Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++SCHWEIZ
Nach über 60 Jahren erinnert sich der Bundesrat an Afrika
Bundespräsidentin Sommaruga lädt einen afrikanischen Präsidenten zum Staatsbesuch – zum ersten Mal seit 1956.
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/sommaruga-schickt-ein-freundschaftssignal-nach-afrika/story/22709110
+++DEUTSCHLAND
Flüchtlinge in der EU: „Wir brauchen nicht den 20. Masterplan“
Nach einem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel
Lesbos plädiert die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
für pragmatische Lösungen auf EU-Ebene. Dem Vorschlag ihres Parteichefs
Christian Lindner, Migranten in Nordafrika unterzubringen, erteilte sie
im Dlf eine Absage.
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-der-eu-wir-brauchen-nicht-den-20-masterplan.694.de.html?dram:article_id=469551
+++GRIECHENLAND
Die Politiker spielen Schach auf dem Rücken der Flüchtlinge
Allmählich beginnen die Flüchtlinge auf den Ägäis-Inseln gegen ihre
unmenschliche Situation aufzubegehren. Auch die Einheimischen fühlen
sich mit einer immer schwierigeren Situation konfrontiert. Im Gespräch
mit Radio Dreyeckland berichtet Mixalis Avaliotis von der lokalen
Flüchtlingshilfsorganisation „Stand by me Lesvos“ (SBML) über die Lage
auf Lesbos und er fürchtet eine weitere Eskalation. Er bete, dass es
nicht dazu komme, aber er könne es „förmlich riechen“. Indessen hat der
deutsche Heimat- und Innenminister, Horst Seehofer erst vor kurzem
abgelehnt, wenigstens Minderjährige von den Inseln zu holen. Da müsse
eine europäische Lösung her. Doch auf Europa und das weiß auch Seehofer
sehr genau, kann er da leider lange warten.
https://www.freie-radios.net/99727
Lager auf Ägäis-Inseln: Griechenland will Flüchtlingshelfer strenger kontrollieren
42.000 Flüchtlinge harren unter teils unmenschlichen Bedingungen auf
griechischen Inseln aus. Oft springen NGOs für den Staat ein. Nun
verschärft die Regierung die Regeln für die Helfer.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-will-fluechtlingshelfer-strenger-kontrollieren-a-52eedf51-f715-49ea-801a-cbc7eb104187
Flüchtlingslager auf Lesbos: Die Hölle von Moria
Das Camp Moria befindet sich auf der griechischen Insel Lesbos, 10 km
von der Türkei entfernt. Es ist das größte Flüchtlingslager Europas, ein
sogenannter Hotspot, wo Migranten auf ihre Asylentscheidung warten –
unter unmenschlichen Bedingungen.
https://www.arte.tv/de/videos/095311-000-A/fluechtlingslager-auf-lesbos-die-hoelle-von-moria/
+++TÜRKEI
Kurdenregion in Syrien: Bundestags-Gutachten warnt vor türkischem Umsiedlungsplan
Die Türkei will Flüchtlinge in Nordsyriens Kurdenregion ansiedeln. Laut
Wissenschaftlichem Dienst des Bundestags sei dies „nur in den engen
Grenzen“ zulässig.
https://www.tagesspiegel.de/politik/kurdenregion-in-syrien-bundestags-gutachten-warnt-vor-tuerkischem-umsiedlungsplan/25506872.html
+++LIBYEN
Uno-Flüchtlingskommissar zu Libyen: „Nur einen Herzschlag von der Katastrophe entfernt“
Krieg, Folter, sexueller Missbrauch – die Lage der Migranten in Libyen
ist dramatisch. Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi fordert in
seinem Gastbeitrag: Die Welt muss sich ernsthaft einmischen.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-die-uno-hilft-fluechtlingen-weiter-a-bece57e4-1be6-4546-ad30-3da5fcb75011
+++FLUCHT
Kaum 5 von 100 schutzbedürftigen Flüchtlingen finden neue Heimat
Von den schutzbedürftigsten Flüchtlingen haben laut der
Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) im vergangenen Jahr weniger als fünf
Prozent ein Zuhause gefunden.
https://www.nau.ch/news/europa/kaum-5-von-100-schutzbedurftigen-fluchtlingen-finden-neue-heimat-65657558
+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Transitplatz Wileroltigen: Fahrende brechen ungeschriebenes Gesetz
Am Sonntag entscheiden die Berner Stimmbürger über den Kredit für den
rund 3 Millionen Franken teuren Transitplatz für ausländische Fahrende.
Nur wenige Tage vor der Abstimmung setzen Fahrende mit einer Aktion
nochmals ein Zeichen dafür. Und verstossen damit gegen ein inoffizielles
Gesetz.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/transitplatz-wileroltigen-fahrende-brechen-ungeschriebenes-gesetz-136330322
—
derbund.ch 05.02.2020
Zwist unter Fahrenden in letzter Minute
Schweizer Jenische und Sinti sind sich beim Transitplatz für ausländische Fahrende nicht einig. Warum ist das so?
