IsolationWatch: COVID-19, Lagerpolitik und das aktive Versagen eines rassistischen Staates – eine Bilanz der letzten Wochen aus Zürich

Schon zu Beginn des Eindämmungsplans des Corona-Virus wurde wieder einmal deutlich, dass die Bewohner*innen der verschiedenen Lager des
Schweizer Migrationsregimes Bedingungen ausgesetzt sind, die sie gefährden, Unmündigkeit erzeugen und sie als schützenswerten und Teil der Schweizer Bevölkerung weiterhin völlig ausklammern. Die vom Bundesamt für Gesundheit vorgegebenen Schutzmassnahmen sind aufgrund derPlatz- und Hygienebedingungen in den Lagern nicht umsetzbar.
Klar ist, dass diese Strukturen, die durch Jahrzehnte rassistische Migrationspolitik gewachsen sind, sich durch die globale Pandemie zuspitzen. Unsere Kritik an diesen Bedingungen, unsere radikalen Forderungen nach Veränderung der Lebensbedingungen und Möglichkeit zur Selbsbestimmung von asylsuchenden und abgewiesenen Menschen, verstärken sich angesichts dieser Situation nur. 

Auch in der neu erschaffenen Erzählung der Solidarität finden jene Menschen in Massenunterkünften, Ausschaffungsknästen keinen Raum. Das Asylrecht ist ausgesetzt, die Verfahren laufen teilweise ohne rechtliche Beihilfe weiter, Menschen, die der Risikogruppe angehören, schlafen in 10-Bett Zimmern im Zivilschutzbunker und bekommen statt finanzielle Nothilfe nur noch ein bisschen Nahrung und ab und zu Kleider.

4 Wochen nachdem Maßnahmen erlassen wurden, ziehen wir aus Zürich eine Bilanz.
Eine subjektive, nicht ganz lückenlose Bilanz. Diese setzt sich vor allem aus Kontakt mit Bewohner*innen der unterschiedlichen Lager und neu entstandenen Vernetzungsstrukturen der verschiedenen Gruppen und Organisationen zusammen.

Der erste Corona-Fall in Zürich, Ende März im Rückkehrzentrum Adliswill. Unterstützer*innen, die in Kontakt mit der betroffenen Familie stehen, haben sehr nah mitbekommen, wie unvorbereitet der «Corona-Notfall-Plan» aussah. Die Familie sollte im Zimmer bleiben, einkaufen sollten und konnten sie aber noch selber. Die Gemeinschaftsküche wurde nach Reinigung weiterhin benutzt. Daraufhin ging es schrittweise bis in die Total-Isolation, mit eigenem WC-Zugang und «wir rufen die Polizei, wenn ihr das Zimmer verlasst»-Drohung der Lagerleitung. Die Nothilfe von 8,50CHF pro Tag, ein Betrag mit dem Menschen gerade so überleben können, wurde der Familie, wie allen Lagerbewohner*innen der Rückkehrzentren im Kanton Zürich, in denen es einen Corona-Fall gab, komplett gestrichen. Die Nothilfe bemisst sich an den Mitteln, „die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind“, wie im Sozialhilfe-Behördenhandbuch vom Sozialamt des Kantons Zürich zu lesen ist. Weiterhin ist unklar, wer die Streichung der Nothilfe verfügt hat, Fragen dazu blieben von den entsprechenden Stellen bisher unbeantwortet.Die Bewohner*innen der von dieser Massnahme betroffenen kantonalen Notunterkünfte erhielten Catering – abgepacktes Essen, das viele von ihnen als schlecht und ungenügend beschrieben, jegliche Selbstbestimmung und ausgewogene Ernährung wird verunmöglicht. Auch für diejenigen, welche sich momentan in religiöser Fastenzeit befinden, ist das Essen eine Zumutung. Teilweise verwehrten Kinder die Fertignahrung.

Unterstützer*innen reagierten schnell und brachten Hygieneprodukte, Essen etc. in die Lager. Es werden seither u.a. von ASZ-Aktivist*innen Essenslieferungen in die NUKs organisiert, ROTA, eine migrantische Selbstorganisation, lanciert unter #Sofortmassnahmenfürgeflüchtete eine Kampagne zur umfangreichen Verteilung von Sachspenden. Und die ORS? Die kritisiert in einer Medienmitteilung lediglich die vielseitige Unterstützungsarbeit, da sie nur »zu Spannung führen würde«.
Die Bewohner*innen des NUKS Adliswill haben einen Brief an das Sozialamt verfasst, in dem sie gefordert haben, dass die Bewohner*innen wieder selber kochen können. Mario Fehr besuchte daraufhin das NUK, ohne darauffolgende Veränderung. Er dankte einzig und allein öffentlich den Lagermitarbeiter*innen, die in «schwierigen Zeiten besonders gefordert sind«. Das kantonale Sozialamt widerspricht der Darstellung der Verhältnissen in den kantonalen Lagern und gibt auf Anfrage und Drucks seitens Organisationen keine genauere Auskunft.

