Medienspiegel 1. März 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Zwei Frauen, zwei Leben, ein Zufall
103 Menschen, davon 28 Kinder und Jugendliche, müssen demnächst das Berner Oberland verlassen. So will es das neue Asylgesetz. Über ein Schicksal unter vielen.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/179924/


+++DEUTSCHLAND
Städte bieten Zuflucht für Flüchtlinge an
Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) hat nach einem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos die Bundesregierung zum sofortigen Handeln aufgefordert.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133632.lesbos-staedte-bieten-zuflucht-fuer-fluechtlinge-an.html


+++GRIECHENLAND
Nach Grenzöffnung der Türkei: Griechenland setzt Asylrecht für einen Monat aus
Der Lage an der griechisch-türkischen Grenze spitzt sich weiter zu: Nun kündigte der griechische Ministerpräsident an, dass sein Land für einen Monat keine neuen Anträge auf Asyl annehmen werde.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-griechenland-setzt-asylrecht-fuer-einen-monat-aus-a-14421c7e-80da-43d7-976c-9d00cae92127
-> https://ffm-online.org/eu-staat-griechenland-suspendiert-grundrecht-auf-asyl/


Flüchtlinge auf Lesbos: „Da braut sich ein Pogrom zusammen“
Der Videojournalist Michael Trammer wird auf Lesbos von Rechtsradikalen angegriffen. „Die Situation erinnert an Rostock-Lichtenhagen“, sagt er.
https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlinge-auf-lesbos-da-braut-sich-ein-pogrom-zusammen/25599234.html
-> https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/lesbos-rechtsextreme-setzen-fluechtlingsheim-in-brand-69144404.bild.html


Geflüchtete an EU-Außengrenze: „Ich schäme mich für Europa“
Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt ist auf der griechischen Insel Lesbos, wo Geflüchtete ankommen. Er schildert dramatische Szenen.
https://taz.de/Gefluechtete-an-EU-Aussengrenze/!5668063/


Samos: Die Angst vor den Flüchtlingen
Die raue See vor den nordöstlichen Ägäisinseln verhinderte zunächst die Ankunft vieler Flüchtlinge, die nach der Grenzöffnung durch die Türkei erwartet wurden. Zumindest im Moment. Auf Samos, wo man bereits mehr als 8.000 Migranten beherbergt, bereitet man sich auf das Schlimmste vor und bittet Europa um Hilfe:
https://de.euronews.com/2020/02/29/samos-die-angst-vor-den-fluchtlingen


FRONTEX, No Rescue: Situation an Evros und Ägäis
https://ffm-online.org/situation-an-evros-und-aegaeis/



zeit.de 23.02.2020

Lesbos: Im Flüchtlingslager auf Lesbos grassiert eine sonderbare Krankheit

Augenscheinlich gesunde Kinder verfallen plötzlich in totale Apathie. Hilfe ist nicht in Sicht.

Von Silke Weber

Wenn die Kinder in Europa ankommen, sind die allermeisten noch gesund. Sie kennen Krieg und Gewalt, aber für manche fängt erst hier, im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, die Leidensgeschichte an. Erst hier befällt sie die seltsame Krankheit.

Die siebenjährige Nazanin lächelt überhaupt nicht mehr. Sie malt auch nicht mehr, spricht nicht mehr, und das Essen hat sie fast aufgegeben. Nazanin hockt auf dem Boden der dunklen Hütte, ein Bett gibt es nicht, und starrt ins Leere. Es ist, als würde sie durch uns hindurchgucken, sagt die Mutter. Das Mädchen ist deutlich dünner und kleiner als seine ein Jahr ältere Schwester. Yazemin lacht und zeigt auf zwei rosa Häschen, die sie in ihren Zeichenblock gemalt hat. Das letzte Bild von Nazanin ist mehrere Wochen alt: Es zeigt ein schwarzes Boot auf Wellen. Seit etwa 20 Tagen verlässt Nazanin die Hütte kaum noch, so ihre Mutter. Als lasse das Mädchen sein Leben einfach an sich vorbeiziehen.

Im Lager in Moria wohnt Nazanins Familie direkt gegenüber der Essensausgabe, genauer gesagt der für Männer. Nazanins Vater hat für die Familie eine Behausung aus Europaletten gezimmert, zwölf Paletten à fünf Euro plus eine Plane à 40 Euro.

Rings um das Flüchtlingslager zieht die Zelt- und Hüttenstadt sich hoch in die Olivenhaine. Planenfetzen und Stromkabel hängen zwischen den Bäumen wie Lianen, weswegen der Ort von vielen Dschungel genannt wird. Vielleicht auch, weil im Dschungel andere Gesetze gelten. An den Leinen trocknet Kinderwäsche. Kinder spielen neben Müllbergen und wärmen sich an brennendem Plastik. Für 3000 Menschen war das Lager angelegt, über 20.000 Menschen leben hier jetzt. 35 Prozent von ihnen sind Kinder.

Unter ihnen leiden manche an unerklärlichen Symptomen. Augenscheinlich gesunde Kinder verfallen in Apathie. Mediziner erkennen ein bestimmtes Krankheitsbild, wenn Kinder in mindestens drei der folgenden Bereiche passiv werden: Sprechen, Essen, Mobilität, Sozialleben, Körperpflege und -hygiene, Ansprache auf Fürsorge- und Ermutigungsmaßnahmen. Es beginnt in der Regel schrittweise, im schlimmsten Fall steigert sich der apathisch-depressive Zustand bis in eine Art Katatonie, einen Starrezustand.

