Medienspiegel 5. Februar 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Nach über 60 Jahren erinnert sich der Bundesrat an Afrika
Bundespräsidentin Sommaruga lädt einen afrikanischen Präsidenten zum Staatsbesuch – zum ersten Mal seit 1956.
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/sommaruga-schickt-ein-freundschaftssignal-nach-afrika/story/22709110


+++DEUTSCHLAND
Flüchtlinge in der EU: „Wir brauchen nicht den 20. Masterplan“
Nach einem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos plädiert die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für pragmatische Lösungen auf EU-Ebene. Dem Vorschlag ihres Parteichefs Christian Lindner, Migranten in Nordafrika unterzubringen, erteilte sie im Dlf eine Absage.
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-der-eu-wir-brauchen-nicht-den-20-masterplan.694.de.html?dram:article_id=469551


+++GRIECHENLAND
Die Politiker spielen Schach auf dem Rücken der Flüchtlinge
Allmählich beginnen die Flüchtlinge auf den Ägäis-Inseln gegen ihre unmenschliche Situation aufzubegehren. Auch die Einheimischen fühlen sich mit einer immer schwierigeren Situation konfrontiert. Im Gespräch mit Radio Dreyeckland berichtet Mixalis Avaliotis von der lokalen Flüchtlingshilfsorganisation „Stand by me Lesvos“ (SBML) über die Lage auf Lesbos und er fürchtet eine weitere Eskalation. Er bete, dass es nicht dazu komme, aber er könne es „förmlich riechen“. Indessen hat der deutsche Heimat- und Innenminister, Horst Seehofer erst vor kurzem abgelehnt, wenigstens Minderjährige von den Inseln zu holen. Da müsse eine europäische Lösung her. Doch auf Europa und das weiß auch Seehofer sehr genau, kann er da leider lange warten.
https://www.freie-radios.net/99727


Lager auf Ägäis-Inseln: Griechenland will Flüchtlingshelfer strenger kontrollieren
42.000 Flüchtlinge harren unter teils unmenschlichen Bedingungen auf griechischen Inseln aus. Oft springen NGOs für den Staat ein. Nun verschärft die Regierung die Regeln für die Helfer.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-will-fluechtlingshelfer-strenger-kontrollieren-a-52eedf51-f715-49ea-801a-cbc7eb104187


Flüchtlingslager auf Lesbos: Die Hölle von Moria
Das Camp Moria befindet sich auf der griechischen Insel Lesbos, 10 km von der Türkei entfernt. Es ist das größte Flüchtlingslager Europas, ein sogenannter Hotspot, wo Migranten auf ihre Asylentscheidung warten – unter unmenschlichen Bedingungen.
https://www.arte.tv/de/videos/095311-000-A/fluechtlingslager-auf-lesbos-die-hoelle-von-moria/


+++TÜRKEI
Kurdenregion in Syrien: Bundestags-Gutachten warnt vor türkischem Umsiedlungsplan
Die Türkei will Flüchtlinge in Nordsyriens Kurdenregion ansiedeln. Laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestags sei dies „nur in den engen Grenzen“ zulässig.
https://www.tagesspiegel.de/politik/kurdenregion-in-syrien-bundestags-gutachten-warnt-vor-tuerkischem-umsiedlungsplan/25506872.html


+++LIBYEN
Uno-Flüchtlingskommissar zu Libyen: „Nur einen Herzschlag von der Katastrophe entfernt“
Krieg, Folter, sexueller Missbrauch – die Lage der Migranten in Libyen ist dramatisch. Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi fordert in seinem Gastbeitrag: Die Welt muss sich ernsthaft einmischen.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-die-uno-hilft-fluechtlingen-weiter-a-bece57e4-1be6-4546-ad30-3da5fcb75011


+++FLUCHT
Kaum 5 von 100 schutzbedürftigen Flüchtlingen finden neue Heimat
Von den schutzbedürftigsten Flüchtlingen haben laut der Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) im vergangenen Jahr weniger als fünf Prozent ein Zuhause gefunden.
https://www.nau.ch/news/europa/kaum-5-von-100-schutzbedurftigen-fluchtlingen-finden-neue-heimat-65657558


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Transitplatz Wileroltigen: Fahrende brechen ungeschriebenes Gesetz
Am Sonntag entscheiden die Berner Stimmbürger über den Kredit für den rund 3 Millionen Franken teuren Transitplatz für ausländische Fahrende. Nur wenige Tage vor der Abstimmung setzen Fahrende mit einer Aktion nochmals ein Zeichen dafür. Und verstossen damit gegen ein inoffizielles Gesetz.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/transitplatz-wileroltigen-fahrende-brechen-ungeschriebenes-gesetz-136330322



derbund.ch 05.02.2020

Zwist unter Fahrenden in letzter Minute

Schweizer Jenische und Sinti sind sich beim Transitplatz für ausländische Fahrende nicht einig. Warum ist das so?