Martin Erdmann
Der Waisenhausplatz ist geräumig. Dennoch parkierten die beiden
Wohnwagen in deutlicher Distanz voneinander. Das versinnbildlicht: Die
Abstimmung zum Transitplatz in Wileroltigen spaltet die Meinungen der
Schweizer Jenischen und Sinti. Vor dem einen Wohnwagen haben sich jene
versammelt, die kommenden Sonntag ein Ja in die Urne legen werden (darum
geht es). Vor den Medien erklären sie, wie sie den Abstimmungskampf
wahrgenommen haben und wieso sie bei einem Nein eine Verschlechterung
der Lebenssituation aller Fahrenden fürchten.
Fino Winter ist Präsident von Sinti Schweiz. Im Winter ist er auf dem
Standplatz Bern-Buech zu Hause, im Sommer ist er unterwegs. Er stellt
fest: «Ein neuer Rassismus flackert auf.» Beim Hausieren würden Leute
öfter verschlossen, abweisend und mit Angst reagieren. Grund dafür sieht
er in Vorurteilen, die gegenüber ausländischen Fahrenden geschaffen
werden. «Weil alle in einen Topf geworfen werden, macht das auch
Schweizer Fahrenden das Leben und Arbeiten schwer.» Von einer Aufteilung
nach in- und ausländischen Fahrenden hält er grundsätzlich wenig.
«Schlussendlich sind wir ein Volk.»
Es ist ein Volk, das immer stärker marginalisiert wird, sagt Venanz
Nobel vom Verein «Schäft qwant». Werden keine Plätze geschaffen, gäbe es
keine Gleichberechtigung zwischen Fahrenden und Sesshaften. Von Gegnern
des Platzes in Wileroltigen wird verlangt, dass sich Fahrende an Regeln
halten sollen. Nobel findet diese Forderung in Ordnung, fügt aber an:
«Eine Integration kann nur dann verlangt werden, wenn die Leute nicht
aktiv aus der Gesellschaft hinausgeworfen werden.» Genau das würden
Fahrende in der Schweiz aber seit Jahrzehnten erleben (lesen Sie mehr im
Interview). «Ein Platz wie in Wileroltigen wäre daher ein Schritt in
die richtige Richtung.»
Gegner verlangen härtere Gesetze
Beim Wohnwagen auf der anderen Seite des Waisenhausplatzes ist man da
anderer Meinung. Auf seine Aussenseite wurden diverse Nein-Parolen
gesprüht. Er gehört Andreas Geringer, Präsident vom Verein Sinti und
Roma Schweiz. Als er Wind davon bekommen hat, dass eine Pro-Aktion
geplant ist, hat er sich ebenfalls für einen Spontanhalt auf dem
Waisenhausplatz entschieden – ohne Begleitung anderer Sinit und
Jenischen, dafür mit dem Bürgerkomitee Wileroltigen im Anhang. «Ich
befinde mich in einer zwiespältigen Situation», sagt er (lesen Sie mehr
dazu im Interview). Zwar sei er grundsätzlich für Transitplätze, jener
in Wileroltigen lehnt er jedoch strikt ab, obwohl er ihn lange Zeit
unterstützt hat.
Geringer spricht von einem «falschen Zeitpunkt». Er verlangt, dass
zuerst gesetzliche Mittel geschaffen werden, um gegen Fahrende vorgehen
zu können, die sich nicht an die Regeln halten. Diese würden zurzeit
fehlen, sagt Geringer. «Die Polizei hat teilweise Angst, auch nur
Ausweiskontrollen durchzuführen.» Viel zu oft würde vor Problemen mit
ausländischen Fahrenden einfach die Augen geschlossen werden. Schweizer
Fahrende dagegen würden deutlich rabiater angegangen werden. «Halten sie
sich nicht an das Gesetz, werden sie sofort bestraft.»
«Das ist diskriminierend»
Der Platz sorgt auch bei Befürwortern für Kritik – auch wenn sich diese
stark von jenen der Gegner unterscheiden. Doris Bösch vom Verein «Schäft
qwant» stört sich am zwei Meter hohen Sichtschutz, der den Platz
umringen soll. «Das ist den Menschen gegenüber diskriminierend.» Zudem
würde so verhindert werden, dass sich Sesshafte und Fahrende kennen
lernen könnten. Dennoch kommt für sie ein Nein nicht infrage. «Jeder
verhinderte Platz wirft auch die Anliegen und Rechte der Schweizer
Fahrenden um Jahre zurück.»
Für Stefan Heinichen ist die lange Debatte zu Wileroltigen alles andere
als ideal verlaufen. «Es ist absurd, dass die Direktbetroffenen, sprich
Roma-Gruppen aus dem nahen Ausland, nie zu Wort gekommen sind», sagt der
Roma-Kenner, der Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen
Rassismus ist. Wenn der Platz angenommen werde, hofft er, dass sich das
ändert. «Roma müssen in die Platzgestaltung miteinbezogen und wie
Menschen behandelt werden.»
(https://www.derbund.ch/bern/fahrendezwist-in-letzter-minute/story/20687150)
+++REPRESSION DE
Interview zum Indymedia Linksunten-Prozess
Das Interview dreht sich um den Prozess der am 29.01.2020 am BVG in Leipzig verhandelt worden ist.
Und die daraus folgenden Konsequenzen für andere systemkritische Medien.
