Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++BERN
Zwei Frauen, zwei Leben, ein Zufall
103 Menschen, davon 28 Kinder und Jugendliche, müssen demnächst das
Berner Oberland verlassen. So will es das neue Asylgesetz. Über ein
Schicksal unter vielen.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/179924/
+++DEUTSCHLAND
Städte bieten Zuflucht für Flüchtlinge an
Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) hat nach einem Besuch des
Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos die
Bundesregierung zum sofortigen Handeln aufgefordert.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133632.lesbos-staedte-bieten-zuflucht-fuer-fluechtlinge-an.html
+++GRIECHENLAND
Nach Grenzöffnung der Türkei: Griechenland setzt Asylrecht für einen Monat aus
Der Lage an der griechisch-türkischen Grenze spitzt sich weiter zu: Nun
kündigte der griechische Ministerpräsident an, dass sein Land für einen
Monat keine neuen Anträge auf Asyl annehmen werde.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-griechenland-setzt-asylrecht-fuer-einen-monat-aus-a-14421c7e-80da-43d7-976c-9d00cae92127
-> https://ffm-online.org/eu-staat-griechenland-suspendiert-grundrecht-auf-asyl/
Flüchtlinge auf Lesbos: „Da braut sich ein Pogrom zusammen“
Der Videojournalist Michael Trammer wird auf Lesbos von Rechtsradikalen
angegriffen. „Die Situation erinnert an Rostock-Lichtenhagen“, sagt er.
https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlinge-auf-lesbos-da-braut-sich-ein-pogrom-zusammen/25599234.html
-> https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/lesbos-rechtsextreme-setzen-fluechtlingsheim-in-brand-69144404.bild.html
Geflüchtete an EU-Außengrenze: „Ich schäme mich für Europa“
Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt ist auf der griechischen
Insel Lesbos, wo Geflüchtete ankommen. Er schildert dramatische Szenen.
https://taz.de/Gefluechtete-an-EU-Aussengrenze/!5668063/
Samos: Die Angst vor den Flüchtlingen
Die raue See vor den nordöstlichen Ägäisinseln verhinderte zunächst die
Ankunft vieler Flüchtlinge, die nach der Grenzöffnung durch die Türkei
erwartet wurden. Zumindest im Moment. Auf Samos, wo man bereits mehr als
8.000 Migranten beherbergt, bereitet man sich auf das Schlimmste vor
und bittet Europa um Hilfe:
https://de.euronews.com/2020/02/29/samos-die-angst-vor-den-fluchtlingen
FRONTEX, No Rescue: Situation an Evros und Ägäis
https://ffm-online.org/situation-an-evros-und-aegaeis/
—
zeit.de 23.02.2020
Lesbos: Im Flüchtlingslager auf Lesbos grassiert eine sonderbare Krankheit
Augenscheinlich gesunde Kinder verfallen plötzlich in totale Apathie. Hilfe ist nicht in Sicht.
Von Silke Weber
Wenn die Kinder in Europa ankommen, sind die allermeisten noch gesund.
Sie kennen Krieg und Gewalt, aber für manche fängt erst hier, im
Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, die
Leidensgeschichte an. Erst hier befällt sie die seltsame Krankheit.
Die siebenjährige Nazanin lächelt überhaupt nicht mehr. Sie malt auch
nicht mehr, spricht nicht mehr, und das Essen hat sie fast aufgegeben.
Nazanin hockt auf dem Boden der dunklen Hütte, ein Bett gibt es nicht,
und starrt ins Leere. Es ist, als würde sie durch uns hindurchgucken,
sagt die Mutter. Das Mädchen ist deutlich dünner und kleiner als seine
ein Jahr ältere Schwester. Yazemin lacht und zeigt auf zwei rosa
Häschen, die sie in ihren Zeichenblock gemalt hat. Das letzte Bild von
Nazanin ist mehrere Wochen alt: Es zeigt ein schwarzes Boot auf Wellen.
Seit etwa 20 Tagen verlässt Nazanin die Hütte kaum noch, so ihre Mutter.
Als lasse das Mädchen sein Leben einfach an sich vorbeiziehen.
Im Lager in Moria wohnt Nazanins Familie direkt gegenüber der
Essensausgabe, genauer gesagt der für Männer. Nazanins Vater hat für die
Familie eine Behausung aus Europaletten gezimmert, zwölf Paletten à
fünf Euro plus eine Plane à 40 Euro.
Rings um das Flüchtlingslager zieht die Zelt- und Hüttenstadt sich hoch
in die Olivenhaine. Planenfetzen und Stromkabel hängen zwischen den
Bäumen wie Lianen, weswegen der Ort von vielen Dschungel genannt wird.
Vielleicht auch, weil im Dschungel andere Gesetze gelten. An den Leinen
trocknet Kinderwäsche. Kinder spielen neben Müllbergen und wärmen sich
an brennendem Plastik. Für 3000 Menschen war das Lager angelegt, über
20.000 Menschen leben hier jetzt. 35 Prozent von ihnen sind Kinder.
Unter ihnen leiden manche an unerklärlichen Symptomen. Augenscheinlich
gesunde Kinder verfallen in Apathie. Mediziner erkennen ein bestimmtes
Krankheitsbild, wenn Kinder in mindestens drei der folgenden Bereiche
passiv werden: Sprechen, Essen, Mobilität, Sozialleben, Körperpflege und
-hygiene, Ansprache auf Fürsorge- und Ermutigungsmaßnahmen. Es beginnt
in der Regel schrittweise, im schlimmsten Fall steigert sich der
apathisch-depressive Zustand bis in eine Art Katatonie, einen
Starrezustand.