Martin Erdmann

Der Waisenhausplatz ist geräumig. Dennoch parkierten die beiden Wohnwagen in deutlicher Distanz voneinander. Das versinnbildlicht: Die Abstimmung zum Transitplatz in Wileroltigen spaltet die Meinungen der Schweizer Jenischen und Sinti. Vor dem einen Wohnwagen haben sich jene versammelt, die kommenden Sonntag ein Ja in die Urne legen werden (darum geht es). Vor den Medien erklären sie, wie sie den Abstimmungskampf wahrgenommen haben und wieso sie bei einem Nein eine Verschlechterung der Lebenssituation aller Fahrenden fürchten.

Fino Winter ist Präsident von Sinti Schweiz. Im Winter ist er auf dem Standplatz Bern-Buech zu Hause, im Sommer ist er unterwegs. Er stellt fest: «Ein neuer Rassismus flackert auf.» Beim Hausieren würden Leute öfter verschlossen, abweisend und mit Angst reagieren. Grund dafür sieht er in Vorurteilen, die gegenüber ausländischen Fahrenden geschaffen werden. «Weil alle in einen Topf geworfen werden, macht das auch Schweizer Fahrenden das Leben und Arbeiten schwer.» Von einer Aufteilung nach in- und ausländischen Fahrenden hält er grundsätzlich wenig. «Schlussendlich sind wir ein Volk.»

Es ist ein Volk, das immer stärker marginalisiert wird, sagt Venanz Nobel vom Verein «Schäft qwant». Werden keine Plätze geschaffen, gäbe es keine Gleichberechtigung zwischen Fahrenden und Sesshaften. Von Gegnern des Platzes in Wileroltigen wird verlangt, dass sich Fahrende an Regeln halten sollen. Nobel findet diese Forderung in Ordnung, fügt aber an: «Eine Integration kann nur dann verlangt werden, wenn die Leute nicht aktiv aus der Gesellschaft hinausgeworfen werden.» Genau das würden Fahrende in der Schweiz aber seit Jahrzehnten erleben (lesen Sie mehr im Interview). «Ein Platz wie in Wileroltigen wäre daher ein Schritt in die richtige Richtung.»

Gegner verlangen härtere Gesetze

Beim Wohnwagen auf der anderen Seite des Waisenhausplatzes ist man da anderer Meinung. Auf seine Aussenseite wurden diverse Nein-Parolen gesprüht. Er gehört Andreas Geringer, Präsident vom Verein Sinti und Roma Schweiz. Als er Wind davon bekommen hat, dass eine Pro-Aktion geplant ist, hat er sich ebenfalls für einen Spontanhalt auf dem Waisenhausplatz entschieden – ohne Begleitung anderer Sinit und Jenischen, dafür mit dem Bürgerkomitee Wileroltigen im Anhang. «Ich befinde mich in einer zwiespältigen Situation», sagt er (lesen Sie mehr dazu im Interview). Zwar sei er grundsätzlich für Transitplätze, jener in Wileroltigen lehnt er jedoch strikt ab, obwohl er ihn lange Zeit unterstützt hat.

Geringer spricht von einem «falschen Zeitpunkt». Er verlangt, dass zuerst gesetzliche Mittel geschaffen werden, um gegen Fahrende vorgehen zu können, die sich nicht an die Regeln halten. Diese würden zurzeit fehlen, sagt Geringer. «Die Polizei hat teilweise Angst, auch nur Ausweiskontrollen durchzuführen.» Viel zu oft würde vor Problemen mit ausländischen Fahrenden einfach die Augen geschlossen werden. Schweizer Fahrende dagegen würden deutlich rabiater angegangen werden. «Halten sie sich nicht an das Gesetz, werden sie sofort bestraft.»

«Das ist diskriminierend»

Der Platz sorgt auch bei Befürwortern für Kritik – auch wenn sich diese stark von jenen der Gegner unterscheiden. Doris Bösch vom Verein «Schäft qwant» stört sich am zwei Meter hohen Sichtschutz, der den Platz umringen soll. «Das ist den Menschen gegenüber diskriminierend.» Zudem würde so verhindert werden, dass sich Sesshafte und Fahrende kennen lernen könnten. Dennoch kommt für sie ein Nein nicht infrage. «Jeder verhinderte Platz wirft auch die Anliegen und Rechte der Schweizer Fahrenden um Jahre zurück.»

Für Stefan Heinichen ist die lange Debatte zu Wileroltigen alles andere als ideal verlaufen. «Es ist absurd, dass die Direktbetroffenen, sprich Roma-Gruppen aus dem nahen Ausland, nie zu Wort gekommen sind», sagt der Roma-Kenner, der Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ist. Wenn der Platz angenommen werde, hofft er, dass sich das ändert. «Roma müssen in die Platzgestaltung miteinbezogen und wie Menschen behandelt werden.»
(https://www.derbund.ch/bern/fahrendezwist-in-letzter-minute/story/20687150)


+++REPRESSION DE
Interview zum Indymedia Linksunten-Prozess
Das Interview dreht sich um den Prozess der am 29.01.2020 am BVG in Leipzig verhandelt worden ist.
Und die daraus folgenden Konsequenzen für andere systemkritische Medien.
Ihr findet das Interview hier:
https://frequenza.noblogs.org/post/2020/02/04/interview-prozess-linksunten-bvg-29-01-2020/