Ihr findet das Interview hier:
https://frequenza.noblogs.org/post/2020/02/04/interview-prozess-linksunten-bvg-29-01-2020/
Berlins beliebteste Staatsfeinde: ein Besuch in der Rigaer Strasse
Mitten in der deutschen Hauptstadt gedeiht seit Jahren ein Zentrum
linker Gewalt. Attacken auf Polizisten und Drohungen gegen Anwohner sind
an der Tagesordnung. Doch es passiert – nichts.
https://www.nzz.ch/international/berlins-beliebteste-staatsfeinde-ein-besuch-in-der-rigaer-strasse-ld.1534348
+++SPORTREPRESSION
«Sie geniessen es, Angst und Schrecken zu verbreiten»
FCB-Chaoten vor Gericht: Staatsanwalt fordert unbedingte Haftstrafen in fünf Fällen.
https://www.bazonline.ch/basel/stadt/sie-geniessen-es-angst-und-schrecken-zu-verbreiten/story/15819984
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/basel/tag-3-im-prozess-um-die-schlacht-von-basel-staatsanwalt-will-chaoten-hinter-gittern-sehen-id15735580.html
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/krawalle-aus-dem-jahr-2016-fuenf-hooligans-sollen-in-den-knast-136332378
-> https://telebasel.ch/telebasel-news/?channel=15881
+++POLIZEI BS
Basler Polizei – Polizistinnen und Polizisten müssen die Schulbank länger drücken
Die Ausbildung für Basler Polizistinnen und Polizisten wird an den Schweizer Standard angepasst und dauert acht Monate länger.
https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/basler-polizei-polizistinnen-und-polizisten-muessen-die-schulbank-laenger-druecken
-> https://www.bs.ch/nm/2020-neukonzeption-der-polizeiausbildung-in-der-schweiz-und-basel-stadt-basler-polizistinnen-und-polizisten-werden-noch-gezielter-auf-ihren-anspruchsvollen-beruf-vorbereitet-jsd.html
-> https://www.bazonline.ch/basel/stadt/basler-polizeiausbildung-dauert-am-laengsten/story/21987659
-> https://telebasel.ch/2020/02/05/neu-werden-basler-schugger-vier-jahre-ausgebildet/?channel=105100
+++ANTIRA
antira-Wochenschau: Entrechtung auf Vorrat, (un-)politische Nächstenliebe, SVP ohne Spitze
https://antira.org/2020/02/05/antira-wochenschau-entrechtung-auf-vorrat-un-politische-naechstenliebe-svp-ohne-spitze/
#JeSuisLaederach, Diskriminierung & Religion
Reda el Arbi schreibt ab sofort Gastbeiträge auf Nau.ch. Der gebürtige
Zürcher fragt: Was haben Heuchelei, Diskriminierung und Schokolade
gemeinsam?
https://www.nau.ch/news/stimmen-der-schweiz/jesuislaederach-diskriminierung-religion-65657100
+++RECHTSEXTREMISMUS
„heute an der @ETH und der @UZH_ch als flyer auf dem campus gesichtet:
antisemit*innen trauen sich aus ihren verstecken und kommen mit
radikalen verschwörungstheorien und nazirhetorik!
widerstand jedem antisemitismus: an hochschulen und überall! handelt!“
(https://twitter.com/moijeanluc/status/1224802541738872832)
-> Noch mehr von diesem braun-weissen Müll: https://ironyouthschweiz.blogspot.com/
+++FUNDIS
#JeSuisLächerlich
Das Schoggi-Imperium Läderach und dessen rechtsgewandte FreundInnen
echauffieren sich medienwirksam und Hashtag-stark darüber, dass die
Hassgesinnung der Besitzerfamilie nun nach Jahren auf sie zurückfällt.
Man könnte jetzt über freien Markt, pink-washed capitalism auf Seiten
der Boykottierenden und die Ungerechtigkeiten der Moral sprechen. Oder
man lässt es sein und schüttelt vergnügt den Kopf.
https://daslamm.ch/jesuislaecherlich/
+++HISTORY
Schweizer KZ-Häftlinge: Vom eigenen Land im Stich gelassen
Eine Studie offenbart, wie wenig Schweizer Diplomaten für ihre
Landsleute taten, die vom NS-Regime inhaftiert worden waren. Auch die
Überlebenden behandelte man kaltherzig.
https://www.spiegel.de/geschichte/kz-haeftlinge-aus-der-schweiz-vom-eigenen-land-im-stich-gelassen-a-1bafdd8a-c04b-4656-b1a3-0b816c3a16ca?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph
Wenn Unrecht nach 1981 geschah: Kein Geld für Opfer von Zwangsmassnahmen
Verdingkinder haben nur Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag, wenn die
Massnahmen vor 1981 beschlossen wurden. Menschen, denen nach diesem
Stichtag von Seiten der Behörden Leid angetan wurde, gehen leer aus.
Dies zeigen zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts.
https://www.blick.ch/news/politik/wenn-unrecht-nach-1981-geschah-kein-geld-fuer-opfer-von-zwangsmassnahmen-id15734668.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/urteile-des-bundesgerichts-opfer-von-zwangsmassnahmen-nach-1981-gehen-leer-aus
+++BIG BROTHER
Überwachung: Geheimdienst an die Kandare!