Naheliegend wäre es, vom sogenannten Resignation Syndrome zu sprechen.
Die Bezeichnung tauchte zuerst in den Neunzigerjahren in Schweden auf
und machte mit steigenden Zahlen Schlagzeilen. Auch damals wiesen
Flüchtlingskinder die Symptome auf. „Die Resignierten“, „Sweden’s
mystery illness“, „Only in Sweden: Hundreds of refugee children gave up
on life“, hieß es in den Medien.
Bis heute gibt es keine eindeutige Bezeichnung für die Erkrankung.
Verschiedene Begriffe kursieren: Resignation Syndrome (RS), Pervasive
Refusal Syndrome (PRS), depressive Devitalisierung (DD), Traumatic
Withdrawal Syndrome (TWS), Giving-up-Syndrome oder einfach apathische
Flüchtlingskinder. Und obwohl die Beeinträchtigung der Kinder
offensichtlich ist, gibt es nicht mal den Konsens, dass es sich um eine
Krankheit handelt. Das könnte auch daran liegen, dass das Resignation
Syndrome nicht nur ein medizinisches Phänomen ist, sondern ein
Politikum: Bis heute treten die Symptome fast ausschließlich in einer
spezifischen Bevölkerungsgruppe auf, nämlich in Familien, die aus ihren
Heimatländern vor Gewalt geflohen sind und nun in der Schwebe leben, in
Angst vor der Rückkehr.
Die frühere Militäranlage Moria auf Lesbos ist von Europa als Hotspot
zur Erstregistrierung vorgesehen. Hier soll Griechenland Asylverfahren
durchführen. In der Theorie. In der Praxis kommen die Behörden nicht
nach. Moria ist keine gut organisierte Durchgangsstation, sondern
inzwischen ein Slum, aus dem niemand mehr so schnell wieder
hinausfindet. Auch andere Auffanglager, etwa auf Samos, sind überfüllt.
2018 lebten 50.000 Flüchtlinge und Migranten auf griechischem Boden.
Heute sind es fast 90.000. Allein in den vergangenen sechs Monaten kamen
rund 45.000 Menschen nach Griechenland. So hoch waren die Zahlen seit
der Unterzeichnung des EU-Türkei-Deals nicht mehr. Die griechische
Regierung will nun Netze oder schwimmende Barrieren vor ihren Küsten
anbringen lassen, um die Ankommenden „im Notfall“ aufzuhalten. So sieht
die neue Eskalation der Flüchtlingskrise auf den griechischen Inseln
aus.
Offizielle Essenszeiten in Moria sind um 8, 13 und 17 Uhr. Dann ist die
Hölle los. Dann streiten sich vor Nazanins „Haustür“ die Menschen um
3000 Portionen Reis oder Bohnen, die nie für alle reichen. Bewaffnete
Polizei rückt an. Nicht selten steigert sich das Gedrängel in eine
Schlägerei. Erst vor ein paar Tagen gab es wieder eine Messerstecherei.
Morgens, wenn die Kinder einen Apfel an der Essensausgabe erhalten,
verlässt Nazanin nicht die Hütte. Yazemin, ihre achtjährige Schwester,
geht immer allein, aber sie kann ihrer Schwester keinen Apfel
mitbringen, weil jedes Kind nur genau einen bekommt. Nazazin will den
Apfel eh nicht. Sie trinkt auch immer weniger, erzählt ihre Mutter.
„Moria ist ein chronisch ungesunder Ort“
Die vierjährige Kaucar wirkt apathisch und ängstlich, seit sie auf der
Überfahrt von der Türkei vom Boot ins Meer gefallen war und gerade noch
aus dem Wasser gefischt werden konnte. Der neunjährige Samir beißt sich
selbst in Hände und Arme. Der 15-jährige Jawad schlägt sich mit dem Holz
der Europaletten gegen den Kopf.
„Die Anzahl der Selbstverletzungen, Suizidgedanken und -versuche
steigt“, sagt die Kinderpsychologin Angela Modarelli. „Das ist ein Weg,
mit dem Schmerz umzugehen, den die Kinder um sich herum spüren.“
Modarelli arbeitet in der psychosozialen Klinik von Ärzte ohne Grenzen
gleich neben dem Lager. Die Menschen stehen vom frühen Morgen an
Schlange. Mindestens 60 Patienten am Tag versorgt die Einrichtung, das
Team ist völlig überlastet. Auch hier ist die Rede von kerngesunden
Kindern, die mit einem Mal verstummen, sich zurückziehen, aufhören zu
spielen, zu essen, zu trinken, bald nur noch still daliegen.
„Moria ist ein chronisch ungesunder Ort“, sagt Angela Modarelli. „Die
Kinder müssen evakuiert werden.“ Mit ihrer Meinung steht sie nicht
allein. Im Oktober 2019 glaubt ihre Kollegin, die norwegische
Kinderpsychologin Katrin Bubrakk, zu dem Zeitpunkt ebenfalls für Ärzte
ohne Grenzen tätig, ganz eindeutig zu erkennen, was Psychologen und
Ärzte in Schweden als Resignation Syndrome beschrieben haben. „Das sind
die zwei Hauptstrategien, die wir beobachten, Selbstverletzung und
totaler Rückzug. Die Kinder empfinden die Welt als so gefährlich, dass
sie damit nicht anders umzugehen wissen.“ Bubrakk hat schon in Ägypten
und im Kongo mit traumatisierten Kindern gearbeitet, aber so schlimm wie
auf Lesbos sei es nirgends gewesen.
