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+++BERN
derbund.ch 30.05.2020
ArbeitsintegrationCorona-Krise schmälert Chancen für Asylsuchende
Die Rezession stellt die Integrationsziele im Asylwesen infrage. Für die
regionalen Partner des Kantons wie die Stadt Bern könnte das teuer
werden.
Bernhard Ott
Innerhalb von sieben Jahren soll die Hälfte aller erwachsenen Personen
im Asylwesen in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dies hat der
Bundesrat in der Integrationsagenda festgelegt. Das war zwei Jahre vor
Corona.
Heute droht eine schwere Rezession. Economiesuisse-Präsident Heinz
Karrer spricht gar von einer Arbeitslosigkeit, «wie wir sie seit dem
Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben».
Wie integrieren trotz Krise?
Für vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge dürfte es unter diesen
Voraussetzungen schwierig werden, eine Stelle zu finden. Wie können sie
trotz Krise in den Arbeitsmarkt integriert werden? Diese Frage spielt
auch in den laufenden Vertragsverhandlungen zwischen dem Kanton und den
fünf regionalen Asylorganisationen eine Rolle, die ab Anfang Juli für
Betreuung und Integration von Asylsuchenden zuständig sind. Offiziell
bestätigen will das zwar weder der Kanton noch die Stadt Bern als eine
von fünf regionalen Asylorganisationen. Aber Asyl Berner Oberland (ABO)
hält fest, dass das Thema «in die Diskussion eingebracht wurde», wie
ABO-Präsident und SP-Grossrat Peter Siegenthaler schreibt, Vorsteher der
Direktion Sicherheit und Soziales der Stadt Thun.
Hohes finanzielles Risiko
Für die Asylorganisationen ist die Frage zentral, weil sie für ihre
Leistungen nicht mehr pauschal entschädigt werden. Der Kanton zahlt nur
noch 40 Prozent an die Abgeltungssumme von maximal 12’000 Franken pro
betreuter Person. Die restlichen 60 Prozent werden erst dann abgegolten,
wenn eine Person eine Stelle findet und damit nicht mehr von der
Sozialhilfe abhängig ist. Allerdings dauert das in der Regel mehrere
Jahre. In dieser Zeit müssen die Organisationen die Kosten für die
Arbeitsintegration vorfinanzieren. Finden wegen der Rezession weniger
Asylsuchende einen Job, gibt es entsprechend weniger Geld vom Kanton.
Thun bürgt für Schaden
ABO-Präsident Siegenthaler schliesst denn auch nicht aus, dass die
Rahmenbedingungen des Vertrags mit dem Kanton angepasst werden müssen,
wenn sich die ursprünglich angenommenen Bedingungen «ganz wesentlich»
verändern. Zurzeit sei aber noch unklar, welche konkreten Auswirkungen
die Corona-Pandemie auf die Wirtschaft haben wird. «Der
Integrationsauftrag darf ambitioniert sein, muss aber im Bereich des
Möglichen liegen», sagt Siegenthaler.
Existenzbedrohend dürften sich sinkende Integrationsquoten für Asyl
Berner Oberland aber nicht auswirken. Denn die Non-Profit-Organisation
hat sich vom Thuner Stadtparlament eine Solidarbürgschaft für einen
Kredit von 1,7 Millionen Franken genehmigen lassen, um die Kosten der
Vorfinanzierung notfalls abgelten zu lassen.
Bern hat Reservekredit
Eine ähnliche Absicherungsstrategie verfolgt die Stadt Bern als weitere
regionale Partnerin des Kantons im Asylbereich. Sie liess sich letzten
Februar vom Stadtparlament einen Kredit von 3,36 Millionen Franken
genehmigen, der bei tiefen Integrationsquoten angezapft werden soll.
Dies sei aber kaum nötig und bloss «aus rechtlichen Gründen» erfolgt,
sagt Claudia Mannhart, Generalsekretärin der Direktion für Bildung,
Soziales und Sport (BSS). Denn trotz Corona-Krise und Rezession rechnet
die BSS «für die ganze Vertragsdauer von acht Jahren aktuell nicht mit
Mehrkosten».