Naheliegend wäre es, vom sogenannten Resignation Syndrome zu sprechen. Die Bezeichnung tauchte zuerst in den Neunzigerjahren in Schweden auf und machte mit steigenden Zahlen Schlagzeilen. Auch damals wiesen Flüchtlingskinder die Symptome auf. „Die Resignierten“, „Sweden’s mystery illness“, „Only in Sweden: Hundreds of refugee children gave up on life“, hieß es in den Medien.

Bis heute gibt es keine eindeutige Bezeichnung für die Erkrankung. Verschiedene Begriffe kursieren: Resignation Syndrome (RS), Pervasive Refusal Syndrome (PRS), depressive Devitalisierung (DD), Traumatic Withdrawal Syndrome (TWS), Giving-up-Syndrome oder einfach apathische Flüchtlingskinder. Und obwohl die Beeinträchtigung der Kinder offensichtlich ist, gibt es nicht mal den Konsens, dass es sich um eine Krankheit handelt. Das könnte auch daran liegen, dass das Resignation Syndrome nicht nur ein medizinisches Phänomen ist, sondern ein Politikum: Bis heute treten die Symptome fast ausschließlich in einer spezifischen Bevölkerungsgruppe auf, nämlich in Familien, die aus ihren Heimatländern vor Gewalt geflohen sind und nun in der Schwebe leben, in Angst vor der Rückkehr.

Die frühere Militäranlage Moria auf Lesbos ist von Europa als Hotspot zur Erstregistrierung vorgesehen. Hier soll Griechenland Asylverfahren durchführen. In der Theorie. In der Praxis kommen die Behörden nicht nach. Moria ist keine gut organisierte Durchgangsstation, sondern inzwischen ein Slum, aus dem niemand mehr so schnell wieder hinausfindet. Auch andere Auffanglager, etwa auf Samos, sind überfüllt. 2018 lebten 50.000 Flüchtlinge und Migranten auf griechischem Boden. Heute sind es fast 90.000. Allein in den vergangenen sechs Monaten kamen rund 45.000 Menschen nach Griechenland. So hoch waren die Zahlen seit der Unterzeichnung des EU-Türkei-Deals nicht mehr. Die griechische Regierung will nun Netze oder schwimmende Barrieren vor ihren Küsten anbringen lassen, um die Ankommenden „im Notfall“ aufzuhalten. So sieht die neue Eskalation der Flüchtlingskrise auf den griechischen Inseln aus.

Offizielle Essenszeiten in Moria sind um 8, 13 und 17 Uhr. Dann ist die Hölle los. Dann streiten sich vor Nazanins „Haustür“ die Menschen um 3000 Portionen Reis oder Bohnen, die nie für alle reichen. Bewaffnete Polizei rückt an. Nicht selten steigert sich das Gedrängel in eine Schlägerei. Erst vor ein paar Tagen gab es wieder eine Messerstecherei.

Morgens, wenn die Kinder einen Apfel an der Essensausgabe erhalten, verlässt Nazanin nicht die Hütte. Yazemin, ihre achtjährige Schwester, geht immer allein, aber sie kann ihrer Schwester keinen Apfel mitbringen, weil jedes Kind nur genau einen bekommt. Nazazin will den Apfel eh nicht. Sie trinkt auch immer weniger, erzählt ihre Mutter.

„Moria ist ein chronisch ungesunder Ort“

Die vierjährige Kaucar wirkt apathisch und ängstlich, seit sie auf der Überfahrt von der Türkei vom Boot ins Meer gefallen war und gerade noch aus dem Wasser gefischt werden konnte. Der neunjährige Samir beißt sich selbst in Hände und Arme. Der 15-jährige Jawad schlägt sich mit dem Holz der Europaletten gegen den Kopf.

„Die Anzahl der Selbstverletzungen, Suizidgedanken und -versuche steigt“, sagt die Kinderpsychologin Angela Modarelli. „Das ist ein Weg, mit dem Schmerz umzugehen, den die Kinder um sich herum spüren.“ Modarelli arbeitet in der psychosozialen Klinik von Ärzte ohne Grenzen gleich neben dem Lager. Die Menschen stehen vom frühen Morgen an Schlange. Mindestens 60 Patienten am Tag versorgt die Einrichtung, das Team ist völlig überlastet. Auch hier ist die Rede von kerngesunden Kindern, die mit einem Mal verstummen, sich zurückziehen, aufhören zu spielen, zu essen, zu trinken, bald nur noch still daliegen.

„Moria ist ein chronisch ungesunder Ort“, sagt Angela Modarelli. „Die Kinder müssen evakuiert werden.“ Mit ihrer Meinung steht sie nicht allein. Im Oktober 2019 glaubt ihre Kollegin, die norwegische Kinderpsychologin Katrin Bubrakk, zu dem Zeitpunkt ebenfalls für Ärzte ohne Grenzen tätig, ganz eindeutig zu erkennen, was Psychologen und Ärzte in Schweden als Resignation Syndrome beschrieben haben. „Das sind die zwei Hauptstrategien, die wir beobachten, Selbstverletzung und totaler Rückzug. Die Kinder empfinden die Welt als so gefährlich, dass sie damit nicht anders umzugehen wissen.“ Bubrakk hat schon in Ägypten und im Kongo mit traumatisierten Kindern gearbeitet, aber so schlimm wie auf Lesbos sei es nirgends gewesen.