Bubrakk bestätigt, dass ein Vater seine Tochter, die neunjährige Ayesha,
in die Klinik gebracht habe. Das Mädchen bewegte sich überhaupt nicht
mehr und reagierte nicht auf Ansprache. Eine offizielle Diagnose darf
Bubrakk nicht stellen, da sie nicht für die griechischen Behörden
arbeitet. Auch der griechischen Pressestelle von Ärzte ohne Grenzen ist
es zu heikel, offiziell vom Resignation Syndrome zu sprechen. Das
Resignation Syndrome steht nicht im internationalen
Klassifikationskatalog für Krankheiten und psychische Störungen, den die
Weltgesundheitsorganisation nur alle paar Jahre aktualisiert, zuletzt
hat sie Burn-out erstmals als Syndrom definiert. In der Vergangenheit
ist den Hilfsorganisationen außerdem vorgeworfen worden, die Lage der
Kinder zu dramatisieren. Gerade erst hat das Parlament in Athen
beschlossen, dass Nichtregierungsorganisationen, die sich mit der
Situation von Asylsuchenden beschäftigen, künftig schärfer kontrolliert
werden sollen.
Den Fall der neunjährigen Ayesha beobachtet im vergangenen Herbst auch
die in London lebende, in Fachkreisen bekannte Neurologin Jules
Montague. Sie beschreibt das Mädchen in der britischen Zeitung Guardian
so: Das einzig wahrnehmbare Lebenszeichen ist die langsame Bewegung des
Brustkorbs beim Ein- und Ausatmen. Seit zwei Wochen hat Ayesha ihre
Augen nicht geöffnet. Sie hat nicht gesprochen. Sie ist nicht gelaufen.
Bei dem Mädchen trat dieser Zustand nicht unmittelbar nach dem Tod ihres
Bruders bei einem Bombenanschlag in Afghanistan ein, nicht während der
Überfahrt auf dem Boot, sondern in Moria, als ein Teenager in der Nähe
ihres Zeltes erstochen wurde. Das Mädchen ist heute in Athen
untergebracht, sie könne immer noch nicht wieder gehen und bekomme
Flüssignahrung, so ihre gegenwärtige Therapeutin, die nicht namentlich
genannt werden will.
Der schwedische Neurowissenschaftler Karl Sallin sagt, ihm seien bis zum
heutigen Tag rund 1000 Fälle von Resignation Syndrome in Schweden
bekannt. Nicht alle seien dokumentiert. Uppgivenhetssyndrom,
Selbstaufgabe-Syndrom, nannte man in den Neunzigerjahren die Krankheit.
Sie wurde bei vier Kindern festgestellt, deren Familien vor den
Balkankriegen nach Schweden geflohen waren. Der Verlauf wurde als
lebensbedrohlich eingeschätzt.
Dann häuften sich Anfang der Nullerjahre die Fälle: 16 neue Erkrankungen
im Jahr 2002, 65 im Jahr 2003, 182 im Jahr 2004. Medien berichteten,
Forschung aber gibt es trotz der vielen Fälle kaum.
Es kamen Gerüchte auf, die Kinder simulierten nur oder die Eltern
vergifteten sie, um an einen Aufenthaltstitel zu kommen. Mancher
schwedische Politiker wiederholte diese Gerüchte, die man heute
Fake-News nennen könnte. 2004 beauftragte die Regierung ein
Expertenkomitee, das die zahlreichen Krankheitsfälle von Kindern
Asylsuchender prüfen sollte.
„Griechenland kann das nie alleine lösen“
Das Zentralamt für Gesundheit und Soziales nimmt das Resignation
Syndrome 2014 als Uppgivenhetssyndrom in den schwedischen Katalog
psychischer Krankheiten auf, Nummer: ICD-10 F32.3A. Sie bezeichnet
schwere depressive Episoden mit psychotischen Symptomen, zu denen
insbesondere Stupor gehört, also der vollständige Aktivitätsverlust bei
ansonsten wachem Bewusstseinszustand. Die Erkrankung, so der Katalog,
trete insbesondere unter Flüchtlingen und Asylbewerbern auf.
Die schwedische Medizinerin Elisabeth Hultcrantz hat mehr als 40
betroffene Kinder in Schweden behandelt. Sie beschreibt das Syndrom als
eine Art Schutzreaktion. Im November 2019 erschien ihr Bericht. Manche
Kinder sind so abgewandt von ihrer Umwelt, dass sie weder auf Berührung
und Geräusche noch auf Schmerzen oder Kälte reagieren, über Monate. Sie
müssen von ihren Eltern mit Flüssignahrung versorgt werden oder gar über
eine Magensonde. Am häufigsten betroffen sind Mädchen im Alter von 7
bis 15 Jahren, weniger als ein Drittel der Erkrankten sind Jungen.