Der Staatsrechtler Rainer J. Schweizer kritisierte bereits 2015 das neu
konzipierte Nachrichtendienstgesetz (NDG) als Gefahr für die
«freiheitliche Demokratie»: Es sei inakzeptabel, denn eine solche
«Schnüffelei» würde «die Gesellschaft vergiften» und einen
«undemokratischen Anpassungsdruck auf kritische Landesbewohner oder
abweichend denkende und glaubende Menschen» ausüben.
https://www.woz.ch/2006/ueberwachung/geheimdienst-an-die-kandare
—
zeit.de 05.02.2020
Fichenskandal: Aufstnd gegen den „Schnüffelstaat“
FICHENSKANDAL: AUFSTAND GEGEN DEN „SCHNÜFFELSTAAT“
Vor dreißig Jahren empört der Fichenskandal die Schweiz. Was ist von der
Massenüberwachung und dem Denunziantentum geblieben? Mehr als wir
meinen.
Ein Gastbeitrag von Lukas Nyffenegger
Als in Berlin im Herbst 1989 die Mauer fällt, gerät in Bern die
bürgerliche Ordnung ins Wanken. Eine parlamentarische
Untersuchungskommission (PUK) bringt am 22. November das grotesk
aufgeblähte Archiv des Schweizer Staatsschutzes wortwörtlich ans Licht:
700.000 Bürgerinnen und Bürger, Ausländerinnen und Ausländer wurden von
der politischen Polizei in Listen registriert, und ihre zumeist
harmlosen Handlungen oder Aussagen in Fichen festgehalten.
Die Bundesanwaltschaft führte von ihrem Hauptsitz an der Berner
Taubenstraße einen innenpolitischen kalten Krieg gegen die eigene
Bevölkerung.
Hunderttausende Fichierte verlangen Einsicht in ihre Dossiers. Bald ist
klar: Aktenkundig sind vornehmlich Linke, Halblinke und mit Linken
Bekannte, aber auch Miteidgenossen, die zu Werbezwecken das Organ der
Kommunistischen Partei zugesandt bekommen haben. Zwei Drittel der
Fichierten sind Ausländerinnen und Ausländer.
Wut und Unverständnis treiben die Überwachten am 3. März 1990 auf die
Straße. In Bern vor dem Bundeshaus demonstrieren sie gegen den
„Schnüffelstaat“. Die Kundgebung verläuft zunächst friedlich. Max
Frisch, gesundheitlich angeschlagen, lässt eine Rede vorlesen und
entzieht dem Staat sein Vertrauen. Adolf Muschg spricht: „Die
Fichenaffäre hat eine unerträgliche Demokratie-Verspätung aufgedeckt.“
Dann brennen Autos. Wasserwerfer fahren auf. Tränengas schmerzt in den
Augen. Franz Hohler, erschüttert vom Gewaltausbruch des schwarzen
Blocks, lässt sein Cello im Kasten.
Die Schweiz, die Pächterin der Freiheit und Erfinderin der Demokratie,
der historische Sonderfall schlechthin: Der Glaube an diese Erzählung
schwindet in diesen helvetischen Wendejahren – bis weit ins
bürgerlich-konservative Lager hinein.
Im Frühling 1990 feiern die europäischen Länder das Ende des Zweiten
Weltkriegs. Nur wenige Monate zuvor, im Sommer 1989, erinnert sich die
Schweiz mit den sogenannten Diamantfeiern an die Mobilmachung und den
Kriegsbeginn.
Doch dieser mythische Kern helvetischer Selbstbeschreibung, die
tradierte „Wehrhaftigkeit“, welche die Schweiz vor den Verwüstungen der
beiden Weltkriege bewahrt haben soll, löst sich nach und nach auf.
Ende November 1989 stimmt ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer
für die GSoA-Initiative und damit für die Abschaffung der Armee. Eine
Ungeheuerlichkeit in einer Nation, die in ihrem Selbstverständnis keine
Armee hatte, sondern eine war.
Als im Juni 1991 Hunderttausende Schweizerinnen und Ausländerinnen unter
dem Motto „Wenn Frau will, steht alles still“ die Straßen bevölkern, um
den zehn Jahre zuvor in die Bundesverfassung geschriebenen
Gleichstellungsartikel endlich durchzusetzen, scheinen die alten Kräfte
endgültig nicht mehr Herr im Haus zu sein.
Armeeabschaffung, Fichendemo, Frauenstreik: Alle diese Ereignisse wenden
sich gegen eine männerbündisch organisierte, konservative Schweiz,
welche die Geschichte des Landes seit Jahrzehnten prägt.
Die Seilschaften der Mächtigen, in Studentenverbindungen geknüpft, in
der Armee und im Vereinswesen kultiviert, im eidgenössischen Parlament,
in staatlichen Institutionen und der Wirtschaft tagtäglich gelebt,
stehen vor ihrer ultimativen Zerreißprobe.
Trotzdem, oder gerade deshalb, soll 1991 in einer opulent inszenierten
Feier der 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft begangen werden. Doch
als die Fichenaffäre auffliegt, ist auch dem letzten Kulturschaffenden
die Lust aufs Feiern vergangen. Sie boykottieren das Jubiläum. „Diese
700-jährige Schweiz ist die unsrige nicht“, schreibt der linke Autor
Fredi Lerch.
Die bürgerliche Schweiz steckt am Ende des Kalten Krieges in einer
tiefen Sinnkrise. Kritik an der politischen Polizei, der Armee, den
staatlich dekretierten Eidgenossen-Jubelfeiern und dann die
Abertausenden Frauen, die zwar erst seit 1971 wählen und abstimmen
dürfen, nun aber umso lauter auf ihren verfassungsmäßigen Rechten
beharren: Wenn der Schweizer ein vorsintflutliches Wesen in ständiger
Erwartung der Sintflut ist, wie Friedrich Dürrenmatt schreibt, dann
droht das bürgerliche Machtzentrum gerade unterzugehen.
