Medienspiegel 15. Januar 2020

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+++BERN
bielertagblatt.ch 15.01.2020

Politiker solidarisieren sich mit Familie Safaryan/Mikayelyan

Die Familie Safaryan/
Mikayelyan droht bei einer Ausschaffung auseinandergerissen zu werden. Das wollen rund 30 Bieler Stadträte verhindern und fordern die Regierung zum Handeln auf.

Lino Schaeren

Der in Biel wohnhaften fünfköpfigen Familie Safaryan/Mikayelyan droht die Ausschaffung. Mehr noch: Vater Ashot Mikayelyan soll mit den beiden älteren Kindern nach Kasachstan abgeschoben werden, während die Mutter mit der jüngsten Tochter nach Armenien ausreisen soll. Dies, weil die beiden Länder den jeweils ausländischen Ehepartner nicht bei sich aufnehmen wollen. Die Familie, die seit acht Jahren in der Schweiz lebt und deren Bemühungen, Asyl zu erhalten, bislang allesamt abgelehnt wurden, droht deshalb auseinandergerissen zu werden.

Nachdem das «Bieler Tagblatt» vergangene Woche über die Geschichte der Familie Safaryan/Mikayelyan berichtet hat, schalten sich jetzt zahlreiche Bieler Politikerinnen und Politiker ein. Rund 30 Mitglieder des 60-köpfigen Stadtparlaments haben einen Brief an den Gesamtgemeinderat der Stadt Biel unterzeichnet, in dem dieser aufgefordert wird, «politisch einzugreifen und alles zu tun, damit die Integrität der Familie gesichert wird und sie hierbleiben kann». Es sind vor allem linke Parlamentarier, die das verlangen, aber auch eine Hand voll bürgerliche Volksvertreter hat das Anliegen unterzeichnet.

Konkret fordern die Unterzeichnenden den Gemeinderat in dem Schreiben, das dem BT vorliegt, auf, durch die Fremdenpolizei Biel beim Staatssekretariat für Migration (SEM) ein Härtefallgesuch einzureichen – und dieses «nachhaltig zu unterstützen». Die Familie hatte bereits im März 2018 bei der Stadt ein Gesuch um eine Härtefallaufenthaltsbewilligung gestellt, anderthalb Jahre später, im September 2019, wurde dieses abgelehnt, die Stadt sah die rechtlichen_Voraussetzungen für einen Antrag auf Erteilung einer Härtefallbewilligung für nicht gegeben. Gegen diesen Entscheid hat die Familie Safaryan/Mikayelyan Beschwerde beim Kanton eingereicht. Es ist der letzte Versuch, die Ausschaffung auf juristischen Weg abzuwenden, die rechtlichen Mittel sind ausgeschöpft. Weshalb die Anwältin der Familie, Laura Rossi, sich im BT überzeugt zeigte, dass es nun politischen Druck brauche. Diesen wollen nun die rund 30 Bieler Stadträte ausüben.

Der Brief wird an der heutigen Stadtratssitzung dem Gemeinderat übergeben. Stadträtin Anna Tanner (SP) sagt: «Wir möchten, dass die Fremdenpolizei noch einmal auf das Härtefallgesuch eingeht.» Anders als die Behörden, gehen die Politiker davon aus, dass die Bedingungen erfüllt seien, «die Abklärungen», sagt Tanner, «waren wahrscheinlich einfach nicht gründlich genug.»

Die Unterzeichnenden des Briefs verweisen auf die gute Integration der Familie, darauf, dass die Eltern arbeiten könnten und auch wollten, wenn sie das denn dürften. In dem Brief wird der Gemeinderat nicht nur gebeten, sich für eine provisorische Aufenthaltsbewilligung, sondern für eine Aufenthalts- und eine Arbeitsbewilligung einzusetzen. Tanner sagt: Mit dem Brief wolle man nicht nur Druck aufsetzen, sondern der Stadtregierung auch eine höhere Legitimation zur Intervention verschaffen.

Die Politikerinnen und Politiker sind nicht die ersten Unterstützer der Familie Safaryan/Mikayelyan. Auch Nachbarn, Freunde und Bekannte haben sich bereits eingesetzt, haben sich mit Empfehlungsschreiben an die Behörden gewandt. Zudem haben_Lehrerinnen der Primarschule Sahligut in einem Brief an Stadtpräsident Erich Fehr (SP) geschildert, wie die drohende Abschiebung der Familie den Schulalltag belaste.
(https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/politiker-solidarisieren-sich-mit-familie-safaryanmikayelyan)



bielertagblatt.ch 09.01.2020

Abgelehnt und auseinandergerissen? Eine Familie bangt um ihre Zukunft

Die Familie Safaryan/Mikayelyan mit ihren drei Kindern lebt seit acht Jahren in der Schweiz. Nun soll die Mutter nach Armenien und der Vater nach Kasachstan ausgeschafft werden. Dagegen regt sich in ihrem Bieler Umfeld grosser Widerstand.

von Carmen Stalder

Im Wohnzimmer steht noch der festlich geschmückte Weihnachtsbaum. Leuchtende Lämpchen und glänzendes Lametta lenken den Blick vor dem grauen Nebel vor den Fenstern ab. Es ist warm in der Wohnung der Familie Safaryan/Mikayelyan im Bieler Mett-Quartier. Nachdem die drei Kinder Robert (6), Armine Charlotta (5) und Inessa Arevik (2) zur Begrüssung höflich ihre Hände gereicht haben, verschwinden sie in einem der beiden Kinderzimmer.

Arpine Safaryan setzt sich auf einen Stuhl, ihr Mann Ashot Mikayelyan auf das Sofa. Seit acht Jahren lebt das Ehepaar in der Schweiz. Hier sind ihre Kinder zur Welt gekommen, hier haben sie Freunde und hier fühlen sie sich mittlerweile zuhause. Doch ihre Zukunft ist ungewiss, denn ihr Asylgesuch und alle weiteren Versuche, hier bleiben zu dürfen, wurden abgelehnt. Schlimmer noch: Unterdessen hat die Familie erfahren, dass sie die Schweiz getrennt verlassen muss. Der Vater soll mit den beiden älteren Kindern nach Kasachstan, die Mutter mit der jüngsten Tochter nach Armenien ausreisen. Dies, weil die beiden Länder den jeweils ausländischen Ehepartner nicht bei sich aufnehmen wollen.

Die drohende Trennung der Familie bezeichnet Amnesty International in einem Bericht, den die Organisation 2014 über die Familie verfasst und an das Bundesamt für Migration verschickt hat, als Widerhandlung gegen das Recht auf Familieneinheit gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention. Für die Familie ist diese Aussicht ein schwer zu verkraftendes Schicksal, das wie ein Damoklesschwert über ihrem Alltag hängt. «Für uns ist es das Wichtigste, dass wir zusammenbleiben können», sagt die Mutter.

Mysteriöser Todesfall

Nun beginnen die beiden, ihre Geschichte zu erzählen. Arpine Safaryan wird 1979 in Armenien geboren und erlebt eine glückliche Kindheit. Sie studiert an der Universität und führt später in der Provinzhauptstadt Armavir ein Reisebüro. Sie hat ein eigenes Auto, unternimmt Reisen nach Europa und Asien – es fehlt ihr an nichts. Doch im Jahr 2009 endet ihr sorgloses Leben, als ihre Schwester aus unerklärlichen Gründen stirbt. Safaryan beginnt auf eigene Faust zu recherchieren, wer oder was hinter dem Tod ihrer Schwester steckt, die kurz davor ein Kind auf die Welt gebracht hat.

Damit begibt sie sich selbst in Gefahr. Die Behörden machen ihr unmissverständlich klar, dass sie ihre Abklärungen beenden soll, weil es sonst Probleme gebe. Darüber, was in der folgenden Zeit passiert ist, möchte Safaryan heute nicht mehr sprechen – zu gross ist die Angst vor möglichen Konsequenzen, falls sie dereinst in ihre Heimat zurückreisen muss.

Ashot Mikayelyan wird 1976 ebenfalls in Armenien geboren. Er wächst jedoch bei seinem Onkel in Kasachstan auf und nimmt später auch diese Staatsangehörigkeit an. Er geht an die Universität und arbeitet zuerst als Zahnarzt, später in der Immobilienbranche. Dort bekommt er Probleme mit der lokalen Mafia, die ihn zu hohen Geldzahlungen erpresst, ihn für mehrere Tage entführt und verprügelt. Er reist nach Armenien, wo er seine zukünftige Frau Arpine Safaryan kennenlernt. Doch auch das Leben in seiner alten Heimat bereitet ihm Schwierigkeiten: Er leidet an Diabetes Typ 1 und erhält aufgrund fehlender Staatsangehörigkeit die nötigen Medikamente nicht.

Trotz aller Widrigkeiten heiraten die beiden im Februar 2010 in Armenien nach traditionellem Brauch. Das Paar beschliesst, gemeinsam nach Kasachstan zu ziehen. Doch dort wird Mikayelyan von seiner Vergangenheit eingeholt. Die beiden sehen nun keinen anderen Ausweg mehr, als zu fliehen – keines der Länder scheint ihnen noch sicher. «Ich wäre lieber gestorben, als so weiterzuleben», sagt Mikayelyan.