Hoffnungslosigkeit scheint ein zentraler Faktor für den
Krankheitsverlauf zu sein. In seinem Bericht zum Resignation Syndrome
zieht der Neurowissenschaftler Karl Sallin eine Parallele zu Befunden an
KZ-Häftlingen im Zweiten Weltkrieg, die jede Hoffnung darauf verloren
hatten, dass sich ihre Situation je verbessern könnte. Sie verfielen in
einen Zustand „archaischer Autohypnose“. Sallin fragte sich auch, ob
Kinder aus bestimmten Herkunftsländern betroffen seien, die Krankheit
also kulturbedingt auftrete. Diese Annahme ließ sich nicht belegen. Der
Wissenschaftler verfolgte außerdem eine Art Ansteckungstheorie.
Doch die Kinder von Lesbos hatten keinen Kontakt zu Flüchtlingskindern
in Schweden. Auch Raziya nicht. Sie ist 13 Jahre alt, trägt ein T-Shirt,
auf dem „Team Humanity Denmark“ steht. In dem Container in Moria, der
seit sechs Monaten ihr Zuhause ist, leben 32 Menschen, sieben Männer,
sieben Frauen und 18 Kinder. Das älteste ist 15 Jahre, das jüngste
zweieinhalb Monate. Der Container ist durch Planen und Holzwände in
kleinere Räume für die Familien unterteilt. Nicht mehr als vier
Quadratmeter haben Raziya, ihre jüngere Schwester, ihr kleiner Bruder,
Mutter und Vater. Seit drei Wochen haben sie keinen Strom, schon wieder.
Man sieht Männer an den Strommasten hochklettern, sie versuchen
Leitungen anzuzapfen. Ständig kommt es zu Unfällen, Bränden und
Aufständen im Lager, weil die Menschen sich an offenen Feuerstellen
wärmen oder weil sie dagegen demonstrieren, dass ihnen der Staat nicht
den nötigen Strom zur Verfügung stellt und bessere Lebensbedingungen
ermöglicht. Erst vor zwei Wochen setzte die Polizei Tränengas gegen die
Demonstrierenden ein, auch gegen Kinder. Das ist Alltag in Moria.
Ständig ist Raziya den Problemen der Erwachsenen ausgesetzt, die
streiten, schreien, sich Gewalt antun.
Manchmal hat Raziya solche Angst, dass „ihr Gehirn durcheinandergerät“,
so beschreibt es die Mutter. Sie bekomme Halluzinationen, sehe plötzlich
ihre Hände blutverschmiert, habe Todesvisionen. In diesen Momenten
fühle sich alles um Raziya herum für sie hart und abstoßend an, sogar
die Hände ihrer Mutter empfinde sie dann wie Metall, kalt, hart, schwer.
Auch Raziya spricht kaum noch; wenn sie es versucht, muss sie sofort
weinen. Die meiste Zeit schläft sie. Früher sei sie ein mutiges Mädchen
gewesen, Kampfsport sei ihr liebstes Hobby gewesen.
Dissoziative Störungen, zu denen manche Forscher das Resignation
Syndrome zählen, gelten als Versuch der Psyche, Situationen großer
Anspannung, Angst und Überlastung zu entkommen. „Moria gibt den Kindern
keine Chance, sich zu erholen“, sagt auch Angela Modarelli. In Moria
fehlt es am Nötigsten, an sauberem Wasser, Nahrungsmitteln, Toiletten,
einem warmen Schlafplatz, einem Ort der Ruhe oder einem sicheren Ort zum
Spielen. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist eingeschränkt,
Geflüchtete können nicht einfach die staatliche Versorgung nutzen. Davon
abgesehen gibt es auf Lesbos sowieso nur eine Kinderpsychologin und
einen Kinderpsychiater, die griechischen Inseln leiden unter chronischem
Ärztemangel. „Griechenland kann das nie alleine lösen“, sagt Katrin
Bubrakk.
Die Kinder sind ständig krank, klagen die Mütter von Moria. Erst vor
wenigen Wochen starb ein neun Monate altes Baby an Dehydrierung. Die
kalten Nordwinde sind auf Lesbos oft so heftig, dass nicht einmal die
großen Fähren im Hafen ablegen. Bei Regen kommt es zu Erdrutschen in den
Olivenhainen. Und im Winter schneit es hier auch. Manche Kinder leiden
an Hautausschlag. Manche haben zum Teil kriegsbedingte Behinderungen und
andere schwere Erkrankungen, die eine Behandlung erfordern. Die Mutter
des sechsjährigen Moussa muss den Jungen die ganze Zeit tragen, weil er
allein nicht laufen kann. Doch selbst ein Rollstuhl würde in Moria nicht
helfen. Die Wege sind zu steil, zu rutschig, zu uneben.
„Sie sind wie im Winterschlaf“
Nauru, eine winzige Insel im Pazifik, diente dem australischen Staat als
Auffanglager für Flüchtlinge, die teilweise jahrelang auf ihren
Asylbescheid warteten. 200 Kinder wurden dort festgehalten. Die
australische Psychiaterin Beth O’Connor, die von Oktober 2017 bis
September 2018 auf Nauru gearbeitet hat, sagt, sie habe sich nicht
erklären können, woran die Kinder in dem Lager litten, bis sie auf die
Forschungsliteratur aus Schweden stieß. „Was ich da gelesen habe, habe
ich auf Nauru gesehen“, sagt sie.
Einige der Kinder von Nauru müssen bis heute medizinisch versorgt
werden. Die Psychiaterin und klinische Forscherin Louise Newman
behandelt zehn der Kinder im Krankenhaus der australischen Hauptstadt
Melbourne. „Sie sind wie im Winterschlaf“, sagt sie. „Aber der ist sehr
gefährlich.“ Ohne Behandlung könnten die Kinder sterben, an
Unterernährung, Dehydrierung.
