antira-Wochenschau: Rassistischer Mord in Celle, staatlicher Aufruf zum Sterbenlassen, widerständige Hungerstreiks gegen Isolation

Arkan Hussein Khalaf: Vor dem IS geflohen, in Celle ermordet

Was ist neu?

Rassistischer Mord in Celle
Am Dienstagabend wurde der 15-jährige Arkan Hussein K. in der Bahnhofstrasse in Celle niedergestochen. Er erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Der 29-jährige Tatverdächtige Daniel S. wurde von Passant*innen am Tatort festgehalten bis die Polizei eintraf. Arkan Hussein K. hatte als 10-jähriger den Genozid an Jesid*innen durch den IS in der irakischen Region Shingal überlebt. Die Celler Polizei veröffentlichte knapp zwölf Stunden nach der Tat eine Pressemitteilung, in der sie verkündigte, die Tat sei „mutmasslich grundlos“ geschehen. Mutmasslich wird wieder einmal voreilig ein potenzielles rassistisches Tatmotiv von der Polizei ausgeschlossen. Der Mann habe „verwirrt“ gewirkt, schreibt die Polizei und bereitet sich schon auf die altbewährte Erzählung des “psychisch kranken Einzeltäters” vor. Warum: Um sich nicht mit Rassismus auseinanderzusetzen? Um sich nicht mit rechtsradikalen Strukturen auseinanderzusetzen, die weitreichend sind und zumeist ignoriert werden. Dass Rechtsradikalismus viele Erscheinungsformen hat, zeigen die Mischideologien früherer Täter*innen rechtsextremer Gewalttaten. Diese setzten sich aus rassistischen, antisemitischen und sexistischen Ansichten, Verschwörungstheorien und Fake News zusammen. Auch Daniel S. folge auf seinen Social Media-Konten verschiedenen Seiten, die rechtsextreme Verschwörungstheorien verbreiten und Witze über den Holocaust machen. Des weiteren sind mehrere Neonazis und Rechtsradikale unter seinen digitalen Freund*innen. Nachdem sich ZEIT ONLINE mit diesen Entdeckungen an die Celler Polizei gewandt hatte, teilte deren Pressestelle mit, diese Seiten seien den Ermittler*innen bislang nicht aufgefallen. In diese Richtung scheint sehr gründlich ermittelt worden zu sein… Die AfD benutzte den Mord unterdessen, um rechte Hetze zu betreiben. Zuerst twitterte Jörg Nobis von der AfD Schleswig-Holstein, der Täter könne kein deutscher Staatsbürger gewesen sein. Als deutlich wurde, dass dem so war, zweifelten der AfD-Bundestagsabgeordnete Jörn König und seine Follower auf Facebook daran und warfen noch schnell den Begriff „Migranten mit deutschem Pass“ ein. Die AfD nennt also in einem Atemzug bzw. in einem Post mehrere rassistische Denkweisen: (1) Dass gewisse Menschen mit deutschem Pass trotzdem nicht deutsch sein können, sondern für immer Migrant*innen bleiben. Was auf völkischer Ideologie beruht. (2) Dass Migrant*in-Sein von der AfD überhaupt als etwas Negatives gebrandmarkt wird und (3) dass Migrant*innen mit Kriminalität in Verbindung gebracht werden. Ganz entscheiden konnten sich die Kommentator*innen dann aber doch nicht. Einige entschieden sich dafür, den Täter als „patriot“ [sic] zu bezeichnen. Um diese Widersprüche zu vereinen, müssen sich die AfD und ihre Anhänger*innen regelmässig zum Dehnen und Stretchen treffen.
https://ak36.noblogs.org/post/2020/04/11/arkan-hussein-khalaf-vor-dem-is-geflohen-in-celle-ermordet/
https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2020/04/09/totschlag-in-celle-aus-hass-erstochen
https://taz.de/15-Jaehriger-in-Celle-erstochen/!5675289/
https://hawar.help/junger-jeside-in-celle-den-is-genozid-ueberlebt-aber-diese-toedliche-gewalttat-nicht/
https://www.belltower.news/motiv-rassismus-15-jaehriger-junge-aus-dem-irak-in-celle-erstochen-98173/
https://www.volksverpetzer.de/bericht/celle-neonazi-fluechtling/
https://www.volksverpetzer.de/kommentar/afd-celle/
https://www.volksverpetzer.de/schwer-verpetzt/celle-abrechnung-afd/

250 (flüchtende) Migrant*innen in der Wüste ausgesetzt
Schmuggler*innen haben Menschen aus Nigeria, Ghana und Burkina Faso in Niger nahe der Grenze zu Libyen ausgesetzt, scheinbar wegen Corona. Leute von der International Organisation of Migration (IOM) griffen die Menschen mitten in der Wüste auf und isolierten dann alle in einem Fussballstadion für eine 14-tägige Quarantäne. Die IOM moralisierte daraufhin, dass (flüchtende) Migrant*innen sich nicht an den Corona-Lockdown und die Ausgangssperren in Niger halten würden und trotz Corona weiterhin versuchen, nach Europa zu gelangen. Gleichzeitig kündigte die IOM an, sie werde nun versuchen, die aufgegriffenen Menschen trotz Corona südwärts in die Herkunftsstaaten abzuschieben. Auch so eine supersolidarische Lesart von #staythefuckhome.
https://www.news24.com/Africa/News/over-250-rescued-in-niger-desert-put-in-quarantine-20200402