Berlins beliebteste Staatsfeinde: ein Besuch in der Rigaer Strasse
Mitten in der deutschen Hauptstadt gedeiht seit Jahren ein Zentrum linker Gewalt. Attacken auf Polizisten und Drohungen gegen Anwohner sind an der Tagesordnung. Doch es passiert – nichts.
https://www.nzz.ch/international/berlins-beliebteste-staatsfeinde-ein-besuch-in-der-rigaer-strasse-ld.1534348


+++SPORTREPRESSION
«Sie geniessen es, Angst und Schrecken zu verbreiten»
FCB-Chaoten vor Gericht: Staatsanwalt fordert unbedingte Haftstrafen in fünf Fällen.
https://www.bazonline.ch/basel/stadt/sie-geniessen-es-angst-und-schrecken-zu-verbreiten/story/15819984
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/basel/tag-3-im-prozess-um-die-schlacht-von-basel-staatsanwalt-will-chaoten-hinter-gittern-sehen-id15735580.html
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/krawalle-aus-dem-jahr-2016-fuenf-hooligans-sollen-in-den-knast-136332378
-> https://telebasel.ch/telebasel-news/?channel=15881


+++POLIZEI BS
Basler Polizei – Polizistinnen und Polizisten müssen die Schulbank länger drücken
Die Ausbildung für Basler Polizistinnen und Polizisten wird an den Schweizer Standard angepasst und dauert acht Monate länger.
https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/basler-polizei-polizistinnen-und-polizisten-muessen-die-schulbank-laenger-druecken
-> https://www.bs.ch/nm/2020-neukonzeption-der-polizeiausbildung-in-der-schweiz-und-basel-stadt-basler-polizistinnen-und-polizisten-werden-noch-gezielter-auf-ihren-anspruchsvollen-beruf-vorbereitet-jsd.html
-> https://www.bazonline.ch/basel/stadt/basler-polizeiausbildung-dauert-am-laengsten/story/21987659
-> https://telebasel.ch/2020/02/05/neu-werden-basler-schugger-vier-jahre-ausgebildet/?channel=105100


+++ANTIRA
antira-Wochenschau: Entrechtung auf Vorrat, (un-)politische Nächstenliebe, SVP ohne Spitze
https://antira.org/2020/02/05/antira-wochenschau-entrechtung-auf-vorrat-un-politische-naechstenliebe-svp-ohne-spitze/


#JeSuisLaederach, Diskriminierung & Religion
Reda el Arbi schreibt ab sofort Gastbeiträge auf Nau.ch. Der gebürtige Zürcher fragt: Was haben Heuchelei, Diskriminierung und Schokolade gemeinsam?
https://www.nau.ch/news/stimmen-der-schweiz/jesuislaederach-diskriminierung-religion-65657100


+++RECHTSEXTREMISMUS
„heute an der @ETH und der @UZH_ch als flyer auf dem campus gesichtet: antisemit*innen trauen sich aus ihren verstecken und kommen mit radikalen verschwörungstheorien und nazirhetorik!
widerstand jedem antisemitismus: an hochschulen und überall! handelt!“
(https://twitter.com/moijeanluc/status/1224802541738872832)
-> Noch mehr von diesem braun-weissen Müll: https://ironyouthschweiz.blogspot.com/


+++FUNDIS
#JeSuisLächerlich
Das Schoggi-Imperium Läderach und dessen rechtsgewandte FreundInnen echauffieren sich medienwirksam und Hashtag-stark darüber, dass die Hassgesinnung der Besitzerfamilie nun nach Jahren auf sie zurückfällt. Man könnte jetzt über freien Markt, pink-washed capitalism auf Seiten der Boykottierenden und die Ungerechtigkeiten der Moral sprechen. Oder man lässt es sein und schüttelt vergnügt den Kopf.
https://daslamm.ch/jesuislaecherlich/


+++HISTORY
Schweizer KZ-Häftlinge: Vom eigenen Land im Stich gelassen
Eine Studie offenbart, wie wenig Schweizer Diplomaten für ihre Landsleute taten, die vom NS-Regime inhaftiert worden waren. Auch die Überlebenden behandelte man kaltherzig.
https://www.spiegel.de/geschichte/kz-haeftlinge-aus-der-schweiz-vom-eigenen-land-im-stich-gelassen-a-1bafdd8a-c04b-4656-b1a3-0b816c3a16ca?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph


Wenn Unrecht nach 1981 geschah: Kein Geld für Opfer von Zwangsmassnahmen
Verdingkinder haben nur Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag, wenn die Massnahmen vor 1981 beschlossen wurden. Menschen, denen nach diesem Stichtag von Seiten der Behörden Leid angetan wurde, gehen leer aus. Dies zeigen zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts.
https://www.blick.ch/news/politik/wenn-unrecht-nach-1981-geschah-kein-geld-fuer-opfer-von-zwangsmassnahmen-id15734668.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/urteile-des-bundesgerichts-opfer-von-zwangsmassnahmen-nach-1981-gehen-leer-aus


+++BIG BROTHER
Überwachung: Geheimdienst an die Kandare!
Der Staatsrechtler Rainer J. Schweizer kritisierte bereits 2015 das neu konzipierte Nachrichtendienstgesetz (NDG) als Gefahr für die «freiheitliche Demokratie»: Es sei inakzeptabel, denn eine solche «Schnüffelei» würde «die Gesellschaft vergiften» und einen «undemokratischen Anpassungsdruck auf kritische Landesbewohner oder abweichend denkende und glaubende Menschen» ausüben.
https://www.woz.ch/2006/ueberwachung/geheimdienst-an-die-kandare



zeit.de 05.02.2020

Fichenskandal: Aufstnd gegen den „Schnüffelstaat“

FICHENSKANDAL: AUFSTAND GEGEN DEN „SCHNÜFFELSTAAT“
Vor dreißig Jahren empört der Fichenskandal die Schweiz. Was ist von der Massenüberwachung und dem Denunziantentum geblieben? Mehr als wir meinen.

