Medienspiegel 29. März 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++AARGAU
Social Distancing ist in Asylunterkünften unmöglich: zwei Geflüchtete berichten über ihre Sorgen
Bis jetzt wurde noch keine Person positiv auf das Corona-Virus getestet. Es habe aber bereits Verdachtsfälle gegeben. Rfaat Abdul Daiem und Rahim Mohammadzadeh erzählen wie das Leben derzeit in einer Asylunterkunft ist.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/aarau/social-distancing-ist-in-asylunterkuenften-unmoeglich-zwei-gefluechtete-berichten-ueber-ihre-sorgen-137357722


+++SCHWEIZ
Die Schweiz muss dringend Flüchtlinge aufnehmen
Die Corona-Krise hat die humanitäre Tragödie in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln noch verschärft. Tausende Flüchtlinge sitzen dort unter prekären Bedingungen fest und werden an der Weiterreise nach Europa gehindert. Griechenland hat beschlossen, keine Asylgesuche von irregulär Eingereisten mehr anzunehmen, was einen eklatanten Bruch des internationalen Rechts darstellt. Es ist nicht auszudenken, welche Folgen die Verbreitung des Virus in den überfüllten Flüchtlingslagern haben wird!
Die Schweiz und Europa müssen dringend handeln, indem sie Flüchtlinge aufnehmen und eine solidarische gesamteuropäische Lösung umsetzen. Die Schweizer Behörden sind aufgerufen, jetzt die nötigen Vorkehrungen zu treffen, damit so rasch als möglich ein umfangreiches Kontingent von Schutzsuchenden aufgenommen werden kann.
https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/griechenland/dok/2020/fluechtlinge-griechenland/online


+++GRIECHENLAND
Hass statt Hilfe
Griechische Regierung verfrachtet Flüchtlinge aufs Festland. Asyl und ärztliche Versorgung gestoppt
https://www.jungewelt.de/artikel/375473.fl%C3%BCchtlinge-in-griechenland-hass-statt-hilfe.html


+++FLUCHT
NZZ am Sonntag 29.03.2020

IKRK-Chef: «Wenn das Virus in Flüchtlingslagern nicht eingedämmt wird, verbreitet es sich überall»

Die Bekämpfung des Coronavirus werde in kriegsversehrten Gebieten extrem schwierig, sagt IKRK-Präsident Peter Maurer.

Gordana Mijuk

NZZ am Sonntag: Die Corona-Pandemie hat bisher vor allem reiche Länder stark betroffen, die die Krise einigermassen managen können. Was passiert aber in den Regionen, wo jetzt schon ein humanitärer Notstand herrscht?

Peter Maurer: Die Pandemie mag Europa und New York zum Stillstand gebracht haben. Doch Kriege und Gewalt kommen nicht zum Stillstand wegen Covid-19. In den 100 Ländern, in denen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz heute tätig ist, gehen die Probleme genau gleich weiter wie bis anhin. Unsere humanitären Aktivitäten werden nun auch erschwert durch die Restriktionen und Grenzschliessungen, welche Länder ergriffen haben, um ihre Bevölkerung zu schützen.

Erstaunt Sie der Ausbruch der Pandemie?

Nein. Wir konnten in den letzten Jahren beobachten, wie Krankheiten, die wir besiegt zu haben glaubten, wieder zurückgekehrt sind: Polio in Afghanistan etwa oder im Norden von Nigeria, Ebola in Westafrika und Kongo. Kriege und Gewaltereignisse schwächen das Gesundheitssystem, die Wasser- und Sanitätsinfrastruktur, den sozialen Zusammenhalt. Deshalb sind diese Länder besonders anfällig für Krankheiten.

In der syrischen Provinz Idlib herrscht bereits ein humanitärer Notstand. Drei Millionen Menschen sind dort im Kriegszustand, eine Million sind auf der Flucht. Was passiert, wenn sich dort Covid-19 ausbreitet?

Das ist eine äusserst schwierige Situation. Es kommt hinzu, dass humanitäre Organisationen nur einen sehr beschränkten Zugang haben. Dort sind wir im totalen Blindflug. Einen guten Zugang haben wir dagegen im Nordosten von Syrien. Wir sind im Al-Hol-Lager tätig, wo Angehörige von IS-Kämpfern sitzen, aber auch in anderen Lagern und Gefängnissen in Syrien. Es ist dort extrem schwierig, die einfachsten Präventions- und Vorsichtsmassnahmen umzusetzen.

Was tut das IKRK denn jetzt?

Unsere primären Bemühungen in Syrien, aber auch in Jemen, im Irak, in Somalia, im Südsudan oder in Nigeria sind es, das bereitzustellen, was derzeit essenziell ist bei der Bekämpfung dieser Pandemie. Wir prädisponieren Utensilien in Spitälern, Kliniken, Flüchtlingslagern. Wir haben aber auch versucht, unsere Projekte bei der Wasserversorgung zu beschleunigen. Wir forcieren die Ausbildung der Freiwilligen, die an der Front sind, und versuchen mit Gefängnis- und Lagerbehörden zusammenzuarbeiten, damit sie auf das Auftreten von Corona-Fällen vorbereitet sind. Es müssen zum Beispiel Isolationsräume geschaffen werden und Vorsichtsmassnahmen bei den Besucherregimes in Gefängnissen getroffen werden.

In den bisherigen Epizentren wurden Physical-Distancing- und Quarantäne-Massnahmen eingeführt. Wie soll das gehen in Syrien oder Jemen? Ich stelle mir das unmöglich vor.

Zwischen unmöglich und extrem schwierig gibt es eine feine Linie. Aber ich möchte nicht nur schwarzmalen. Die Fokussierung von vielen Ländern auf das Virus hat auch etwas Positives. Nun wird klar, weshalb in Gefängnissen humane Bedingungen essenziell sind. Nicht nur, weil die Gefangenen ein Recht auf humanitäre Behandlung haben, es ist im eigenen Interesse der Behörden.

Was meinen Sie damit?