Vier Dramen im Mittelmeer
(1) Libysche Milizen behindern das NGO-Schiff Alan Kurdi: Die Alan Kurdi rettet am vergangen Montag in zwei Einsätzen 150 Menschen aus Seenot. Während des ersten Einsatzes fahren libysche Milizen aggressiv an das Holzboot heran und schiessen Warnschüsse ab. Auf dem Holzboot bricht Panik aus, viele springen ohne Rettungswesten ins Wasser. Trotzdem kann die Crew alle retten. Bereits während des Einsatzes geht ein zweiter Notruf von einem Holzboot ein. Das italienische Versorgungsschiff Asso Ventinove ist bereits seit Stunden vor Ort ohne zu helfen. Die Alan Kurdi nimmt auch diese Menschen auf. Dass das NGO-Schiff an einem Tag zwei schiffbrüchige Boote antrifft, zeigt die Dringlichkeit und Wichtigkeit von Rettungsschiffen vor Ort. Wie viele Menschen letzte Woche ertranken, ist unbekannt. Doch laut Alarmphone sind wegen des guten Wetters etwa 1000 Menschen aus Libyen auf das Mittelmeer gestartet.
(2) Italien, Malta und Libyen erklären ihre Häfen – wegen Corona – als unsicher: Rettungsschiffe mit Geflüchteten können deshalb auch nicht mehr anlegen. Die italienischen Behörden sagen, sie würden nicht für die Sicherheit der Menschen garantieren können. Wie zynisch ist denn diese Aussage, wenn wir bedenken, dass die Alternative Libyen heisst. Zudem könnten sich Corona-Infizierte unter den Geretteten befinden. Nach Italien erklärten auch Malta und Libyen ihre Häfen als unsicher. Aktuell verbietet Libyen einem Schiff der sogenannten libyschen Küstenwache mit rund 280 Personen das Einlaufen in einen libyschen Hafen. Die libysche Küstenwache erklärte derweil, dass sie keine weiteren Rettungen durchführen könne, weil keine Atemschutzmasken vorhanden seien. Vor Malta rief ein Boot mit rund 70 Menschen an Bord das Alarmphone an. “Ich sehe Malta. Das maltesische Militär kommt und schneidet das Kabel für den Motor durch”, ruft ein Mann am Donnerstagnachmittag ins Telefon. Wasser sei bereits ins Boot eingedrungen. “Sie wollen nicht, dass irgendjemand nach Malta kommt, das sagen sie. Wir werden sterben. Bitte, wir brauchen Hilfe.”  Später nimmt die maltesische Küstenwache die Menschen doch noch an Bord. Bereits am Vortag hatten sie sich dem Boot genähert und statt zu helfen, die Rettung aktiv verzögert bzw. Menschenleben bewusst aufs Spiel gesetzt. Es wird also weggesehen, gewartet, nicht geholfen, nicht aufgenommen.
(3) Das deutsche Innenministerium fordert die NGOs auf, keine Menschen mehr zu retten: Bereits Ende März hatte sich die italienische Innenministerin Lamorgese mit dem Hinweis an das deutsche Innenministerium gewandt, dass das unter deutscher Flagge fahrende Schiff Alan Kurdi seine Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer wieder aufnehme und dass Italien seine Häfen für das Rettungsschiff schliessen wird. Das deutsche Innenministerium unter Horst Seehofer fordert daraufhin allgemein NGOs auf, „angesichts der aktuellen schwierigen Lage“ derzeit „keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen“. Mehrere NGOs bezeichnen diese Forderung als “Aufruf zur unterlassenen Hilfeleistung” oder einen „Appell, Menschen ertrinken zu lassen“. Das deutsche Innenministerium bemüht sich nicht einmal um eine Lösung für die Aufnahme der Menschen, die von der Alan Kurdi gerettet wurden. Dabei benötigen die Menschen an Bord dringend Lebensmittel und Medikamente, die ihnen die maltesischen und die italienischen Behörden verweigern.
(4) Geschlossene Häfen führen zu einem neuen Stand-off vor Lampedusa: Das im September 2019 erarbeitete Malta-Abkommen zur Verteilung aus Seenot geretteter Menschen in Europa ist aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzt und es gibt wieder einen Stand-off vor Lampedusa. Dieselbe Situation also, wie wir sie aus Zeiten des Salvini-Dekrets in Erinnerung haben. Damals waren die italienischen Häfen zum “Schutz der nationalen Sicherheit” geschlossen.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-erheben-schwere-vorwuerfe-gegen-malta-a-4f311e15-89b1-46dd-afde-919bf429ea0f?fbclid=IwAR26WwIuZOHQ2CDXc2RaFnSf_OSXeFGxNiaSKA34qitmvDicJRRwkEQF7dAhttps://www.maltatoday.com.mt/news/national/101526/malta_tells_germany_it_will_refuse_disembarkation_to_rescued_seaeye_migrantshttps://www.theguardian.com/world/2020/apr/08/italy-declares-own-ports-unsafe-to-stop-migrants-disembarkinghttps://sea-eye.org/alan-kurdi-erhaelt-weder-lebensmittel-noch-medikamente/https://www.tagesspiegel.de/politik/ein-appell-menschen-ertrinken-zu-lassen-seehofer-ministerium-fordert-stopp-der-seenotrettung-im-mittelmeer/25729784.htmlhttps://www.tagesspiegel.de/politik/ein-appell-menschen-ertrinken-zu-lassen-seehofer-ministerium-fordert-stopp-der-seenotrettung-im-mittelmeer/25729784.html

Mitglieder der Russischen Reichsbewegung in einem Trainingslager in Sankt Petersburg im Jahr 2015 © Olga Masltseva/​AFP/​Getty Images

US-Behörden setzen erstmals eine rassistische Organisation auf ihre Terrorliste
Nicht etwa der Ku Klux Klan oder Blood an Honor landen als erstes auf der US-Terrorliste. Obwohl diese US-Organisationen Faschos und ihre Gewalt im grossen Stil organisieren, sind es die «Russische Reichsbewegung» und ihre drei Anführer Stanislav Vorobiev, Denis Gariev und Nikolaï Trouchtchalov. Laut US-Behörden betreibt die faschistische Gruppe in St. Petersburg zwei paramilitärische Ausbildungszentren. Nazis und Faschos aus aller Welt würden dort nicht nur trainiert, sondern auch “international vernetzt”. Gegen diese Gefahr seien die USA nicht immun, sagen die US-Behörden. Warum sie rechte Organisationen in den USA als weniger gefährlich einstufen, ist zu verstehen, wenn wir uns an Trumps Aussagen nach dem Anschlag von Charlottesville erinnern. 2017 fand dort eine rassistische Demo statt, gegen die eine grosse antirassistische Gegendemo organisiert wurde. Ein Nazi raste mit seinem Auto in eine Gruppe von Gegendemonstrant*innen und ermordete Heather Heyer. Statt die Tat eindeutig zu verurteilen, relativierte sie Trump und meinte, es gebe auf beiden Seiten “sehr gute Menschen”…
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/rechtsterrorismus-usa-russische-reichsbewegung-schwarze-liste


Was geht ab beim Staat?