Ganz so sicher scheint man sich dabei aber auch nicht zu sein. Denn
Mannhart weist wie Siegenthaler darauf hin, dass es aus heutiger Sicht
unmöglich zu beurteilen sei, welche Auswirkungen die Veränderungen in
der Wirtschaft auf den Bereich Arbeitsintegration haben werden.
Kanton hält an Zielen fest
Keinen Anlass zur Sorge sieht man bei der Gesundheits-, Sozial- und
Integrationsdirektion (GSI) von Regierungsrat Pierre Alain Schnegg
(SVP). Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Arbeitsintegration
seien nicht Gegenstand der Vertragsverhandlungen, hält Sprecherin
Gabriela Giallombardo fest. Zudem seien nicht alle Branchen im gleichen
Ausmass von einer Rezession betroffen. «Aus dieser Sicht ist die GSI in
der aktuellen Situation nicht bereit, Anpassungen der Zielerreichung zu
prüfen.» Schnegg weist auf Anfrage darauf hin, dass die
Integrationsziele vom Bund vorgegeben seien. «Sollte der Bund die Ziele
ändern wollen, werden wir das sicher berücksichtigen.» Beim Bund
wiederum will man sich zurzeit nicht dazu äussern. Ein Sprecher des
Staatssekretariats für Migration (SEM) weist lediglich auf ein
Monitoring hin, mit dem die Ziele der Integrationsagenda dereinst
überprüft werden sollen.
Kein Problem mit Konjunkturschwankungen hat man bei der kommerziell
orientierten ORS Management AG, einer weiteren regionalen Partnerin des
Kantons im Asylbereich. «Als Unternehmen sind wir mit dem
haushälterischen Mitteleinsatz vertraut», sagt Sprecher Lutz Hahn.
Im Kanton Bern gilt ab 1. Juli ein neues Regime für Unterbringung,
Betreuung, Schulung und Integration von vorläufig Aufgenommenen und
Flüchtlingen. Dazu sind zurzeit Vertragsverhandlungen mit fünf
regionalen Partnern im Gang, die in einer Ausschreibung den Zuschlag für
diesen Auftrag erhalten haben. Anstoss zur Neustrukturierung des Asyl-
und Flüchtlingswesens gab die Integrationsagenda des Bundes. Sie sieht
vor, dass den Kantonen nur noch Personen zugeteilt werden, deren Gesuch
mit hoher Wahrscheinlichkeit anerkannt wird. Zudem gelten ambitiöse
Integrationsziele: So sollen Personen im Asylwesen in drei Jahren
Grundkenntnisse einer Landessprache erwerben. Und es ist vorgesehen,
dass die Hälfte der Betroffenen nach sieben Jahren eine Stelle hat.
Mit der erfolgsabhängigen Entschädigung für Integrationsleistungen will
der Kanton die regionalen Asylorganisationen anspornen, möglichst viele
Personen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. (bob)
(https://www.derbund.ch/corona-krise-schmaelert-chancen-fuer-asylsuchende-752631457064)
+++LIBYEN
Massaker in Libyen: Miliz tötet mehr als 30 Migranten
Weil sie sich gegen ihre Folterknechte gewehrt hatten, wurde eine Gruppe
entführter Migranten ermordet. Das Verbrechen wird wohl ungesühnt
bleiben.
https://taz.de/Massaker-in-Libyen/!5689284/
+++GASSE
Aussen vor (II/III)
«Bleibt zu Hause» ist leicht gesagt – wenn man ein Zuhause hat. Wie ging
es den Menschen auf den Berner Strassen, den Menschen ohne feste
Bleibe, den Abhängigen und Sexarbeiterinnen während des Lockdowns? Der
zweite Teil einer Fotoreportage von Klaus Petrus.
http://www.journal-b.ch/de/082013/alltag/3610/Aussen-vor-(IIIII).htm
+++POLICE CH
Ab heute gilt die 30er-Regel – so will sie die Polizei handhaben
Ob vor einer Bar oder im Park: Bereits ab Samstag dürfen sich wieder bis
30 Personen versammeln. Der oberste Polizist der Schweiz sagt, wie die
Ordnungshüter das gelockerte Corona-Regime durchsetzen werden – und wo
sie eher ein Auge zudrücken.