Was ich auch Sicherheits- und Verteidigungsministern immer wieder sage, ist: Wenn ihr nicht menschenwürdige Rahmenbedingungen in euren Gefängnissen und Lagern herstellt, wird das auf euch und eure Gesellschaften zurückfallen. Man kann nicht das, was in Flüchtlingslagern und Gefängnissen passiert, vollkommen isolieren von dem, was ausserhalb passiert. Die Isolationsidee ist eine völlige Illusion. Eine desolate und explosive Situation in Gefangenenlagern, in Vertriebenen- oder Flüchtlingslagern wird überschwappen auf die lokale Bevölkerung. Das kann das IKRK aus Erfahrung sagen. Wenn das Virus in Gefängnissen und Lagern nicht eingedämmt wird, verbreitet es sich überall im Land. Vielleicht wird nun die Bereitschaft grösser, menschenwürdige Bedingungen zu schaffen.

Das gilt letztlich auch für die Flüchtlingslager auf Lesbos in Griechenland, wo ebenfalls unmenschliche Bedingungen herrschen.

Menschenwürdige Rahmenbedingungen in Flüchtlingslagern, Gefängnissen und Lagern für Binnenflüchtlinge werden entscheidend sein, um diese Pandemie einzudämmen und eine Katastrophe und weitere Ausbreitung zu verhindern. Das Virus kennt keine Grenzen und breitet sich weltweit aus. Es bedarf einer globalen Antwort und einer uneingeschränkten Solidarität der internationalen Gemeinschaft.

Kann das IKRK seine eigenen Leute schützen? Auch im Westen fehlt das Material teilweise.

Es ist eine Herausforderung. Wir haben das Grundlegende an Materialien und sind daran, mehr zu beschaffen. Die materiellen Aspekte sind aber klein im Vergleich zu den politischen und administrativen Hürden. Viele schwache Staaten, auch wenn sie noch nicht viele Fälle haben, ergreifen sehr restriktive Massnahmen, weil sie wissen, wie anfällig sie sind für dieses Virus.

Indien zum Beispiel?

Ja, und andere Länder auch. Damit wird die Tätigkeit der humanitären Organisationen eingeschränkt. Hier beisst sich die Katze in den Schwanz. Und es ist natürlich schwierig: Wir müssen verhindern, dass wir als Helfer diejenigen sind, die das Virus in die Länder bringen. Also muss man extreme Vorsichtsmassnahmen ergreifen. Auch wir müssen Risikoabwägungen treffen.

Andere Hilfsorganisationen sagen, dass wegen der Grenzschliessungen und Ausgangssperren bereits heute Hunderttausende Hilfsbedürftige nicht mehr erreicht werden können.

Ja, das stimmt. Allerdings bekommt das IKRK mehr Ausnahmebewilligungen, weil unsere Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung vor Ort oft mit den Regierungen zusammenarbeitet. Das IKRK ist in den 30 fragilsten Regionen dieser Welt zudem sehr gut präsent und vernetzt. Wir haben 300 Büros weltweit, wir sind in 384 Spitälern in 31 Ländern tätig, wo Krieg und Gewalt herrscht. Wir haben zudem 570 Gesundheitszentren in 28 Ländern. Wir haben ein Distributionssystem, das wir rasch mit Ressourcen füllen können. Das ist äusserst relevant. Wir haben bereits am Donnerstag zu Spenden in Höhe von 250 Millionen Franken aufgerufen, dies im Rahmen eines 800-Millionen-Appells für die ganze Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Das IKRK wird alles daransetzen, die verletzlichsten Menschen in Konflikt- und Gewaltsituationen nicht im Stich zu lassen.

Viele Staaten missbrauchen die Notlage zur Machterweiterung.

Demokratiepolitisch ist das natürlich ein Problem. In den Ländern, wo das IKRK stark engagiert ist, mitten in Krieg und Konflikt, gibt es ohnehin oft keinen grossen Freiraum bei der politischen Meinungsbildung. Für uns wird sich nichts Grundsätzliches in den Haupteinsatzgebieten ändern. Auf globaler Ebene, so glaube ich, wird kein Autoritarismus Einzug halten. Wir werden im Zusammenhang mit Covid-19 vermehrt eine Pluralität der Meinungen und Strategien erleben darüber, was der richtige Weg vorwärts ist. Vielleicht gibt das Virus Auftrieb für mehr gemeinschaftliche Lösungen.

Wenn ich an Idlib denke, fehlt mir die Hoffnung. Sehen Sie das anders?

Auch wenn eine Friedenslösung zwischen den Mächten wohl weit entfernt ist, versuchen wir im humanitären Bereich zu vermitteln. Etwa indem wir den Dialog zwischen türkischem und syrischem Rotem Halbmond aufrechterhalten. Im Kampf gegen Covid-19 oder bei den grossen Massen von Vertriebenen sind wir bemüht, einen minimalen humanitären Konsens zu schaffen.

Beunruhigend ist, dass Covid-19 den Nationalismus und Protektionismus in den Staaten verstärken und die internationale Solidarität schwächen könnte.

Nach vielen Gesprächen mit Aussenministern von Geberländern in den letzten Tagen bin ich optimistisch. Obwohl die nationalen Massnahmen gegen Covid-19 enorm teuer sind, wollen viele versuchen, humanitäre Hilfe für Konflikte weiterhin im Budget festzusetzen. Interessanterweise hat es im 2-Billionen-Paket in den USA auch eine substanzielle Summe für das Bureau of Population Refugees and Migration im Aussenministerium. Das ist die Stelle, die unter anderem das IKRK und das Flüchtlingshilfswerk der Uno finanziert. Also selbst in diesen protektionistischen Zeiten ist internationale Hilfe immer noch möglich.



Peter Maurer

Der 63-Jährige ist seit 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Zuvor war der Schweizer Diplomat Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei der Uno und danach Staatssekretär in der Politischen Direktion beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten.

Der 63-Jährige ist seit 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Zuvor war der Schweizer Diplomat Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei der Uno und danach Staatssekretär in der Politischen Direktion beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten.
(https://nzzas.nzz.ch/international/was-das-coronavirus-in-fluechtlingslagern-anstellt-ld.1549079)


+++GASSE
Für Randständige wird es eng: «Social Distancing» für Schlafsäcke
Daheim bleiben und Abstand halten – für Randständige und Drogensüchtige ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Nun müssen sie sich auf Zürichs Strassen neu organisieren.
https://www.blick.ch/news/schweiz/zuerich/fuer-randstaendige-wird-es-eng-social-distancing-fuer-schlafsaecke-id15819060.html



bernerzeitung.ch 29.03.2020

Folgen des Coronavirus: Sozialhilfebezüger trifft es hart

Treffpunkte und Lebensmittelabgabestellen sind in Burgdorf geschlossen: Viele Angebote für Sozialhilfebezüger haben den Betrieb eingestellt. Das stellt den Sozialdirektor der Stadt vor ganz neue Herausforderungen.