Ein Gastbeitrag von Lukas Nyffenegger

Als in Berlin im Herbst 1989 die Mauer fällt, gerät in Bern die bürgerliche Ordnung ins Wanken. Eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) bringt am 22. November das grotesk aufgeblähte Archiv des Schweizer Staatsschutzes wortwörtlich ans Licht: 700.000 Bürgerinnen und Bürger, Ausländerinnen und Ausländer wurden von der politischen Polizei in Listen registriert, und ihre zumeist harmlosen Handlungen oder Aussagen in Fichen festgehalten.

Die Bundesanwaltschaft führte von ihrem Hauptsitz an der Berner Taubenstraße einen innenpolitischen kalten Krieg gegen die eigene Bevölkerung.

Hunderttausende Fichierte verlangen Einsicht in ihre Dossiers. Bald ist klar: Aktenkundig sind vornehmlich Linke, Halblinke und mit Linken Bekannte, aber auch Miteidgenossen, die zu Werbezwecken das Organ der Kommunistischen Partei zugesandt bekommen haben. Zwei Drittel der Fichierten sind Ausländerinnen und Ausländer.

Wut und Unverständnis treiben die Überwachten am 3. März 1990 auf die Straße. In Bern vor dem Bundeshaus demonstrieren sie gegen den „Schnüffelstaat“. Die Kundgebung verläuft zunächst friedlich. Max Frisch, gesundheitlich angeschlagen, lässt eine Rede vorlesen und entzieht dem Staat sein Vertrauen. Adolf Muschg spricht: „Die Fichenaffäre hat eine unerträgliche Demokratie-Verspätung aufgedeckt.“ Dann brennen Autos. Wasserwerfer fahren auf. Tränengas schmerzt in den Augen. Franz Hohler, erschüttert vom Gewaltausbruch des schwarzen Blocks, lässt sein Cello im Kasten.

Die Schweiz, die Pächterin der Freiheit und Erfinderin der Demokratie, der historische Sonderfall schlechthin: Der Glaube an diese Erzählung schwindet in diesen helvetischen Wendejahren – bis weit ins bürgerlich-konservative Lager hinein.

Im Frühling 1990 feiern die europäischen Länder das Ende des Zweiten Weltkriegs. Nur wenige Monate zuvor, im Sommer 1989, erinnert sich die Schweiz mit den sogenannten Diamantfeiern an die Mobilmachung und den Kriegsbeginn.

Doch dieser mythische Kern helvetischer Selbstbeschreibung, die tradierte „Wehrhaftigkeit“, welche die Schweiz vor den Verwüstungen der beiden Weltkriege bewahrt haben soll, löst sich nach und nach auf.

Ende November 1989 stimmt ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer für die GSoA-Initiative und damit für die Abschaffung der Armee. Eine Ungeheuerlichkeit in einer Nation, die in ihrem Selbstverständnis keine Armee hatte, sondern eine war.

Als im Juni 1991 Hunderttausende Schweizerinnen und Ausländerinnen unter dem Motto „Wenn Frau will, steht alles still“ die Straßen bevölkern, um den zehn Jahre zuvor in die Bundesverfassung geschriebenen Gleichstellungsartikel endlich durchzusetzen, scheinen die alten Kräfte endgültig nicht mehr Herr im Haus zu sein.

Armeeabschaffung, Fichendemo, Frauenstreik: Alle diese Ereignisse wenden sich gegen eine männerbündisch organisierte, konservative Schweiz, welche die Geschichte des Landes seit Jahrzehnten prägt.

Die Seilschaften der Mächtigen, in Studentenverbindungen geknüpft, in der Armee und im Vereinswesen kultiviert, im eidgenössischen Parlament, in staatlichen Institutionen und der Wirtschaft tagtäglich gelebt, stehen vor ihrer ultimativen Zerreißprobe.

Trotzdem, oder gerade deshalb, soll 1991 in einer opulent inszenierten Feier der 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft begangen werden. Doch als die Fichenaffäre auffliegt, ist auch dem letzten Kulturschaffenden die Lust aufs Feiern vergangen. Sie boykottieren das Jubiläum. „Diese 700-jährige Schweiz ist die unsrige nicht“, schreibt der linke Autor Fredi Lerch.

Die bürgerliche Schweiz steckt am Ende des Kalten Krieges in einer tiefen Sinnkrise. Kritik an der politischen Polizei, der Armee, den staatlich dekretierten Eidgenossen-Jubelfeiern und dann die Abertausenden Frauen, die zwar erst seit 1971 wählen und abstimmen dürfen, nun aber umso lauter auf ihren verfassungsmäßigen Rechten beharren: Wenn der Schweizer ein vorsintflutliches Wesen in ständiger Erwartung der Sintflut ist, wie Friedrich Dürrenmatt schreibt, dann droht das bürgerliche Machtzentrum gerade unterzugehen.