https://www.watson.ch/!462454722
+++RECHTSEXTREMISMUS
Genetiker wehren sich gegen rassistische Missinterpretationen
Die Fachtagung der US-Humangenetiker brachte eine ungewöhnliche Erklärung – und neue genetische Aufschlüsse über Homosexualität
https://www.derstandard.de/story/2000089881450/genetiker-wehren-sich-gegen-rassistische-missinterpretationen
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
BE:
Erneuter Demo-Aufruf: Polizei löst Demonstration auf dem Bundesplatz auf
Seit Anfang Mai gehen die Lockdown-Gegner in Bern jeweils am Samstag auf die Strasse. So auch heute.
https://www.bernerzeitung.ch/polizei-laesst-demonstranten-auf-dem-bundesplatz-gewaehren-963920869183
-> https://www.derbund.ch/ticker-corona-kanton-bern-594319178143
-> https://twitter.com/PoliceBern/status/1266722648702300161
-> https://twitter.com/PoliceBern/status/1266727848968142850
-> https://twitter.com/PoliceBern/status/1266736568901029888
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/-trotz-lockerungen-erneute-corona-demo-in-bern-137997183
-> https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/corona-uebersicht-kanton-be-erneute-demo-auf-bundesplatz-auch-nach-lockerungen-des-bundesrats
ZH:
-> https://www.tagesanzeiger.ch/nachrichten-aus-der-region-zuerich-641616458421
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/demonstrieren-ohne-transparent-lockdown-demos-unter-neuen-regeln-137997093
Der Malwiederstand
Die Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen wirken chaotisch. Dabei
ist die Mischung der Menschen dort nicht neu. Youtuber und Quacksalber
kultivieren die ideologische Melange der «Corona Rebellen» seit Jahren.
https://www.republik.ch/2020/05/30/der-malwiederstand-der-corona-rebellen
Coronavirus: Interesse an Corona-Demonstrationen flaut ab
In den meisten Städten protestieren weniger Menschen, als die
Veranstalter angemeldet hatten. Erneut beteiligen sich Rechtsextreme und
Verschwörungsideologen.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-05/coronavirus-demonstrationen-gegen-beschraenkungen
Deutschlands extreme Rechte will die »Coronarebellen« anführen
Wider alle Abstandsregeln
Auf den Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19
finden unterschiedlichste Gruppen und Milieus ¬zueinander. Die AfD würde
die stark von Verschwörungsglauben geprägte Bewegung gern anführen.
https://jungle.world/artikel/2020/22/wider-alle-abstandsregeln
+++HISTORY
Das Erbe der Berner 80er-Bewegung: Wo sich die Ideen der «Unzufriedenen» etabliert haben – eine Übersicht
https://interaktiv.derbund.ch/2020/bund-80er-in-bern
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derbund.ch 30.05.2020
Jugendunruhen in Bern: Ein Pflasterstein, der die Bundesstadt verändert hat
In den frühen 1980er-Jahren forderten Berner Jugendliche «Alles, und
zwar subito!», zumindest aber ein Autonomes Jugendzentrum (AJZ). Viele
Bürgerliche trieb das auf die Palme. Welche Spuren hat die
Jugendbewegung hinterlassen?
Fabian Christl
Am Anfang war der Stein. Er flog mitten ins Fenster des Du Théâtre. Dann gings ab.
Es ist der 20. Juni 1980. 200 Jugendliche und junge Erwachsene
versammeln sich beim Bärengraben. Ihre Parole: AJZ subito. Ihre
Forderung: das Tramdepot. Später am Abend, beim Zytglogge, eskaliert die
Situation. Die Polizei agiert wenig zimperlich, ebenso die
Demonstranten. Steine fliegen, nicht nur ins «Düdü», damals Berns nobles
Feinschmeckerlokal.
Vor 40 Jahren, drei Wochen nach den Zürcher «Opernhaus-Krawallen», schwappen die Jugendunruhen also nach Bern.
«An diesem Tag entlud sich etwas», sagt David Gattiker. Der Musiker war
einer der Wortführer der Kulturguerilla Bern (KGB), eine Gruppe
aufmüpfiger Künstler, die zur eingangs erwähnten Tramdepot-Demo
aufgerufen hat. Nun sitzt er in einem Park im Breitenrainquartier und
erinnert sich:
– An die unbewilligte Strassenkunst-Aktion mit Tausenden Teilnehmern
zwei Jahre vor der Tramdepot-Demo: laut Gattiker der «eigentlichen»
Startschuss der Bewegung. «Dort haben sich die Leute gefunden, die
später die KBG gegründet haben.»