Juristisches Tauziehen

Nach einer langen Reise erreichen er und seine Frau im Januar 2012 die Schweiz. Kalt sei es gewesen, als sie in Vallorbe (VD) zu ihrem ersten Interview mit den Behörden antraben mussten, erinnert sie sich. Das Paar stellt ein Asylgesuch und lebt fortan in der Kollektivunterkunft Schlüssel in Biel. Es beginnt das lange Warten, das bis heute kein Ende genommen hat.

Ein Jahr später erfahren sie, dass ihr Asylgesuch abgelehnt worden ist. Wenig später kommt ihr Sohn Robert auf die Welt, gefolgt von den Schwestern Armine Charlotta und Inessa Arevik. In den folgenden Jahren beginnt ein juristisches Tauziehen. Die Familie reicht Rekurse ein und fordert erneute Überprüfungen ihrer Unterlagen. Die Zeit schreitet voran, doch alle Anfragen werden abgelehnt. Ihr Ausweis N für Asylsuchende läuft 2014 ab, sie werden zu Papierlosen und sind seither ausreisepflichtig.

Das sei eine schwierige Situation für die ganze Familie, sagen die Eltern. Manchmal wird ihnen in ganz banalen Alltagssituationen vorgeführt, dass sie anders sind, als alle anderen: Ohne Ausweis könne sie ihrem Sohn kein Bibliotheksabonnement kaufen, so die Mutter. Und bei einem Winterausflug habe er ohne Ausweis keine Schlitten mieten können, ergänzt der Vater. Es sei hart, seit Jahren nichts tun zu dürfen als zuhause sitzen und warten und für so vieles auf Hilfe angewiesen zu sein.

Doch der Weg zurück ist für beide keine Option. «Mein Leben wäre dann vielleicht zu Ende», sagt er im Hinblick auf eine Rückkehr nach Kasachstan. Er sei dort aus politischen Gründen bedroht. Die Gefahr für Safaryan bei einer Rückkehr nach Armenien schätzt Amnesty International ebenfalls als gross ein. Ihr drohe nicht nur physische Gewalt, sondern auch ein psychisches Trauma. Ausserdem hat sie in ihrer Heimat keine Angehörigen mehr. Die Organisation hält fest, dass es aufgrund zahlreicher Telefonate und Treffen sowie einem psychologischen Rapport keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Arpine Safaryan gebe.

Engagierte Eltern

Die Tage in Biel sind für die Familie oftmals lang und langweilig. Die Eltern haben mehrere Deutschkurse besucht und würden gerne arbeiten, was ohne Aufenthaltsbewilligung jedoch nicht erlaubt ist. Mikayelyan wird manchmal von seinen Schweizer Freunden zum Wandern oder Velofahren eingeladen. Ausserdem erledigt er Hilfsarbeiten im Verein Asyl Biel & Region (ABR). Safaryan ist Mitglied des Elternrats in der Schule Sahligut und besucht mit ihren Kindern regelmässig den Quartiertreff Mett. Beide engagieren sich in ihrem Umfeld und der Schule, helfen etwa bei Festen und Ausflügen oder gärtnern in einem Integrationsprogramm. Robert geht mittlerweile in die erste Klasse und Armine Charlotta besucht den Kindergarten. Neben Armenisch und Russisch sprechen beide Deutsch. Sie kennen kein anderes Leben als dasjenige in der Schweiz.

Im Quartier wird die Familie als gut integriert, hilfsbereit und offen wahrgenommen. Dies bezeugen über zehn Empfehlungsschreiben von Nachbarn, Freunden und Bekannten an die Behörden, die dem BT vorliegen. Unterstützung erhält die Familie auch von Lehrerinnen der Primarschule Sahligut. In einem Brief an den Stadtpräsidenten Erich Fehr (SP) und weitere Bieler Gemeinderäte haben sie geschildert, wie die drohende Abschiebung den Schulalltag belaste. Ihr Schreiben schickten sie zudem an Bundesrätin Karin Keller-Sutter und den Staatssekretär für Migration Mario Gattiker.

Arpine Safaryan, Ashot Mikayelyan und ihre Kinder werden zudem von der Bieler Arbeitsgruppe «Alle Menschen» begleitet, die sich in der Region für abgewiesene Asylsuchende engagiert. Seit November stehen die Nidauerin Margrit Schöbi und ein weiterer Unterstützer in regelmässigem Kontakt mit der Familie. «Allein in Biel gibt es rund 100 abgewiesene Menschen, von denen manche seit Jahren warten. Dass hier allerdings die Familie getrennt werden soll, ist wirklich das Allerletzte», sagt Schöbi.

Drohende Kindeswohlgefährdung

Seit mehreren Jahren setzt sich die Berner Anwältin Laura Rossi, spezialisiert auf Asyl- und Ausländerrecht, für die Familie ein. Doch auch sie konnte bisher im Fall keine neue Wendung erreichen. Es mache es schwierig, dass Armenien und Kasachstan keine klassischen Bürgerkriegsländer seien und die Behörden in der Schweiz somit über wenig Informationen und Erfahrungen zu diesen Ländern verfügten. «Zu Beginn hat man den Schilderungen der Familie nicht geglaubt», sagt Rossi.

Im März 2018 stellt sie bei der Stadt Biel ein Gesuch um eine Aufenthaltsbewilligung – begründet durch einen «schwerwiegenden persönlichen Härtefall». Die Idee dahinter: Die Stadt soll dem Staatssekretariat für Migration (SEM) ein Gesuch stellen, damit dieses eine Aufenthaltsbewilligung erteilt. Erfahrungsgemäss würde das SEM einem solchen Gesuch in der vorliegenden Konstellation ohne Weiteres zustimmen. Die Anwältin argumentiert, dass die Rückkehr der Eltern und ihrer Kinder in ihre jeweiligen Herkunftsstaaten unweigerlich zu einer Trennung der Familie und somit zu einer Kindeswohlgefährdung und einer Verletzung des Rechts auf Familienleben führen würde.

Eineinhalb Jahre später, eine von der Stadt Biel als «eher lang» bezeichnete Verfahrensdauer, kommt im September 2019 eine Antwort von den Einwohnerdiensten. Sie ist negativ. Die Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung wegen eines vorliegenden Härtefalls sei nicht erfüllt. Die Stadt schreibt, dass die Gesuchsteller keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und durchgehend von der öffentlichen Hand unterstützt werden müssen – ungeachtet dessen, dass sie von Gesetzes wegen gar nicht arbeiten dürfen. Weiter würden die Deutschkenntnisse und der Grad der Integration lediglich dem erwartbaren Mass entsprechen. Zudem sei eine Eingliederung der noch jungen Kinder in ihrem Heimatland ohne Weiteres möglich.

André Glauser, Leiter der Bieler Abteilung öffentliche Sicherheit, sagt auf Anfrage des BT, dass er zu Fragen, die ein laufendes Verfahren beeinflussen könnten, nicht konkret Stellung nehmen könne. Er hält fest, dass das SEM und nicht die Stadt Biel für die Ausschaffung von ausländischen Personen, deren Asylgesuche abgewiesen worden sind, zuständig sei. Glauser bestreitet denn auch, dass die Stadt Biel einen massgeblichen Einfluss auf den Verlauf des Falls nehmen könnte. Die Stadt Biel stelle nur einen Antrag auf Erteilung einer Härtefallbewilligung, wenn die rechtlichen Voraussetzungen gegeben seien – was hier scheinbar nicht der Fall ist.

Unklare Zusammenführung

Zuletzt hält der Kanton in einem Schreiben vom November 2019 fest, dass eine Familienvereinigung in Armenien oder Kasachstan möglich wäre und er deshalb beim Bund keine vorläufige Aufnahme der Familie beantragen wird. Allerdings bleibt unklar, wie, wann und wo die Zusammenführung durchgeführt werden könnte. «So etwas habe ich noch nie zuvor gehört», sagt Laura Rossi. Sie pocht darauf, dass das Kindeswohl ins Zentrum gestellt werden muss. Die drei Kinder seien hier aufgewachsen und würden nichts anderes kennen. «Ihre Wiedereingliederungschancen in den Herkunftsländern der Eltern sind schlecht», glaubt die Anwältin.