Mit der Großdemonstration vom 3. März 1990 gegen den „Schnüffelstaat“, versichern sich die Schweizerinnen und Schweizer einander gegenseitig: Künftig verweigern wir uns der unkontrollierten staatlichen Sammelwut.
Was bleibt? Ernüchterung

Doch vergangene Woche, im Jahr 2020, wurde publik, dass die parlamentarische Oberaufsicht den Nachrichtendienst scharf kritisiert: Er hat unrechtmäßig Presseartikel gesammelt und damit wahllos seine Datenbanken gefüllt, in denen auch gewählte Politiker vermerkt sind. Nicht zum ersten Mal seit dem Fichenskandal.

In erschreckender Regelmäßigkeit erinnern journalistische Recherchen an die konsequente Missachtung des Versprechens, das der Staat 1989/90 abgegeben hat: Er werde unrechtmäßige Spitzel-Praktiken künftig unterlassen. Der Nachrichtendienst wurde zwar technologisch up to date gebracht. Allem voran das Aufschreibesystem hat sich geändert: digital in einem Dutzend Datenbanken, statt analog auf Tausenden Karteikarten. Die Fichenaffäre ist die helvetische Geburtsstunde von Big Data und einer transnationalen Verknüpfung von umfassenden Datenbeständen. Doch eine Kultur der Selbstreflexion etabliert sich dadurch nicht. Noch immer leidet der Staatschutz an blinder Datenvöllerei, mangelhafter Analyse politischer Tätigkeit und Überwachungsbürokratie.

Was also bleibt vom Fichenskandal, 30 Jahre nach dessen Enthüllung?

Zunächst: große Ernüchterung. Die alte Praxis des „Schnüffelstaates“ konnte sich in die neuen Nachrichtendienststrukturen hinüberretten. Und das sogar mit dem Abstimmungssegen der stimmberechtigten Bevölkerung. Im Jahr 2016 stimmte sie, geprägt vom meist medial erfahrenen, selten konkret erlebten globalen Terrorismus, für ein neues Nachrichtendienstgesetz.

Und sonst?

Klar, jene unzähligen, oft schweigenden oder auch unwissenden Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, an deren Leben die Staatsschützer mitgeschrieben haben, werden sich zum Jubiläum womöglich wieder daran erinnern, wie ihnen ihre rätselhaften biografischen Brüche und Wendungen in neuem Licht erschienen, seit sie ihre Fichen gesehen hatten.

In der breiteren Bevölkerung aber stößt die Fichenaffäre heute aus mannigfaltigen Gründen auf Desinteresse. Es gibt kaum mehr eine lebendige Kontinuität, welche die Gegenwart mit der Vergangenheit um 1990 verknüpft.

Nur wenige verpfuschte Biografien sind der Öffentlichkeit bekannt und geben der Überwachung ein menschliches Gesicht.

Ignoranz umhüllt die Rolle und die Auswirkung des Staatsschutzes. Aber auch die naive Vorstellung, Überwachung tangiere das eigene Leben nicht, trägt zur heutigen Bedeutungslosigkeit der Fichenaffäre bei.

Der Nachrichtendienst mag angesichts der Überwachungsoligarchie von Google, Facebook & Co. von nachrangiger Bedeutung sein. Was sollte der Staatsschutz über die eigene Person schon herausfinden, was nicht längst im Netz gespeichert und öffentlich ist?

Der wichtigste Grund aber ist die jahrzehntelange Bagatellisierung des Schweizer Nachrichtendienstes. Seine Fichen haften als verniedlichte Manifestation und letztlich unkritische Verkürzung dessen, was der Staatsschutz produzierte, im kollektiven Gedächtnis. „Sie trinkt abends gerne ein Bier“ – diese läppische Formulierung, sie stammt aus der Fiche der SP-Nationalrätin Menga Danuser, wirkt wie ein Brennglas auf die Geschichte des Staatsschutzes.

Der kaum jemals vollständig zitierte Ficheneintrag von Danuser zeigt nämlich: Hinter dem diffamierenden Bier-Spruch steckte ein umfassender Überwachungsapparat, der sich auf die Mitarbeit unbesoldeter Bürgerinnen und Bürger stützte.

In Danusers Fiche lesen wir, wie bedenkenlos und redselig Menschen aus dem Umfeld der Sozialdemokratin den staatlichen Schnüfflern Auskunft gaben. Darunter die Eltern, ihre Schülerinnen und Schüler, ihre Nachbarn, womöglich auch ihre Freunde.

Die Fichen nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, darin liegt die zugegebenermaßen nicht immer leichte Aufgabe, wenn man sich aus historischer Perspektive mit ihnen beschäftigt. Dafür muss man aber zuerst die Überwachungskultur analysieren, die diese Fichen erst ermöglichte.
Heute ist all das vergessen

Die neuere historische Forschung zeigt: Die Überwachung politischer Gegner ist in der Schweiz ganz wesentlich mit dem Milizgedanken und damit mit der Einbindung der Staatsbürger verknüpft. Staatsschutz und Gesinnungsüberprüfung sind das Geschäft aller und können überall betrieben werden, wo sich Menschen aufhalten. In der Kirche, an Beerdigungen, an politischen Versammlungen, im Schlafzimmer und in der gemeinsamen Waschküche.