– An einen Kuhhandel zwischen Stadt und einem Tramdepot-Verein um den
Filmemacher Bernhard Giger, der durch die KGB verhindert wurde: «Der
Vorstand des Vereins wollte die Beute, also das Tramdepot, unter sich in
Form von Privat-Ateliers aufteilen. Wir aber wollten ein offenes,
völlig autonomes und wandelbares Kulturzentrum.»
– An die militante Lorraine-Fraktion, die es zur Teilnahme an der Demo
in Bern zu überzeugen galt. «Wir erklärten ihnen, dass es nicht nur in
Zürich, sondern auch in Bern Kämpfe zu führen gebe.»
Den Strassenkämpfer sieht man Gattiker nicht an. Er wirkt heute
sanftmütig, sicher kommt er mit dem Cello besser zurecht als dem
Molotow-Cocktail. Trotzdem sagt er noch heute: «Ohne diesen ersten Stein
gäbe es heute keine Reitschule.»
«Freie Sicht aufs Mittelmeer»
Eine gewagte These. Klar aber ist: Nach der Tramdepot-Demo gehts erst
richtig los. Bereits am Tag darauf findet wieder eine Protestaktion
statt. Angeführt von Giovanni Schumacher fordern die Teilnehmenden, dass
zwei besetzte und vom Abriss bedrohte Bauernhäuser in Bümpliz erhalten
bleiben. Wieder kommt es zu Scharmützel.
So geht es weiter. Woche für Woche. Einen Monat nach der Tramdepot-Demo
sind es bereits doppelt so viele Leute, die durch die Strassen ziehen.
Das Tramdepot: bereits zu klein für die Träume. Die Reitschule muss her.
Trotzdem: Klein ist auch die Bewegung selber: Die grosse Mehrheit der
Berner Jugendlichen hat damals anderes im Kopf. So überschaubar der Kern
der Bewegung ist, er hält die Polizei und die Politik auf Trab: Häuser
werden besetzt, Schaufenster eingeschlagen und Zeitungen gedruckt. Auf
dem Bärenplatz verteilen Schumacher und seine Mitstreiter geklauten
Raclette-Käse, und an den Wänden steht Irritierendes: «Nieder mit den
Alpen; freie Sicht aufs Mittelmeer»; «Unter dem Pflaster wartet der
Strand» und natürlich: «AJZ subito!» Immer wieder: «AJZ subito!»
Autoritäten untergraben
Giovanni Schumacher sitzt in einer kleinbürgerlichen Beiz in
Ostermundigen. Die zwei Polizisten, die gerade einen Augenschein der
Beiz nehmen, sind nicht seinetwegen hier. Wirklich überrascht hätte es
nicht. Schumacher, Typ Rädelsführer, wirkt so, als ob er besser mit dem
Molotow-Cocktail als mit dem Cello zurechtkäme.
«Fashion», wie Schumacher in der Szene genannt wird, ist eine der
schillerndsten Figuren der Bewegung. Bereits vor Ausbruch der
Jugendunruhen engagiert er sich in der «Ästhetischen Gruppe» im Umfeld
des Gaskessels. Will heissen: Sie vertreiben die Sicherheitsleute und
sorgen so dafür, dass sich auch Jugendliche ohne Geld den Eintritt
leisten können. Bei den Demonstrationen läuft er dann jeweils zuvorderst
mit – und wird von den Behörden für fast alle Ausschreitungen
verantwortlich gemacht. Mitte der 80er-Jahre entzieht er sich einem
Haftbefehl und lebt einige Jahre im Untergrund. Noch heute mischt er
mit, wenn es in Bern einen Kampf zu führen gilt, etwa für den Erhalt des
Breitsch-Träffs.