Bubrakk bestätigt, dass ein Vater seine Tochter, die neunjährige Ayesha, in die Klinik gebracht habe. Das Mädchen bewegte sich überhaupt nicht mehr und reagierte nicht auf Ansprache. Eine offizielle Diagnose darf Bubrakk nicht stellen, da sie nicht für die griechischen Behörden arbeitet. Auch der griechischen Pressestelle von Ärzte ohne Grenzen ist es zu heikel, offiziell vom Resignation Syndrome zu sprechen. Das Resignation Syndrome steht nicht im internationalen Klassifikationskatalog für Krankheiten und psychische Störungen, den die Weltgesundheitsorganisation nur alle paar Jahre aktualisiert, zuletzt hat sie Burn-out erstmals als Syndrom definiert. In der Vergangenheit ist den Hilfsorganisationen außerdem vorgeworfen worden, die Lage der Kinder zu dramatisieren. Gerade erst hat das Parlament in Athen beschlossen, dass Nichtregierungsorganisationen, die sich mit der Situation von Asylsuchenden beschäftigen, künftig schärfer kontrolliert werden sollen.

Den Fall der neunjährigen Ayesha beobachtet im vergangenen Herbst auch die in London lebende, in Fachkreisen bekannte Neurologin Jules Montague. Sie beschreibt das Mädchen in der britischen Zeitung Guardian so: Das einzig wahrnehmbare Lebenszeichen ist die langsame Bewegung des Brustkorbs beim Ein- und Ausatmen. Seit zwei Wochen hat Ayesha ihre Augen nicht geöffnet. Sie hat nicht gesprochen. Sie ist nicht gelaufen. Bei dem Mädchen trat dieser Zustand nicht unmittelbar nach dem Tod ihres Bruders bei einem Bombenanschlag in Afghanistan ein, nicht während der Überfahrt auf dem Boot, sondern in Moria, als ein Teenager in der Nähe ihres Zeltes erstochen wurde. Das Mädchen ist heute in Athen untergebracht, sie könne immer noch nicht wieder gehen und bekomme Flüssignahrung, so ihre gegenwärtige Therapeutin, die nicht namentlich genannt werden will.

Der schwedische Neurowissenschaftler Karl Sallin sagt, ihm seien bis zum heutigen Tag rund 1000 Fälle von Resignation Syndrome in Schweden bekannt. Nicht alle seien dokumentiert. Uppgivenhetssyndrom, Selbstaufgabe-Syndrom, nannte man in den Neunzigerjahren die Krankheit. Sie wurde bei vier Kindern festgestellt, deren Familien vor den Balkankriegen nach Schweden geflohen waren. Der Verlauf wurde als lebensbedrohlich eingeschätzt.

Dann häuften sich Anfang der Nullerjahre die Fälle: 16 neue Erkrankungen im Jahr 2002, 65 im Jahr 2003, 182 im Jahr 2004. Medien berichteten, Forschung aber gibt es trotz der vielen Fälle kaum.

Es kamen Gerüchte auf, die Kinder simulierten nur oder die Eltern vergifteten sie, um an einen Aufenthaltstitel zu kommen. Mancher schwedische Politiker wiederholte diese Gerüchte, die man heute Fake-News nennen könnte. 2004 beauftragte die Regierung ein Expertenkomitee, das die zahlreichen Krankheitsfälle von Kindern Asylsuchender prüfen sollte.

„Griechenland kann das nie alleine lösen“

Das Zentralamt für Gesundheit und Soziales nimmt das Resignation Syndrome 2014 als Uppgivenhetssyndrom in den schwedischen Katalog psychischer Krankheiten auf, Nummer: ICD-10 F32.3A. Sie bezeichnet schwere depressive Episoden mit psychotischen Symptomen, zu denen insbesondere Stupor gehört, also der vollständige Aktivitätsverlust bei ansonsten wachem Bewusstseinszustand. Die Erkrankung, so der Katalog, trete insbesondere unter Flüchtlingen und Asylbewerbern auf.

Die schwedische Medizinerin Elisabeth Hultcrantz hat mehr als 40 betroffene Kinder in Schweden behandelt. Sie beschreibt das Syndrom als eine Art Schutzreaktion. Im November 2019 erschien ihr Bericht. Manche Kinder sind so abgewandt von ihrer Umwelt, dass sie weder auf Berührung und Geräusche noch auf Schmerzen oder Kälte reagieren, über Monate. Sie müssen von ihren Eltern mit Flüssignahrung versorgt werden oder gar über eine Magensonde. Am häufigsten betroffen sind Mädchen im Alter von 7 bis 15 Jahren, weniger als ein Drittel der Erkrankten sind Jungen.