Mit der Großdemonstration vom 3. März 1990 gegen den „Schnüffelstaat“,
versichern sich die Schweizerinnen und Schweizer einander gegenseitig:
Künftig verweigern wir uns der unkontrollierten staatlichen Sammelwut.
Was bleibt? Ernüchterung
Doch vergangene Woche, im Jahr 2020, wurde publik, dass die
parlamentarische Oberaufsicht den Nachrichtendienst scharf kritisiert:
Er hat unrechtmäßig Presseartikel gesammelt und damit wahllos seine
Datenbanken gefüllt, in denen auch gewählte Politiker vermerkt sind.
Nicht zum ersten Mal seit dem Fichenskandal.
In erschreckender Regelmäßigkeit erinnern journalistische Recherchen an
die konsequente Missachtung des Versprechens, das der Staat 1989/90
abgegeben hat: Er werde unrechtmäßige Spitzel-Praktiken künftig
unterlassen. Der Nachrichtendienst wurde zwar technologisch up to date
gebracht. Allem voran das Aufschreibesystem hat sich geändert: digital
in einem Dutzend Datenbanken, statt analog auf Tausenden Karteikarten.
Die Fichenaffäre ist die helvetische Geburtsstunde von Big Data und
einer transnationalen Verknüpfung von umfassenden Datenbeständen. Doch
eine Kultur der Selbstreflexion etabliert sich dadurch nicht. Noch immer
leidet der Staatschutz an blinder Datenvöllerei, mangelhafter Analyse
politischer Tätigkeit und Überwachungsbürokratie.
Was also bleibt vom Fichenskandal, 30 Jahre nach dessen Enthüllung?
Zunächst: große Ernüchterung. Die alte Praxis des „Schnüffelstaates“
konnte sich in die neuen Nachrichtendienststrukturen hinüberretten. Und
das sogar mit dem Abstimmungssegen der stimmberechtigten Bevölkerung. Im
Jahr 2016 stimmte sie, geprägt vom meist medial erfahrenen, selten
konkret erlebten globalen Terrorismus, für ein neues
Nachrichtendienstgesetz.
Und sonst?
Klar, jene unzähligen, oft schweigenden oder auch unwissenden
Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, an deren Leben die Staatsschützer
mitgeschrieben haben, werden sich zum Jubiläum womöglich wieder daran
erinnern, wie ihnen ihre rätselhaften biografischen Brüche und Wendungen
in neuem Licht erschienen, seit sie ihre Fichen gesehen hatten.
In der breiteren Bevölkerung aber stößt die Fichenaffäre heute aus
mannigfaltigen Gründen auf Desinteresse. Es gibt kaum mehr eine
lebendige Kontinuität, welche die Gegenwart mit der Vergangenheit um
1990 verknüpft.
Nur wenige verpfuschte Biografien sind der Öffentlichkeit bekannt und geben der Überwachung ein menschliches Gesicht.
Ignoranz umhüllt die Rolle und die Auswirkung des Staatsschutzes. Aber
auch die naive Vorstellung, Überwachung tangiere das eigene Leben nicht,
trägt zur heutigen Bedeutungslosigkeit der Fichenaffäre bei.
Der Nachrichtendienst mag angesichts der Überwachungsoligarchie von
Google, Facebook & Co. von nachrangiger Bedeutung sein. Was sollte
der Staatsschutz über die eigene Person schon herausfinden, was nicht
längst im Netz gespeichert und öffentlich ist?
Der wichtigste Grund aber ist die jahrzehntelange Bagatellisierung des
Schweizer Nachrichtendienstes. Seine Fichen haften als verniedlichte
Manifestation und letztlich unkritische Verkürzung dessen, was der
Staatsschutz produzierte, im kollektiven Gedächtnis. „Sie trinkt abends
gerne ein Bier“ – diese läppische Formulierung, sie stammt aus der Fiche
der SP-Nationalrätin Menga Danuser, wirkt wie ein Brennglas auf die
Geschichte des Staatsschutzes.
Der kaum jemals vollständig zitierte Ficheneintrag von Danuser zeigt
nämlich: Hinter dem diffamierenden Bier-Spruch steckte ein umfassender
Überwachungsapparat, der sich auf die Mitarbeit unbesoldeter Bürgerinnen
und Bürger stützte.
In Danusers Fiche lesen wir, wie bedenkenlos und redselig Menschen aus
dem Umfeld der Sozialdemokratin den staatlichen Schnüfflern Auskunft
gaben. Darunter die Eltern, ihre Schülerinnen und Schüler, ihre
Nachbarn, womöglich auch ihre Freunde.
Die Fichen nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, darin liegt die
zugegebenermaßen nicht immer leichte Aufgabe, wenn man sich aus
historischer Perspektive mit ihnen beschäftigt. Dafür muss man aber
zuerst die Überwachungskultur analysieren, die diese Fichen erst
ermöglichte.