«Es herrschte eine richtige Aufbruchstimmung», erinnert er sich. Viele
seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter hätten einen völligen Bruch
vollzogen, Ausbildung und Job hinter sich gelassen. «Wir glaubten
wirklich, dass es nun zu neuen Ufern geht.» Laut Schumacher sind es die
«Kompromisslosigkeit» und die «Unberechenbarkeit», welche die
80er-Bewegung auszeichnen. «Wir haben nicht nett um ein Gespräch
gebeten, sondern sind einfach ins Büro des Polizeidirektors
einmarschiert und haben ihn zur Rede gestellt.»
Anders als die 68er, die sich – wenn sie nicht auf einem LSD-Trip hängen
geblieben sind – in abstrusen Theoriediskussion verloren hätten, sei
sein Zugang eher aus dem Bauch heraus gekommen. «Wenn du friedlich
protestierst und dann von den Bullen grundlos niedergeknüppelt wirst,
lehrt dich das mehr als jedes Buch, als jede marxistische Analyse.»
Der Molotow-Cocktail werfende Randalierer, als der er galt, von diesem
Bild distanziert sich Schumacher heute. Er habe nie einen
Molotow-Cocktail geworfen und sei nie ein «grosser Anhänger von
Strassenschlachten» gewesen; ihm seien aber etwa die Methoden der
Spassguerilla nähergestanden. «Es ist viel radikaler, wenn man mittels
Provokation die Autoritäten untergräbt, als sich in
Männlichkeitsritualen zu verlieren.» Gleichzeitig sagt er aber auch,
heute wie damals habe «jeder Stein seine Berechtigung».
Feindbild Albisetti
Die Stadt Bern wurde damals noch von einer bürgerlichen Mehrheit
regiert, das Feindbild der Jugendbewegung waren vor allem
FDP-Polizeidirektor Marco Albisetti und sein Polizeikommandant Otto W.
Christen. Der bis heute verbreitete Eindruck: zwei sture Männer, die
durch übertriebene Polizeieinsätze die öde Stadt vor der Lebendigkeit
der Jungen bewahren wollten.
Vor allem auf Albisetti treffe dies nicht zu, sagt Pius Leutenegger. Er
gründete später ein alternatives Kultur- und Seminarzentrum in
Norditalien. Damals wurde Leutenegger vom Berner Gemeinderat als
Jugendbeauftragter eingesetzt. «Es ging darum, zwischen Behörden und
Bewegung Verständnis und Vertrauen aufzubauen», sagt er. Und auf
Albisetti angesprochen: Der feingeistige und für Kunst und Kultur hoch
engagierte FDP-Gemeinderat habe zwar kein Verständnis für
Sachbeschädigungen und Gewalt aufgebracht, sehr wohl aber für die
kulturellen Anliegen der Jungen. «Das kommt in den heutigen Debatten
stets zu kurz.»
Als die Bewegung im Februar 1981 etwa ein Haus an der Taubenstrasse
besetzt und als Provisorisches Autonomes Jugendzentrum (PAJZ)
proklamiert, stellen sich die Eigentümer quer. «Sie forderten von der
Stadt eine Bürgschaft für allfällige Schäden, sonst wollten sie das Haus
räumen lassen», sagt Leutenegger. Eine offizielle Bürgschaft der Stadt
sei aber – wohl aus Opportunitätsgründen – nicht möglich gewesen. Also
zeigten sich Hansjörg Uehlinger, damals Zentralsekretär der bernischen
Vereinigung für Gemeinschaftszentren, und Leutenegger bereit, die
Bürgschaft mit ihrem privaten Vermögen zu übernehmen. «Albisetti
koordinierte dies mit seinen Kontakten in die Finanzwelt.»
Ohnehin hätten die Behörden viel unternommen, um den Jungen den
erwünschten Freiraum zu ermöglichen. Auch bei Initiativen aus den
Quartieren – etwa für den Breitsch-Träff – habe die Stadt stets Hand
geboten. Und selbst die harten Polizeieinsätze seien intern umstritten
gewesen. «Gegen aussen hat man Einigkeit demonstriert, um das Gesicht zu
wahren.»
In der Bewegung habe es zudem auch «handfeste politische Interessen»
gegeben, welche die «eigentlich kulturell ausgerichtete Bewegung» zu
politisieren oder gar zu instrumentalisieren versuchten und so immer
wieder Kompromisse mit der Stadt gezielt verhinderten.