Die rechtlichen Wege sind mittlerweile praktisch ausgeschöpft. Es brauche nun politischen Druck, ist Rossi überzeugt, und auch der Gang an die Öffentlichkeit könne hilfreich sein. Ein vorerst letzter Versuch auf juristischem Weg ist derzeit noch hängig: Am 4. Dezember hat die Familie bei der Sicherheitsdirektion des Kantons Bern eine Beschwerde gegen die Stadt Biel eingereicht. Arpine Safaryan und Ashot Mikayelyan setzen nun all ihre Hoffnung darauf, dass Biel seinen Entscheid noch einmal überprüfen muss – und dieses Mal zu einem anderen Schluss kommt.
(https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/abgelehnt-und-auseinandergerissen-eine-familie-bangt-um-ihre-zukunft)


+++GENF
[VIDEO] 2ème jour d’occupation du Grütli par le collectif de lutte MNA
Victoires d’étapes au 2ème jour d’occupation.
Résumé en sons et images par Espresso TV.
https://renverse.co/VIDEO-2eme-jour-d-occupation-du-Grutli-par-le-collectif-de-lutte-MNA-2398


+++SOLOTHURN
«Sprachliche Barrieren sind durch Aktivitäten verschwunden»: Asylbewerber zu Besuch in der Pfadi
Im September 2019 lud die Pfadi Oensingen Asylbewerber ein – nun nehmen sie mit dem Integrationsprojekt an einem Wettbewerb teil.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/thal-gaeu/sprachliche-barrieren-sind-durch-aktivitaeten-verschwunden-asylbewerber-zu-besuch-in-der-pfadi-136226482


+++ST. GALLEN
Streit um Asylzentrum Landegg: «Wir fühlen uns hintergangen» – jetzt laufen auch Bürger Sturm gegen Weiterführungspläne
Nach der neusten Entwicklung beim Asylzentrum Landegg regt sich nun auch Widerstand in der Bevölkerung. Kritisiert wird insbesondere der Eggersrieter Gemeindepräsident.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/appenzellerland/streit-um-asylzentrum-landegg-wir-fuehlen-uns-hintergangen-jetzt-laufen-auch-buerger-sturm-gegen-weiterfuehrungsplaene-ld.1185433


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
derbund.ch 15.01.2020

Warum der Widerstand gegen den Transitplatz so stark ist

Laut einer Tamedia-Umfrage lehnen die Berner den Transitplatz Wileroltigen ab – obwohl im Kantonsparlament die Mehrheit dafür ist. Ein Experte sagt, warum das so ist.

Céline Rüttiman

Der Transitplatz in Wileroltigen findet beim bernischen Stimmvolk rund drei Wochen vor dem Abstimmungstermin keinen grossen Anklang. Eine Mehrheit der Stimmberechtigten will den Kredit von 3,3 Millionen Franken für das Projekt ablehnen. Das zeigt die Tamedia-Umfrage zur kantonalen Abstimmung vom 9.Februar, über die die «Berner Zeitung» am Mittwoch berichtete. Das Hauptargument der Gegner ist gemäss Umfrage, dass die Fahrenden sich selber organisieren und den Landeigentümerinnen und Landeigentümern einen fairen Preis für den Aufenthalt bezahlen sollen.

Obwohl die Vorlage in allen grossen Parteien – von der SVP abgesehen – Unterstützung findet, sind die Befürworter momentan in der Minderheit: Nur 24 Prozent der befragten Stimmberechtigten wollen am 9.Februar Ja stimmen, nur 12 Prozent neigen zu einem «eher Ja». 45 Prozent wollen ein Nein in die Urne legen. Wieso diese Diskrepanz zwischen Parlament und Stimmvolk?

Politologen nicht überrascht

Bei Themen, die Ausländer betreffen, entscheide das Stimmvolk generell viel konservativer als das liberalere Parlament, sagt der Politologe Laurent Bernhard. Deshalb finde die SVP mit ihren Kampagnen bei den Stimmbürgerinnen und -bürgern auch Gehör. So sei er nicht überrascht, dass in der Tamedia-Umfrage die Mehrheit gegen einen Transitplatz für ausländische Fahrende stimmen will.

Auch Adrian Vatter, Politologe an der Universität Bern, sagt, dass Anliegen von Minderheiten, die von der Mehrheit als Aussenseiter betrachtet werden, beim Schweizer Stimmvolk einen schweren Stand haben. Das habe eine universitäre Studie von eidgenössischen und kantonalen Volksabstimmungen zu Minderheitsanliegen gezeigt. «Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Stimmberechtigten wenig Gehör für die Anliegen von ausländischen Fahrenden haben werden», sagt Vatter. Dass auf Minderheiten wenig geschaut werde, sei ein Merkmal des Populismus, sagt Bernhard. Ist das also das Erfolgsrezept der SVP? In der Schweiz verkörpere die SVP den Populismus, bestätigt er. «Gegen populistische Themen, die emotional aufgeladen werden, helfen nur Fakten.»

Es sei Teil der Politik der JSVP, Ängste vor dem Fremden und anderen zu schüren, sagte auch Regierungsrätin Evi Allemann (SP) bereits im Interview mit dem «Bund». Damit erkläre sie sich das Zustandekommen des Referendums. «Die Tamedia-Umfrage bestätigt nun, dass die Vorbehalte gegenüber einem Transitplatz hoch sind», sagt sie. Wie stark emotionale Faktoren und Vorbehalte gegenüber Fahrenden im Allgemeinen ebenfalls mitspielen, sei jedoch gestützt auf die Umfrage schwer zu beurteilen.

Simon Röthlisberger, Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, sieht die Vorurteile gegenüber den ausländischen Fahrenden als zentrales Hindernis, wieso Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gegen den Transitplatz stimmen könnten. «Diese Vorurteile will das Ja-Komitee in der Bevölkerung abbauen», sagt er. «Deshalb zeigen wir die Gesichter der Menschen, die auf den Plätzen leben.» In anderen Kantonen seien gute Erfahrungen mit Infoveranstaltungen in Gemeinden, in denen es zum Dialog zwischen den Anwohnern und den Fahrenden kommen könne, erreicht worden. «Wer sich kennt, hat weniger Vorurteile», sagt er. Wenn es keinen Transitplatz gebe, dann habe dies auch Auswirkungen auf Nicht-Fahrende, so seien Landwirte und Gemeinden von irregulären Landnahmen betroffen und würden unter der unge- regelten Situation leiden.

Dass die JSVP in der Wileroltigen-Abstimmung mit Feindbildern arbeite, zeige das vom bernischen Obergericht als rassendiskriminierend eingestufte Werbeplakat der Partei, mit dem sie Stimmung gegen Transitplätze für ausländische Fahrende gemacht habe. «Das Plakat entmenschlichte die Fahrenden und förderte unnötig Ängste vor diesen Menschen», sagt Röthlisberger.

JSVP will dranbleiben

Adrian Spahr, Co-Präsident der JSVP, kommentiert das Ergebnis der Umfrage gern. Er sei überhaupt nicht überrascht über das Ergebnis. «Ich gehe davon aus, dass die unnötige und teure Vorlage im Februar abgelehnt wird», sagt er. Trotz der Umfrage wolle das Nein-Komitee am Wahlkampf dranbleiben und weitere Plakate anbringen und Inserate aufschalten. Denn obwohl ihn das Resultat freut, fürchtet er die Folgen: «Es könnte uns Gegner demobilisieren und die Befürworter animieren.» Mit Umfragen habe noch niemand eine Abstimmung gewonnen.
(https://www.derbund.ch/bern/starker-widerstand-gegen-transitplatz/story/13436531)



Transitplatz hat schweren Stand
Gelingt der Jungen SVP der Coup? Laut der jüngsten Tamedia-Umfrage will die Mehrheit des Berner Stimmvolks den Transitplatz in Wileroltigen ablehnen.
https://www.derbund.ch/bern/transitplatz-hat-schweren-stand/story/15947642
-> https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/transitplatz-wileroltigen-gegner-haben-oberhand/story/22997378


+++FREIRÄUME
Darlehen von 300’000 Franken für AJZ
Die Stadt Biel gewährt gewährt dem Verein Autonomes Jugendzentrum einen Kredit von 300’000 Franken. Damit ist der Umbau des Bieler «Chessu» einen Schritt weiter.
https://www.bernerzeitung.ch/region/region-bern/darlehen-von-300-000-franken-fuer-ajz/story/12534323
-> https://www.biel-bienne.ch/de/news.html/29/news/511


+++GASSE
bernerzeitung.ch 15.01.2020

Wie sich Frauen auf der Strasse durchschlagen

Obdachlose Frauen sind in der Öffentlichkeit kaum präsent. Es gibt für sie nur wenig spezifische Angebote, so etwa das offene Büro der kirchlichen Gassenarbeit. Nun wird in Bern die Frage aufgeworfen: Braucht es mehr?

Konzept, Text, Bilder, Video: Stephanie Jungo

Eine Frau durchwühlt die Kiste. Pullis. BHs. Hosen. Sie hält ein Jäckchen in die Höhe. «Warm gibt das nicht», murmelt sie vor sich hin und legt es zurück.

Am Tisch nebenan sitzt ein halbes Dutzend Frauen. Eine von ihnen reisst ein Stück vom Tessinerbrot, belegt es mit Aufschnitt. Sie unterhält sich mit ihrer Sitznachbarin.

Eine Frau stürmt rein. «Habt ihr schon wieder Hundefutter?»

Das Büro der kirchlichen Gassenarbeit in der Berner Altstadt – ein Wohnzimmer für Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Gasse ist. Der Dienstagnachmittag gehört alleine den Frauen. Nicht ohne Grund. Obdachlose oder von Armut betroffene Frauen bleiben in der Öffentlichkeit oft unsichtbar, spezifische Angebote für sie gibt es kaum.