Regina Schneeberger

Für jene, die am Rande der Gesellschaft stehen, ist es besonders schwer, Tag für Tag zu Hause zu bleiben. Denn sie leben in bescheidenen Sozialwohnungen. Ein Zufluchtsort ist für die Burgdorfer Randständigen ihr Vereinslokal. Im vergangenen Jahr konnten sie dieses in der Garage neben der alten Butterzentrale einrichten.

Doch letzte Woche hat die Stadt das Lokal geschlossen. Aus demselben Grund, aus dem so viele Lokale schliessen mussten: eine Massnahme gegen die Verbreitung des Coronavirus. «Die Randständigen haben verständnisvoll reagiert», sagt Peter Leuenberger, Leiter der Sozialdirektion. Auf der Rampe vor der Butterzentrale könnten sie in Zweiergruppen und mit der nötigen Distanz aber weiterhin verweilen. «Die Rampe abzusperren, wäre kontraproduktiv», sagt Leuenberger. Denn sonst würden sie sich andernorts treffen. «So haben wir einen Ort, an dem wir sie ansprechen können.»

In diesen Zeiten einen Ansprechpartner zu haben, sei für die Randständigen wichtig, so Leuenberger. Die Mitarbeiter von der Suchthilfestiftung Contact sind nach wie vor zweimal in der Woche vor Ort, bieten Beratung an.

Doch nicht nur für die Randständigen, auch für andere Menschen, die Sozialhilfe beziehen würden, sei die Situation momentan besonders schwierig, sagt Leuenberger. «Jetzt sind sie noch mehr sozial isoliert.» Viele Menschen telefonieren nun mit Freunden und Angehörigen oder treffen sich über Skype zu einem Schwatz. «Sozialhilfebezüger haben aber oftmals nur beschränkte Kommunikationsmittel und beispielsweise kein WLAN.»
Keine kostenlosen Lebensmittel

Zudem fallen nun einige Angebote weg, die ihnen das Leben etwas leichter machten. Beispielsweise hat «Tischlein deck dich» den Betrieb eingestellt. Die Organisation gibt auch in Burgdorf gespendete Esswaren von Lebensmittelgeschäften kostenlos an Sozialhilfebezüger ab. «Tischlein deck dich nimmt den Schutz seiner Freiwilligen sowie seiner Kundinnen und Kunden sehr ernst. Auch wir sind in der Verantwortung, unsererseits einen Beitrag zu leisten, um dem Coronavirus möglichst eine geringe Angriffsfläche zu bieten und Gruppenbildungen zu vermeiden», schreibt die Organisation auf ihrer Website.

Zwar können die Lebensmittelkarten nun bei Caritas-Läden eingelöst werden. In Burgdorf gibt es allerdings kein solches Geschäft, das nächste befindet sich in Bern. «Dann müssen sie sich ein Zugbillett kaufen, das hält viele ab», ist sich Leuenberger bewusst.

Die Sozialdirektion biete Hilfe an, so gut sie könne, sagt Leuenberger. Telefonisch sind die Mitarbeitenden für Beratungsgespräche erreichbar, in Härtefällen können auch Termine vor Ort vereinbart werden. Das Angebot stösst derzeit auf besonders grosse Nachfrage. «Wir haben 30 Prozent mehr Anrufe.» Viele kommen von Selbstständigerwerbenden, die um ihre Existenz fürchten. Und von Sozialhilfebeziehenden, die ihre Auflagen nicht erfüllen können. «Sie können keine Bewerbungen schreiben, weil es in vielen Branchen schlichtweg keine Stellen gibt.» Deshalb gebe es von der Sozialdirektion Burgdorf derzeit keine Auflagen zur Anzahl Bewerbungen mehr, so Leuenberger.
(https://www.bernerzeitung.ch/sozialhilfebezueger-trifft-es-hart-499823517019)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Jetzt mehr denn je: Gegen die Abschottung Europas!
Eine Stadt in Europa in Zeiten der Corona-Gefahr: Der für ursprünglich 3 000 Menschen konzipierte Lebensraum ist in den vergangenen Jahren im Zuge der Flüchtlingskrise auf 20 000 Bewohner*innen angewachsen. Es wurden aber weder neuer Wohnraum geschaffen, noch die Infrastruktur erweitert. Die meisten Menschen leben in Zelten. Die Corona-Krise verschärft die unerträglichen Zustände. Die Behörden haben den Ort weitgehend von der Aussenwelt abgeriegelt, nur noch wenige dürfen raus. Die Wasserversorgung ist eingestellt, Händewaschen oder Duschen sind nicht mehr möglich. Die Trinkwasserversorgung ist auf ein Minimum beschränkt, die Lebensmittelversorgung auf 1000 Kalorien pro Mensch und Tag rationiert. Strom gibt es keinen, eine Müllentsorgungen ebenfalls nicht. Die medizinische Versorgung spottet jeglichen fachlichen Mindeststandards. Für 20 000 Menschen sind ein Arzt und drei Pflegefachpersonen vor Ort. Es gibt kaum Medikamente, ebenso kaum Atemschutzmasken, Schutzkleidung oder Beatmungsgeräte. Die ersten Corona-Infektionen sind bestätigt.
https://barrikade.info/article/3317


+++KNAST
Coronavirus im Knast – Wenn Gefängnisse zu tickenden Zeitbomben werden
Wegen der Corona-Krise gibt es weltweit Aufstände und Fluchtversuche von Häftlingen. Tausende sind bereits freigelassen worden. Auch die Schweiz trifft Massnahmen.
https://www.srf.ch/news/international/coronavirus-im-knast-wenn-gefaengnisse-zu-tickenden-zeitbomben-werden
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/coronavirus-auch-fuer-gefaengnisse-eine-herausforderung?id=3e4a9121-059c-4d21-bcc1-9716f833028d



bernerzeitung.ch 29.03.2020

Coronavirus im Gefängnis: In Witzwil haben sich vier Sicherheitsleute infiziert

Insassen der Strafvollzugsanstalt Witzwil sind besorgt: Vier Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes wurden positiv auf das Coronavirus getestet. Das Gefängnis hat auf Minimalbetrieb umgestellt.