Corona-Kredite könnten zu 25 Jahren nationalistischen und (sozial)rassistischen Konkurrenzkämpfen führen
Die International Labour Organisation (ILO) rechnet mit der schlimmsten globalen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. “Egal wo auf der Welt oder in welchem Sektor, die Krise hat dramatische Auswirkungen auf die Arbeitskräfte”, heisst es in einem aktuellen Report. Es werde erwartet, dass die Krise im zweiten Quartal 2020 weltweit die Arbeitsstunden von etwa 230 Millionen Vollzeitbeschäftigten auslöschen werde, schreibt die UNO-Sonderorganisation. Für das gesamte Jahr 2020 macht die ILO noch keine konkrete Prognose, schreibt aber, dass es ein hohes Risiko gebe, dass die ursprüngliche Vorhersage von 25 Millionen Vollzeitstellen deutlich zu tief sein könnte. Auch Bundesrat Ueli Maurer hatte Neues zu berichten: Der Bund werde für die Abbezahlung der gesprochenen Krisen-Kredite 25 Jahre benötigen, sagte er, und rechnet mit 50 Milliarden Franken. Das heisst: Ein Vierteljahrhundert intensivierter Angriffe auf unsere Lebensbedingungen. Die Zahlen der ILO und von Ueli Maurer haben etwas miteinander zu tun. Die Stellenverluste werden nicht gleichmässig unter den nationalen Standorten verteilt. Das Hauen und Stechen der Nationalstaaten und die Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten dürften sich damit nochmals zuspitzen. Das heisst auch, dass sich der nationalistische und (sozial)rassistische Kampf um Arbeitsplätze verstärken dürfte. Diese Tendenz wird von oben noch verstärkt werden. Bekanntlich folgt Angriffen auf Sozialversicherungen und Lohnniveaus in Krisenzeiten auch immer eine legitimierende Hetzte gegen die «Faulen» auf den Fuss. Fast immer zielt sie auf marginalisierte Gruppen. Ueli Maurer hat schon mal klar gemacht, dass er dieses Tagesgeschäft in den kommenden 25 Jahren intensivieren will. Ziehen wir ihm einen Strich durch die Rechnung!
https://www.ilo.org/global/about-the-ilo/newsroom/news/WCMS_740893/lang–en/index.htm?fbclid=IwAR0BYqt4HivEdnIs-vrl51j3md4HLxqn5hgp9ywGaHuvJyOPwqvJJBz-4K8

https://www.blick.ch/news/politik/ueli-maurer-zum-rettungspaket-fuer-die-wirtschaft-geht-es-so-weiter-sind-wir-in-zehn-tagen-ausgeschossen-id15818920.html

Bild: Staatliche Schätzungen zur kommenden Entwicklung der Wirtschaft in der Schweiz

Update: Ausschaffungen und Asylcamps in Corona-Zeiten
Ausschaffungen: Die offizielle Schweiz schafft auch zu Coronazeiten aus – wann immer möglich und mit Zwang. Seit dem 25. März verzichten die Behörden zwar auf Dublinabschiebungen, doch Abschiebungen in nichteuropäische Staaten gehen weiter. Eine rassistische Hierachie. Wieviele Personen es seit dem Lockdown waren, will oder kann das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) nicht sagen. Hier ihre Antworten auf unsere Fragen (https://antira.org/2020/04/08/nachgefragt-was-sagt-das-ejpd-zu-zwangsausschaffungen-in-coronazeiten/.) Obwohl sozusagen keine Flugzeuge mehr fliegen, es fast keine juristische Unterstützung in Verfahren mehr gibt und Menschen aus Europa aufgrund von Corona eine Gefahr für andere Weltregionen darstellen, sprechen die Behörden immer noch Wegweisungen aus und führen Ausschaffungen durch. Dafür nehmen sie wohl relativ viel Aufwand in Kauf, wie Vorfälle aus Deutschland zeigen, wo trotz Corona ebenfalls noch abgeschoben wird. Z.B. wollte das Bundesinnenministerium letzte Woche zwei Iraner*innen in einem eigens für sie gecharterten Flugzeug ausschaffen. Dank Protesten konnte die Abschiebung verhindert werden. Dieser Erfolg ist nun auch der Person zu wünschen, die demnächst in einem ebenfalls eigens für sie gecharterten Flugzeug in den Togo abgeschoben werden soll. Dafür soll das Einreiseverbot für Flüge aus Europa, welches im Togo seit dem 20. März gilt, für einen Tag aufgehoben werden.
Asylcamps: Nach wie vor gibt es in Asylcamps faktisch keine Möglichkeit, sich vor einer Corona-Ansteckung zu schützen. Die Prekarität der Situation zeigt sich sehr deutlich in diesem Gespräch (https://revoltmag.org/articles/unsere-lebensbedingungen-m%C3%BCssen-sich-grundlegend-%C3%A4ndern/?fbclid=IwAR2DTSLiOOUQKkJV7BUP9Y0sz8PV3qcMq0vy-QbKIlL9jCAgC2UC5oSvvBY), das die migrantische Selbstorganisation ROTA mit Mamado* aus Kurdistan geführt hat. Er lebt seit über einem Jahr im Rückkehrlager in Adliswil. ROTA hat solche Interviews insgesamt in 20 Lagern in Zürich, Basel, Bern, St. Gallen, Graubünden und Aargau durchgeführt. Basierend auf diesen Interviews haben sie eine Bedarfsliste mit dringend notwendigen Utensilien zusammengestellt und veröffentlicht. Wer die Notfallversorgung unterstützen möchte, kann sich über die unten angegebenen Kontaktdaten bei ROTA melden. (Bild einfügen: https://barrikade.info/article/3370). In gewissen Gemeinden werden jetzt langsam Quarantänelager für Corona-infizierte Menschen eröffnet, so z.B. in Frick. Über mehrere Wochen unter Quarantäne gestellt zu werden, ist auch ausserhalb von Lagern oder Knästen sehr belastend. In Asyllagern spitzt sich die Situation zusätzlich zu: Ausser WLAN gibt es nichts, womit du dir den Tag um die Ohren schlagen könntest. Gelände verlassen ist verboten und abgesehen von einem kurzen Spaziergang wirst du in deinem Zimmer isoliert. Dort bist du alleine ohne irgendwelchen Kontakt zu anderen Menschen. Ansprechpersonen für die Menschen im Quarantänelager sind zwei Securitas. Sie haben auch die Aufgabe, “auf die psychische Verfassung der Bewohner zu achten, sie bei der Stange zu halten und dem Lagerkoller entgegenzuwirken.» In keinem anderen Kontext würde es irgendwem in den Sinn kommen, Securitas als Ansprechpersonen in Quarantänesituationen einzustellen, geschweige denn, sie mit psychologischen Unterstützungsaufgaben zu betrauen. Das rassistische Muster der Kriminalisierung von Geflüchteten sitzt so tief.
https://www.migazin.de/2020/04/06/abschiebung-afrika-corona-deutschland-schickt-abgelehnte-asylbewerber-statt-corona-hilfe/

https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/eritreer-muss-trotz-pandemie-gehen-ld.1210925
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/fricktal/corona-isolierstation-fuer-asylsuchende-am-ehemaligen-werkhof-nimmt-betrieb-auf-137611566

https://www.woz.ch/2015/asylpolitik/ausgeliefert-im-bunker
https://solidarischgegencorona.wordpress.com/2020/04/06/situation-in-gefluchtetenlagern-in-der-schweiz/

Keine Möglichkeit zur Distanzeinhaltung im Ausschaffungscamp


Was ist aufgefallen?