Hoffnungslosigkeit scheint ein zentraler Faktor für den Krankheitsverlauf zu sein. In seinem Bericht zum Resignation Syndrome zieht der Neurowissenschaftler Karl Sallin eine Parallele zu Befunden an KZ-Häftlingen im Zweiten Weltkrieg, die jede Hoffnung darauf verloren hatten, dass sich ihre Situation je verbessern könnte. Sie verfielen in einen Zustand „archaischer Autohypnose“. Sallin fragte sich auch, ob Kinder aus bestimmten Herkunftsländern betroffen seien, die Krankheit also kulturbedingt auftrete. Diese Annahme ließ sich nicht belegen. Der Wissenschaftler verfolgte außerdem eine Art Ansteckungstheorie.

Doch die Kinder von Lesbos hatten keinen Kontakt zu Flüchtlingskindern in Schweden. Auch Raziya nicht. Sie ist 13 Jahre alt, trägt ein T-Shirt, auf dem „Team Humanity Denmark“ steht. In dem Container in Moria, der seit sechs Monaten ihr Zuhause ist, leben 32 Menschen, sieben Männer, sieben Frauen und 18 Kinder. Das älteste ist 15 Jahre, das jüngste zweieinhalb Monate. Der Container ist durch Planen und Holzwände in kleinere Räume für die Familien unterteilt. Nicht mehr als vier Quadratmeter haben Raziya, ihre jüngere Schwester, ihr kleiner Bruder, Mutter und Vater. Seit drei Wochen haben sie keinen Strom, schon wieder.

Man sieht Männer an den Strommasten hochklettern, sie versuchen Leitungen anzuzapfen. Ständig kommt es zu Unfällen, Bränden und Aufständen im Lager, weil die Menschen sich an offenen Feuerstellen wärmen oder weil sie dagegen demonstrieren, dass ihnen der Staat nicht den nötigen Strom zur Verfügung stellt und bessere Lebensbedingungen ermöglicht. Erst vor zwei Wochen setzte die Polizei Tränengas gegen die Demonstrierenden ein, auch gegen Kinder. Das ist Alltag in Moria. Ständig ist Raziya den Problemen der Erwachsenen ausgesetzt, die streiten, schreien, sich Gewalt antun.

Manchmal hat Raziya solche Angst, dass „ihr Gehirn durcheinandergerät“, so beschreibt es die Mutter. Sie bekomme Halluzinationen, sehe plötzlich ihre Hände blutverschmiert, habe Todesvisionen. In diesen Momenten fühle sich alles um Raziya herum für sie hart und abstoßend an, sogar die Hände ihrer Mutter empfinde sie dann wie Metall, kalt, hart, schwer. Auch Raziya spricht kaum noch; wenn sie es versucht, muss sie sofort weinen. Die meiste Zeit schläft sie. Früher sei sie ein mutiges Mädchen gewesen, Kampfsport sei ihr liebstes Hobby gewesen.

Dissoziative Störungen, zu denen manche Forscher das Resignation Syndrome zählen, gelten als Versuch der Psyche, Situationen großer Anspannung, Angst und Überlastung zu entkommen. „Moria gibt den Kindern keine Chance, sich zu erholen“, sagt auch Angela Modarelli. In Moria fehlt es am Nötigsten, an sauberem Wasser, Nahrungsmitteln, Toiletten, einem warmen Schlafplatz, einem Ort der Ruhe oder einem sicheren Ort zum Spielen. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist eingeschränkt, Geflüchtete können nicht einfach die staatliche Versorgung nutzen. Davon abgesehen gibt es auf Lesbos sowieso nur eine Kinderpsychologin und einen Kinderpsychiater, die griechischen Inseln leiden unter chronischem Ärztemangel. „Griechenland kann das nie alleine lösen“, sagt Katrin Bubrakk.

Die Kinder sind ständig krank, klagen die Mütter von Moria. Erst vor wenigen Wochen starb ein neun Monate altes Baby an Dehydrierung. Die kalten Nordwinde sind auf Lesbos oft so heftig, dass nicht einmal die großen Fähren im Hafen ablegen. Bei Regen kommt es zu Erdrutschen in den Olivenhainen. Und im Winter schneit es hier auch. Manche Kinder leiden an Hautausschlag. Manche haben zum Teil kriegsbedingte Behinderungen und andere schwere Erkrankungen, die eine Behandlung erfordern. Die Mutter des sechsjährigen Moussa muss den Jungen die ganze Zeit tragen, weil er allein nicht laufen kann. Doch selbst ein Rollstuhl würde in Moria nicht helfen. Die Wege sind zu steil, zu rutschig, zu uneben.

„Sie sind wie im Winterschlaf“

Nauru, eine winzige Insel im Pazifik, diente dem australischen Staat als Auffanglager für Flüchtlinge, die teilweise jahrelang auf ihren Asylbescheid warteten. 200 Kinder wurden dort festgehalten. Die australische Psychiaterin Beth O’Connor, die von Oktober 2017 bis September 2018 auf Nauru gearbeitet hat, sagt, sie habe sich nicht erklären können, woran die Kinder in dem Lager litten, bis sie auf die Forschungsliteratur aus Schweden stieß. „Was ich da gelesen habe, habe ich auf Nauru gesehen“, sagt sie.

Einige der Kinder von Nauru müssen bis heute medizinisch versorgt werden. Die Psychiaterin und klinische Forscherin Louise Newman behandelt zehn der Kinder im Krankenhaus der australischen Hauptstadt Melbourne. „Sie sind wie im Winterschlaf“, sagt sie. „Aber der ist sehr gefährlich.“ Ohne Behandlung könnten die Kinder sterben, an Unterernährung, Dehydrierung.