Marius Aschwanden

Noch vor einer Woche sagte Oliver Aebischer, dass die Stimmung in den Berner Justizvollzugsanstalten gut sei. Und dies, obschon der Ausgang und die Ferien der Insassen wegen des Coronavirus gestrichen worden sind und auch keine Besucher mehr in die Gefängnisse reinkommen. Die Massnahmen seien auf grosses Verständnis gestossen, so der Leiter Kommunikation beim Amt für Justizvollzug. Schliesslich wollen auch die Insassen eine Ausbreitung des Virus möglichst verhindern.

In Witzwil haben sich nun aber trotz dieser Vorkehrungen vier Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes infiziert, wie ein Schreiben des Direktors Hans-Rudolf Schwarz zeigt, das dieser Zeitung vorliegt. Die Betroffenen befinden sich demnach nicht mehr im Dienst, und alle Sicherheitsleute würden ab sofort Gesichtsmasken tragen, teilt Schwarz den Gefangenen mit. Verletzliche Insassen, also solche über 65 Jahre oder mit Vorerkrankungen, sollen zudem «möglichst» auf ihrer Zelle bleiben und jegliche Kontakte zu Mithäftlingen vermeiden.

Manche Insassen geben sich mit diesen Massnahmen aber nicht zufrieden. Eine Person kritisiert in einem Mail an diese Zeitung, dass ungeachtet der Tatsache, dass das Virus nun in Witzwil angekommen sei, keine Tests bei den Gefangenen durchgeführt würden. Und dies, obschon manche über Krankheitssymptome klagen würden. Viele Insassen befürchteten, sich nun ebenfalls mit der Lungenkrankheit angesteckt zu haben.

Minimalbetrieb ab Montag

Hans-Rudolf Schwarz bestätigt auf Anfrage die Situation in Witzwil. Zwei Sicherheitsdienstmitarbeitende seien am letzten Mittwoch positiv auf Corona getestet worden. Sie seien aber das letzte Mal am Freitag, 20. März, an der Arbeit gewesen und hätten die Symptome in ihrer Freizeit entwickelt. Zwei weitere Sicherheitsleute hätten am Dienstag über Grippeanzeichen geklagt, auch sie seien nicht im Dienst erschienen und anschliessend positiv getestet worden.

Nachdem die Fälle bekannt geworden sind, habe man umgehend die Insassen informiert. «Neben der Einhaltung der üblichen Hygienemassnahmen sollen sie sich jetzt noch vermehrt in ihre Zellen zurückziehen.» Doch diese Empfehlung gelte schon seit drei Wochen. Zudem wurde am Freitag die nächste Stufe des Krisenmanagements eingeleitet, dies in Einklang mit dem Kantonsarztamt, so Schwarz. Konkret heisst das: Minimalbetrieb.

Ab Montagmorgen bleibe ein Teil der Mitarbeitenden zu Hause, damit die Kontakte weiter minimiert würden. «Wir konzentrieren uns nur noch darauf, die Gefangenen zu betreuen, die Tiere im grössten Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz zu versorgen und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten», so Schwarz.

Im Sicherheitsbereich seien alle Räume desinfiziert worden. Zudem dürfen die Sicherheitsleute nicht mehr zu den besonders gefährdeten Gefangenen gehen. «Diese werden nun von anderen Mitarbeitenden betreut, die keinen Kontakt zu den angesteckten Personen hatten.»

Bisher seien glücklicherweise weder bei den Angestellten noch bei den Insassen weitere Corona-Fälle aufgetreten. «Jetzt heisst es Holz anfassen», sagt Schwarz.

Haftunterbruch für Kranke

Bereits bevor sich die vier Mitarbeiter mit dem Virus infiziert haben, hat Witzwil reagiert. So hätte etwa nur noch die Hälfte der Gefangenen gearbeitet, um das Abstandsgebot einhalten zu können. Zudem wurden letzte Woche 13 Insassen entlassen. «Sie haben einen Haftunterbruch erhalten», sagt Schwarz. Dies, weil sie besonders verletzlich seien und keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellten.

«Es sind Personen über 65 Jahre oder Gefangene mit Vorerkrankungen.» Leute, die wegen Betrugs oder eines Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz eine Strafe absitzen. Sie alle würden über ein soziales Umfeld verfügen, in dem sie besser geschützt seien. Noch immer sind in Witzwil aber Personen, die ebenfalls als besonders verletzlich gelten. «Für sie kommt ein Haftunterbruch nicht infrage, weil sie sonst einfach auf der Strasse landen würden oder die Gefahr von neuen Straftaten besteht.» Diese Insassen seien aber in einem speziellen Setting sowie von der Arbeitspflicht befreit und dazu verpflichtet, möglichst in der Zelle zu bleiben.

Zum Vorwurf, dass trotz Krankheitssymptomen die Gefangenen nicht auf Corona getestet werden, sagt Schwarz: «Wer getestet wird, entscheidet der Arzt gemäss den Weisungen des Bundesamts für Gesundheit.» Das Amt für Justizvollzug verfüge nach eigenen Angaben seit Mitte Februar zudem über eine genügende Anzahl von Tests und könne diese jederzeit über das Institut für Infektionskrankheiten an der Uni Bern auswerten lassen. Die Ergebnisse lägen rasch vor. «Es sind schon mehrere Tests durchgeführt worden», sagt Schwarz.



Keine weiteren Fälle

Die vier bestätigten Coronafälle in der Strafvollzugsanstalt Witzwil bleiben vorerst die einzigen neuen. Gemäss Oliver Aebischer, Leiter Kommunikation beim Amt für Justizvollzug, seien weder beim Personal noch bei den Insassen in den Berner Gefängnissen weitere Erkrankungen aufgetreten.