Für den Dienstagnachmittag im Büro der Gassenarbeit sind die Frauen deshalb dankbar. «So haben wir unsere Ruhe vor den Männern», ruft eine von ihnen. Sie sitzt eingepackt in einer silbernen Winterjacke an einem runden Tisch und fischt ein Schokobrötchen aus dem Korb in der Mitte. Neben ihr sitzt Evelina – graue Steppjacke, ein Schal in Beige, das dunkelgraue Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie klammert sich an eine Tasse Kaffee und hat alles im Blick.

Die Tür zum Büro schwingt auf. Eine Frau hievt ihr Trottinett über die Schwelle. Am Lenker hängen Plastiktüten, aus einer ragen zwei Rollen Geschenkpapier. «Wie geht es dir Ilona?», begrüsst Evelina die Frau. Freundschaften? Das wäre übertrieben, sagen die Frauen an diesem Nachmittag. Man kenne sich, tausche sich aus. Nicht mehr, und nicht weniger. Andere widersprechen. Freundschaften entstünden durchaus, gar Paare hätten sich hier bereits kennengelernt.

Der Nachmittag neigt sich dem Ende entgegen. Eva Gammenthaler und Nora Hunziker vom Team der kirchlichen Gassenarbeit holen Kisten, gefüllt mit Äpfeln, Honig, Kartoffeln. «Wer will Couscous?», ruft Eva Gammenthaler und hält eine Packung davon in die Luft. Die Frauen schauen skeptisch. «Teigwaren. Wer braucht Hörnli?» Einige Frauen heben die Hand, einige rufen.

Nach einer Viertelstunde sind die Lebensmittel verteilt, die Frauen verstauen die Ausbeute in ihren Trolleys oder Plastiksäcke. Ilona ergatterte Schokolade. Eine Tafel mit Nüssen. Sie tauscht sie mit einer anderen Frau gegen Milchschokolade ein.

Aufbruchstimmung im Büro. Die Frauen verabschieden sich. Einige von ihnen fragen nach Zigaretten. Eva Gammentahler holt einen Pack. Ilona steckt sich eine Zigarette hinters Ohr. Auch Evelina packt ihre Sachen in einen silbernen Trolley und macht sich auf den Weg.

«Die Menschen nehmen nur das von der Welt wahr, was sie in ihrem Leben sehen», sagte Evelina an diesem Nachmittag. Wenn man auf der Strasse lebe, bekomme man einen anderen Blick auf die Welt. Diesen Blick, wolle sie zeigen.

Ungepflegt, mit zerrissenen Kleidern. Der Clochard prägt unser Bild von Obdachlosigkeit. Das greife zu kurz, sagen Experten. Obdachlosigkeit habe die verschiedensten Gesichter, die gebräuchliche Typologie unterscheidet vier Formen von Obdachlosigkeit.

Obdachlosigkeit betrifft alle gesellschaftlichen Schichten. Eva Gammenthaler und Nora Hunziker vom Team der Gassenarbeit erzählen von Menschen, die einst Hunderttausende auf dem Konto hatten und nun zu ihnen ins Büro kommen.

Den einen Grund für Obdachlosigkeit gebe es dabei nicht. Vielmehr seien es Faktoren, die sich gegenseitig befeuern. Jemand verliert seinen Job, driftet in die Alkoholsucht und landet schliesslich auf der Strasse.

Familie – Freunde – Arbeit – Gesundheit. Fällt etwas davon weg, geraten Menschen schnell in die Abwärtsspirale – und kommen kaum wieder raus. Ein Teufelskreis.

Genaue Zahlen zur Obdachlosigkeit liegen für Bern nicht vor. Eine der wenigen Studien zum Thema hat Basel-Stadt erarbeiten lassen. Die Studie kommt zum Schluss: Männer sind viermal mehr von Obdachlosigkeit betroffen als Frauen. Ein Verhältnis das sich in ganz Europa beobachten lasse.

Frauen, so die Studie, vermeiden Obdachlosigkeit. Meist aus Sicherheitsüberlegungen. Sie nutzen dazu ihr soziales Netz, übernachten bei Freunden. Das führe einerseits zu Abhängigkeitsverhältnissen. Andererseits bleibe das Problem unsichtbar – die Dunkelziffer von wohnungslosen Frauen sei dementsprechend hoch.

Ilona

Ilona trägt an jedem Finger einen dicken, silbernen Ring. Unter dem Beret schauen die rot-blonden Haare hervor. Ihre Füsse stecken in Holzzoggel mit Blumenmuster. Sie sei noch im Alkistübli gewesen, erzählt sie an diesem Dienstagnachmittag im Büro der Gassenarbeit.

Ilonas Geschichte ist nur schwer mit den Vorstellungen von einem Leben in der Schweiz vereinbar.

Aufgewachsen ist sie im Heim. Dort ist sie als Teenagerin abgehauen, ist auf den Gassen Zürichs gelandet. Sie erzählt, wie sie sich für Gras auf Männer eingelassen hat – immer mit denselben. «Ich hab die witzig gefunden. Oder interessant. Ich weiss auch nicht, warum ich das gut fand. Vielleicht wars das Kiffen.»

Sie erzählt vom Wackel – dem Drogenstrich. Von ihrer ersten Überdosis. Vom «Sugar» – Heroin – das sie Anfang 20 mit dem Wasser aus der Limmat aufkochte. Die Drogen, das Leben auf der Strasse setzten ihr zu. Sie erzählt, wie sie als junge Frau von Schmerzen geplagt war. Zum Arzt wollte sie nicht. Sie schlief weiter draussen.

Nach einer Nacht in der Rondelle am Bellevue machte sie ihren «Knall» – und klappte zusammen. Geschrien habe sie, wie am Spiess. Blutvergiftung, Nierenversagen, ein vereitertes Steissbein. «Die Ärzte sagten mir später, ich werde nicht älter als 30. Jetzt bin ich bald doppelt so alt.»

Nach einer Therapie verschlug es Ilona nach Bern. Mitte zwanzig, mit einem Kind, fand sie Arbeit in einem Betagtenheim. Berufsbegleitend machte sie eine Ausbildung, unterstützt durch eine Stiftung. Ilona wohnte in einer Zweizimmerwohnung. Sie schlief in der Stube. «Der Platz reichte gerade für mein Bett und meine Musikkassetten.»

Sie traf einen Mann, einen Nachbarn, ehemaligen Drogenabhängigen, landete mit ihm «in der Pfanne» – Beziehungen zu Männern waren ihr untersagt. Eine Situation, die sie überfordert. Es trieb sie auf die Gasse, sie besorgte sich «Gift.» Die, die auf ihr Kind aufpassten, dachten, sie sei bei der Arbeit. Auf der Arbeit sagte sie, sie sei krank.

So ging es weiter, bis sie von ihrer zweiten Schwangerschaft erfuhr.

Evelina

Evelina sitzt mit ihrem Hund Waldi im Büro der Gassenarbeit. Der lauteste Hund von Bern, wie sie sagt. Als Evelina Waldi vor fast vier Jahren bekommen hat, war ihr Leben ein anderes. Sie war verheiratet, lebte mit ihrem Mann in Solothurn. «Mit der Trennung veränderte sich alles. Schlagartig.»

Sie erzählt von Machenschaften von ihrem Ex, von verfälschten Unterlagen und Dokumenten. Evelina bekam keine Wohnung. Vorübergehend wohnte sie im Ferienhaus von Freunden, später schlief sie im Auto.

Das Leben in der Schweiz wollte sich Evelina nicht mehr zumuten. Mit ihrer Mutter reiste sie nach Italien, wo ihre Eltern einst ein Haus bauten. Vor Ort, die Enttäuschung. Fenster und Öfen waren herausgerissen, das Haus für die beiden Frauen unbewohnbar.

Sie lebten auf der Strasse. Bettelten. «Geld wollten wir nie. Wir fragten nur nach Essen.» Sie erzählt, wie sie in einer Pizzeria um Essen bat – ohne grosse Hoffnung. «Ich durfte sogar auswählen, welche Pizza ich möchte. Das hat mich zu Tränen gerührt.»

Für die Stadt Bern kümmert sich Pinto – Prävention, Intervention, Toleranz – um obdachlose Menschen. Pinto wisse von fünf Frauen, die zurzeit auf der Strasse schlafen, schreibt die Stadt. Dies sei keine abschliessende Zahl. Weiter schreibt die Direktion für Soziales: In der Stadt Bern müsse niemand auf der Strasse schlafen, Notschlafstellen seien genügend vorhanden.

Jedoch gebe es Menschen, die freiwillig auf der Strasse übernachteten. Dies weil sie Hilfsangebote nicht in Anspruch nehmen wollten oder könnten. Das hänge vor allem mit psychischen Problemen zusammen, die auch durch zusätzliche Wohnangebote nicht behoben werden könnten.

«Das ist für mich eine schwierige Begründung», sagt Eva Gammenthaler. Ihre Kollegin Nora Hunziker pflichtet ihr bei. Sie sitzen am Tisch im Büro der Gassenarbeit. Eva Gammenthaler politisiert für die Alternative Linke im Berner Stadtrat. Dort hat ihre Partei eine Motion eingereicht, in der sie eine Notschlafstelle für Frauen fordert. Die Angebote seien nicht niederschwellig genug, ist der Vorstoss begründet. Der Gemeinderat unterstützt das Anliegen nicht.