Ein passendes Ende
Letztlich gehen die Behörden gar auf die Hauptforderung der Bewegung ein
und stellen ihr die Reitschule für ein «autonomes Begegnungszentrum»
zur Verfügung. Am 15. Oktober 1981 findet das grosse Eröffnungsfest
statt. Bereits am 14. April 1982 ist der Spass aber wieder vorbei. Das
Fass zum Überlaufen bringt ein Punk, der im Drogenrausch einen Kranich
aus dem Tierpark Dählhölzli entwendete und diesen auf dem Vorplatz
grillierte.
Es ist eine Geschichte, die perfekt ins Bild der wilden 80er-Jahre
passt. Im besetzten Gebäude an der Taubenstrasse (PAJZ) kommt es zu
Problemen mit Fixern, Strassenschlachten und gar Schiessereien. In der
Brasserie Lorraine will Endo Anaconda aus Wut mal das Buffet mit einer
Motorsäge zweiteilen, während im Garten eine Frau ihrem Hund einen
runterholt, um ihm etwas Entspannung zu verschaffen.
Wild sind indes nicht nur die Zeiten, heftig sind auch die Reaktionen
des bürgerlichen Bern. Die Fronten gehen teilweise mitten durch die
Familien. Eine Generation, die in ihrer Wahrnehmung ein Leben lang
geschuftet, sich angepasst und viele Entbehrungen akzeptiert hat und
stolz auf das Haus mit Garten in der Agglo ist, fühlt sich infrage
gestellt. Sie erwartet von den Jungen Dankbarkeit. Stattdessen brechen
sie nun Lehre oder Studium ab, machen Party und randalieren. Viele
Ältere sind so hilflos, dass sie ihrerseits brachial werden: Aufräumen
sollte man! Ins Gefängnis mit ihnen! Die Polizei? Viel zu weich.
Die Räumung der Reitschule löst jedenfalls keine grosse
Solidaritätswelle aus. Nach einigen Strassenschlachten ist es erstmals
vorbei mit der Bewegung. Für einige hat die Sache ihren Reiz längst
verloren, sie kehren zurück in die Ausbildung, andere sind schockiert
über das teilweise rüde Durchgreifen der Staatsmacht, und nicht wenige
sind gezeichnet oder zerstört durch Drogen.
Erst Mitte der 80er-Jahre kommt wieder Fahrt auf. Jetzt aber so richtig.
Während des «heissen Herbsts» 1987 mit der Zaffaraya-Räumung und der
Reitschul-Besetzung wird die Bewegung breiter, jetzt demonstrieren
Tausende, Schülerinnen und Schüler schwänzen dafür den Unterricht.
68er werden ausgebuht
Krawalle, Drogen, AJZ: Belässt man es dabei, wird man der 80er-Bewegung
nicht gerecht, wie Heinz Nigg ausführt. Der studierte Ethnologe ist als
teilnehmender Beobachter vor allem bei den Zürcher Unruhen an vorderster
Front mit dabei. 2001 veröffentlicht er ein Buch über die Schweizer
Jugendbewegung. Es trägt den programmatischen Titel «Wir wollen alles,
und zwar subito!»
Im Gespräch erinnert er an die kulturelle Ödnis in den Schweizer Städten
Mitte der 70er-Jahre. Die Kulturgelder fliessen vorwiegend in die
etablierte Hochkultur, der freien Szene fehlt es an Geld,
Auftrittsmöglichkeiten und Akzeptanz. Die 80er-Bewegung, mit ihrem Hang
zum Chaotischen, den dadaistisch anmutenden Slogans und der ihr eigenen
Ästhetik habe erst ein neues Kultur- und Kunstverständnis etabliert,
sagt Nigg. «Sie hat auch die Basis dafür geliefert, dass die grösseren
Schweizer Städte heute pulsierend, weltoffen und für Junge attraktiv
geworden sind.»
Da spricht natürlich der Enthusiasmus des Direktbeteiligten. Doch schon
vorher gab es nicht nur «kulturelle Ödnis», sondern etwa die Dadaisten,
Nonkonformisten, Kellertheater und andere Experimente, an denen sich
auch die 1980er-Bewegung orientierte.