Bereits bekannt ist, dass sich eine Frau in einer Wohngruppe in Hindelbank angesteckt hat. Anschliessend mussten verschiedene Mitinsassinnen in die Quarantäne. «Bis heute ergaben sich daraus aber keine weiteren Ansteckungen», sagt Aebischer. (mab)
(https://www.bernerzeitung.ch/in-witzwil-haben-sich-vier-sicherheitsleute-infiziert-947013696011)


+++BIG BROTHER
Ortung von Infizierten: Hilft das Handy im Kampf gegen Corona?
Können Bewegungsdaten wirklich helfen, das Coronavirus einzudämmen? Einige Staaten nutzen bereits die Handy-Ortung, um über den Kontakt mit Infizierten zu informieren. Doch funktioniert das wirklich? Und ist es überhaupt nötig?
https://www.tagesschau.de/inland/handy-coronavirus-101.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Xavier Naidoo meldet sich erstmals zu Wort: “Ich habe mir die Reichweite von RTL zunutze gemacht”
Er hatte alles so geplant für die maximale Aufmerksamkeit. In einem Video nimmt Xavier Naidoo Stellung zum Rauswurf von RTL. In eigenen Worten leugnet Naidoo den Klimawandel und stützt sich einmal mehr auf Verschwörungstheorien der Reichsbürger.
https://www.dwdl.de/nachrichten/76970/ich_habe_mir_die_reichweite_von_rtl_zunutze_gemacht/
-> https://www.blick.ch/people-tv/tv/dsds/nach-rassistischem-hetz-video-xavier-naidoo-spricht-ueber-seinen-dsds-rauswurf-id15819809.html


+++WORLD OF CORONA
Besetzen in Zeiten von Corona
In Berlin werden zehn Wohnungen für Obdachlose besetzt und die Aktion live übertragen
In Corona-Zeiten werden nicht nur Konzerte und Vorträge gestreamt, sondern auch Besetzungen: Am Samstag konnten Interessierte live erleben, wie zehn Wohnungen für Obdachlose besetzt wurden.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1134866.besetzung-besetzen-in-zeiten-von-corona.html
-> https://taz.de/Archiv-Suche/!5673329&s=besetzen&SuchRahmen=Print/


Polizei-Chef lobt Schweizer: «Die Strassen sind viel leerer geworden»
Der oberste Polizist ist zufrieden mit dem Verhalten der Bürger. Dennoch gehe seinen Mitarbeitern die Arbeit nicht aus, sagt Stefan Blättler von der Kapo Bern.
https://www.blick.ch/news/politik/polizei-chef-lobt-schweizer-die-strassen-sind-viel-leerer-geworden-id15819202.html


Vertraulicher Lagebericht: Stadt Zürich rechnet mit Lockdown bis Ende Sommer
Schutz & Rettung Zürich prognostiziert, dass die Corona-Krise länger dauert als erwartet. Und dass die Massnahmen weiter verschärft werden müssen.
https://www.blick.ch/news/schweiz/vertraulicher-lagebericht-stadt-zuerich-rechnet-mit-lockdown-bis-ende-sommer-id15819092.html
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/coronavirus-wie-lange-noch-und-wie-viele-tote?id=6f7e6014-069e-493b-9e9c-126a790ee814



NZZ am Sonntag 29.03.2020

Bundesrat: Längeres Notregime ist absehbar

Der Corona-Ausnahmezustand dürfte über den 19. April hinaus andauern – das deutet der Bundesrat gegenüber den Parteien an.

Daniel Friedli, Andrea Kučera

Zwei Wochen sind seit der Ausrufung des Ausnahmezustands vergangen – und bereits macht sich Ungeduld bemerkbar: Vor allem im bürgerlichen Lager wird eine möglichst rasche Rückkehr zur Normalität gefordert, und Ökonomen der Universität Zürich rechnen vor, dass jede zusätzliche Lockdown-Woche die Wirtschaft 4 Milliarden Franken koste.

Der Arzt und Unternehmer Stephan Rietiker skizzierte derweil im «Tages-Anzeiger» bereits eine Exit-Strategie in zwei Wellen: Noch im April sollen unter 40-Jährige zurück ins Büro, Schulen und Läden seien wieder zu öffnen. Ende April oder Anfang Mai würden dann auch die über 40-Jährigen wieder normal arbeiten, und Restaurants sowie Museen könnten den Betrieb wieder aufnehmen.

Solchen Wunschszenarien erteilt der Bundesrat aber eine Absage: An einem Spitzentreffen von Donnerstag liess eine Delegation der Landesregierung gegenüber den Partei- und Fraktionschefs durchblicken, dass eine sofortige Rückkehr zur Normalität nach dem 19. April illusorisch sei. Dieses provisorische Enddatum nannte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, als sie Mitte März die ausserordentliche Lage ausrief, um die rasche Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
«Noch nicht in der Hälfte»

Im Gespräch mit den Parteispitzen erklärten die Bundesräte dem Vernehmen nach, dass man die weitere Entwicklung der Pandemie noch zu wenig abschätzen könne, um bereits konkrete Ausstiegsschritte ins Auge zu fassen. Offenbar erwartet der Bund den Höchststand der Erkrankungen zurzeit für Mitte April. Und mehrere Teilnehmer berichten übereinstimmend, es sei klargeworden, dass nach dem 19. April höchstens eine schrittweise Lockerung anvisiert werden könne.

In dieses Bild passen die Durchhalteparolen von Gesundheitsminister Alain Berset. Die Bevölkerung habe sich bis jetzt gut an die Regeln gehalten, sagte er am Freitag. Es sei aber Ausdauer gefragt, er zähle weiterhin auf das Mitmachen aller, auch wenn nun der Frühling nahe: «Ich weiss nicht, wie weit wir schon sind. Aber sicher noch nicht in der Hälfte.»

Unter den Politikern wird die Nachricht, dass das Notregime wohl auch über den 19. April hinaus gelten wird, gelassen aufgenommen. Man habe damit gerechnet, lautet der Tenor. Und doch beschäftigen sich auch die Parteien mit der Frage, wann und wie das Land dereinst wieder zurück zur Normalität finden soll. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi gehört dabei zu jenen, die für eine möglichst rasche, schrittweise Rücknahme der Massnahmen plädieren.

«Der Lockdown fordert einen zunehmend hohen Tribut», sagt er. «Tausende von KMU werden Konkurs anmelden müssen.» Um den Schaden zu minimieren, sollten seiner Meinung nach die Jungen zur Arbeit gehen, sobald die Neuinfektionen signifikant zurückgehen. Zu begleiten sei diese Öffnung durch strenge Hygienemassnahmen, etwa das Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit. Aeschi gibt zu bedenken: «Der Lockdown gibt uns zwar Zeit. Aber er verschiebt das Problem nur nach hinten, denn das Virus wird bleiben.»