Newman erklärt, wie stark politisiert das Thema der Asylsuchenden auch
in Australien sei. Wie in Schweden hätten auch dort Politiker behauptet,
die Krankheit sei nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit, sie sprächen von
Manipulation, von einem Hungerstreik, in den die Kinder vorsätzlich
getreten seien, um ihre Aussichten auf einen positiven Asylbescheid zu
verbessern. Newman widerspricht: „Es gab zwölf Suizide, und die
Regierung spricht von Fake.“ Ihr Forschungspapier zu dem Thema erscheint
demnächst in der Fachzeitschrift Australasian Psychiatry und liegt der
ZEIT vor.
Heute befinden sich keine Kinder mehr auf der Insel Nauru. Australische
Menschenrechtsorganisationen hatten eine Hashtag-Kampagne begonnen,
#KidsOffNauru. „Die Weltflüchtlingskrise ist ein komplexes Problem –
aber das Einsperren von Kindern ist niemals die Antwort“, so lautete ihr
wichtigstes Argument. Die Regierung lenkte schließlich ein. Im Februar
2019 wurden die letzten Kinder evakuiert.
In Moria leben derzeit mehr als 6000 Kinder. Manche von ihnen seit eineinhalb oder zwei Jahren.
Am zehnten Tag im Lager hört auch Wahid auf zu sprechen. Seine Mutter
erzählt, er habe die anderen Kinder gefragt: Seit wann seid ihr hier?
Ein Junge antwortete: Sechs Monate, ein anderer: Neun Monate. Seitdem
zieht sich der zehnjährige Wahid aus der Welt zurück. Er hat sich in
Embryostellung gerollt, das Gesicht in den Armen vergraben zur
Containerwand gedreht, die Decke über dem Kopf. So liegt er da, jeden
Tag seit Ende November.
Seine Mutter zeigt Wahids blaues Übungsheft mit bunten Aufklebern, die
ersten vier Seiten beschrieben mit lateinischen Buchstaben, den
Schlüsseln zur neuen Heimat, doch die folgenden Seiten bleiben leer.
Nach Monaten der Flucht aus Afghanistan über den Iran und die Türkei
hatte Wahid sich gefreut, endlich wieder eine Schule besuchen zu können,
sagt seine Mutter. In Moria gibt es keine reguläre Schule.
Wahid redet mit niemandem mehr, nur das Nötigste mit seiner Mutter. Das
heißt, wenn er auf Toilette muss. Die Mutter wäscht ihn in der
Containerparzelle, weil Wahid das nicht mehr alleine draußen macht.
Heute Morgen musste sie ihn zwingen, wenigstens ein Stück Tomate zu
essen.
Woran leidet Wahid? Woran leiden die Kinder auf Lesbos? Eine eindeutige Diagnose stellt hier niemand.
„Natürlich gibt es eine eindeutige Bezeichnung dafür“, sagt Nikos
Gionakis. „Angriff auf die Menschenrechte.“ Gionakis leitet die einzige
staatlich geführte psychologische Betreuungsstelle für Migranten und
Flüchtlinge in Athen.
Aus seiner Sicht geht die Debatte um die genaue Bezeichnung und die
Frage, ob dies überhaupt eine Krankheit sei, in die falsche Richtung.
Nikos Gionakis spricht von einem „Bewältigungsmechanismus“. Er greift
nach dem Band, das den Rollladen vor seiner Balkontür bedient, zieht
daran und lässt ihn nach unten krachen. „Das passiert mit den Kindern“,
sagt er: „Sie machen dicht. Wenn die Welt sie nicht will, verschließen
sie sich vor der Welt.“ Der Rollladen ist zu, und in das Büro von Nikos
Gionakis dringt kein Lichtstrahl mehr.
–
Warum hilft Deutschland nicht?
Seit Monaten fordern deutsche Politiker, Kinder aus griechischen
Flüchtlingslagern hierherzuholen. Niedersachsens Innenminister Boris
Pistorius (SPD) erklärte schon im November, in seinem Bundesland bis zu
200 Minderjährige aufnehmen zu wollen. Kurz vor Weihnachten griff
Grünen-Chef Robert Habeck den Vorstoß auf und forderte von der
Bundesregierung, bis zu 4000 Kinder von den griechischen Inseln nach
Deutschland zu bringen – auch dann, wenn es dafür keinen europäischen
Konsens geben sollte. Was ist seither passiert?
In Deutschland haben sich inzwischen 41 Städte und Kommunen dem Bündnis
„Städte Sicherer Häfen“ angeschlossen. Etwa 30 sind laut der Initiative
bereit, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen von den griechischen
Inseln Obhut zu geben. Auch Pistorius und die Grünen halten an dem
Vorhaben fest. „Ich hoffe sehr, dass wir noch im Winter wenigstens
einige dieser Kinder, die unsere Hilfe so dringend brauchen, in
Deutschland aufnehmen können“, sagt Pistorius.
Die Fraktion der Grünen hat Ende Januar im Bundestag einen Antrag
eingebracht, der die Aufnahme von 5000 besonders Schutzbedürftigen
vorsieht, also von unbegleiteten Kindern, Schwangeren, alten und kranken
Menschen. In der Fraktion geht man allerdings davon aus, dass der
Antrag in der entscheidenden Lesung Anfang März mangels Mehrheit
durchfallen wird.