Heute ist all das vergessen
Die neuere historische Forschung zeigt: Die Überwachung politischer
Gegner ist in der Schweiz ganz wesentlich mit dem Milizgedanken und
damit mit der Einbindung der Staatsbürger verknüpft. Staatsschutz und
Gesinnungsüberprüfung sind das Geschäft aller und können überall
betrieben werden, wo sich Menschen aufhalten. In der Kirche, an
Beerdigungen, an politischen Versammlungen, im Schlafzimmer und in der
gemeinsamen Waschküche.
Die Bundesanwaltschaft ist dabei nur ein Akteur unter vielen – und wohl
nicht einmal der mächtigste. Erst kürzlich löste sich, von der
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, die Aargauische Vaterländische
Vereinigung (AVV) selber auf. Ihr letzter Präsident ist der landesweit
bekannte SVP-Nationalrat Andreas Glarner.
Die AVV war eine der größten Überwachungsinstitutionen der Schweizer
Geschichte. 1918 entstanden als Bürgerwehr im Umfeld des Landesstreiks,
um den angeblich kurz bevorstehenden revolutionären Umsturz zu
verhindern. Der von ihr mitinitiierte Schweizerische Vaterländische
Verband (SVV) kooperiert eng mit der Bundesanwaltschaft, denunziert
unzählige Juden, Kommunisten und Sozialisten. Als der private
Nachrichtendienst 1948 auffliegt, löst sich der SVV auf – die Aargauer
aber überwachen weiter. Historiker haben bis heute keinen Zugang zu
ihrem Archiv.
Im Kalten Krieg entstehen zahlreiche neue private Schnüffeldienste. Die
Schweiz wird von einem flächendeckenden Netz antikommunistischer
Vereinigungen überzogen. Zum Beispiel der Schweizerische
Aufklärungsdienst (SAD). Er ist bis in die späten 1970er-Jahre eng mit
Bundesbern verbandelt. Die Bundesanwaltschaft abonniert seine
Lageberichte und politischen Analysen. Die vollständige Mitgliederliste
des SAD ist noch immer geheim.
Der bekannteste Kommunistenjäger ist der FDP-Nationalrat Ernst Cincera.
Sein Archiv umfasst mehrere Tausend Fichen und wird 1976 in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion von linken Aktivisten ausgehoben. Der
„Cincerismus“, wie der Berner Pfarrer Kurt Marti diese Kultur der
gegenseitigen Überwachung und Denunziation bezeichnet, wird auch von
Bürgerlichen kritisiert. Privater Staatsschutz ist daraufhin verpönt.
Doch diese Fichenaffäre avant la lettre spielte letztlich dem Staat in
die Hände. Er konnte sich nunmehr als die einzig legitime
Überwachungsinstitution inszenieren. CVP-Bundesrat Kurt Furgler, der in
den 1970er-Jahren den Staatsschutz ausbaute, obwohl er mit seiner
Antiterroreinheit und dem Polizeicomputer in den Volksabstimmungen
scheiterte, erinnerte die Bevölkerung an ihre Bürgerpflicht zur
Wachsamkeit, und er rief sie zum Schutz der Demokratie auf.
Damit schrieb Furgler fort, was mit der Geistigen Landesverteidigung in
den 1930er-Jahren begann: Die Schweiz machte parteiübergreifend Front
gegen den äußeren und inneren Feind. Im Zweiten Weltkrieg waren das die
Faschisten und Nationalsozialisten im Süden und Norden, im Kalten Krieg
die Kommunisten im Osten. Doch fielen darunter gleich alle politisch
Andersdenkenden links der bürgerlichen Mitte.
Im Jahr 1969 wird im Auftrag des Bundesrates an alle Haushalte in der
Schweiz das Zivilverteidigungsbuch verteilt, die bekannteste
Schriftquelle jener Kultur der Bedrohung. Das Büchlein imaginiert
sämtliche kritischen Bürgerinnen und Bürger als Marionetten von Moskau.
Der gute Staatsbürger hat Aug’ und Ohren offen und meldet seine
Beobachtungen den zuständigen Stellen – privaten Überwachungsvereinen
oder der Bundesanwaltschaft.
Heute ist all das vergessen. Die historische Forschung hat sich, wenn
überhaupt, seit den 1990er-Jahren auf die staatlichen Fichen fokussiert
und das weite Feld behördlicher und privater Überwachung nur
unvollständig aufgearbeitet. Die Geschichte des Datenschutzes und der
Einführung von Computern im Nachrichtendienst wird ebenso noch zu
schreiben sein wie diejenige der Antikommunismen im Kalten Krieg. Die
historischen Verbindungen zwischen Migrations- und
Überwachungsgeschichte sind nach wie vor ein blinder Fleck in der
hiesigen Geschichtsschreibung. Das gilt auch für die Geschichte der
privaten Staatsschützer, deren Erbe die rechtsbürgerlichen politischen
Parteien angetreten haben.
Das Egerkinger-Komitee, das hinter der Minarett- und
Burkaverbots-Initiative steckt, fordert die präventive Überwachung aller
Moscheen. SVP-Politiker stellen unliebsame Lehrerinnen an den medialen
Pranger. Jungfreisinnige warnen auf Twitter vor Linksextremen und rufen
zu deren Überwachung auf.
Nicht zuletzt fehlt der Schweiz eine Geschichte ihrer staatlich
Überwachten. Es überrascht deshalb nicht, dass der Bundesrat es nie für
nötig gehalten hat, sich offiziell bei den 700.000 Fichierten zu
entschuldigen.
Bis heute.