Auch FDP-Fraktionschef Beat Walti findet, man solle der Bevölkerung frühzeitig Silberstreifen am Horizont aufzeigen. «Die ersten Lockerungen sollten schrittweise erfolgen, sobald der Peak der Neuansteckungen erreicht und sofern der Schutz der Risikogruppen gewährleistet ist», sagt er. Schliesslich hätten alle ein Interesse daran, dass die Volkswirtschaft rasch wieder voll funktioniere.

Zurückhaltender äussern sich Politiker aus dem Mitte-Links-Lager. Wann und wie man die Massnahmen lockere, sei ein Entscheid der bundesrätlichen Krisenführung und nicht des Parlaments, findet Grünen-Präsidentin Regula Rytz. Auch CVP-Chef Gerhard Pfister sagt: «Das ist nicht unsere Kompetenz.» SP-Fraktionschef Roger Nordmann gibt zu bedenken, dass selbst ein Rückgang der Ansteckungen noch mehrere Interpretationen offenlasse.

«Entweder die Massnahmen waren so erfolgreich, dass man das Virus innert Kürze zurückdrängen konnte. Das bedeutet aber, dass nur wenige immun sind, so dass eine zweite Welle droht.» Oder aber die Ansteckungen gingen zurück, weil immer mehr Leute immun seien. Je nachdem müsse man anders aussteigen. Nordmann wünscht sich daher grossflächige Immunitätstests, bevor über Exit-Strategien nachgedacht wird.
Appell zur Zurückhaltung

Grundsätzlich hätten es die Parlamentarier in der Hand, den Lockdown von sich aus zu beenden: Ab dem 4. Mai treffen sich National- und Ständeräte in Bern zur ausserordentlichen Corona-Session. Sie haben dabei die gleichen Kompetenzen wie der Bundesrat, können eigene Notverordnungen erlassen und so den Bundesrat übersteuern.

Die Fraktionschefs der Bundesratsparteien rufen nun aber zur Zurückhaltung auf. «Mitten in der Krise ist nicht der Zeitpunkt für parlamentarischen Aktivismus», sagt FDP-Fraktionschef Walti. CVP-Kollegin Andrea Gmür stimmt dem zu: «Das Parlament soll sich im Wesentlichen darauf konzentrieren, die Notkredite zu debattieren.»

SVP-Fraktionschef Aeschi findet, der Bundesrat trage nun die Verantwortung. Man solle möglichst wenig ins Krisenmanagement eingreifen. «Es ist ein No-Go, die Strategie des Bundesrats zu sabotieren», sagt auch SP-Fraktionspräsident Nordmann. Er sagt aber auch, bis im Mai sollte es möglich sein, eine Diskussion über die Zeit danach zu beginnen. So fordert die SP etwa ein Programm zur Ankurbelung der Wirtschaft.

Wenig Gehör für diesen Appell zeigt Grünen-Präsidentin Rytz: «Nur um die Massnahmen des Bundesrats abzunicken, müssen wir nicht tagen», sagt sie. Das Parlament solle seine Rechte wahrnehmen und Verbesserungen für Kleinunternehmer und Selbständige beschliessen. Und es soll Schritte einleiten, um die Wirtschaft mittelfristig nachhaltiger zu gestalten. «Dank Home-Office und Digitalisierung hat sich zum Beispiel der Verkehr nun stark reduziert – möglichst viel dieses Effekts sollten wir in die Zeit danach überführen.»
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/notregime-bundesrat-deutet-verlaengerung-an-ld.1549074)



Sonntagszeitung 29.03.2020

Streit um das Ende des Lockdown

Die SVP will Geschäfte ab Mitte April bereits wieder öffnen. Auch andere fordern Ausstiegspläne, hüten sich aber, ein Datum zu nennen.

Mischa Aebi, Denis von Burg, Arthur Rutishauser

Seit zwei Wochen ist die Schweiz im Lockdown. Die Frage drängt: Wann kommt das Ende der Ausnahmesituation? Beim Bund gibt man sich bedeckt. Zu unübersichtlich sei die Lage noch. Immerhin bestätigt Daniel Dauwalder, Sprecher des Bundesamts für ­Gesundheit, jetzt: «Wir sind daran, Strategien für die Zeit nach dem Peak der Krankheit auszuarbeiten.»

Mehr wollen die Bundesbehörden nicht sagen. Man schweigt lieber – aus Angst vor einer öffentlichen Debatte über einen Corona-Exit. Denn man befürchtet, dass die Leute die Vorsichtsregeln besonders über die bevorstehenden Ostertage sonst wieder fallen ­lassen. Das könnte dazu führen, dass sich das gefährliche Virus in der Schweiz wieder schneller verbreitet.

Lange lässt sich die Debatte aber nicht mehr verhindern. Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik verlangen eine Taskforce, die einen Plan für die Rückkehr in die Normalität ausarbeitet: «Es braucht jetzt eine breit aufgestellte Gruppe aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung, die mögliche Wege einer raschen Rückkehr zur Normalität risikogewichtet aufzeigt», sagt SVP-Ständerat Hannes Germann. Gleiches fordern die Aargauer CVP-Nationalrätin ­Marianne Binder und der Grüne Nationalrat Bastien Girod. Auch Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbandes, sagt: «Unter der Führung des Bundesrats sollte man in Kürze beginnen, einen Plan für die Rückkehr zur Normalität auszuarbeiten.»
SVP will schon in drei Wochen wieder hochfahren

Damit ist es aber schon vorbei mit der Einigkeit. Harte Gefechte über die Geschwindigkeit des Ausstiegs zeichnen sich ab. Die SVP fordert nun offen, dass Läden und Betriebe ihre Jalousien schon sehr bald wieder hochziehen dürfen: «Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Wirtschaft ab dem 19. April möglichst schnell wieder in die Gänge kommt», sagt SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Bis zum 19. April gelten die bundesrätlichen Lockdown-Anordnungen vorerst. «Ab diesem Tag» sollten laut Aeschi «alle Geschäfte wie Coiffeure, Gärtnereien, Metzgereien, Elektronikartikel- und Do-it-yourself-Läden, aber auch etwa Zahnarztpraxen tröpfchenweise wieder geöffnet werden.»