Aber unbestritten, die 1980er-Bewegung brachte in vieler Hinsicht eine
kräftige Veränderung. Laut Nigg beschränkte sich diese nicht auf den
kulturellen Bereich, sondern wirkte auch auf politischer Ebene –
allerdings anders als die Vorläufer der 1968er-Bewegung, die am harzigen
Projekt der Weltrevolution arbeiten und den Jungen die Welt erklären
wollen. Nigg: «Sie wurden an den Vollversammlungen ausgebuht.»
Die neue Bewegung fokussierte stärker auf das Unmittelbare, das eigene
Umfeld, die eigenen Arbeits- und Lebensweisen. In Bern entstehen in den
80er-Jahren zahlreiche Wohnbaugenossenschaften, kollektiv geführte
Druckereien, Beizen und Handwerksbetriebe, Kinder-Hütedienste,
selbstverwaltete Jugendtreffs und Gemeinschaftszentren in den
Quartieren.
RGM sagt Danke
Dass Rot-Grün-Mitte (RGM) 1992 die Mehrheit erringt, auch das wird
bisweilen als Folge der Auseinandersetzung um das Zaffaraya und die
Reitschule gedeutet. Der Dank geht jedenfalls zurück: Mit der
grenzenlosen Liebe für die Reitschule und Wohnbaugenossenschaften, dem
proklamieren einer «Stadt der Beteiligung» und dem Fokus auf Velos statt
Autos führt RGM die Politik auf offiziellem Wege fort, welche die
1980er-Bewegung auf der Strasse angerissen hat.
Doch nicht nur die linken Parteien lassen sich von der 80er-Bewegung
inspirieren. Grosskonzerne prahlen heute mit flachen Hierarchien,
gleitenden Arbeitszeiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Auf dem
Arbeitsmarkt sind kreative Querköpfe gefragter als unterwürfige
Arbeitstiere. Und neoliberale Regierungen fördern Nachbarschaftshilfen –
und machen «aus dem Staat Gurkensalat».
Auch die in den 80er-Jahren populäre Kritik an Medien, Justiz und
Hochkultur erscheint heute in anderem Licht. In Zeiten von Trump,
Alternativmedien und Autotune vermissen nicht wenige Alt-80er die
schwerfälligen und verkrusteten Institutionen, für deren Abschaffung sie
einst plädierten.
Giovanni «Fashion» Schumacher etwa wettert heute in den sozialen Medien
hauptsächlich gegen Leute, die Verschwörungstheorien anhängen und sich
um die offiziellen Corona-Richtlinien scheren: der Anarchist, «Schulter
an Schulter» mit dem Bundesrat.
(https://www.derbund.ch/ein-pflasterstein-der-die-bundesstadt-veraendert-hat-358162212865)
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Als vor 40 Jahren in Zürich die Jugend rebellierte
Am 30. Mai 1980 kam es nach einer Demonstration vor dem Opernhaus zu
heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Jugendlichen, die
mehr Freiräume einforderten. Es war die Initialzündung für die Zürcher
«Bewegung».
https://www.nzz.ch/fotografie/als_in_zuerich_die_jugend_rebellierte-1.5823074
-> http://www.swissinfo.ch/ger/dokumente-der-jugendbewegung-fotografiert-von-olivia-heussler/45702836
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-30-05-2020-hauptausgabe?id=4be9a9e3-6993-40f9-b9d2-084c4590a331
—
Die Jugendunruhen von 1980 in Kunst und Kultur
Im Frühsommer 1980 herrschte Chaos auf Zürichs Strassen. Aber neben den
Krawallen wurde der öffentliche Raum auch zur Bühne der Kreativität.
Klaudia Schifferle machte Anti-Tussi-Dada-Punk, Stephan Eicher posierte
als Noiseboy, Herr und Frau Müller erfanden zur Primetime subversives
Guerilla-Theater.
https://www.srf.ch/sendungen/kontext/die-jugendunruhen-von-1980-in-kunst-und-kultur
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1980: Ponyhof inklusive
Kernkraftgegner gründen die „Republik freies Wendland“, um gegen ein
Atommüll-Endlager zu protestieren. Nach 33 Tagen wird die Utopie von
10.000 Polizisten entsorgt
https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/1980-ponyhof-inklusive