Die Bundesanwaltschaft ist dabei nur ein Akteur unter vielen – und wohl nicht einmal der mächtigste. Erst kürzlich löste sich, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, die Aargauische Vaterländische Vereinigung (AVV) selber auf. Ihr letzter Präsident ist der landesweit bekannte SVP-Nationalrat Andreas Glarner.

Die AVV war eine der größten Überwachungsinstitutionen der Schweizer Geschichte. 1918 entstanden als Bürgerwehr im Umfeld des Landesstreiks, um den angeblich kurz bevorstehenden revolutionären Umsturz zu verhindern. Der von ihr mitinitiierte Schweizerische Vaterländische Verband (SVV) kooperiert eng mit der Bundesanwaltschaft, denunziert unzählige Juden, Kommunisten und Sozialisten. Als der private Nachrichtendienst 1948 auffliegt, löst sich der SVV auf – die Aargauer aber überwachen weiter. Historiker haben bis heute keinen Zugang zu ihrem Archiv.

Im Kalten Krieg entstehen zahlreiche neue private Schnüffeldienste. Die Schweiz wird von einem flächendeckenden Netz antikommunistischer Vereinigungen überzogen. Zum Beispiel der Schweizerische Aufklärungsdienst (SAD). Er ist bis in die späten 1970er-Jahre eng mit Bundesbern verbandelt. Die Bundesanwaltschaft abonniert seine Lageberichte und politischen Analysen. Die vollständige Mitgliederliste des SAD ist noch immer geheim.

Der bekannteste Kommunistenjäger ist der FDP-Nationalrat Ernst Cincera. Sein Archiv umfasst mehrere Tausend Fichen und wird 1976 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von linken Aktivisten ausgehoben. Der „Cincerismus“, wie der Berner Pfarrer Kurt Marti diese Kultur der gegenseitigen Überwachung und Denunziation bezeichnet, wird auch von Bürgerlichen kritisiert. Privater Staatsschutz ist daraufhin verpönt.

Doch diese Fichenaffäre avant la lettre spielte letztlich dem Staat in die Hände. Er konnte sich nunmehr als die einzig legitime Überwachungsinstitution inszenieren. CVP-Bundesrat Kurt Furgler, der in den 1970er-Jahren den Staatsschutz ausbaute, obwohl er mit seiner Antiterroreinheit und dem Polizeicomputer in den Volksabstimmungen scheiterte, erinnerte die Bevölkerung an ihre Bürgerpflicht zur Wachsamkeit, und er rief sie zum Schutz der Demokratie auf.

Damit schrieb Furgler fort, was mit der Geistigen Landesverteidigung in den 1930er-Jahren begann: Die Schweiz machte parteiübergreifend Front gegen den äußeren und inneren Feind. Im Zweiten Weltkrieg waren das die Faschisten und Nationalsozialisten im Süden und Norden, im Kalten Krieg die Kommunisten im Osten. Doch fielen darunter gleich alle politisch Andersdenkenden links der bürgerlichen Mitte.

Im Jahr 1969 wird im Auftrag des Bundesrates an alle Haushalte in der Schweiz das Zivilverteidigungsbuch verteilt, die bekannteste Schriftquelle jener Kultur der Bedrohung. Das Büchlein imaginiert sämtliche kritischen Bürgerinnen und Bürger als Marionetten von Moskau. Der gute Staatsbürger hat Aug’ und Ohren offen und meldet seine Beobachtungen den zuständigen Stellen – privaten Überwachungsvereinen oder der Bundesanwaltschaft.

Heute ist all das vergessen. Die historische Forschung hat sich, wenn überhaupt, seit den 1990er-Jahren auf die staatlichen Fichen fokussiert und das weite Feld behördlicher und privater Überwachung nur unvollständig aufgearbeitet. Die Geschichte des Datenschutzes und der Einführung von Computern im Nachrichtendienst wird ebenso noch zu schreiben sein wie diejenige der Antikommunismen im Kalten Krieg. Die historischen Verbindungen zwischen Migrations- und Überwachungsgeschichte sind nach wie vor ein blinder Fleck in der hiesigen Geschichtsschreibung. Das gilt auch für die Geschichte der privaten Staatsschützer, deren Erbe die rechtsbürgerlichen politischen Parteien angetreten haben.

Das Egerkinger-Komitee, das hinter der Minarett- und Burkaverbots-Initiative steckt, fordert die präventive Überwachung aller Moscheen. SVP-Politiker stellen unliebsame Lehrerinnen an den medialen Pranger. Jungfreisinnige warnen auf Twitter vor Linksextremen und rufen zu deren Überwachung auf.

Nicht zuletzt fehlt der Schweiz eine Geschichte ihrer staatlich Überwachten. Es überrascht deshalb nicht, dass der Bundesrat es nie für nötig gehalten hat, sich offiziell bei den 700.000 Fichierten zu entschuldigen.

Bis heute.