«Die von der Stadt schreiben ja selbst, dass die Frauen das Angebot nicht in Anspruch nehmen können», sagt Nora Hunziker. Das zeige doch, dass das Angebot Lücken aufweise. «Lücken, die wir schliessen müssen.»

Die Soziale Arbeit müsse den Menschen Angebote machen, die sich auch annehmen könnten. «Sobald Menschen da sind, die die Hilfe nicht annehmen können, muss man sich doch fragen, wie man das Angebot anders strukturieren kann.» Nora Hunziker und Eva Gammenthaler betonen nochmals: Soziale Institutionen und Angebote funktionieren nur, wenn sie niederschwellig seien.

Für obdachlose Menschen – und Frauen im Besonderen – gebe es unterschiedliche Gründe, warum sie Hilfsangebot nicht nutzen können. Etwa weil sie Haustiere haben, die nicht überall erwünscht oder erlaubt sind.

Die einen können nicht mit den strikten Vorgaben zu Alkohol- und Drogenkonsum umgehen. Anderen fällt es schwer, sich an die Ein- und Auslasszeiten zu halten. Notschlafstellen sind oft nur nachts offen. Sexarbeiterinnen arbeiten nachts und bräuchten Angebote am Tag.

Frauen kann es helfen, wenn Männer ausgeklammert sind. Darauf zielt die Notschlafstelle für Frauen. Bereits Erfahrung sammelt der Kanton Basel-Stadt. Dort läuft seit 2018 ein Pilotprojekt mit einer Notschlafstelle ausschliesslich für Frauen.

Die Heilsarmee, Betreiberin des Passantenheims in Bern, könne einen Platzmangel grundsätzlich nicht bestätigen, schreibt sie auf Anfrage. Es gebe Zeiten mit starker Nachfrage. «Die Leute platzieren wir für ein oder zwei Nächte auf einem Sofa.» Wenn nötig nehme man Kontakt mit anderen Institutionen auf, im schlimmsten Fall würden Feldbetten aufgestellt.

Abweisungen gebe es selten, schreibt die Heilsarmee weiter. Hunde könnten nicht aufgenommen werden – die Zimmernachbarn würden sich stören oder seien geängstigt. 3 bis 4 Mal im Jahr gebe es Abweisungen wegen Bedrohungen.

Evelina

Evelina erzählt von vielen Nächten, in denen sie draussen auf dem Boden schlief. Mittlerweile ist sie in ein Zimmer gezogen. Einbauschränke, Fischgrätparkett, eine Galerie im ausgebauten Dachstock.

«Hier habe ich alles, was ich brauche. Schon fast zu viel», sagt sie.

Ein Schrank und ein Büchergestell trennen das Zimmer. Auf der einen Seite stehen zwei Stühle und ein Sessel um ein Salontischchen. Evelina läuft zum Tischen, hebt den Stoff – einen alten Rock von ihr, den sie nicht mehr trägt – zum Vorschein kommt ein alter Eimer Hundefutter. Der Schrank, das Büchergestell waren schon hier. Den Bürostuhl, der auf der anderen Seite des Zimmers am Tisch steht, wollten die vorherigen Besitzer nicht mehr. «Gratis zum Mitnehmen.»

Ein kleiner Kühlschrank steht im Zimmer. Evelina öffnet ihn. Ein Tupperware, drei Joghurts, eine Flasche Cola und eine Flasche O-Saft. Kochen kann Evelina in der Gemeinschaftsküche, die sie sich mit den anderen Bewohnern des Hauses teilt. Vier Männer. Viel zu tun mit ihnen habe sie nicht.

Evelina sitzt in ihrem Sessel und erzählt, wie sie in Italien ihre Mutter aus den Augen verloren hat nach einem Streit. «Ich wusste nicht, wo sie war, ob sie noch lebte.» Sie machte sich auf den Weg zurück in die Schweiz, lebte auf der Gasse, übernachtete an Bahnhöfen, irgendwo in der Stadt. Die Kälte, sich nicht waschen können, die verurteilenden Blicke der anderen – an das Leben auf der Strasse könne man sich nicht gewöhnen.

12 Stunden draussen sein. Im Sommer sei das weniger schlimm. Man könne baden, im Park schlafen, wo es Menschen hat und einem nichts passiere. Aber im Winter? Mit dem Hund könne sie kaum irgendwo rein, erzählt Evelina. Und selbst wenn sie Zuflucht finde, sei das Zusammensein mit fremden Menschen nicht immer einfach.
«Jemand hat mir in der Notschlafstelle Löcher in die Schuhe gemacht. Unglaublich.»

Als Frau sei alles noch schwieriger. «Alle wollen sie Geld aus dir rauspressen. Sie wollen dich abhängig machen, dich auf den Strich schicken. Oder beides.» Sie sei standhaft geblieben. «Mein Glaube und mein Hund haben mich davor bewahrt.» Mit Waldi hätte sie eine Aufgabe. Sie müsse zu ihm schauen. «Es geht nicht nur um mich.» Doch auch wenn sie stark blieb, die Finger von Alkohol und Drogen lässt. «Die Menschen denken trotzdem, ich sei süchtig, ich sei eine Prostituierte.»

Ilona

Ein paar Tage später im Büro der Gassenarbeit. Ilona packt ein paar Mandarinen in einen Plastiksack und stellt ihn zu ihrem Trottinett. Sie erzählt ihre Geschichte dort weiter, wo sie eine Woche vorher aufgehört hat.

Sie erzählt, wie sie nach ihrem erneuten Absturz im neunten Monat schwanger war und einen Mann kennenlernte. «Den will ich», dachte sie sich damals. Kurze Zeit später waren die beiden verlobt. Die Ehe: schwierig. «Wir hatten ständig Krach.» Sie sei froh gewesen, dass sie nicht mehr arbeiten muss, Zeit für die Kinder hat.

Sie wird schwanger – quasi ein Wunschkind, sagt sie. «Aber auch zu dieser Zeit löste er die Probleme mit Schlägen.»

Um ihn zu verlassen, fehlte ihr die Kraft. «Die gleiche Hand die mich schlug, war die Hand, die mich liebte. Das ging mir nicht in den Kopf.» Es habe sie fertig gemacht, dass er immer nur motzte. «Nie konnte ich ihm etwas recht machen.» Sie hielt es nicht mehr auf, stieg in einen Zug nach Zürich zu ihrem Mami- und trieb dort «Gift» auf. Sie verlor das Zeitgefühl. Nach dem Absturz ging ihre Ehe in die Brüche, die Kinder wurden weggebracht.

Bis vor einem Jahr  ging Ilona noch auf den Strich. «Das war zwar erniedrigend. Aber das Geld sicherte mir einen Platz am Warmen.» Heute lebt Ilona in Thun, übernachtet in der Notschlafstelle. Die Zeit vertreibt sie sich mit Wischen, dort wo sie ein- und ausgeht, ihr Haupthobby. Das Leben habe sie kaputt gemacht, erzählt sie. Überwunden habe sie das Erlebte nicht.

Beschweren will sie sich nicht. Nur etwas, das finde sie frech. Als sie früher im Heim wohnte, musste sie früh aufstehen und arbeiten. «Als sie uns weckten, haben sie immer gleich die Fenster aufgerissen. So unnötig.» Das erlebe sie in der Notschlafstelle nun wieder. «Das müsste nicht sein.»

Abgabetermin im Büro der Gassenarbeit. Jeden zweiten Dienstag arbeiten die Frauen an Beiträgen für das Magazin der kirchlichen Gassenarbeit. «Mascara» erscheint viermal im Jahr. Sich mitteilen, zeigen: «Schaut, uns gibt es auch», das gefalle ihnen, erzählen die Frauen. Damit ihre Gedanken nicht nur im Büro der Gassenarbeit, auf der Strasse oder in der Notschlafstelle bleiben.

Die Frauen sitzen an den Tischen, ruhig, über ihre Beiträge gebeugt, die sie von Hand schreiben. Oder zeichnen.

Auch Ilona und Evelina veröffentlichen Beiträge im Mascara.

«Um 18 Uhr abends darf man rein und um 9 Uhr morgens muss man draussen sein. Klar, Notschlafstelle geht schon, aber lieber möchte ich schon wieder eine eigene Wohnung. »

«Ist es nicht so, dass wir durch unsere Erfahrungen, durch unsere persönliche Lebensreise auch Erkenntnis erfahren? Die Erfahrungen, durch viele Monate ohne materiellen Druck, hat mir eine Seite gezeigt, eine Seite neben der 0815-Masse.»

Die soziale Arbeit habe sich in den letzten Jahren gewandelt, sagen Eva Gammenthaler und Nora Hunziker. Fordern und fördern – wobei fordern im Fokus stehe. «Menschen bekommen oft nur Hilfe, wenn sie etwas dafür leisten», sagt Eva Gammenthaler.

Das ist die eine Richtung. Gleichzeitig entstehen neue Ansätze.

So etwa das Konzept «Housing First». Meist stehe die eigene Wohnung am Ende eines Prozesses – als Belohnung quasi. «Housing First» kehrt das Prinzip um. Obdachlose bekommen gleich eine eigene Wohnung. Wohnen als Menschenrecht, nicht als Privileg.