Ein solcher Fahrplan ist laut dem SVP-Fraktionschef aus gesundheitlicher Sicht verantwortbar, wenn «ältere und verletzliche Menschen konsequent geschützt» werden. Das sei möglich, indem alle, die mit älteren Menschen in Kontakt kommen, eine Maske tragen. «Der Bund muss jetzt endlich dafür sorgen, dass es genügend Masken gibt.» Und es brauche viel mehr Tests, damit die Kranken schneller isoliert werden könnten, sagt Aeschi.

Für die meisten anderen ist der 19. April als Tag null des Ausstiegs aber keineswegs gesetzt. Viele warnen sogar vor einem Express-Fahrplan, wie ihn die SVP propagiert. Der Grüne Girod fordert zwar wie die SVP «systematische Tests und Masken für die Übergangszeit». Doch er hält nichts von über­stürztem Vorgehen: «Bedingung ist, dass man die Entwicklung der Epidemie und die Spitalkapazität im Griff hat.» Selbst Arbeitgeberpräsident Vogt dämpft die Erwartungen: «Man kann nicht sofort wieder alles hochfahren, das muss schrittweise geschehen.» Laut Vogt müssen jetzt «Szenarien erarbeitet werden, wie die Schweiz, nach überwundener Krise, wieder in einen Normalzustand zurückgeführt werden kann».
Streit um Mitsprache beim Fahrplan

Auch der oberste Gewerkschaftschef Pierre-Yves Maillard verlangt ein behutsames Vorgehen: «Erst wenn man weiss, wer die Krankheit schon gehabt hat – sind es zwei oder schon 20 Prozent? –, kann der Bund einen Plan ausarbeiten, wie wir zurück zur normalen Produktion kommen», sagt er.

Noch härter sind die Fronten bei der Frage, wer den Fahrplan zum Hochfahren der Wirtschaft mitgestalten darf. SVP-Fraktionschef Aeschi fordert: «Es braucht eine nationale Taskforce, die entscheidet, wie der Weg zurück in die Normalität geregelt wird. In der Taskforce müssen die Sozialpartner, Wissenschafter, aber sicher auch die Wirtschaft vertreten sein.»

SP-Präsident Christian Levrat widerspricht Aeschi heftigst: «Es sind die Experten für öffentliche Gesundheit, die zu sagen haben, wann wir in der Lage sein werden, die normale wirtschaftliche Tätigkeit wieder aufzunehmen, ohne die Arbeitnehmer zu gefährden.» Politiker, die diese Kompetenz für sich selber beanspruchen, seien «gefährliche Scharlatane», sagt der SP-Präsident.

Wie Levrat sieht es auch Jürg Grossen, Präsident der Grünliberalen: «Ich bin selber Unternehmer. Ich würde die Wirtschaft ja sehr gerne schrittweise möglichst schnell wieder hochfahren.» Doch den Zeitpunkt und die einzelnen Schritte müsse man «der Wissenschaft überlassen».
Geheimgespräche über Milliarden für Swiss und Flughafen Zürich

Derweil gibt es einen Run auf die Hilfskredite des Bundes. «Bis Freitagabend wurden Kredite von rund 4 Milliarden Franken vergeben», sagt Peter Minder, Sprecher des Finanzdepartements. Dabei handelt es sich um die garantierten Überbrückungskredite für kleine Firmen, die grossen kommen erst noch. Zu den ganz grossen gehören die Swiss, der Flughafen Zürich und die flugnahen Betriebe. Am Freitag fanden erste Geheimgespräche über eine Staatshilfe statt. Es geht dabei um Milliarden.
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/streit-um-das-ende-des-lockdown/story/15593463)



Corona-Pandemie: Weniger gefährlich als die Grippe?
Seit Tagen sorgen Aussagen für Aufsehen, wonach das neuartige Coronavirus weniger gefährlich sei als die Grippe. Als vermeintlicher Beleg dient eine Zahl von 25.000 Grippetoten. Doch der Vergleich hinkt.
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-grippevergleich-101.html



tagesanzeiger.ch 29.03.2020

Arbeitsrecht und Corona: Als Risikopatient zum Arbeiten gezwungen

Eine kleine Änderung in der Corona-Verordnung des Bundesrats hat grosse Konsequenzen für Risikopatienten. Sie können nun wieder zum Arbeiten gezwungen werden. «Diese Leute stehen Todesängste aus», warnt die Gewerkschaft.

Philipp Loser

Wäre es eine Art staatspolitisches Experiment, ein Test, wir würden alle staunen. Wohl noch nie in der Geschichte des Schweizer Bundesstaats hat die Verwaltung in Bundesbern in einer solchen Kadenz Verordnungen erlassen, angepasst, neu geschrieben, korrigiert. Die Trägheit des Systems: weggeblasen.

Es ist aber kein Experiment, es ist kein Test. Die Verordnungen des Bundesrats sind real, und sie haben reale Konsequenzen. Am 16. März, als die Landesregierung den Lockdown der Schweiz verkündete, veröffentlichte sie gleichzeitig die angepasste «Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus». Unter Artikel 10c, bei dem es um den Schutz von besonders gefährdeten Personen geht, hiess es damals: «Besonders gefährdete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erledigen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten von zu Hause aus. Ist dies nicht möglich, so werden sie vom Arbeitgeber unter Lohnfortzahlung beurlaubt.»

Eine klare Ansage. Wer Vorerkrankungen hat, wer über 65 Jahre alt ist, wer zur «Risikogruppe» gehört, der bleibt zu Hause. Und wenn man von zu Hause seine Pflichten nicht erfüllen kann, dann bekommt man trotzdem den Lohn.

Plötzlich alles anders

Vier Tage lang war das gültig. Bis zum Freitag in der gleichen Woche, bis zur nächsten Änderung der «Verordnung 2». Unter dem Artikel 10c war nun ein neuer Abschnitt zu finden. Und der drehte die ganze Sache um. Falls die Arbeit «aufgrund der Art der Tätigkeit oder mangels realisierbarer Massnahmen» nur am üblichen Arbeitsort erbracht werden könne, hiess es da, so seien die Arbeitgeber verpflichtet, mit geeigneten Massnahmen die Empfehlungen des Bundes betreffend Hygiene und sozialer Distanz sicherzustellen.