Lukas Nyffenegger

ist Historiker. Er schreibt an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich an einer Dissertation über die politische Überwachung in der Schweiz.
(https://www.zeit.de/2020/07/fichenskandal-schweiz-fichenaffaere-massenueberwachung/komplettansicht)



„Moskau einfach!“: Eine Komödie, was sonst?
Immer schon wollte der Schweizer Regisseur Micha Lewinsky den Fichenskandal verfilmen. Hier erzählt er, wie er endlich auf die
zündende Idee kam und daraus sein neuer Film „Moskau einfach!“ wurde.
https://www.zeit.de/2020/07/moskau-einfach-film-fichenskandal-komoedie



Überwachung: „Gefährlicher Extremist“
Im Kalten Krieg bespitzelte die Schweiz mehr als 700.000 ihrer Bürgerinnen und Bürger. Hier erzählen acht Fichierte von den lebenslangen Folgen des Übergriffs.
https://www.zeit.de/2020/07/ueberwachung-kalter-krieg-fichenskandal-schweiz-bespitzelung/komplettansicht


+++ARBEIT
bernerzeitung.ch 05.02.2020

«Im Gemüsebau importiert man Leute»

Ausländische Arbeitskräfte, die sich als Menschen zweiter Klasse fühlen. Und auch kein bäuerliches Familienidyll: Sarah Schilliger und Silva Lieberherr über die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft.

Lea Stuber

Wenn ich im Supermarkt einen Lauch kaufen will, erfahre ich den Preis, die Herkunft und ob er bio ist. Worüber werde ich aber nicht informiert?

Silva Lieberherr: Sie sehen dem Lauch aber nicht an, wer ihn geerntet hat. Und zu welchen Bedingungen das passiert ist. Das sind die grossen Unbekannten, auf die Sie im Supermarkt keine Antworten bekommen.

Für Ihre Studie haben Sie – auch in der Region Bern – mit ausländischen Arbeitskräften gesprochen. Wie sehen ihre Arbeitsbedingungen aus?

Sarah Schilliger: Es sind höchst prekäre Arbeitsverhältnisse. Die Arbeitszeiten sind sehr, sehr lang. In der Erntesaison kann ein Arbeitstag um sechs, halb sieben Uhr beginnen und bis zum Eindunkeln dauern. Da bleibt kaum Zeit, um sich von dieser körperlich anstrengenden Arbeit zu erholen. Freizeit bleibt nur am Sonntag. Und die Löhne sind mager. Die Richtlöhne liegen bei etwas mehr als 3000 Franken brutto. Wenn jemand auf dem Hof wohnt, wird fast ein Drittel des Lohns für Kost und Logis abgezogen. Das sind – für ein Leben in der Schweiz – nicht existenzsichernde Löhne.

Lieberherr: Darum sind es grösstenteils Migrantinnen und Migranten, die diese Arbeiten machen. Sie sind insbesondere während der Erntesaison in den Sommermonaten hier. Unter den Angestellten, die das ganze Jahr in der Landwirtschaft arbeiten, gibt es auch Schweizerinnen und Schweizer.

Was hat Sie am meisten erstaunt?

Schilliger: Wie isoliert die Landarbeiterinnen und Landarbeiter hier leben. Obwohl sie unser Gemüse ernten und dazu beitragen, dass es im Supermarkt schön parat steht. Ein Landarbeiter aus Polen hat mir gesagt: «Du bist die erste Schweizerin, die ich ausserhalb des Hofes kennen lerne.» Und es war nicht seine erste Saison hier in der Schweiz. Das hat mich berührt.

Bio ist besser für die Natur. Ist es auch besser für die Menschen, die dafür arbeiten?

Lieberherr: Biolabels haben oft soziale Mindestanforderungen, die sind aber nicht sehr hoch. Bio kostet mehr, weil die Supermärkte hohe Margen haben, die Bauern verdienen damit aber nicht unbedingt mehr. Eine Alternative sind Projekte der solidarischen Landwirtschaft, bei denen Konsumenten und Produzentinnen direkt zusammenarbeiten.

Wenn ich an Menschen denke, die unter prekären Bedingungen Gemüse ernten, dann habe ich eher Süditalien oder Südspanien im Kopf.

Schilliger: Ja, aber auch hier gibt es prekäre Situationen, die teilweise vergleichbar sind. Wobei wir von einer anderen Struktur der Landwirtschaft sprechen. In der Schweiz leben häufig nur zwei Landarbeiter auf einem Hof. Es gibt kaum so grosse Betriebe wie im spanischen Almería oder in Süditalien, wo Hunderte von migrantischen Landarbeiterinnen und Landarbeitern auf einer Plantage arbeiten.

Woher kommen die ausländischen Arbeitskräfte in der Schweizer Landwirtschaft?

Schilliger: Vorwiegend aus Portugal und aus osteuropäischen Ländern wie Polen und Rumänien. Auch Asylsuchende werden auf Höfen eingesetzt. Mit der EU-Osterweiterung hat es eine Verschiebung gegeben. Man greift eher auf legale Migration zurück, statt Leute ohne Aufenthaltsbewilligung schwarz anzustellen.

3000 Franken abzüglich Kost und Logis im Vergleich zum Lohn, den man etwa in Rumänien verdienen könnte, sind immer noch viel.