Fahrende erhalten weiterhin keine Unterstützung
Die Situation für Fahrende seit den Massnahmen der Regierung aufgrund der Corona-Pandemie ist nach wie vor prekär. Aufträge seien zurückgegangen, ihnen würden die Haustüren nicht mehr geöffnet. So Fino Winter, Präsident von Sinti Schweiz. Existenzen sind bedroht. Simon Röthlisberger von der Stiftung Fahrende in der Schweiz verlangt, den Minderheitenschutz in der Schweiz mit Inhalten zu füllen. Er stellt konkrete Forderungen: Den Erlass der Platzgebühren und die Berücksichtigung von Jenischen und Sinti im Massnahmenpaket des Bundes. Der Bundesrat hat unterdessen noch keine Ergebnisse in der Frage zur Unterstützung Selbstständiger und Kleinstunternehmen parat. Es bleibt also weiterhin unklar, ob der Bund Fahrende finanziell unterstützen wird.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/coronavirus-fahrende-erhalten-weiterhin-keine-unterstuetzung?id=79c184fe-071a-4787-85e1-28ce72d62001

Kredite für alle Kapitalist*innen, Einzelfallprüfung für Migrant*innen
Wer wegen Corona in Geldnot gerät, braucht Privilegien. Unternehmer*innen z.B., die wegen Corona in Finanznot geraten, können bei ihrer Bank innert 30 Minuten ein zinsloses Darlehen von bis zu 500’000 Franken abholen. Keine Einzelfallprüfung, keine Garantien, der Staat übernimmt das Risiko. Hierzu der SVP-Finanzminister Maurer: «Wir müssen uns das leisten. (…) Wir leben in ausserordentlichen Zeiten. (…) Es ist einfach schön, wie sich die Leute beteiligen und engagieren.» Anders klingt es, wenn (geflüchtete) Migrant*innen wegen Corona Sozialhilfe beantragen müssten. Wie wir letzte Woche berichtet haben, diskriminieren die Behörden Nichtschweizer*innen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind (vgl. https://antira.org/2020/04/06/antira-wochenschau-antisemitismustradition-in-bayern-regularisierungen-in-portugal-proteste-in-coronazeiten/): (1) Illegalisierte, die im Falle einer Regularisierung Sozialhilfe beziehen könnten, haben kaum Chancen auf ein Härtefallgesuch. (2) Wer einen Ausweis B hat und Sozialhilfe bezieht, verliert dieses Bleiberecht. (3) Menschen mit Ausweis C werden auf einen Ausweis B rückgestuft, wenn sie Sozialhilfe beziehen. (4) Im Kanton Bern können sich Migrant*innen nur einbürgern lassen, wenn sie die in den vergangenen zehn Jahren bezogenen Sozialhilfegelder komplett zurückgezahlt haben. Verschiedene Kreise fordern nun, diese Diskriminierung zumindest bei durch Corona bedingter Sozialhilfe auszusetzen. Ohne klaren Grundsatzentscheid sind Nichtschweizer*innen weiterhin schlecht beraten, Sozialhilfe zu beziehen bzw. praktisch von dieser ausgeschlossen. Als erster positionierte sich der Berner FDP-Regierungsrat Philippe Müller. Er ist gegen eine pauschale Lösung und will weiterhin im Einzelfall prüfen lassen. Begründung: «Das Volk hat es so gewollt». Das Staatssekretariat für Migration (SEM) schlägt auch keine kollektive Lösung vor. Es appelliert ausschliesslich an die kantonalen Behörden, sich im Einzelfall kulant zu zeigen. Auch die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS) scheint hinter dieser Haltung zu stehen. Obwohl Markus Kaufmann von der SKOS das Abschreckungsproblem der Sozialhilfe gegenüber Watson selber schildert, empfiehlt er ausschliesslich jenen Migrant*innen aufs Sozialamt zu gehen, die sicher sind, dass sie nicht langfristig und in grosser Höhe Sozialhilfe beziehen werden.
https://www.derbund.ch/mueller-verspricht-verhaeltnismaessige-urteile-572670142455
https://www.watson.ch/schweiz/wirtschaft/173257196-coronavirus-warum-auslaender-in-der-schweiz-doppelt-betroffen-sind

Bild: Standorte der Boote in Seenot:

Frontex schaut beim Sterben zu
In der Nacht von Samstag auf Sonntag erreichten das Alarmphone gleich vier Notrufe aus dem zentralen Mittelmeerraum. Insgesamt 250 Menschen befinden sich in Seenot, 118 davon in der Such- und Rettungszone Maltas. Zu zwei der Boote hat die NGO den Kontakt verloren und twittert: “EU-Luftkräfte überwachten einige von ihnen. Wie ist es, von oben zuzusehen, wie Menschen langsam sterben? Fröhlichen Ostersonntag.” Zahlreiche Flüge der europäischen Agentur Frontex und anderer internationaler Luftstreitkräfte wurden im Laufe des Tages gemeldet. Es wird vermutet, dass sie wie bereits seit zwei Jahren der sogenannten libyschen Küstenwache die Standorte der Boote meldeten. Diese verkündet unterdessen, sie benötige mehr Gelder, um die Geflüchteten von der Überfahrt abzuhalten. Mit dieser Forderung und der Verkündung geschlossener Häfen übt sie Druck auf die EU nach weiterer Finanzierung aus. Die Lage vor Ort ist für die Geflüchteten hoffnungslos. Es sind, ausser der Alan Kurdi, die keine weiteren Menschen aufnehmen kann, keine Rettungsboote von NGOs vor Ort und offizielle Stellen lehnen ihre Pflicht zur Seenotrettung ab. In einer einzigen Woche, vom 5. bis 11. April 2020, haben mehr als 1.000 Menschen auf mehr als 20 Booten die libysche Küste verlassen, berichtet das Alarmphone. Das Schicksal vieler Menschen bleibt unklar. Frontex hat unterdessen 4 Boote gefunden. Vermutlich die von Alarmphone gemeldeten. Eines ist gesunken. Wir müssen annehmen, dass alle ertrunken sind, da es keine Infos über Rettungen gibt. Position& Notlage waren bekannt.
https://www.avvenire.it/attualita/pagine/il-ricatto-della-libia-messi-in-mare-10-barconi-in-pochi-giorni
https://lovinmalta.com/news/happy-easter-sunday-118-people-could-soon-die-in-maltas-waters-migrant-hotline-warns/