Es gab viele willkürliche Transfers und Umverteilungen zwischen Rückkehrzentren, BAZs und Durchgangszentren. Die Menschen wurden teilweise nicht informiert, wieso und wohin sie transferiert wurden. Auch Menschen, die eine Ausschaffung fürchten, wurden nicht informiert, dass momentan Ausschaffung in Dublin-Staaten ausgesetzt sind. Bewohner*innen berichten generell, dass sie nicht ausreichend informiert sind, es herrscht Verunsicherung, Angst und das Gefühl, dass die eigene Gesundheit und Realität nicht ernst genommen wird.
Vor allem die ORS als Betreiberin de kantonalen Notunterünften profitiert von der Wiedereröffnung der ehemals stillgelegten Lager. Die gewinnorientierte Unternehmung scheint ihren finanziellen Interessen zu folgen und so wenig Geld wie möglich für eine menschenwürdige Unterbringung aufzuwenden, damit letztendlich mehr davon in ihre eigene Tasche fliesst. Gratis W-Lan gibt es nicht in allen Lagern und falls doch, reicht es meist nicht bis in die Schlafzimmer. Da jegliche Aktivitäten und Angebote in den Lagern stillgelegt sind, wäre das u.a. für online Deutschkursangebot notwendig. 

Bereits vor Corona war es für Asylsuchende schwierig, sich gegen einen negativen Asylentscheid zu wehren. Nun ist es fast unmöglich geworden. Strafbefehle wegen rechtswidrigem Aufenthalt werden weiter erlassen und Einsprache- und Beschwerdefristen werden, trotz lauten Forderungen, nicht eingefroren. In allen Lagern herrscht Besuchsverbot, was den Zugang zu Rechtsberatungsangeboten enorm erschwert. Zudem sind etablierte Rechtsberatungsstellen aufgrund der aktuellen Situation geschlossen. Die Anhörungen des SEM finden weiterhin statt, erst wurden Tische quer gestellt um Hygienemaßnahmen «umzusetzen», dann wurde das Asylverfahren Ende März für eine Woche ausgesetzt um die Gesprächssituation der Befragungen den Maßnahmen anzupassen. Ergebnis sind Plexiglasscheiben und Befragungen ohne jegliche rechtliche Vertretung, falls die Rechtsvertretung wegen der Pandemie nicht teilnehmen kann.

Die medizinische Versorgung in den Rückkehrzentren ist kritisch, es braucht weiterhin Bewilligungspflichten für einen Arztbesuch. Im NUK Urdorf sind Menschen, die der Risikogruppe angehören, immernoch in gemischten Gemeinschaftszimmern untergebracht. Ein wiedereröffnetes Lager in Embrach für «besonders vulnerable Personen» hat an zwei Tagen pro Woche Arztsprechstunden, die ORS gibt hingegen «ständigen Zugang» zum Notspital an.

Was sich deutlich gezeigt hat, ist dass es viel Organisationen und Gruppen gibt, die Unterstützungsarbeit leisten. Seien das die verschiedenen Besuchsgruppen der Lager, Asylex, ROTA, Sportintegrations-Gruppen, Solinetz. Alle haben sofort Unterstützung auf die Beine gestellt und organisierten sich miteinander. Die verschiedenen Gruppen teilen die Position- trotz unterschiedlicher Organisationsstruktur und Aufstellung – dass sie momentan vor allem Arbeit leisten, die der Staat nicht leistet. Die anfänglichen Kosten der Desinfektionsmittel und Seife wurden deshalb auch symbolisch der ORS in Rechnung gestellt.
Die Gruppen sind geprägt von inhärenter Kritik an den gegenwärtigen Zuständen und drängen damit in die (Gegen-) Öffentlichkeit. So konnte auch medial Druck erzeugt werden, es wurde umfassend berichtet. An den Zuständen selber scheint das aber nur minimal etwas zu ändern. Es wurden in manchen Lagern, wie z.b. dem BAZ Embrach, Platzbedingungen verändert, Militär zur Einhaltung der Sicherheitsabstände in den Essräumen eingesetzt. Kontrolle und Isolation als Instrumente des Migrationsregimes.