–
Lukas Nyffenegger
ist Historiker. Er schreibt an der Forschungsstelle für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich an einer Dissertation über
die politische Überwachung in der Schweiz.
(https://www.zeit.de/2020/07/fichenskandal-schweiz-fichenaffaere-massenueberwachung/komplettansicht)
—
„Moskau einfach!“: Eine Komödie, was sonst?
Immer schon wollte der Schweizer Regisseur Micha Lewinsky den Fichenskandal verfilmen. Hier erzählt er, wie er endlich auf die
zündende Idee kam und daraus sein neuer Film „Moskau einfach!“ wurde.
https://www.zeit.de/2020/07/moskau-einfach-film-fichenskandal-komoedie
—
Überwachung: „Gefährlicher Extremist“
Im Kalten Krieg bespitzelte die Schweiz mehr als 700.000 ihrer
Bürgerinnen und Bürger. Hier erzählen acht Fichierte von den
lebenslangen Folgen des Übergriffs.
https://www.zeit.de/2020/07/ueberwachung-kalter-krieg-fichenskandal-schweiz-bespitzelung/komplettansicht
+++ARBEIT
bernerzeitung.ch 05.02.2020
«Im Gemüsebau importiert man Leute»
Ausländische Arbeitskräfte, die sich als Menschen zweiter Klasse fühlen.
Und auch kein bäuerliches Familienidyll: Sarah Schilliger und Silva
Lieberherr über die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft.
Lea Stuber
Wenn ich im Supermarkt einen Lauch kaufen will, erfahre ich den Preis,
die Herkunft und ob er bio ist. Worüber werde ich aber nicht informiert?
Silva Lieberherr: Sie sehen dem Lauch aber nicht an, wer ihn geerntet
hat. Und zu welchen Bedingungen das passiert ist. Das sind die grossen
Unbekannten, auf die Sie im Supermarkt keine Antworten bekommen.
Für Ihre Studie haben Sie – auch in der Region Bern – mit ausländischen
Arbeitskräften gesprochen. Wie sehen ihre Arbeitsbedingungen aus?
Sarah Schilliger: Es sind höchst prekäre Arbeitsverhältnisse. Die
Arbeitszeiten sind sehr, sehr lang. In der Erntesaison kann ein
Arbeitstag um sechs, halb sieben Uhr beginnen und bis zum Eindunkeln
dauern. Da bleibt kaum Zeit, um sich von dieser körperlich anstrengenden
Arbeit zu erholen. Freizeit bleibt nur am Sonntag. Und die Löhne sind
mager. Die Richtlöhne liegen bei etwas mehr als 3000 Franken brutto.
Wenn jemand auf dem Hof wohnt, wird fast ein Drittel des Lohns für Kost
und Logis abgezogen. Das sind – für ein Leben in der Schweiz – nicht
existenzsichernde Löhne.
Lieberherr: Darum sind es grösstenteils Migrantinnen und Migranten, die
diese Arbeiten machen. Sie sind insbesondere während der Erntesaison in
den Sommermonaten hier. Unter den Angestellten, die das ganze Jahr in
der Landwirtschaft arbeiten, gibt es auch Schweizerinnen und Schweizer.
Was hat Sie am meisten erstaunt?
Schilliger: Wie isoliert die Landarbeiterinnen und Landarbeiter hier
leben. Obwohl sie unser Gemüse ernten und dazu beitragen, dass es im
Supermarkt schön parat steht. Ein Landarbeiter aus Polen hat mir gesagt:
«Du bist die erste Schweizerin, die ich ausserhalb des Hofes kennen
lerne.» Und es war nicht seine erste Saison hier in der Schweiz. Das hat
mich berührt.
Bio ist besser für die Natur. Ist es auch besser für die Menschen, die dafür arbeiten?
Lieberherr: Biolabels haben oft soziale Mindestanforderungen, die sind
aber nicht sehr hoch. Bio kostet mehr, weil die Supermärkte hohe Margen
haben, die Bauern verdienen damit aber nicht unbedingt mehr. Eine
Alternative sind Projekte der solidarischen Landwirtschaft, bei denen
Konsumenten und Produzentinnen direkt zusammenarbeiten.
Wenn ich an Menschen denke, die unter prekären Bedingungen Gemüse ernten, dann habe ich eher Süditalien oder Südspanien im Kopf.
Schilliger: Ja, aber auch hier gibt es prekäre Situationen, die
teilweise vergleichbar sind. Wobei wir von einer anderen Struktur der
Landwirtschaft sprechen. In der Schweiz leben häufig nur zwei
Landarbeiter auf einem Hof. Es gibt kaum so grosse Betriebe wie im
spanischen Almería oder in Süditalien, wo Hunderte von migrantischen
Landarbeiterinnen und Landarbeitern auf einer Plantage arbeiten.
Woher kommen die ausländischen Arbeitskräfte in der Schweizer Landwirtschaft?
Schilliger: Vorwiegend aus Portugal und aus osteuropäischen Ländern wie
Polen und Rumänien. Auch Asylsuchende werden auf Höfen eingesetzt. Mit
der EU-Osterweiterung hat es eine Verschiebung gegeben. Man greift eher
auf legale Migration zurück, statt Leute ohne Aufenthaltsbewilligung
schwarz anzustellen.
3000 Franken abzüglich Kost und Logis im Vergleich zum Lohn, den man etwa in Rumänien verdienen könnte, sind immer noch viel.
