezeichnet. Ihre in der «Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte» erschienene Arbeit mit dem Titel «General Sutter – die obskure Seite einer Schweizer Heldenerzählung» bestätigt nicht nur seit Jahrzehnten bestehende Zweifel an den Heldentaten des Vorzeigepioniers, sondern zementiert diese eindrücklich. Selbst in Sacramento, das einst von Sutter gegründet worden ist, sind die Zweifel mittlerweile so gross, dass – im Zuge der «Black lives matter»-Diskussion – Mitte Juni eine zuvor mit Farbe verschmierte Statue Sutters abmontiert wurde.

Die Taten von General Sutter

In ihrem Aufsatz stützt sich Rachel Huber auf die Memoiren eines Schweizer Zeitgenossen und Mitarbeiters Sutters. Der Glarner Heinrich Lienhard arbeitete in verschiedenen Funktionen in Sutters Kolonie Neu-Helvetien. Dieser zeichnete ein differenziertes und kritisches Bild von Sutter, «dessen Taten mitunter derart negativ gewesen zu sein scheinen, dass sie nicht nur aus heutiger Sicht fragwürdig wirken, sondern bereits damals als unmoralisch galten».

Aufgrund historischer Quellen, die Huber in kalifornischen Archiven gefunden hat, zeigt sich, dass sich der selbst ernannte General Sutter wie ein Tyrann aufgeführt haben musste. Parierten seine indigenen Arbeiter nicht, peitschte er sie in der Mitte seines Forts und an einem öffentlichen Pfahl angebunden aus.

Der Sklavenhändler

Sutter hatte nicht nur in Burgdorf Schulden angehäuft, sondern auch in den USA. Selbst als 1848 auf seinem Land Gold gefunden wurde, konnte er seine Schulden nicht tilgen. Gemäss historischen Aufzeichnungen geschäftete er erst dann erfolgreich, als er am indigenen Sklavenhandel in Kalifornien teilnahm. Er beliess es jedoch nicht bei Erwachsenen, sondern spezialisierte sich insbesondere auf den Kauf und Verkauf von Kindern.

Ein neuer Name

Die weltweiten Demonstrationen gegen die Gewalt an Schwarzen und weiteren Ethnien der letzten Wochen hat man auch bei der Zuger Investorin zur Kenntnis genommen. Dies bestätigte Ivo Läuppi, Bauherrenvertreter der Alfred Müller AG, auf Anfrage. Sicher sei, dass man die Überbauung nicht mit dem Namen Suttergut-Nord vermarkten werde. Der neue Name werde in Absprache mit den anderen Grundeigentümern kreiert und in Bälde bekannt gegeben.
(https://www.bernerzeitung.ch/wenig-ruehmliche-vergangenheit-114022770743)