Weiterhin keine Asylverfahren in Griechenland
Die europäischen Aussengrenzen sind fast immer Orte brutalster Gewalt. Letzten Monat nahm die Gewalt an der türkisch-griechischen Grenze nochmals neue Dimensionen ein. Nachdem Erdogan Geflüchtete als Spielball seiner EU-Politik an die griechische Grenze schickte, gingen griechische Grenzschutzbehörden mit massivster Gewalt gegen diese vor. Recherchen mehrerer NGOs belegen erstmals zwei Todesopfer, wobei die tatsächliche Anzahl der Toten weit höher sein dürfte. Beide Ermordeten wurden von Grenzpolizist*innen erschossen. Unterstützt wurden die griechischen Grenzschutzbehörden während dieser Zeit vermehrt auch von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Nachdem die Menschen auf der Flucht meist unter Anwendung extremster Gewalt festgenommen werden, werden sie in Haftlager gesteckt, wo ihnen sämtliche Dinge, die sie besitzen, geklaut werden. Allein auf Lesbos wurden 500 Menschen, darunter 200 Kinder, inhaftiert. Ein Teil der Menschen wurde dann zum Grenzfluss Evros gefahren, in schwimmende Zelte gesetzt und ohne Gewährung eines Asylverfahrens zurück in türkische Hoheitsgewässer geschoben. Der andere Teil der Menschen wurde in Internierungslager auf dem griechischen Festland verlegt und wird jetzt nach und nach abgeschoben. Ebenfalls ohne Gewährung eines Asylverfahrens. Die Aussetzung des Asylrechts als Reaktion auf die ankommenden Geflüchteten aus der Türkei galt vom 1. bis zum 31. März und ist nun offiziell beendet. Ersetzt wurde es durch eine allgemeine Aussetzung des griechischen Asylsystems aufgrund von Corona. Auch im Moment gibt es also in Griechenland keine Chance auf Asyl.
Auch ein Grossteil der Menschen, die es nicht nach Griechenland schafften und sich noch im türkisch-griechischen Grenzgebiet aufhielten, befindet sich nun in Haft. Ein Betroffener berichtet, dass sich am 26. März türkische Hilfsorganisationen und Medien aus dem Grenzgebiet zurückgezogen hätten. Kurz darauf seien türkische Sicherheitskräfte mit Tränengas angerückt. Sie hätten die Zelte in Brand gesetzt und die Menschen in Busse gezwungen. In mindestens acht Lagern sollen die Menschen nun inhaftiert sein, die Hälfte in dem Camp in Malatya. Die Bedingungen in dem Lager seien unerträglich, berichtet ein Betroffener. “Türkische Soldaten bewachen uns die ganze Zeit und an jedem Container hängt eine Videokamera. Wir sitzen hier und haben nichts zu tun.” Es gibt keine medizinische Versorgung, zu wenig Essen, nicht einmal ihre Handys durften die Menschen offenbar behalten. Offizieller Grund für die Inhaftierung ist Corona-Quarantäne.
Völkerrechtler*innen haben nun die Aussetzung des Aslyrechts auf seine Rechtmässigkeit überprüft. Uns ist es egal, ob die Aussetzung rechtens war oder nicht, brutal und menschenverachtend war sie sowieso. Doch da es manchmal doch noch nützlich sein kann, den rechtlichen Rahmen staatlichen Handelns zu kennen, hier ihre Analyse: Griechenland hatmit der Aussetzung des Asylrechts sowie mit gewaltsamen Abschiebungen einerseits internationales und andererseits europäisches Recht gebrochen. Die griechische Regierung hatte sich auf den Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU berufen. Dieser besagt, dass der Europäische Rat Massnahmen zugunsten eines Mitgliedstaats beschliessen kann, sollte dieser “aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage” sein. Die Klausel erlaube es einem Mitgliedstaat aber nicht, im Alleingang Massnahmen zu ergreifen, sondern die Europäische Kommission muss eine Massnahme vorschlagen, das Parlament darüber beraten und der Rat das Vorgehen beschliessen. Auch die Push-Backs sind illegal, sie verstossen gegen das Non-Refoulement-Prinzip, welches vorschreibt, dass jede Person ein Recht auf ein individuelles Asylverfahren hat.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-in-der-tuerkei-die-welt-hat-euch-vergessen-a-6645fb3c-e13b-49fa-94b7-5735d321bba6?
sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph

https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-aussetzung-des-asylrechts-war-laut-gutachten-illegal-a-2f6cb548-8333-4283-ae54-526e0f255df0
https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/griechenland/dok/2020/brutale-gewalt-und-schwere-menschenrechtsverletzungen-an-der-griechisch-tuerkischen-grenze

Push-backs: Griechische Behörden verfrachten Menschen in solche schwimmenden Zelte, um sie zurück in die Türkei zu schieben

EU-Kommission lehnt Kreuzfahrtschiffe als Notunterkunft ab, während die Aufnahme von Menschen aus Griechenland nicht voran geht
Aus der kreativen Idee, Kreuzfahrtschiffe, die momentan nicht fahren dürfen, schnell verfügbare Notunterkünfte für Geflüchtete zu machen, ist ein konkretes Angebot entstanden. Der Bonner Reiseveranstalter Phoenix bot ein Kreuzfahrtschiff zum Selbstkostenpreis an, um einen Beitrag zur Evakuierung der überfüllten griechischen Lager zu leisten.  Das heisst konkret: Bei voller Belegung mit 900 Personen etwa 40.000 bis 60.000 Euro pro Tag inklusive Verpflegung. Auch andere Anbieter erkannten bereits die Chance, in dieses Geschäft einzusteigen und verkündeten Bereitschaft. Die EU-Kommission lehnt das Angebot mit der Begründung ab, für das gleiche Geld könnten mehr Plätze in leer stehenden Hotels finanziert werden. Könnten. Bisher wurde nicht aus den Lagern evakuiert. Anfang März hatten die acht EU-Länder Luxemburg, Deutschland, Frankreich, Irland, Portugal, Finnland, Kroatien, Belgien, Bulgarien und Litauen zugesagt, in einer koordinierten Aktion insgesamt 1.600 unbegleitete oder kranke Kinder und Jugendliche von den griechischen Inseln aufzunehmen. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie haben die meisten Länder ihre “Bemühungen” wieder aufgegeben. Allein Luxemburg hat konkret zugesagt, 12 Kinder aufzunehmen. Deutschland diskutiert über die Aufnahme von 300 bis 450 Kindern, 50 davon möglichst schnell. Beide Länder betonen, nicht auf die anderen Staaten warten zu wollen und mit gutem Beispiel voran zu gehen. Die Schweiz ist dazu nicht bereit. Laut Karin Keller-Sutter brauche es bessere Hilfe vor Ort. Während noch kein Kind Griechenland tatsächlich verlassen hat und 42.000 Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen in den griechischen Camps leben, breitet sich das Corona-Virus auch in Griechenland weiter aus. In mittlerweile zwei Lagern auf dem Festland, in Ritsona und Malakasa, wurden Geflüchtete positiv auf Corona getestet. Das griechische Migrationsministerium hat die Camps abgeriegelt. Die Angst besteht weiterhin, dass das Virus bald auch die griechischen Inseln erreicht.
https://www.tagesschau.de/ausland/corona-fluechtlingslager-101.html

https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-eu-139.html

https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-04/migration-fluechtlingskinder-aufnahme-heiko-maas-coronavirus-humanitaere-lage-fluechtlingslager

https://www.nzz.ch/international/deutschland-wartet-weiter-auf-die-fluechtlingskinder-von-den-griechischen-inseln-ld.1551189

https://www.spiegel.de/panorama/corona-gefahr-in-griechischen-camps-eu-kommission-lehnt-kreuzfahrtschiff-als-notunterkunft-ab-a-00000000-0002-0001-0000-000170435609