Während zahlreiche europäische Städten Konzepte wie «Housing First» bereits anwenden, sind Städte in der Schweiz zurückhaltend. In naher Zukunft wird es auch in Bern keine Schritte in diese Richtung gehen. Der Gemeinderat schreibt, die Stadt Bern nehme an einem Städtevergleich teil und er wolle die Ergebnisse abwarten bevor er handelt.

Die Frauen geben ihre Texte ab und machen sich auf den Weg.

Auch Ilona schnappt sich ihr Trottinett und packt ihre Sachen zusammen. Sie sei gerade daran, ein Buch zu schreiben, erzählt sie. Obwohl es ihr schwer falle, die Erinnerungen weh tun, wolle sie ihre Lebensgeschichte aufschreiben.

Die Menschen, die ins Büro der Gassenarbeit kommen, seien alle sehr verschieden, sagt Evelina. «Jeder hat seine eigene Geschichte, das ist okay, jeder geht seinen eigenen Weg.» Sie sei froh, wenn sie den Tag prestiere.



Kirchliche Gassenarbeit

Der Kontakt zu Menschen auf der Strasse ist Basis der Tätigkeit der kirchlichen Gassenarbeit. Das Team ist abends draussen unterwegs und verteilt sauberes Konsummaterial, Hygieneartikel, Präservative oder Gutscheine für die Notschlafstelle. An Orten, wo andere Institutionen nur schwer Zugang fänden.

An zwei Nachmittage in der Woche steht das Büro offen. Die Klientinnen und Klienten können telefonieren, am Computer arbeiten oder ins Internet gehen. Bei Kaffee und einem Zvieri können sie sich austauschen. Das Team hört zu, berät, vermittelt Hilfe. Einmal im Monat kommt ein Tierarzt vorbei.



Ethos – Europäische Typologie von Obdachlosigkeit

– Unzureichendes Wohnen:
Menschen, die unzureichend wohnen, leben in Provisorien, zum Beispiel in einem Zelt.

– Ungesichertes Wohnen:
Wer in einer Wohnung ohne Mietvertrag wohnt, wohnt ungesichert. Dasselbe gilt für Menschen, die temporär unterkommen, zum Beispiel bei Freunden oder Bekannten.

– Wohnungslos:
Mit wohnungslos sind Menschen gemeint, die in Asylunterkünften, Notwohnungen oder anderen Einrichtungen wohnen. Oder aber Menschen, die in Hotels wohnen, oder die gerade aus dem Gefängnis oder der Psychiatrie kommen..

– Obdachlos:
Menschen, die im Freien oder in der Notschlafstelle übernachten.



Situation in Basel

28 Plätze hat es in der Notschlafstelle für Frauen in Basel, die seit September 2018 offen ist. Durchschnittlich schlafen 12 Frauen pro Nacht in einem der Zimmer. Das sind mehr als vorher. Laut Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt übernachteten in den gemischten Notschlafstellen durchschnittlich nur halb so viele Frauen. Im Laufe des Jahres 2020 will der Kanton den Pilot auswerten und entscheiden, ob er die Notschlafstelle für Frauen beibehalten will.



Aus der letzten Ausgabe «Mascara»

«Erkenntnis Nummer 1000: Wir wollen frei leben. Aber die Sucht macht uns nicht frei. Sie schafft uns unser eigenes Gefängnis.»

«Freiheit bedeutet für mich, dass ich machen kann, auf was ich Lust habe. Ich mache mich nicht von anderen abhängig, bleibe selbständig.»

«Meine Freiheit sichert mir immer nur die Gegenwart. Ich lebe im Jetzt, denn wer garantiert mit, dass es die Zukunft überhaupt noch gibt.»



Charta der aufsuchenden Sozialarbeit

Die kirchliche Gassenarbeit hält sich an die Vorgaben der Charta der Fachgruppe für aufsuchende Sozialarbeit/Streetwork (Fagass). Darin ist festgehalten: Die Aufsuchende Sozialarbeit versteht und positioniert sich ausserhalb der normativ-repressiven Kräfte. Nora Hunziker hat zu diesem Thema ihre Bachelor-Arbeit in Sozialer Arbeit geschrieben, wie sie im Video erzählt.
-> Video: https://www.tagesanzeiger.ch/extern/videoplayer/videoplayer-nn.html?params=client@tagesanzeiger|videoId@413459|showLogo@1|autoStart@0|mute@0|showAds@1|previewPath@https://server025.newsnetz.tv/413459/frame-10-413459.jpg|platform@desktop
(https://webspecial.bernerzeitung.ch/longform/auf-der-gasse/frauen-der-obdachlosigkeit/)



Ohne Obdach in Bern
Eine Scheidung, der Verlust der Arbeitsstelle oder ein Burnout – oftmals ist es eine Verkettung von Schicksalsschlägen, die Menschen in die Obdachlosigkeit gleiten lässt. Neu ist, dass in Bern zunehmend Menschen aufgrund einer psychischen Erkrankung auf der Strasse landen. Bei der Stadt fragen wir nach, warum das so ist. Und bei der christlichen Gassenarbeit, warum es in Bern eine Notschlafstelle nur für Frauen braucht. Zu guter Letzt lassen wir einen Menschen zu Wort kommen, der sich aus freien Stücken für ein Leben ohne festes Dach über dem Kopf entschieden hat und dies als befreiend empfindet.
https://rabe.ch/2020/01/15/subkutan-heute/



tagesanzeiger.ch 15.01.2020

Die unsichtbaren Süchtigen

Viele Heroinabhängige leben seit dem Ende der offenen Drogenszene am Platzspitz in städtischen Einrichtungen. Dort werden sie immer älter.

David Sarasin

Viel Zeit hat Sandra Limacher nicht für das Gespräch. Das Programm in den letzten Tagen hat sie müde gemacht. Sie sitzt im hellen Gemeinschaftsraum der stationären Wohnintegration an der Gerechtigkeitsgasse in ­Zürich auf einem Sofa und berichtet von der Premiere von «Platzspitz­baby». Weil sie als Statistin im Film mitwirkte, war sie zur Gala am Abend zuvor im Kino Abaton geladen. Den Kinosaal musste sie aber frühzeitig verlassen. «Mir ging das alles sehr nahe», sagt sie. «Das Elend war so authentisch dargestellt.»

Mit dem Film kommen die Bilder der Drogenhölle zurück ins Gedächtnis einer breiten Öffentlichkeit. Aus Zürich verschwunden ist das Heroin in all den Jahren nie. Auch nicht für Limacher. Zwar klaubt sie schon lange nicht mehr die Resten Heroin aus den Zigarettenfiltern der anderen Süchtigen, doch die Sucht ist geblieben. Seit Anfang der 1990er-Jahre nimmt sie Heroin, damals auf der Strasse und im Park, seit vielen Jahren in den Einrichtungen der Stadt. Dort wohnt sie und nimmt unter ­Aufsicht Diaphin, ein pharmazeutisch hergestelltes Heroin in Tablettenform.

Die 53-jährige Limacher ist eine von vielen Personen in den städtischen Einrichtungen, die eine so weit zurückreichende Suchtgeschichte haben. «Viele, die heute noch Heroin oder Substitute wie Methadon konsumieren, haben den Platzspitz oder den Letten miterlebt», sagt Florian Meyer, Leiter der drei städtischen Kontakt- und Anlaufstellen (K&A). Das Durchschnittsalter bei den Anlaufstellen beträgt heute 48 Jahre. Experten gehen davon aus, dass heute etwa gleich viele Sucht­betroffene in Zürich leben wie noch zu Zeiten der offenen Drogenszene. Nur sichtbar sind sie schon lange nicht mehr.

Süchtige altern schneller

Das hat auch mit den Kontaktstellen zu tun. In den betreuten Räumen der Stadt werden monatlich 22’000-mal illegale Sub­stanzen konsumiert, es handelt sich dabei oft um Kokain, Heroin und Benzodiazepine, häufig auch gemischt. 950 Personen frequentieren die drei Einrichtungen an der Selnaustrasse, bei der Kaserne und in Oerlikon. «Jede Konsumation, die bei uns stattfindet, ist eine weniger im öffentlichen Raum», sagt Meyer. «Wir können die Zahl der Süchtigen in der Stadt mit unseren Einrichtungen gut bewältigen.»

Sorge bereitet ihm etwas anderes: Das fortschreitende Alter der Suchtbetroffenen ist für die Anlaufstellen und auch jene stationäre Wohneinrichtung, in der Limacher lebt, eine Herausforderung. «Süchtige altern schneller, ein 50-Jähriger hat etwa die Verfassung eines 70-Jährigen», sagt Marianne Spieler, Leiterin der stationären Wohnintegration an der Gerechtigkeitsgasse. Auch Limacher klagt über Beschwerden. Ihr Herz und andere Organe sind von der jahrzehntelangen Sucht beeinträchtigt. «Man kann mir meine Sucht ansehen», sagt sie.