Hinsichtlich einer deutschen Initiative warnte Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) bereits Ende vergangenen Jahres vor „unredlicher
Politik“ und einer neuen Flüchtlingswelle. „Deutschland spricht sich
deutlich für eine abgestimmte europäische Initiative zur möglichst
nachhaltigen Verbesserung der Situation aus“, sagt ein Sprecher seines
Ministeriums. „Planungen für ein darüber hinausgehendes, bilaterales
Sofortprogramm zur Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge liegen derzeit
nicht vor.“
Laut Lars Castellucci, dem migrationspolitischen Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, gibt es aktuell aber bereits Zusagen mehrerer
europäischer Länder, darunter Portugal, Frankreich und die Schweiz,
unbegleitete Minderjährige aus Griechenland aufzunehmen. „Damit ist der
Weg frei, Schutzbedürftige nach Deutschland zu holen“, so Castellucci.
„Ich erwarte, dass der Innenminister nun seine Zustimmung erteilt, damit
endlich gehandelt werden kann.“
Alena Specht
(https://www.zeit.de/2020/09/lesbos-fluechtlingslager-kinder-krankheit-apathie-griechenland/komplettansicht)
—
Jean Ziegler war auf Lesbos im grössten europäischen Flüchtlingslager: «Die Suizide von Kindern sind das Schlimmste»
Jean Ziegler (86) war bei den Flüchtlingen auf Lesbos und hat darüber
ein Buch geschrieben. Was dort geschehe, sei «die Schande Europas», sagt
er. Ein Gespräch über erfrorene Kinder, die Flüchtlingsstrategie der EU
und Fans bei einem Mittagessen in Genf.
https://www.blick.ch/news/politik/jean-ziegler-war-auf-lesbos-im-groessten-europaeischen-fluechtlingslager-die-suizide-von-kindern-sind-das-schlimmste-id15772791.html
+++TÜRKEI/GRIECHENLAND/EU
Provinz Edirne: EU-Behörde Frontex sendet Verstärkung an griechische Grenze
Die EU reagiert auf die angespannte Lage an der türkisch-griechischen
Grenze, wo Tausende Migranten ausharren. Die Behörde Frontex kündigt an,
Einsatzkräfte zu entsenden. Die Alarmstufe für alle EU-Grenzen zur
Türkei sei auf „hoch“ angehoben worden.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-eu-behoerde-frontex-schickt-verstaerkung-an-griechische-grenze-a-c6a57b4c-7ccd-49de-ab8d-2ec3cf9e53d3
-> https://www.derstandard.at/story/2000115196788/mehr-als-13-000-menschen-an-tuerkisch-griechischer-grenze
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/eu-behoerde-frontex-schickt-verstaerkung-an-griechische-grenze,RrybpL9
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/eu-grenzschutz-syrische-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-frontex
-> https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-fluechtlinge-tuerkei-erdogan-101.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-fluechtlinge-tuerkei-un-101.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-fluechtlinge-tuerkei-erdogan-105.html
-> https://www.heise.de/tp/features/Tore-geoeffnet-Schickt-die-Tuerkei-Migranten-an-die-Grenzen-der-EU-4671872.html
-> https://taz.de/Gefluechtete-an-EU-Aussengrenze/!5668019/
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133623.flucht-und-migration-nach-europa-mitgefuehl-ueber-bord.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133615.flucht-und-migration-nach-europa-eu-verstaerkt-frontex-an-eu-grenze-in-griechenland.html
-> https://ffm-online.org/situation-an-evros-und-aegaeis/
-> https://www.derbund.ch/ausland/europa/griechenland-vertreibt-fluechtlinge-mit-traenengas/story/28435431
-> https://www.srf.ch/news/international/nach-grenzoeffnung-der-tuerkei-tausende-fluechtlinge-harren-vor-griechischer-grenze-aus
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/grenze-griechenland-tuerkei-fluechtlinge-kastanies
-> https://www.nzz.ch/international/proteste-wegen-migrantenlager-auf-lesbos-und-chios-eskalieren-rettungsschiff-ocean-viking-darf-wieder-in-italien-anlegen-die-neusten-entwicklungen-zur-migrationskrise-ld.1535949
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133637.lesbos-gefangen-auf-der-flucht.html
-> https://www.tagblatt.ch/international/tuerkei-mehr-als-75-000-migranten-in-eu-eingereist-ld.1199561
-> https://www.derstandard.at/story/2000115208748/oesterreich-bietet-griechenland-hilfe-bei-grenzschutz-an?ref=rss
-> https://www.derstandard.at/story/2000115209340/fluechtlingsresettlement-jetzt?ref=rss
-> https://www.blick.ch/news/ausland/nahost/erdogan-spielt-erneut-die-fluechtlings-karte-endspiel-mit-ansage-id15774568.html
-> https://www.nzz.ch/international/erdogan-erhoeht-den-druck-auf-europa-ld.1543534
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/migrationsforscher-knaus-eu-fluechtlingspakt-100.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/373599.krieg-in-syrien-erdogans-kriegserkl%C3%A4rung.html
-> https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/kehrt-lieber-um-neue-fluechtlingskrise-vor-der-griechischen-grenze-erdogan-stellt-forderungen-136445665
-> https://www.srf.ch/news/international/fluechtende-aus-der-tuerkei-die-europaeische-union-muss-handeln
-> https://www.blick.ch/news/ausland/tuerkei-oeffnet-grenzen-zu-griechenland-erdogan-raecht-sich-an-der-eu-id15775793.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/grenze-tuerkei-griechenland-101.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/grenzstreit-mit-der-tuerkei-griechische-regierung-spricht.1939.de.html?drn:news_id=1106406
-> https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/nahost-experte-gerlach-im-gespraech-100.html
+++SYRIEN
Erdogan öffnet nur eine Grenze
Bis zu eine Million Menschen hoffen im syrischen Idlib unter teils
katastrophalen Bedingungen darauf, in die Türkei fliehen zu können
https://www.derstandard.at/story/2000115206198/erdogan-oeffnet-nur-eine-grenze?ref=rss
Journalistin über Idlib: Kleinkinder erfrieren, Krankenhäuser sind geschlossen
Die militärische Eskalation in der syrischen Provinz Idlib hat die
Situation der Geflüchteten an der türkisch-syrischen Grenze verschärft.