Bild: Das Kreuzfahrtschiff «Albatros», dpa-Bildfunk

Amnesty berichtet, die Behörden schieben ab
Amnesty International blickt zurück auf ein Jahr voller Krieg, Tötungen, Folter, Entführungen, sexualisierter Gewalt und massenhafter Vertreibungen in Subsaharastaaten. Besonders mörderische Konflikte tobten laut Amnesty in der Demokratischen Republik Kongo, in Kamerun, Nigeria, Somalia, dem Sudan, Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik. In diesen und weiteren Ländern, wie Äthiopien, Burkina Faso, Mosambik und Tschad wurden zahlreiche Menschen bei Angriffen bewaffneter Gruppen und bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen ethnischen und religiösen Gruppen vertrieben, verletzt oder getötet. Menschen, die aus diesen Staaten fliehen, erhalten in der Schweiz nicht per se ein Bleiberecht. Politisches Asyl erhielt 2019 im Durchschnitt nur jede zehnte Person. Neun von zehn erhalten eine negative Antwort, weil die SEM-Mitarbeiter*innen ihnen nicht glauben oder ihre Fluchtgründe als zu wenig krass einstufen. 38 unter ihnen schoben die Behörden letztes Jahr zwangsweise in die Staaten ab, aus denen sie weg wollten. Vermutlich aus Angst vor einer Abschiebung oder um dem zermürbenden Leben im Abschiebecamp zu entgehen, tauchten ebenfalls vergangenes Jahr insgesamt 471 Personen aus den oben erwähnten Staaten unter.
https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/statistik/asylstatistik/archiv/2019/12.html
https://www.amnesty.ch/de/laender/afrika/afrika/dok/2020/afrika-regionaler-ueberblick


Was nun?

Widerstand angesichts der Normalisierung der Willkür oder: Wenn plötzlich zu viele Menschen von einem Recht Gebrauch machen könnten, schaffen wir es besser schnell wieder ab
Im Moment zeigt sich oft die Situation, dass linke Strukturen für gewisse Minimalstandards kämpfen, die ursprünglich von nationalstaatlich denkenden Akteur*innen geschaffen wurden. Gerade im Migrationsregime zeigt sich dies relativ deutlich. Zivilgesellschaftliche Strukturen, die dann als «linksradikal» kriminalisiert werden, müssen dafür kämpfen, dass z.B. Menschen überhaupt noch Zugang zu Asylverfahren erhalten, dass die Rechtsweggarantie gegeben ist, dass keine illegalen Push-backs von Geflüchteten stattfinden – weil nationalstaatliche Akteur*innen von ihren eigenen Regeln abweichen. Die Grenze des Mach- und Sagbaren verschiebt sich dauernd nach rechts. Plötzlich sind ehemals bürgerlich nationalistische Positionen linke Positionen. Doch wo kommen wir hin, wenn selbst linke Zusammenhänge für «faire» Asylverfahren kämpfen? Wer führt dann die Kämpfe, die sich grundsätzlich gegen das Asylregime richten, weil sie die Bewegungsfreiheit für alle fordern, ohne Eintrittsprüfungen und -bedingungen?
Jedenfalls werden in den nächsten Wochen einmal mehr linke Strukturen für eine sich selbst auferlegte Regel der Dublin-Staaten kämpfen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Deutschland (BAMF) hat nämlich diese Woche entschieden, die Überstellungsfrist in den Dublin-Verfahren auszusetzen. Die Überstellungsfrist ist eine der Grundprinzipien der Dublin-III-Verordnung und sagt, dass eine Person im aktuellen Dublin-Mitgliedsstaat bleiben kann und Zugang zu einem Asylverfahren erhält, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten in denjenigen Dublin-Staat ausgeschafft wird, in dem die Person ihre Fingerabdrücke abgeben musste bzw. erstmals registriert wurde. Die Regel wurde dafür geschaffen, dass Betroffene nach einer bestimmten Zeit endlich eine minimale Rechtssicherheit erhalten und nicht während des gesamten Asylverfahrens damit rechnen müssen, ausgeschafft zu werden.
Seit Corona könnten plötzlich relativ viele Menschen von dieser Regel «profitieren», weil im Moment keine Dublin-Ausschaffungen stattfinden. Somit überschreitet bei vielen Menschen ihre Zeit in Deutschland die 6-Monate-Frist. Dadurch sollten sie laut Dublin-Verordnung in Deutschland bleiben dürfen. Doch hier zeigt sich das Verlogene an europäischer Rechtsstaatlichkeit. Das Rechtssystem ist nicht neutral, es ist nicht «fair» und es ist vor allem nicht unveränderbar, wie es von sich selbst behauptet. Verändern können es die Mächtigen, wenn es ihnen nicht mehr passt und das tun sie jetzt, weil die Menschen, die sie unterdrücken wollen, von ihren Alibi-Regeln profitieren könnten. Darum haben sie die Überstellungsfrist kurzum ausgesetzt. Geflüchtete im Dublin-Verfahren können sich jetzt also nach sechs Monaten nicht mehr sicher sein, dass sie nicht ausgeschafft werden, sondern müssen ständig damit rechnen. Und das möglicherweise über eine längere Zeit, denn wer weiss schon, wie lange sich die Corona-Situation noch hinzieht. Nebst der Aussetzung der Überstellungsfrist wird auch gleich die bereits in Deutschland verbrachte Zeit gelöscht. Wenn also eine Person vor Corona bereits 5 Monate in Deutschland durchgehalten hat, wird ihr Zeitzähler nach der Aussetzung der Überstellungsfrist wieder auf null gesetzt.
Weil Nationalstaaten in Konkurrenz zueinander stehen, wollen sie auf keinen Fall bessere Bedingungen für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen schaffen als ihre Nachbar*innen. Darum rechnen wir damit, dass die schweizer Regierung und weitere Dublin-Staaten in den nächsten Wochen nachziehen werden.
https://www.proasyl.de/news/aussetzung-der-dublin-fristen-erst-chaos-dann-klagewelle/