«Ich werde wohl nicht mehr wegziehen»

Meyer sagt, dass sich der physische und psychische Zustand der Klientinnen und Klienten der Stelle im Verlaufe der Zeit deutlich verschlechtert haben. Um darauf reagieren zu können, seien neben der Weiterbildung des Personals künftig auch infrastrukturelle Anpassungen notwendig. Auffallend sei für ihn etwa, dass zunehmend Bedarf an Unterstützung bei der Körperpflege bestehe. «Inkontinente Klienten stellen immer mehr ein Problem dar», sagt Meyer. Es brauche auch Räume, um psychisch stark beeinträchtigte und im Verhalten unberechenbare Menschen individueller ­betreuen zu können. «Ansonsten laufen wir Gefahr, diese Gruppe von unseren Angeboten auszuschliessen, was zu vermehrtem Drogenkonsum und Konflikten im öffentlichen Raum führen würde.»

Auf Pflege ist Sandra Limacher nicht angewiesen. Würde diese notwendig, müsste sie die stationäre Wohnintegration verlassen. Doch ein Leben ausserhalb des Heims ist für sie derzeit unvorstellbar. «Ich werde wohl nicht mehr wegziehen», sagt sie. Ähnliches gilt auch für die an­deren 22 Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses. Sie alle erhalten hier ein Obdach und dürfen in den Räumen konsumieren. Das Team gewährt ihnen nicht nur eine grundsätzliche medizinische und psychologische Betreuung, die Suchtbe­troffenen erhalten vom Team auch psychotrope Substanzen und Medikamente.

Wartelisten werden länger

Mit dem Alter der Süchtigen steigt der Bedarf an Einrichtungen wie jene an der Gerechtigkeitsgasse. «Es gibt zwar fast keinen Nachwuchs unter den Heroinabhängigen, aber der Bedarf an betreutem Wohnen nimmt zu», sagt Marianne Spieler. Die Wartelisten würden immer länger. Neben der ähnlich grossen stationären Wohnintegration an der Feldstrasse, die seit acht Jahren in Betrieb ist, plant die Stadt zusätzlich eine dritte. Sie eröffnet noch diesen Sommer in Zürich-Unterstrass und hat Platz für 33 Personen.

«Die Schliessung des Platzspitz und die städtischen Einrichtungen, die später entstanden sind, haben mir das Leben gerettet», sagt Limacher. Dass die Mitarbeiter der K&A auch heute noch Menschenleben retten, belegen die Zahlen. Allein 2019 intervenierten sie in 27 Fällen mit lebenserhaltenden Massnahmen. Zu einer tödlichen Über­dosierung sei es in den 30 Jahren seit Einführung der Anlaufstellen noch nie gekommen, sagt Meyer. Im Vergleich: Im Jahr 1992 alleine starben auf dem Platzspitz knapp 420 Personen. Die Bilder von vegetierenden Süchtigen auf den Bahngleisen und im Park – sie sind längst Vergangenheit, das tägliche Elend der Suchtbetroffenen ist deutlich eingedämmt.

«Es ist gut, geht ‹Platzspitz­baby› wieder auf das Thema Drogensucht ein», sagt Limacher. Sie erzählt gern, steht als Zeitzeugin und Gezeichnete hin, wenn Fernsehstationen und Zeitungen ­anfragen. «Vielleicht hält meine Geschichte ein paar junge Leute davon ab, den Stoff zu probieren», sagt sie. Doch das viele ­Engagement, es macht sie auch müde. Nach 20 Minuten möchte sie das Interview abbrechen. In einer halben Stunde steht die nächste Heroinabgabe an.



Heroinkonsum auf Rekordtief

Die Zahl der jungen Heroin­abhängigen in Zürich hat seit Ende der 1990er-Jahre stark abgenommen. Das spiegelt sich auch im Durchschnittsalter der Klientinnen und Klienten bei den drei Stadtzürcher Kontakt- und Anlaufstellen. Nur rund 1 Prozent der Personen ist unter 30 Jahre alt.
Auch beim Drogeninformationszentrum (DIZ) handelte es sich 2018 nur bei 4 Prozent der getesteten Proben um Heroin. Bei einer Konsumentenbefragung gaben nur 3 von 343 Personen an, in den letzten zwölf Monaten Heroin konsumiert zu haben. «Im Freizeitdrogenkonsum spielt Heroin heute keine grosse Rolle mehr», sagt Christian Kobel, Leiter des DIZ. Laut Kobel wurde das Opiat vor allem durch anregende illegale Substanzen ersetzt. Am meisten konsumiert wird heute gemäss Kobel Kokain, an zweiter Stelle steht Metamphetamin, und an dritter Stelle stehen die Partydrogen Ecstasy und MDMA.
Der Trend weg vom Heroin zeigt sich auch bei der Kantonspolizei. 2018 hat sie 16 Kilo ­Heroin beschlagnahmt. Das ist noch ein Drittel der Menge, die vor 15 Jahren sichergestellt wurde – und ein Rekordtief. Schweizweit gingen auch die Verzeigungen im Zusammenhang mit Heroin drastisch zurück. Von über 20000 im Jahr 1993 bis auf unter 7000 ab 2002. (dsa)
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/die-unsichtbaren-suechtigen/story/21668675)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Plakataktion in Berner Trams
Wir haben uns heute Morgen in verschiedene Berner Trams gemischt und dort diverse Werbeplakate ausgetauscht. Auf diesen liessen wir die Schweizer Kriegsprofiteur*innen für einmal ehrliche Worte sprechen und platzierten einerseits ein Stellenangebot der RUAG, wonach ein*e Internationale*r Waffenhändler*in gesucht wird. Im Namen der Credit Suisse warben wir zudem für blutige Kriegsbeteiligungen.
https://barrikade.info/article/3094


Dieser Richter spaltet die Schweiz – das ist der Mann hinter dem Klima-Urteil
Der Richter hinter dem umstrittenen Freispruch der CS-Besetzer ist Mitglied der FDP und soll dem Waadtländer Establishment nahe stehen. In einem Aufsehen erregenden Urteil hat er die Klimakrise als «Notstand» deklariert.
https://www.watson.ch/!997623880


Urteil gegen KlimaaktivistInnen: Das Jahr des Ungehorsams
Zwölf KlimaaktivistInnen, die wegen Hausfriedensbruch und Widerhandlung gegen die Anordnungen der Polizei zu Bussen verurteilt worden waren, wurden nun freigesprochen. Dieser Entscheid ist einmalig und historisch.
https://www.woz.ch/2003/urteil-gegen-klimaaktivistinnen/das-jahr-des-ungehorsams


Weshalb sich Experten nach dem Freispruch der Klimaaktivisten an den Kopf fassen
Ein Richter spricht 12 Klimaaktivisten vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs frei. Während die Gewinner jubeln, sorgt der Entscheid bei Strafrechtsexperten für totales Unverständnis.
https://www.watson.ch/schweiz/klima/553213695-freispruch-nach-protestaktion-in-cs-warum-experten-das-urteil-kritisieren


Unsere Debatte: Was halten Sie vom Freispruch der Klimaaktivisten in Lausanne?
Der Freispruch der Klimaaktivisten, die in einer Filiale der Schweizer Grossbank Credit Suisse Tennis gespielt haben, bewegt die Schweiz. In den Medien wird derzeit eine angeregte Debatte geführt. Auch die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer diskutieren mit. Wir haben Sie gefragt, ob die Klimakatastrophe einen Hausfriedensbruch rechtfertigt.
http://www.swissinfo.ch/ger/-weareswissabroad_unsere-debatte–was-halten-sie-vom-freispruch-der-klimaaktivisten-in-lausanne-/45494440


+++WEF
Greta kann ans WEF wandern – aber nur bis Klosters
Die Bündner Regierung hat grünes Licht gegeben für die dreitägige Winterwanderung der WEF-Gegner. Aber nur mit Auflagen.
https://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/standardgreta-kann-ans-wef-wandern-aber-nur-bis-klosters/story/26471452
-> https://www.srf.ch/news/regional/graubuenden/klimawanderung-zum-wef-wandern-ja-aber-nicht-die-ganze-strecke
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/klimawanderung-zum-wef-nur-bis-klosters-bewilligt-65644797
-> https://www.suedostschweiz.ch/politik/2020-01-15/klimamarsch-faellt-teilweise-ins-wasser
-> https://www.watson.ch/schweiz/graub%C3%BCnden/314698299-wef-klimawanderer-duerfen-nicht-nach-davos-laufen
-> https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/greta-wandert-ans-wef-buendner-regierung-bewilligt-demo-unter-auflagen-ld.1185573
-> https://www.blick.ch/news/wirtschaft/newsticker-zum-wef-2020-in-davos-alle-infos-bilder-und-videos-id15691386.html
-> https://www.20min.ch/finance/news/story/US-Regierung-plant-Trumps-WEF-Besuch-31042712
-> https://wef.gr.ch/DE/aktuelles/Seiten/WEF%202020%20-%20Winterwanderung%20teilweise%20bewilligt.aspx