Newman erklärt, wie stark politisiert das Thema der Asylsuchenden auch in Australien sei. Wie in Schweden hätten auch dort Politiker behauptet, die Krankheit sei nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit, sie sprächen von Manipulation, von einem Hungerstreik, in den die Kinder vorsätzlich getreten seien, um ihre Aussichten auf einen positiven Asylbescheid zu verbessern. Newman widerspricht: „Es gab zwölf Suizide, und die Regierung spricht von Fake.“ Ihr Forschungspapier zu dem Thema erscheint demnächst in der Fachzeitschrift Australasian Psychiatry und liegt der ZEIT vor.

Heute befinden sich keine Kinder mehr auf der Insel Nauru. Australische Menschenrechtsorganisationen hatten eine Hashtag-Kampagne begonnen, #KidsOffNauru. „Die Weltflüchtlingskrise ist ein komplexes Problem – aber das Einsperren von Kindern ist niemals die Antwort“, so lautete ihr wichtigstes Argument. Die Regierung lenkte schließlich ein. Im Februar 2019 wurden die letzten Kinder evakuiert.

In Moria leben derzeit mehr als 6000 Kinder. Manche von ihnen seit eineinhalb oder zwei Jahren.

Am zehnten Tag im Lager hört auch Wahid auf zu sprechen. Seine Mutter erzählt, er habe die anderen Kinder gefragt: Seit wann seid ihr hier? Ein Junge antwortete: Sechs Monate, ein anderer: Neun Monate. Seitdem zieht sich der zehnjährige Wahid aus der Welt zurück. Er hat sich in Embryostellung gerollt, das Gesicht in den Armen vergraben zur Containerwand gedreht, die Decke über dem Kopf. So liegt er da, jeden Tag seit Ende November.

Seine Mutter zeigt Wahids blaues Übungsheft mit bunten Aufklebern, die ersten vier Seiten beschrieben mit lateinischen Buchstaben, den Schlüsseln zur neuen Heimat, doch die folgenden Seiten bleiben leer. Nach Monaten der Flucht aus Afghanistan über den Iran und die Türkei hatte Wahid sich gefreut, endlich wieder eine Schule besuchen zu können, sagt seine Mutter. In Moria gibt es keine reguläre Schule.

Wahid redet mit niemandem mehr, nur das Nötigste mit seiner Mutter. Das heißt, wenn er auf Toilette muss. Die Mutter wäscht ihn in der Containerparzelle, weil Wahid das nicht mehr alleine draußen macht. Heute Morgen musste sie ihn zwingen, wenigstens ein Stück Tomate zu essen.

Woran leidet Wahid? Woran leiden die Kinder auf Lesbos? Eine eindeutige Diagnose stellt hier niemand.

„Natürlich gibt es eine eindeutige Bezeichnung dafür“, sagt Nikos Gionakis. „Angriff auf die Menschenrechte.“ Gionakis leitet die einzige staatlich geführte psychologische Betreuungsstelle für Migranten und Flüchtlinge in Athen.

Aus seiner Sicht geht die Debatte um die genaue Bezeichnung und die Frage, ob dies überhaupt eine Krankheit sei, in die falsche Richtung. Nikos Gionakis spricht von einem „Bewältigungsmechanismus“. Er greift nach dem Band, das den Rollladen vor seiner Balkontür bedient, zieht daran und lässt ihn nach unten krachen. „Das passiert mit den Kindern“, sagt er: „Sie machen dicht. Wenn die Welt sie nicht will, verschließen sie sich vor der Welt.“ Der Rollladen ist zu, und in das Büro von Nikos Gionakis dringt kein Lichtstrahl mehr.



Warum hilft Deutschland nicht?

Seit Monaten fordern deutsche Politiker, Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern hierherzuholen. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) erklärte schon im November, in seinem Bundesland bis zu 200 Minderjährige aufnehmen zu wollen. Kurz vor Weihnachten griff Grünen-Chef Robert Habeck den Vorstoß auf und forderte von der Bundesregierung, bis zu 4000 Kinder von den griechischen Inseln nach Deutschland zu bringen – auch dann, wenn es dafür keinen europäischen Konsens geben sollte. Was ist seither passiert?

In Deutschland haben sich inzwischen 41 Städte und Kommunen dem Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ angeschlossen. Etwa 30 sind laut der Initiative bereit, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen von den griechischen Inseln Obhut zu geben. Auch Pistorius und die Grünen halten an dem Vorhaben fest. „Ich hoffe sehr, dass wir noch im Winter wenigstens einige dieser Kinder, die unsere Hilfe so dringend brauchen, in Deutschland aufnehmen können“, sagt Pistorius.

Die Fraktion der Grünen hat Ende Januar im Bundestag einen Antrag eingebracht, der die Aufnahme von 5000 besonders Schutzbedürftigen vorsieht, also von unbegleiteten Kindern, Schwangeren, alten und kranken Menschen. In der Fraktion geht man allerdings davon aus, dass der Antrag in der entscheidenden Lesung Anfang März mangels Mehrheit durchfallen wird.