Widerstand gegen die neu geschaffenen Rückkehrzentren im Kanton Bern
Das Solidaritätsnetz Bern hat ein Fundraising lanciert, um Geld für die private Unterbringung von Geflüchteten zu sammeln und ihnen somit ein Leben ausserhalb der Isolationszentren zu ermöglichen. In absehbarer Zeit werden abgewiesene geflüchtete Menschen im Kanton Bern in sogenannte “Rückkehrzentren” umplatziert. Dies bedeutet eine erneute Verschärfung des ohnehin menschenverachtenden Nothilfe-Regimes und stellt für viele Betroffene eine massive Verschlechterung ihrer Situation dar. Die neuen Camps werden von der ORS AG geführt und dienen der noch effizienteren Isolation und Verwaltung von Geflüchteten. Aus diesem Grund wollen wir gemeinsam Widerstand gegen die Isolationszentren leisten. Mehr Infos und das Fundraising findest du hier: https://solidaritaetsnetzbern.ch/stopisolation

Hotspotcamps sind Orte der Schande
Migreurop veröffentlicht ein erklärendes Video, das die Existenz und das Funktionieren der Hotspots anprangert. Das Video ist bisher auf französisch. Wäre toll, dieses in andere Sprachen zu übersetzen.
https://vimeo.com/402154419


Wo gabs Widerstand?

53 Menschen überwinden Grenzzaun nach Melilla
In einer koordinierten Aktion haben etwa 260 Menschen versucht, den Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla zu überwinden. Das war der grösste koordinierte Versuch seit einem Jahr. 53 Menschen haben es geschafft, über den Zaun zu kommen. Sie liefen, zum Teil verletzt, bis zum Aufnahmezentrum in der Stadt Melilla. Dort wurden sie wegen Coronavirus-Vorbehalten abgewiesen. Zwei wurden festgenommen, vier wurden vom Roten Kreuz ins Krankenhaus gebracht. Stunden später wurden die Menschen in ein Zelt am Flughafen verfrachtet. In diesem Bereich sitzen auch 350 marokkanische Reisende fest, die seit der marokkanischen Grenzschliessung Mitte März blockiert sind.
Im Februar hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, dass Spanien nicht verpflichtet sei, Menschen ein Asylverfahren zu gewähren, die es schaffen, den Grenzzaun zu überwinden. Vielmehr sollten diese auf marokkanischem Boden bei der diplomatischen Vertretung Spaniens ihr Asylgesuch stellen. In der Praxis ist dies nahezu unmöglich (vgl. antira-Wochenschau vom 18.02.20).
https://ffm-online.org/melilla-eu-zaun-boza-und-coronavirus-blockade/https://www.theolivepress.es/spain-news/2020/04/06/around-50-migrants-successfully-jump-the-fence-and-enter-spains-melilla-in-the-largest-illegal-entry-since-may-2019/

Halberstadt und Wardia: Mit Hungerstreik gegen Isolation und Coronarisiken
Im Camp Halberstadt in Sachsen-Anhalt traten rund hundert Geflüchtete in einen Hungerstreik. Der Hungerstreik dauert seit dem 4. April an und ist eine Antwort auf die Behörden, die dort 850 Personen regelrecht einsperren. Ohne Schutz gegen das Coronavirus, obwohl am 28. März erste Bewohner*innen positiv auf Covid-19 getestet wurden. Mittlerweile sind es bereits mehr als 30 Personen. Der Hungerstreik begann damit, dass Absperrgitter und Zäune niedergerissen wurden. Securities haben dann mit Schlagringen auf die Geflüchteten eingeschlagen. Die Polizei setzte Hubschrauber ein. Die Geflüchteten fordern Hygieneartikel, Nahrungsmittel und eine dezentrale Unterbringung für Schwangere, Alleinerziehende, Ältere und Familien. Ausserdem fordern sie die Auflösung des Camps, das sie als Knast bezeichnen. Die Meldung eines weiteren Hungerstreiks erreichte uns aus Tunesien. Im geschlossenen Camp Wardia befinden sich aktuell rund 24 Personen in einem Hungerstreik. Sie fordern ihre umgehende Freilassung, denn sie befürchten, dass das Virus früher oder später auch sie treffen wird. 
https://perspektive-online.net/2020/04/refugees-im-hungerstreik-schliesst-das-halberstadt-gefaengnis-security-reagiert-brutal/?fbclid=IwAR0zAkqXwB_X8I_5UlDVdq-f4CJrSI8jGrEjXqlbGWn1JameYuvvwQ4sqJ0
https://www.wsws.org/de/articles/2020/04/09/hung-a09.html
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1135244.asylsuchende-in-deutschland-fluechtlinge-im-hungerstreik.html

https://www.jungewelt.de/artikel/376145.tunesien-migranten-im-hungerstreik.html

Luzern: Hungerstreik für den Hungerstreik der Group Yorum
Helin Bölek und Ibrahim Gökcek sind zwei von acht Musiker*innen der linken Band Grup Yorum. Vor knapp einem Jahr wurden sie bei einer Razzia im Istanbuler Idil-Kulturzentrum von der Polizei festgenommen. Sie wirft ihnen Mitgliedschaft in der illegalisierten DHKP-C vor. Aus Protest gegen das Urteil traten Bölek und Gökcek in Hungerstreik. Helin Bölek wurde im November freigelassen, sie setzt ihren Hungerstreik jedoch weiter fort und starb am 3. April nach 288 Tagen. Am 252. Tag seines Todesfastens wurde Ibrahim Gökçek am 24. Februar freigelassen. Trotzdem geht der Widerstand weiter. Mit einem dreitägigen Unterstützungshungerstreik wollen zwei Aktivist*innen in Luzern den Widerstand der Group Yorum unterstützen. Wir veröffentlichen hier ihre Erklärung: „Wir rufen alle dazu auf, sensibel zu sein, bevor weitere Todesfälle auftreten. Während des Hungerstreiks wurden die Anträge auf Annahme der Anträge der Mitglieder des Group Yorum erneuert und die Anträge auf „Evakuierung der Mitglieder des Group Yorum im Gefängnis, Aufhebung der vom Innenministerium erlassenen Haftbefehle und Beendigung des Drucks auf das Idil-Kulturzentrum“ erneuert. In ihrer Erklärung wandten sich die Anwälte Ebru Timtik, die sich im Gefängnis im Hungerstreik befanden, mit den Forderungen nach fairen Gerichtsverfahren, dem Recht auf Verteidigung, der Beseitigung des Drucks auf seine Mandanten und politischen Gefangenen, am 94. Tag seiner Aktion den Hungerstreikaktionen zu, und Anwalt Aytaç Ünsal wandte sich am 60. Tag seiner Aktion schnell dem Tod zu. Und Ünsals Forderungen wurden so schnell wie möglich betont.”
https://ozgurmanset.net/isvicrede-grup-yorum-icin-destek-aclik-grevi%E2%80%8B/