Inzwischen habe die WHO mobile Krankenhäuser geschaffen, um den
Geflüchteten besser folgen zu können, sagte die Journalistin Kristin
Helberg im Dlf.
https://www.deutschlandfunk.de/journalistin-ueber-idlib-kleinkinder-erfrieren.694.de.html?dram:article_id=471411
+++GASSE
Massnahmen gegen «Gammelwohnungen» in Winterthur gefordert
Ein Vorstoss aus dem Winterthurer Gemeinderat erkundigt sich nach
möglichen Massnahmen gegen «Gammelwohnungen». In der Stadt gebe es
Vermieter, die sich auf Kosten sozial Schwacher bereichern.
https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/massnahmen-gegen-gammelwohnungen-in-winterthur-gefordert-00129616/
+++ANTIRA
Roan (23) wurde Opfer von Corona-Rassismus
Der Sitznachbar im Zug desinfizierte sich demonstrativ vor Roan die
Hände – weil sie asiatisch aussieht. «Ich habe danach zwei Stunden
geweint», sagt sie.
https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Roan–23–wurde-Opfer-von-Corona-Rassismus-19870315
+++RECHTSEXTREMISMUS
Verein Uniter zieht nach Zug – ALG besorgt: «Zug könnte dem Vorwurf grosser Naivität ausgesetzt werden»
Der umstrittene Verein Uniter verlegt seinen Sitz nach Rotkreuz. Der
Verein stand in den Schlagzeilen, weil dessen Mitglieder
rechtsextremistische Ansichten teilen sollen. Die Alternativen – die
Grünen sind besorgt über diese Niederlassung.
https://www.zentralplus.ch/alg-ist-besorgt-zug-koennte-dem-vorwurf-grosser-naivitaet-ausgesetzt-werden-1740183/
Die Legende vom Einzeltäter: Rechter Terror in Europa
Ob NSU-Terror, der Mord an Walter Lübcke oder der rassistische Anschlag
in Hanau: Die Taten richten sich gegen Menschen, die von Rechtsextremen
zu Feinden erklärt werden: Migranten, Juden, Muslime, Linke,
Journalisten und Politiker. Deutlich wird, dass das Narrativ vom
Einzeltäter auserzählt ist: Viele Mörder handeln zwar allein, aber in
ihrer Weltanschauung sind sie das längst nicht mehr. Auf den Spuren des
Rechtsextremismus in Europa.
https://www.arte.tv/de/videos/093712-000-A/die-legende-vom-einzeltaeter/
Weg mit dem Hufeisen
Warum es gefährlich und falsch ist, rechtsextreme Gewalt und Antifaschismus gleichzusetzen.
https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/weg-mit-dem-hufeisen/story/28283883
Die traurige Welt der «Incels»: Frauen sind schuld. An allem.
Eine neues Buch erklärt ein Internetphänomen. Warum sogenannte Incels so
gefährlich sind. Und warum es mehr von ihnen gibt, als wir bisher
dachten.
https://www.blick.ch/news/ausland/die-traurige-welt-der-incels-frauen-sind-schuld-an-allem-id15772572.html
+++CRYPTO-LEAKS
Die Crypto, ihre Verwaltungsräte und ihre Kritiker
Die Cryptoleaks lösen eine längst überfällige Debatte über die Nähe der
Zuger Politik zu fragwürdigen Firmen aus, findet unser Gastautor Josef
Lang. Der Historiker und ehemalige Nationalrat erinnert sich an die
Zeit, in der die heutigen Erkenntnisse noch als «Hirngespinste» abgetan
wurden.
https://www.zentralplus.ch/die-crypto-ihre-verwaltungsraete-und-ihre-kritiker-1739405/
—
Sonntagszeitung 01.03.2020
Bund geht gegen Crypto AG vor
Das Seco erstattet Anzeige wegen der vom US-Geheimdienst kontrollierten
Zuger Firma. Die Behörde hegt den Verdacht, dass sie getäuscht wurde.
Kurt Pelda, Thomas Knellwolf
Nun hat die Affäre um die Zuger Crypto AG juristische Folgen – weil das
Departement von Wirtschaftsminister Guy Parmelin eingreift. Am Dienstag
hat das dort angesiedelte Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in
der Sache Anzeige erstattet, wie Recherchen der SonntagsZeitung zeigen.
Die Behörde, die unter anderem für die Bewilligung von
Kriegsmaterialexporten zuständig ist, hegt den Verdacht, dass sie durch
Ausfuhrgesuche für manipulierte Crypto-Chiffriergeräte getäuscht wurde.
Die Bundesanwaltschaft bestätigte den Eingang des Strafantrags.