Hinsichtlich einer deutschen Initiative warnte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bereits Ende vergangenen Jahres vor „unredlicher Politik“ und einer neuen Flüchtlingswelle. „Deutschland spricht sich deutlich für eine abgestimmte europäische Initiative zur möglichst nachhaltigen Verbesserung der Situation aus“, sagt ein Sprecher seines Ministeriums. „Planungen für ein darüber hinausgehendes, bilaterales Sofortprogramm zur Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge liegen derzeit nicht vor.“

Laut Lars Castellucci, dem migrationspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, gibt es aktuell aber bereits Zusagen mehrerer europäischer Länder, darunter Portugal, Frankreich und die Schweiz, unbegleitete Minderjährige aus Griechenland aufzunehmen. „Damit ist der Weg frei, Schutzbedürftige nach Deutschland zu holen“, so Castellucci. „Ich erwarte, dass der Innenminister nun seine Zustimmung erteilt, damit endlich gehandelt werden kann.“

Alena Specht
(https://www.zeit.de/2020/09/lesbos-fluechtlingslager-kinder-krankheit-apathie-griechenland/komplettansicht)



Jean Ziegler war auf Lesbos im grössten europäischen Flüchtlingslager: «Die Suizide von Kindern sind das Schlimmste»
Jean Ziegler (86) war bei den Flüchtlingen auf Lesbos und hat darüber ein Buch geschrieben. Was dort geschehe, sei «die Schande Europas», sagt er. Ein Gespräch über erfrorene Kinder, die Flüchtlingsstrategie der EU und Fans bei einem Mittagessen in Genf.
https://www.blick.ch/news/politik/jean-ziegler-war-auf-lesbos-im-groessten-europaeischen-fluechtlingslager-die-suizide-von-kindern-sind-das-schlimmste-id15772791.html


+++TÜRKEI/GRIECHENLAND/EU
Provinz Edirne: EU-Behörde Frontex sendet Verstärkung an griechische Grenze
Die EU reagiert auf die angespannte Lage an der türkisch-griechischen Grenze, wo Tausende Migranten ausharren. Die Behörde Frontex kündigt an, Einsatzkräfte zu entsenden. Die Alarmstufe für alle EU-Grenzen zur Türkei sei auf „hoch“ angehoben worden.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-eu-behoerde-frontex-schickt-verstaerkung-an-griechische-grenze-a-c6a57b4c-7ccd-49de-ab8d-2ec3cf9e53d3
-> https://www.derstandard.at/story/2000115196788/mehr-als-13-000-menschen-an-tuerkisch-griechischer-grenze
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/eu-behoerde-frontex-schickt-verstaerkung-an-griechische-grenze,RrybpL9
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/eu-grenzschutz-syrische-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-frontex
-> https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-fluechtlinge-tuerkei-erdogan-101.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-fluechtlinge-tuerkei-un-101.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-fluechtlinge-tuerkei-erdogan-105.html
-> https://www.heise.de/tp/features/Tore-geoeffnet-Schickt-die-Tuerkei-Migranten-an-die-Grenzen-der-EU-4671872.html
-> https://taz.de/Gefluechtete-an-EU-Aussengrenze/!5668019/
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133623.flucht-und-migration-nach-europa-mitgefuehl-ueber-bord.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133615.flucht-und-migration-nach-europa-eu-verstaerkt-frontex-an-eu-grenze-in-griechenland.html
-> https://ffm-online.org/situation-an-evros-und-aegaeis/
-> https://www.derbund.ch/ausland/europa/griechenland-vertreibt-fluechtlinge-mit-traenengas/story/28435431
-> https://www.srf.ch/news/international/nach-grenzoeffnung-der-tuerkei-tausende-fluechtlinge-harren-vor-griechischer-grenze-aus
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/grenze-griechenland-tuerkei-fluechtlinge-kastanies
-> https://www.nzz.ch/international/proteste-wegen-migrantenlager-auf-lesbos-und-chios-eskalieren-rettungsschiff-ocean-viking-darf-wieder-in-italien-anlegen-die-neusten-entwicklungen-zur-migrationskrise-ld.1535949
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133637.lesbos-gefangen-auf-der-flucht.html
-> https://www.tagblatt.ch/international/tuerkei-mehr-als-75-000-migranten-in-eu-eingereist-ld.1199561
-> https://www.derstandard.at/story/2000115208748/oesterreich-bietet-griechenland-hilfe-bei-grenzschutz-an?ref=rss
-> https://www.derstandard.at/story/2000115209340/fluechtlingsresettlement-jetzt?ref=rss
-> https://www.blick.ch/news/ausland/nahost/erdogan-spielt-erneut-die-fluechtlings-karte-endspiel-mit-ansage-id15774568.html
-> https://www.nzz.ch/international/erdogan-erhoeht-den-druck-auf-europa-ld.1543534
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/migrationsforscher-knaus-eu-fluechtlingspakt-100.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/373599.krieg-in-syrien-erdogans-kriegserkl%C3%A4rung.html
-> https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/kehrt-lieber-um-neue-fluechtlingskrise-vor-der-griechischen-grenze-erdogan-stellt-forderungen-136445665
-> https://www.srf.ch/news/international/fluechtende-aus-der-tuerkei-die-europaeische-union-muss-handeln
-> https://www.blick.ch/news/ausland/tuerkei-oeffnet-grenzen-zu-griechenland-erdogan-raecht-sich-an-der-eu-id15775793.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/grenze-tuerkei-griechenland-101.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/grenzstreit-mit-der-tuerkei-griechische-regierung-spricht.1939.de.html?drn:news_id=1106406
-> https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/nahost-experte-gerlach-im-gespraech-100.html