ROTA, veröffentlicht Bilder und Videos, die zeigen, wie Platz- und Hygienebedingungen weiterhin verunmöglichen, den Mindestabstand einzuhalten und sich selbst und andere zu schützen. In einer umfangreichen Befragung von 20 Schweizer Lagern erstellt ROTA einen Recherchebericht und veröffentlichte die Forderungen der Bewohner*innen – es braucht sofort umfassende Massnahmen zur Verbesserung der Lebensumständen für Geflüchtete. Nicht nur während Corona, sondern darüber hinaus. Bewohner*innen der Unterkunft Glattbrugg hielten eine spontane Demonstration ab, nachdem der erste Corona-Fall im Lager bekannt wurde. Der bundesweite Aktionstag gegen Lager am 5. April versuchte neben weiteren Petitionen, Medienmitteilungen und Unterstützungsformaten Proteste sichtbar zu machen. Über das Osterwochenende werden Forderung um das Recht auf Schule für Kinder in den NUKS während der Covid-19-Pandemie gestellt- durch Medienarbeit und Briefe an u.a. das Kantonale Sozialamt, Volksschulamt, Or etc. um das Lernen in den NUKS für Kinder zu gewährleisten.
Selbst die SP des Kantons Zürich fordert die sofortige Schliessung des Zivilschutzbunkers und schiesst somit gegen Sicherheitsdirektor Mario Fehr, den sie seit Jahren für dieses Amt aufstellen. Die Sicherheitsdirektion Zürich veröffentlicht daraufhin eine von Rassismus triefende Medienmitteilunng, die Unterkunft sei „unverzichtbar“ und beschreibt die Bewohner vorallem als Kriminielle, deren separate Unterbringung eine Notwendigkeit und auf deren eigenes Verschulden hin zurückzuführen sei. Weiterhin halten die Behörden daran fest, dass das „bestmöglichste für die Menschen im Asylbereich erreicht“ wurde. Der für das NUK Urforf zuständige Arzt wird wegen öffentlicher Kritik entlassen.


Die Situation ist prekär, aber der Widerstand ist vielschichtig und sehr präsent. Es entstehen neue Verbindungen und Bündnisse, die ihre Kräfte im Kampf gegen das rassistische Migration- und Asylwesen in der Schweiz bündeln. Wenn auch viele der publizierten Artikel die Sicht der Behörden etwas gar unkritisch im Raum stehen liessen, so wurde die vergangenen Wochen doch einiges an Staub aufgewirbelt. Die stetige Notwendigkeit, die Isolation der Lager zu durchbrechen, wurde durch direkten Kontakt mit den Bewohner*innen, das Erfahren der Lebensrealitäten und Bedürfnisse, das Reagieren auf unzumutbare Zustände, beharrlich versucht.

Nun gilt es auch die Diskussion am Leben zu halten, aber nicht beim Kritisieren der gegenwärtigen Zustände aufzuhören, sondern klare Veränderungen zu fordern – den in diesen Lagern können die Zustände nie zufriedenstellend sein, auch in „normalen“ Zeiten nicht. Lagerpolitik ist und bleibt entmündingende, rassistische Praxis.


Auswahl Artikel

https://revoltmag.org/articles/unsere-lebensbedingungen-müssen-sich-grundlegend-ändern/

https://www.facebook.com/Rota.migrant/

https://www.plattform-ziab.ch/wp-content/uploads/2020/03/OffenerBrief_ZiAB_Bundesrat_M%C3%A4rz2020.pdf

https://www.blick.ch/news/politik/oberster-asylchef-mario-gattiker-reagiert-auf-corona-krise-wir-setzen-die-befragungen-fuer-eine-woche-aus-id15808026.html

https://www.bluewin.ch/de/newsregional/zuerich/asylzentrums-betreiberin-kritisiert-freiwilligen-aktionen-376082.html

https://tsri.ch/zh/60-menschen-auf-engem-raum-social-distancing-im-asylzentrum-corona/

http://www.papierlosezeitung.ch/artikel/brief-an-die-schweizer-bevoelkerung-korrigiert

https://www.sosf.ch/de/themen/asyl/informationen-artikel/appell-an-alle-behoerden.html?zur=41

https://www.20min.ch/schweiz/news/story/-Meine-Frau-ist-Corona-positiv–bitte-helfen-Sie-uns–16614030

https://www.nzz.ch/schweiz/die-schweiz-stoppt-ausschaffungen-von-asylbewerbern-erster-corona-fall-im-bundeszentrum-zuerich-ld.1548486

https://www.blick.ch/news/politik/trotz-corona-abgewiesene-asylsuchende-leben-auf-engem-raum-id15814478.html