Jahrzehntelang hat die Crypto AG ausländische Regierungen und Armeen mit
Chiffriergeräten beliefert, die von den Geheimdiensten der USA und
Deutschlands mit wenig Aufwand zu entschlüsseln waren. Grund dafür waren
eingebaute «Hintertüren» oder absichtlich geschwächte
Verschlüsselungsalgorithmen.
Damit hat die Crypto AG nicht nur unzählige Staaten, vor allem in der
muslimischen Welt und in Lateinamerika, über den Tisch gezogen, sondern
mutmasslich auch das Seco. Die Behörde stellt sich auf den Standpunkt,
dass sie diese Exporte nie und nimmer bewilligt hätte, wenn sie über das
gross angelegte Betrugsmanöver im Bild gewesen wäre. Die Crypto AG
befand sich bis 2018 im Besitz des US-Auslandsgeheimdienstes CIA.
Harte Strafen und hohe Bussen sind möglich
Die Strafanzeige richtet sich gegen Unbekannt, weil bisher nicht klar
ist, wer genau bei der Crypto AG und anderswo von den Manipulationen
wusste. In seiner besten Zeit hatte der Chiffriergerätehersteller im
zugerischen Steinhausen rund 400 Angestellte, von denen nur einige
wenige eingeweiht waren. Es ist nicht klar, auf welchen Zeitraum sich
die Strafanzeige genau bezieht und welche Beweismittel eingereicht
wurden.
Fest steht hingegen, dass sich das Seco bei seiner Anzeige auf Artikel
14 des Güterkontrollgesetzes bezieht. Demnach wird mit Gefängnis oder
mit Busse bis zu einer Million Franken bestraft, wer in einem Gesuch
unrichtige oder unvollständige Angaben macht, «die für die Erteilung
einer Bewilligung wesentlich sind». In schweren Fällen kann die
Freiheitsstrafe bis zehn Jahre betragen, und die mögliche Geldbusse
steigt auf maximal 5 Millionen Franken.
Die Bundesanwaltschaft teilte mit, dass sie noch kein Strafverfahren
eröffnet habe. Das ist nicht weiter erstaunlich, weil die Anzeige ja
erst gerade eingetroffen ist. Die Strafverfolger in Bern werden nun
gemäss eigenen Angaben untersuchen, ob ein hinreichender Verdacht
besteht und die angezeigten Tatbestände der Bundesgerichtsbarkeit
unterstehen. Letztere Frage beantwortet das Güterkontrollgesetz
eindeutig: Demnach ist für Verfolgung und Beurteilung von
Widerhandlungen nach Artikel 14 das Bundesstrafgericht in Bellinzona
zuständig. Aus demselben Gesetzesparagrafen geht hervor, dass das Seco
als Bewilligungs- und Kontrollbehörde verpflichtet war, bei Verdacht die
Bundesanwaltschaft einzuschalten.
Damit ist eine strafrechtliche Aufarbeitung der Crypto-Affäre um einiges
nähergerückt. Die Bundesanwaltschaft braucht keine Ermächtigung aus dem
Bundesrat, um mutmassliche Verstösse gegen das Güterkontrollgesetz zu
verfolgen. Bei Spionageverdacht wäre dies notwendig.
Der Bundesrat hat nichts mehr zu sagen
Verfahren der Bundesanwaltschaft nehmen oft viel Zeit in Anspruch.
Deshalb ist es sehr gut möglich, dass die am 13. Februar begonnene
Inspektion der Geschäftsprüfungskommission des Parlaments (GPDel) früher
zur Aufklärung beitragen wird. Die Aufseher sprachen sich diese Woche
mit Verteidigungsministerin Viola Amherd aus und haben den vom Bundesrat
eingesetzten Experten, den Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer,
übernommen. Damit hat die Landesregierung auch in diesem Zusammenhang
nichts mehr direkt zu sagen. Das Heft in der Hand haben nun die
Strafverfolgung und die parlamentarische Aufsicht.
Die GPDel hat inzwischen an mehreren Sitzungen Personen angehört, die
Informationen über die Crypto-Affäre haben könnten. Rede und Antwort
stehen mussten mehrere aktuelle und frühere Chefs schweizerischer
Nachrichtendienste, darunter der aktuelle Direktor des
Nachrichtendiensts des Bundes (NDB), Jean-Philippe Gaudin.
(https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/bund-geht-gegen-ciafabrik-vor/story/13324009)
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Strafanzeige des Seco – Crypto-Affäre wird nun juristisch aufgearbeitet
Die Bundesanwaltschaft muss die Anzeige wegen mutmasslichen Manipulationen beim Verkauf von Chiffriergeräten nun prüfen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/strafanzeige-des-seco-crypto-affaere-wird-nun-juristisch-aufgearbeitet
-> https://www.nzz.ch/schweiz/cryptoleaks-antworten-zu-spionageaffaere-um-zuger-firma-ld.1540009
-> https://www.nzz.ch/schweiz/seco-hat-anzeige-gegen-die-crypto-ag-eingereicht-ld.1543676
+++HISTORY
Diese Historikerin arbeitete ein dunkles Kapitel in der Geschichte Unterägeris auf
Wer zu stark von bürgerlichen Werten abwich, wurde hart bestraft. Das zeigt die Masterarbeit der Stadtzugerin Judith Kälin.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/ein-dunkles-kapitel-in-der-geschichte-unteraegeris-ld.1199182