Lieberherr: Darum kommen die Leute, sie kommen freiwillig, aber aus ökonomischen Überlegungen.
Schilliger: Wir möchten doch von gleichem Lohn für gleiche Arbeit reden.
Die Leute arbeiten ja hier. Sie müssen in der Zeit auch in der teuren
Schweiz ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Lieberherr: Viele Konsumentinnen und Konsumenten kaufen gerne Schweizer
Produkte. Die Arbeit, die da drinsteckt, kann man aber nicht auslagern
und irgendwo weit weg von Menschen machen lassen, wo sie dafür viel
weniger verdienen als wir. Deshalb hat man eine Alternative zur
Auslagerung gefunden: Man «importiert» die Leute, die eigentlich zu
rumänischen Bedingungen arbeiten.
Ist es also eine Illusion, ein Schweizer Produkt zu kaufen und zu denken, dass es unter guten Arbeitsbedingungen entstanden ist?
Schilliger: Es ist keine Garantie. Die regionale Produktion basiert auf
dem idealisierten Bild der bäuerlichen, familiären Schweizer
Landwirtschaft. Man denkt – wie es die Migros-Werbung zeigt –, dass der
Bauer die Tomaten pflückt und direkt der Verkäuferin gibt. Das
entspricht kaum der Realität. Die Migrantin, die die Tomaten im heissen
Gemüsetunnel sortiert, fehlt in der Werbung.
Lieberherr: Vor allem die kleinen Betriebe sind vom Hofsterben
betroffen. Hingegen nehmen die Betriebe mit sehr vielen Hektaren stark
zu – und das sind die, welche die anfallende Arbeit nicht ohne externe
Arbeitskräfte erledigen können.
Wie hoch ist der Anteil von ausländischen Arbeitskräften in der Schweiz denn?
Lieberherr: Von gut 150 000 Arbeitskräften in der Landwirtschaft sind 34
000 von extern angestellt. Davon sind nach offiziellen Zahlen knapp 18
000 Ausländerinnen und Ausländer, also etwas mehr als die Hälfte.
Allerdings sind diejenigen, die nur wenige Monate hier sind,
Asylsuchende und Sans-Papiers in den Statistiken nicht erfasst. Es
dürften also deutlich mehr Ausländer sein.
Auch die Bäuerinnen und Bauern stehen aber unter grossem Druck.
Lieberherr: Auf jeden Fall, auch sie arbeiten sehr viel und hart. Viele
Bauern kommen nur knapp über die Runden, leiden unter dem Preisdruck,
verschulden sich und haben Depressionen.
Schilliger: Darum möchten wir alle Beteiligten zusammenbringen und eine
grundsätzliche Debatte über die strukturellen Bedingungen führen, unter
denen unser Essen produziert wird. Beide – die Landarbeiter und viele
Bauern – sind in einer schwierigen Situation.
Sind die Produkte im Supermarkt also zu billig?
Lieberherr: Nicht unbedingt. Die Margen des Detailhandels sind sehr
hoch. Wenn die Konsumentin im Supermarkt einen Franken ausgibt, kommen
30 Rappen beim Bauernbetrieb an. Davon kommt nochmals ein kleinerer
Betrag zum Landarbeiter. Als Erstes müsste also die Marge runter. Damit
könnte man schon einiges verändern, ohne dass die Konsumentinnen und
Konsumenten etwas spüren.
Schilliger: Zudem bräuchte es politische Rahmenbedingungen, wie in jedem
anderen Arbeitssektor auch. Etwa eine klarere Regulierung der
Arbeitsbedingungen, indem die Landwirtschaft dem Arbeitsgesetz
unterstellt würde.
Wie wichtig ist die Beziehung zwischen den Landarbeiterinnen und den Bauern?
Schilliger: In den Erzählungen der Landarbeiter ist das immer präsent:
«Das ist ein guter Chef, und das ist ein weniger guter Chef.» Für die
Landarbeiterinnen ist es wichtig, wie man miteinander umgeht und ob es
etwa ein gemeinsames Mittagessen gibt. Ob man pünktlich in die
Mittagspause gehen kann oder ob der Chef die Leute eine halbe Stunde
länger arbeiten lässt und sie trotzdem pünktlich nach der Pause zurück
bei der Arbeit erwartet. Diese scheinbar kleinen Dinge prägen den Alltag
der Leute auf dem Feld. Viele Landarbeiter fühlen sich als Menschen
zweiter Klasse. Auf der anderen Seite schätzen sie es sehr, wenn sie
einen respektvollen Umgang erleben. Selbstverständlich ist das aber
nicht.
Am Freitag und Samstag, 7. und 8. Februar, findet im Progr in Bern die
Konferenz «Widerstand am Tellerrand» statt, etwa mit Kleinbäuerinnen und
Landarbeitern, der Klimajugend und Menschen aus der solidarischen
Landwirtschaft.
–
Zu den Personen
Die Soziologin Sarah Schilliger (40) und die Agronomin Silva Lieberherr
(35) haben eine Studie zu den Arbeits- und Lebensbedingungen von
migrantischen Arbeitskräften in der Schweizer Landwirtschaft gemacht,
dies im Auftrag von Agrisodu, der Plattform für eine sozial nachhaltige
Landwirtschaft. (lea)
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/im-gemuesebau-importiert-man-leute/story/23970888)