Lieberherr: Darum kommen die Leute, sie kommen freiwillig, aber aus ökonomischen Überlegungen.

Schilliger: Wir möchten doch von gleichem Lohn für gleiche Arbeit reden. Die Leute arbeiten ja hier. Sie müssen in der Zeit auch in der teuren Schweiz ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Lieberherr: Viele Konsumentinnen und Konsumenten kaufen gerne Schweizer Produkte. Die Arbeit, die da drinsteckt, kann man aber nicht auslagern und irgendwo weit weg von Menschen machen lassen, wo sie dafür viel weniger verdienen als wir. Deshalb hat man eine Alternative zur Auslagerung gefunden: Man «importiert» die Leute, die eigentlich zu rumänischen Bedingungen arbeiten.

Ist es also eine Illusion, ein Schweizer Produkt zu kaufen und zu denken, dass es unter guten Arbeitsbedingungen entstanden ist?

Schilliger: Es ist keine Garantie. Die regionale Produktion basiert auf dem idealisierten Bild der bäuerlichen, familiären Schweizer Landwirtschaft. Man denkt – wie es die Migros-Werbung zeigt –, dass der Bauer die Tomaten pflückt und direkt der Verkäuferin gibt. Das entspricht kaum der Realität. Die Migrantin, die die Tomaten im heissen Gemüsetunnel sortiert, fehlt in der Werbung.

Lieberherr: Vor allem die kleinen Betriebe sind vom Hofsterben betroffen. Hingegen nehmen die Betriebe mit sehr vielen Hektaren stark zu – und das sind die, welche die anfallende Arbeit nicht ohne externe Arbeitskräfte erledigen können.

Wie hoch ist der Anteil von ausländischen Arbeitskräften in der Schweiz denn?

Lieberherr: Von gut 150 000 Arbeitskräften in der Landwirtschaft sind 34 000 von extern angestellt. Davon sind nach offiziellen Zahlen knapp 18 000 Ausländerinnen und Ausländer, also etwas mehr als die Hälfte. Allerdings sind diejenigen, die nur wenige Monate hier sind, Asylsuchende und Sans-Papiers in den Statistiken nicht erfasst. Es dürften also deutlich mehr Ausländer sein.

Auch die Bäuerinnen und Bauern stehen aber unter grossem Druck.

Lieberherr: Auf jeden Fall, auch sie arbeiten sehr viel und hart. Viele Bauern kommen nur knapp über die Runden, leiden unter dem Preisdruck, verschulden sich und haben Depressionen.

Schilliger: Darum möchten wir alle Beteiligten zusammenbringen und eine grundsätzliche Debatte über die strukturellen Bedingungen führen, unter denen unser Essen produziert wird. Beide – die Landarbeiter und viele Bauern – sind in einer schwierigen Situation.

Sind die Produkte im Supermarkt also zu billig?

Lieberherr: Nicht unbedingt. Die Margen des Detailhandels sind sehr hoch. Wenn die Konsumentin im Supermarkt einen Franken ausgibt, kommen 30 Rappen beim Bauernbetrieb an. Davon kommt nochmals ein kleinerer Betrag zum Landarbeiter. Als Erstes müsste also die Marge runter. Damit könnte man schon einiges verändern, ohne dass die Konsumentinnen und Konsumenten etwas spüren.

Schilliger: Zudem bräuchte es politische Rahmenbedingungen, wie in jedem anderen Arbeitssektor auch. Etwa eine klarere Regulierung der Arbeitsbedingungen, indem die Landwirtschaft dem Arbeitsgesetz unterstellt würde.

Wie wichtig ist die Beziehung zwischen den Landarbeiterinnen und den Bauern?

Schilliger: In den Erzählungen der Landarbeiter ist das immer präsent: «Das ist ein guter Chef, und das ist ein weniger guter Chef.» Für die Landarbeiterinnen ist es wichtig, wie man miteinander umgeht und ob es etwa ein gemeinsames Mittagessen gibt. Ob man pünktlich in die Mittagspause gehen kann oder ob der Chef die Leute eine halbe Stunde länger arbeiten lässt und sie trotzdem pünktlich nach der Pause zurück bei der Arbeit erwartet. Diese scheinbar kleinen Dinge prägen den Alltag der Leute auf dem Feld. Viele Landarbeiter fühlen sich als Menschen zweiter Klasse. Auf der anderen Seite schätzen sie es sehr, wenn sie einen respektvollen Umgang erleben. Selbstverständlich ist das aber nicht.

Am Freitag und Samstag, 7. und 8. Februar, findet im Progr in Bern die Konferenz «Widerstand am Tellerrand» statt, etwa mit Kleinbäuerinnen und Landarbeitern, der Klimajugend und Menschen aus der solidarischen Landwirtschaft.



Zu den Personen

Die Soziologin Sarah Schilliger (40) und die Agronomin Silva Lieberherr (35) haben eine Studie zu den Arbeits- und Lebensbedingungen von migrantischen Arbeitskräften in der Schweizer Landwirtschaft gemacht, dies im Auftrag von Agrisodu, der Plattform für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft. (lea)
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/im-gemuesebau-importiert-man-leute/story/23970888)