+++SYRIEN
Erdogan öffnet nur eine Grenze
Bis zu eine Million Menschen hoffen im syrischen Idlib unter teils katastrophalen Bedingungen darauf, in die Türkei fliehen zu können
https://www.derstandard.at/story/2000115206198/erdogan-oeffnet-nur-eine-grenze?ref=rss


Journalistin über Idlib: Kleinkinder erfrieren, Krankenhäuser sind geschlossen
Die militärische Eskalation in der syrischen Provinz Idlib hat die Situation der Geflüchteten an der türkisch-syrischen Grenze verschärft. Inzwischen habe die WHO mobile Krankenhäuser geschaffen, um den Geflüchteten besser folgen zu können, sagte die Journalistin Kristin Helberg im Dlf.
https://www.deutschlandfunk.de/journalistin-ueber-idlib-kleinkinder-erfrieren.694.de.html?dram:article_id=471411


+++GASSE
Massnahmen gegen «Gammelwohnungen» in Winterthur gefordert
Ein Vorstoss aus dem Winterthurer Gemeinderat erkundigt sich nach möglichen Massnahmen gegen «Gammelwohnungen». In der Stadt gebe es Vermieter, die sich auf Kosten sozial Schwacher bereichern.
https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/massnahmen-gegen-gammelwohnungen-in-winterthur-gefordert-00129616/


+++ANTIRA
Roan (23) wurde Opfer von Corona-Rassismus
Der Sitznachbar im Zug desinfizierte sich demonstrativ vor Roan die Hände – weil sie asiatisch aussieht. «Ich habe danach zwei Stunden geweint», sagt sie.
https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Roan–23–wurde-Opfer-von-Corona-Rassismus-19870315


+++RECHTSEXTREMISMUS
Verein Uniter zieht nach Zug – ALG besorgt: «Zug könnte dem Vorwurf grosser Naivität ausgesetzt werden»
Der umstrittene Verein Uniter verlegt seinen Sitz nach Rotkreuz. Der Verein stand in den Schlagzeilen, weil dessen Mitglieder rechtsextremistische Ansichten teilen sollen. Die Alternativen – die Grünen sind besorgt über diese Niederlassung.
https://www.zentralplus.ch/alg-ist-besorgt-zug-koennte-dem-vorwurf-grosser-naivitaet-ausgesetzt-werden-1740183/


Die Legende vom Einzeltäter: Rechter Terror in Europa
Ob NSU-Terror, der Mord an Walter Lübcke oder der rassistische Anschlag in Hanau: Die Taten richten sich gegen Menschen, die von Rechtsextremen zu Feinden erklärt werden: Migranten, Juden, Muslime, Linke, Journalisten und Politiker. Deutlich wird, dass das Narrativ vom Einzeltäter auserzählt ist: Viele Mörder handeln zwar allein, aber in ihrer Weltanschauung sind sie das längst nicht mehr. Auf den Spuren des Rechtsextremismus in Europa.
https://www.arte.tv/de/videos/093712-000-A/die-legende-vom-einzeltaeter/


Weg mit dem Hufeisen
Warum es gefährlich und falsch ist, rechtsextreme Gewalt und Antifaschismus gleichzusetzen.
https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/weg-mit-dem-hufeisen/story/28283883


Die traurige Welt der «Incels»: Frauen sind schuld. An allem.
Eine neues Buch erklärt ein Internetphänomen. Warum sogenannte Incels so gefährlich sind. Und warum es mehr von ihnen gibt, als wir bisher dachten.
https://www.blick.ch/news/ausland/die-traurige-welt-der-incels-frauen-sind-schuld-an-allem-id15772572.html


+++CRYPTO-LEAKS
Die Crypto, ihre Verwaltungsräte und ihre Kritiker
Die Cryptoleaks lösen eine längst überfällige Debatte über die Nähe der Zuger Politik zu fragwürdigen Firmen aus, findet unser Gastautor Josef Lang. Der Historiker und ehemalige Nationalrat erinnert sich an die Zeit, in der die heutigen Erkenntnisse noch als «Hirngespinste» abgetan wurden.
https://www.zentralplus.ch/die-crypto-ihre-verwaltungsraete-und-ihre-kritiker-1739405/



Sonntagszeitung 01.03.2020

Bund geht gegen Crypto AG vor

Das Seco erstattet Anzeige wegen der vom US-Geheimdienst kontrollierten Zuger Firma. Die Behörde hegt den Verdacht, dass sie getäuscht wurde.

Kurt Pelda, Thomas Knellwolf

Nun hat die ­Affäre um die Zuger Crypto AG juristische Folgen – weil das Departement von Wirtschaftsminister Guy Parmelin eingreift. Am Dienstag hat das dort angesiedelte Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in der Sache Anzeige erstattet, wie Recherchen der SonntagsZeitung zeigen. Die Behörde, die unter anderem für die Bewilligung von Kriegsmaterialexporten zuständig ist, hegt den Verdacht, dass sie durch Ausfuhrgesuche für manipulierte Crypto-Chiffriergeräte getäuscht wurde. Die Bundesanwaltschaft bestätigte den Eingang des Strafantrags.