Zürich: Für alle ein Zuhause
Am Donnerstag wurden in Zürich vier Häuser besetzt. Dies geschah unter dem Motto “Für alle. Ein Zuhause.” – nachdem die Zürcher Stadtregierung Plakate mit dem Titel “Bleiben Sie Zuhause. Bitte. Alle.” lanciert hatte. Die Besetzer*innen haben sich daraufhin die Frage gestellt: Was ist mit denen, die durch das #staythefuckhome-Raster hindurchfallen? Das Communiqué auf der Internetseite hebt hervor, dass jeder Notstand diejenigen am härtesten trifft, für die die Umstände schon vorher beschwerlich waren. Es war schon vor Corona Notstand. In einer Pressemitteilung von Samstag berichteten die Besetzer*innen unterdessen, dass sie unterschiedliche Erfahrungen mit den Besitzer*innen machten: Von solidarischen Aktionen über Unverständnis bis hin zu Ablehnung. Das erste Haus solle jedoch bald an Menschen übergeben werden, die einen Ort zum Leben brauchen, jedoch den Akt der Besetzung nicht selber ausführen könnten, da die drohende Repression existenzielle Folgen für sie haben könnte.
https://barrikade.info/article/3365
https://zuhause.zureich.rip/
https://twitter.com/ZuHause48246280
https://vimeo.com/405885532
https://daslamm.ch/recht-auf-wohnraum-auch-waehrend-der-corona-krise


Was steht an?

#StopIsolation: Initiativen gegen die geplanten „Rückkehrzentren“ im Kanton Bern
Trotz Corona gibt es Widerstand gegen die geplanten „Rückkehrzentren“ im Kanton Bern. Das Solidaritätsnetz Bern hat ein Fundraising lanciert, um Geld für die private Unterbringung von Geflüchteten zu sammeln und ihnen somit ein Leben ausserhalb der Isolationszentren zu ermöglichen. Das Migrant Solidarity Network sammelt Meinungen und Kritik von abgewiesenen Geflüchteten digital. Fotos, Voicemessage oder Video mit Meinungen und Kritik einfach zwecks Veröffentichung auf www.migrant-solidarity-network.ch entweder an 076 645 18 97 oder info@migrant-solidarity-network.ch schicken.
https://migrant-solidarity-network.ch/2020/03/30/stopisolation-viral-gegen-die-geplanten-rueckkehrzentren-im-kanton-bern

Migrantischer Streik am 8. Mai
Aufruf: “Wir migrantischen Selbstorganisationen rufen unsere Geschwister und Genoss*innen am 08. Mai 2020 zu einem Tag des Zorns und damit einhergehenden Generalstreik auf. Wir fordern alle Menschen mit Migrationserbe, jüdische Menschen, Sinti*ze und Rom*nja, Schwarze Menschen, people of colour, #BIPoC und alle solidarischen Menschen auf, mit uns zu streiken.”
https://barrikade.info/article/3239

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Das Netzwerk rechter Onlinekulturen
Rechte Attentäter entstammen zunehmend Netzwerken, die nur locker mit klassischen Organisationen und Strukturen der extremen Rechten verbunden sind. Ihre Quellen liegen in Männerrechtsgruppen, reaktionären Gaming- und Trolling-Subkulturen, die sich in einem Ökosystem aus Social Media Plattformen, Foren und Chan-Boards radikalisiert haben. Dieses Netzwerk bildet einen Teil des internationalen Phänomens der „Alt-Right“.
https://www.antifainfoblatt.de/artikel/das-netzwerk-rechter-onlinekulturen-von-gamergate-zu-%E2%80%9Ealt-right

Zurück in die Diktatur
Die schweizer Behörden weisen immer mehr Geflüchtete aus Eritrea ab. Sie könnten ohne Probleme in ihr Heimatland zurückkehren, heisst es in Bern. Doch stimmt das? Erstmals reden Rückkehrer öffentlich. Eine Recherche in drei Teilen.
https://www.republik.ch/2020/04/08/zurueck-in-die-diktatur

Struggles of women* on the move
Alarm Phone – Women and LGBTQI+ Report, April 2020
https://alarmphone.org/en/2020/04/08/struggles-of-women-on-the-move/?fbclid=IwAR2rsC7hhr_v-dIdwKPPANbxXkBUoEJMd2IIAG00kp5b1WC0-cngxzmvrLk

Worte von Nekane
Vier Jahre seit meiner Verhaftung in der Schweiz: vier Jahre der Ungewissheit
https://antira.org/2020/04/12/worte-zwischen-den-beiden-stickern-free-nekane-und-nekane-bleibt-frei-ist-viel-passiert/
https://www.facebook.com/FreiheitfuerNekane/posts/2649935168625916?__tn__=K-R


Möchtest du die Printversion der Wochenschau einmal pro Woche in deinen Briefkasten geliefert bekommen? Dann schick uns eine Email mit der gewünschten Lieferadresse an antira@immerda.ch

Wer ist antira.org? 

antira.org ist ein Zusammenhang von herrschaftskritischen Antirassist*innen in der Deutschschweiz. Wir sind autonom vernetzt, bezahlen keine Löhne und leben von solidarisch-widerständiger Arbeitszeit. Wir sind offen für Menschen, die unsere politischen Analysen, Ziele und Mittel teilen. Aktuell wird antira.org von weiss-sozialisierten Personen betrieben. Wir wollen rassistische Privilegien nutzen, um Rassismus zu bekämpfen. Dennoch sehen wir uns von Rassismus (mit-)geprägt und versuchen unsere Sozialisierung und Position innerhalb der rassistischen Gesellschaft kritisch und intersektional zu reflektieren. Für die Ausrichtung von antira.org finden wir es wichtig, im Austausch und Dialog mit nicht-weissen Personen und Zusammenhängen zu stehen und würden es begrüssen, wenn schwarze oder PoC-Kompliz*innen bei antira.org mitmachen würden. Wann immer möglich, nehmen wir auch Berichte und Analysen von BPoC-Personen, Kollektiven oder Strömungen auf. Bitte schickt uns solche Texte, Berichte, Analysen, Veranstaltungshinweise etc. an antira@immerda.ch. 

Wie kannst du antira.org unterstützen? 

antira.org lebt auch von deiner Solidarität.