In den Erläuterungen zur Verordnung 2 (auch die gibt es), heisst es erklärend dazu, dass dafür beispielsweise Plexiglasscheiben zum Schutz des Kassenpersonals aufgestellt werden könnten, dass man den Mitarbeitenden Desinfektionsmittel zur Verfügung stelle oder sie ins Backoffice versetze.

Eine klare Ansage. Wer Vorerkrankungen hat, über 65 Jahre alt ist, wer zur «Risikogruppe» gehört, der muss nun trotzdem arbeiten.

«Total widersprüchlich»

Für die Gewerkschaften: inazkeptabel. «Diese Leute stehen Todesängste aus», sagt Luca Cirigliano, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Er hat in der vergangenen Woche mit vielen Menschen telefoniert, die zur Risikogruppe gehören und nun völlig verunsichert sind. Mit Menschen, die von ihrem Arbeitgeber nun wieder an den Arbeitsplatz gerufen werden. «Der Bundesrat sendet einerseits eine klare Botschaft aus: Bleibt zu Hause. Andererseits beharren viele Arbeitgeber darauf, dass auch Leute mit einer Vorerkrankung an den Arbeitsplatz kommen. Das ist völlig widersprüchlich.»

Der Gewerkschafter hat in der vergangenen Woche mehrere Beispiele gesammelt, bei denen Arbeitgeber den gelockerten Arbeitsschutz für besonders gefährdete Personen ausnutzen – zum Schaden des betroffenen Arbeitnehmers. Eine Liste dieser Beispiele hat der SGB dem Bundesrat zugestellt.

Auf dieser Liste – unter vielen anderen:

– Ein Privatbanker mit Diabetes und einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, der nicht von zu Hause arbeiten darf – weil Datenschutz und Bankgeheimnis im Homeoffice nicht eingehalten werden könnten. Die Bank stellt dem Mitarbeiter am Arbeitsplatz Seife zur Verfügung – weitere Schutzmassnahmen gibt es nicht.
– Eine Angestellte einer Grossbäckerei, sie hat Diabetes und Bluthochdruck, wird wieder zur Arbeit gerufen. Sie solle jetzt häufiger die Hände waschen, sagt ihr der Arbeitgeber.
– Eine Malerin, die ärztlich attestiert zu einer Risikogruppe gehört, war bis am Freitag vor einer Woche von der Arbeit befreit. Nach der Änderung der Verordnung muss sie wieder arbeiten gehen. Der Arbeitgeber halte die Regeln des Social Distancing für sie ein. Doch sie muss mit dem öffentlichen Verkehr zur Arbeitsstelle fahren, was bei ihr existenzielle Ängste auslöse.

«Die Unsicherheit ist gross. Der Bundesrat fordert von den Arbeitgebern, dass sie die Risikopersonen gleich schützen, wie wenn diese zu Hause geblieben wären. Niemand kann das garantieren», sagt Pierre-Yves Maillard, der Präsident des SGB. «Der Bundesrat arbeitet unter unglaublichem Druck. Dass hier Fehler geschehen, ist nur menschlich. Man muss sie einfach wieder korrigieren.» Der SGB verlangt eine Rückkehr zur ersten Verordnung, eine Streichung des neuen Absatzes. «Dieser neue Artikel ist nicht im Sinne der generellen Pflicht der Behörden, Leib und Leben der Menschen in der Schweiz zu schützen», heisst es dazu im Brief an den Bundesrat.

Es gehe eben nicht nur um die Risikopatienten, sagt Maillard, es gehe auch um deren Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz, die bei einer Rückkehr von Risikopatienten unter dem Stress stünden, diese unbeabsichtigt anzustecken. «Ein generalisiertes Gefühl der Angst am Arbeitsplatz macht sich so breit», heisst es im Brief des SGB. «Dies ist für die gesamte Wirtschaft schlecht.»

Doch warum hat der Bundesrat die Bedingungen für besonders gefährdete Personen überhaupt verschärft? Hintergrund waren Befürchtungen, dass besonders geforderte und versorgungsrelevante Branchen – das Gesundheitswesen etwa oder der Lebensmittelhandel – im Verlauf der Krise in echte Nöte geraten könnten und darum jede verfügbare Mitarbeiterin, jeden verfügbaren Mitarbeiter brauchen würden.

Der Schweizerische Arbeitgeberverband begrüsst die Verschärfung des Bundesrates im Grundsatz, wie Geschäftsleitungsmitglied Daniella Lützelschwab sagt. «Wir waren froh, als wir vom Bundesrat klare Aussagen zur Arbeitstätigkeit von besonders gefährdeten Personen erhielten.» Einfach alle nach Hause zu schicken und nicht mehr arbeiten zu lassen, sei eben auch problematisch, sagt Lützelschwab. Aber: «Wenn solche Personen an den Arbeitsplatz zurückkehren, darf das nicht leichtfertig geschehen.»

Fürsorgepflicht ernst nehmen

Arbeitgeber müssten die besondere Fürsorgepflicht ernst nehmen und die Arbeitsplätze entsprechend ausrüsten. Lützelschwab nennt als Beispiel die Plexiglasscheiben in Coop und Migros oder die Möglichkeit, gefährdete Arbeitnehmer im Backoffice zu beschäftigen.

Man habe nichts gegen Präzisierungen oder Verbesserungen im entsprechenden Artikel der Verordnung. Eine Streichung sei allerdings problematisch. «Wenn man das Ganze nun wieder auf den Kopf stellt, dann führt das zu erneuter Unsicherheit.»

Voraussichtlich am Mittwoch wird der Bundesrat das Thema noch einmal beraten. Und dann entscheiden, welche Unsicherheit im Moment höher zu gewichten ist.
(https://www.tagesanzeiger.ch/als-risikopatient-zum-arbeiten-gezwungen-514817865581)


++++HISTORY
Ingrid Strobl über Knast und Klasse: „Ich wusste, wofür der Wecker war“
Als Terrorverdächtige saß die Autorin Ingrid Strobl Ende er 80er zweieinhalb Jahre in Isolationshaft. Nun hat sie ein Buch über die Zeit geschrieben.
https://taz.de/Ingrid-Strobl-ueber-Knast-und-Klasse/!5671159/