Jahrzehntelang hat die Crypto AG ausländische Regierungen und Armeen mit Chiffriergeräten beliefert, die von den Geheimdiensten der USA und Deutschlands mit wenig Aufwand zu entschlüsseln waren. Grund dafür waren eingebaute «Hintertüren» oder absichtlich geschwächte Verschlüsselungsalgorithmen.

Damit hat die Crypto AG nicht nur unzählige Staaten, vor allem in der muslimischen Welt und in Lateinamerika, über den Tisch gezogen, sondern mutmasslich auch das Seco. Die Behörde stellt sich auf den Standpunkt, dass sie diese Exporte nie und nimmer bewilligt hätte, wenn sie über das gross angelegte Betrugsmanöver im Bild gewesen wäre. Die Crypto AG befand sich bis 2018 im Besitz des US-Auslandsgeheimdienstes CIA.

Harte Strafen und hohe Bussen sind möglich

Die Strafanzeige richtet sich gegen Unbekannt, weil bisher nicht klar ist, wer genau bei der Crypto AG und anderswo von den Manipulationen wusste. In seiner besten Zeit hatte der Chiffriergerätehersteller im zugerischen Steinhausen rund 400 Angestellte, von denen nur einige wenige eingeweiht waren. Es ist nicht klar, auf welchen Zeitraum sich die Strafanzeige genau bezieht und welche Beweismittel eingereicht wurden.

Fest steht hingegen, dass sich das Seco bei seiner Anzeige auf Artikel 14 des Güterkontrollgesetzes bezieht. Demnach wird mit Gefängnis oder mit Busse bis zu einer Million Franken bestraft, wer in einem Gesuch unrichtige oder unvollständige Angaben macht, «die für die Erteilung einer Bewilligung wesentlich sind». In schweren Fällen kann die Freiheitsstrafe bis zehn Jahre betragen, und die mögliche Geldbusse steigt auf maximal 5 Millionen Franken.

Die Bundesanwaltschaft teilte mit, dass sie noch kein Strafverfahren eröffnet habe. Das ist nicht weiter erstaunlich, weil die Anzeige ja erst gerade eingetroffen ist. Die Strafverfolger in Bern werden nun gemäss eigenen Angaben untersuchen, ob ein hinreichender Verdacht besteht und die angezeigten Tatbestände der Bundesgerichtsbarkeit unterstehen. Letztere Frage beantwortet das Güterkontrollgesetz eindeutig: Demnach ist für Verfolgung und Beurteilung von Widerhandlungen nach Artikel 14 das Bundesstrafgericht in Bellinzona zuständig. Aus demselben Gesetzesparagrafen geht hervor, dass das Seco als Bewilligungs- und Kontrollbehörde verpflichtet war, bei Verdacht die Bundesanwaltschaft einzuschalten.

Damit ist eine strafrechtliche Aufarbeitung der Crypto-Affäre um einiges nähergerückt. Die Bundesanwaltschaft braucht keine Ermächtigung aus dem Bundesrat, um mutmassliche Verstösse gegen das Güterkontrollgesetz zu verfolgen. Bei Spionageverdacht wäre dies notwendig.

Der Bundesrat hat nichts mehr zu sagen

Verfahren der Bundesanwaltschaft nehmen oft viel Zeit in Anspruch. Deshalb ist es sehr gut möglich, dass die am 13. Februar begonnene Inspektion der Geschäftsprüfungskommission des Parlaments (GPDel) früher zur Aufklärung beitragen wird. Die Aufseher sprachen sich diese Woche mit Verteidigungsministerin Viola Amherd aus und haben den vom Bundesrat eingesetzten Experten, den Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer, übernommen. Damit hat die Landesregierung auch in diesem Zusammenhang nichts mehr direkt zu sagen. Das Heft in der Hand haben nun die Strafverfolgung und die parlamentarische Aufsicht.

Die GPDel hat inzwischen an mehreren Sitzungen Personen angehört, die Informationen über die Crypto-Affäre haben könnten. Rede und Antwort stehen mussten mehrere aktuelle und frühere Chefs schweizerischer Nachrichtendienste, darunter der aktuelle Direktor des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB), Jean-Philippe Gaudin.
(https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/bund-geht-gegen-ciafabrik-vor/story/13324009)



Strafanzeige des Seco – Crypto-Affäre wird nun juristisch aufgearbeitet
Die Bundesanwaltschaft muss die Anzeige wegen mutmasslichen Manipulationen beim Verkauf von Chiffriergeräten nun prüfen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/strafanzeige-des-seco-crypto-affaere-wird-nun-juristisch-aufgearbeitet
-> https://www.nzz.ch/schweiz/cryptoleaks-antworten-zu-spionageaffaere-um-zuger-firma-ld.1540009
-> https://www.nzz.ch/schweiz/seco-hat-anzeige-gegen-die-crypto-ag-eingereicht-ld.1543676


+++HISTORY
Diese Historikerin arbeitete ein dunkles Kapitel in der Geschichte Unterägeris auf
Wer zu stark von bürgerlichen Werten abwich, wurde hart bestraft. Das zeigt die Masterarbeit der Stadtzugerin Judith Kälin.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/ein-dunkles-kapitel-in-der-geschichte-unteraegeris-ld.1199182