***Kommentar des Kollektivs STRIKE WEF zur Bewilligung durch die Bündner Behörden***
Wir nehmen zur Kenntnis, dass die zuständigen Behörden die Winterwanderung für Klimagerechtigkeit in grossen Teilen genehmigt haben. Wenig Verständnis haben wir dafür, dass am dritten Tag zwischen Klosters und Davos der rollende Verkehr an das World Economic Forum Vorrang geniesst. Es erstaunt uns, dass es in Davos Platz hat für 3000 WEF-Teilnehmende, jedoch nur für 300 Demonstrant*innen. Unsere breit abgestützte Protestbewegung soll offenbar davon abgehalten werden, zu Fuss und in grosser Zahl nach Davos zu gelangen. Wir diskutieren die Bewilligung und ihre Auflagen in diesem Moment und werden an der PK von heute Nachmittag, um 14:00, weiter informieren.
https://www.facebook.com/strikewef2020/posts/168768551199727


Auch die Kantone subventionieren das WEF
Trotz Reserven von 310 Millionen Franken wird das WEF mit rund 43 Millionen Franken subventioniert. Doch das ist noch nicht alles.
https://www.infosperber.ch/Artikel/Wirtschaft/Auch-die-Kantone-subventionieren-das-WEF


+++REPRESSION DE
Silvester in Connewitz: Verdacht auf Polizeigewalt – Ermittler prüfen Videos
Ist die Polizei in der Silvesternacht in Leipzig-Connewitz unnötig gewalttätig aufgetreten? Nach einem Medienbericht prüft die Staatsanwaltschaft neue Hinweise.
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/leipzig-connewitz-verdacht-auf-polizeigewalt-ermittler-pruefen-videos-a-615a11df-c10d-48db-8e65-17916b9dca47-amp


Geheimdienstbefugnisse in Hamburg: VS darf Kinder überwachen
Die Hamburger Bürgerschaft weitet die Befugnisse des Verfassungsschutzes aus. Der Chef des Landesamts fürchtet eine Eskalation linker Gewalt.
https://taz.de/Geheimdienstbefugnisse-in-Hamburg/!5653965/


+++REPRESSION AT
Klimademo: Neun Schläge in die Nieren verletzten Menschenrechte
Bei der Festnahme des Demonstranten schoss die Polizei deutlich übers Ziel. Der Einsatz sei demütigend gewesen, sagt die Richterin.
https://kurier.at/chronik/wien/klimademo-neun-schlaege-in-die-nieren-verletzten-menschenrechte/400725972


+++POLICE BE
Thun / Zeugenaufruf: Polizist bei Anhaltung verletzt
Bei der Anhaltung eines aus einer psychiatrischen Institution entwichenen Mannes ist am Dienstagabend in Thun ein Polizist verletzt worden. Der Mann setzte sich massiv zur Wehr. Die Kantonspolizei Bern sucht Zeugen.
https://www.police.be.ch/police/de/index/medien/medien.meldungNeu.html/police/de/meldungen/police/news/2020/01/20200115_1438_thun_zeugenaufrufpolizistbeianhaltungverletzt
-> https://www.bernerzeitung.ch/region/thun/psychiatriepatient-verletzt-polizist-mit-glasflasche/story/21020934
-> https://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Psychiatrie-Patient-greift-Polizist-mit-Glasflasche-an-17418479


+++POLIZEI DE
Rechte Polizisten – durch Beamtenstatus geschützt?
Wenn Polizeibeamte mit rechter Gesinnung auffallen, würde man meinen, dass sie ihre Arbeit nicht mehr ausüben dürfen. Sie sind gesetzlich verpflichtet, aktiv für die Demokratie und ihre Werte einzustehen. Recherchen von Panorama 3 zeigen, sie sind durch den Beamtenstatus geschützt.
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Rechte-Polizisten-durch-Beamtenstatus-geschuetzt-,rechtepolizisten100.html


+++SOZIALES
tagesanzeiger.ch 15.01.2020

Sippenhaft für Ausländerkinder: Amherd bremst Keller-Sutter aus

Justizministerin Keller-Sutter zieht bei ausländischen Sozialhilfebezügern die Schraube an. Bei der schärfsten Massnahme krebste sie zurück.

Markus Häfliger

Sie wurden am gleichen Tag in den Bundesrat gewählt. Und in ihrem ersten Amtsjahr schienen Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) und Verteidigungsministerin Viola Amherd (CVP) gut zu harmonieren. Bei der Gesamterneuerungswahl am 11. Dezember übertrumpfte Amherd (218 Stimmen) ihre FDP-Kollegin (169 Stimmen) dann aber deutlich. Und jetzt, gleich zu Beginn des zweiten Amtsjahres, opponiert Amherd gegen Keller-Sutter. In einem vertraulichen Mitbericht an den Bundesrat wirft Amherd der Justizministerin vor, die «Sippenhaft» gegen ausländische Kinder einführen zu wollen.

Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Bundesrätinnen markiert den Auftakt zu einem Jahr, in dem die Ausländerpolitik mit einem Schlag wieder weit oben auf der Agenda steht. In seiner Sitzung am Mittwoch hat der Bundesrat dazu zwei Entscheide gefällt, die eine Doppelstrategie markieren. Einerseits will er die Personenfreizügigkeit mit der EU unverändert erhalten. Andererseits will er die Gangart gegenüber Nicht-EU-Ausländern verschärfen. Das sind die beiden Entscheide:

– Erstens hat der Bundesrat die Abstimmung über die SVP-Begrenzungsinitiative auf den 27. Mai angesetzt. Damit tickt ab sofort der Countdown: noch 123 Tage bis zum alles entscheidenden Urnengang über die Personenfreizügigkeit, der das Schicksal der gesamten bilateralen Verträge besiegeln wird.

– Zweitens – Zufall oder nicht? – beschloss der Bundesrat auf Antrag von Keller-Sutter, ausländischen Sozialhilfebezügern den Zugang zu Aufenthaltsbewilligungen zu erschweren. Dabei kam es zum Konflikt mit Amherd. Auch SP-Bundesrat Alain Berset opponierte per Mitbericht.

Weniger Sozialhilfe für Ausländer

Pläne, die Sozialhilfe für gewisse Ausländer einzuschränken, werden seit 2017 gewälzt, als das Parlament ein entsprechendes Postulat überwies. Jetzt hat der Bundesrat Nägel mit Köpfen gemacht und Keller-Sutter beauftragt, drei konkrete Gesetzesänderungen vorzubereiten:

– Erstens soll die Schweiz Ausländern aus Drittstaaten, die Sozialhilfe beziehen, leichter die Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) wegnehmen können.

– Zweitens sollen vorläufig aufgenommene Flüchtlinge weniger leicht die Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) erhalten.

– Drittens sollen Ausländer mit B-Ausweis in den ersten drei Jahren weniger Sozialhilfe erhalten als Schweizer.

Diese drei Massnahmen kommunizierte der Bundesrat per Communiqué. Was er darin verschwieg: Keller-Sutter wollte mehr. Als vierte Massnahme hatte sie beantragt, dass Kinder von Sozialhilfebezügern nicht mehr eingebürgert werden sollen.

Eine solche Verknüpfung gibt es zwar schon heute: Wer vor seinem Einbürgerungsgesuch Soziahilfe bezog, bekommt den roten Pass in der Regel nicht. Dieser Ausschlussgrund gilt jedoch nicht für minderjährige Kinder, die ohne ihre Eltern die Einbürgerung beantragen. Keller-Sutter wolle Kinder wegen ihrer Eltern bestrafen, kritisierte Amherd und sprach wörtlich von Sippenhaft. Dabei, argumentierte Amherd, seien solche Kinder meist seit ihrer Geburt in der Schweiz.

Überhaupt plädierte Amherd gegen eine übereilte Gesetzesrevision. Zuerst solle man die Erfahrungen mit der letzten Verschärfung abwarten, die erst vor einem Jahr in Kraft trat. Seither könnte «die Verweigerung oder der Entzug des Aufenthaltsrechts bei Drittstaatsangehörigen, die Sozialhilfe beziehen, bereits durch eine konsequentere Anwendung des geltenden Rechts erreicht werden»: Dieser Satz steht in einem Bericht, den der Bundesrat selber vor einem halben Jahr verabschiedet hat.

Tickende Zeitbombe

Unbestritten ist, dass Ausländer in der Sozialhilfe einen bedeutenden Kostenfaktor darstellen. Fast 60 Prozent aller Sozialhilfebezüger sind ausländische Staatsangehörige. Bei Ausländern aus der EU und der Efta (12 Prozent) kann der Bund die Sozialhilfe wegen der bilateralen Verträge nicht einschränken. Einen Sonderfall stellen auch die Asylsuchenden, Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene dar (29 Prozent).

Die Entscheide des Bundesrats betreffen nur jene rund 60’000 Sozialhilfebezüger, die aus Drittstaaten stammen, aber nicht dem Asylbereich zuzurechnen sind. Bei vielen von ihnen handelt es sich aber ebenfalls um ehemalige Asylsuchende, die inzwischen eine Aufenthaltsbewilligung haben – oft aus der Unmöglichkeit heraus, sie in ihre Herkunftsländer zurückschicken zu können. Rund die Hälfte von ihnen kommt vom Westbalkan oder aus der Türkei, ein Viertel aus Afrika, der Rest aus Asien oder Lateinamerika. Diese Ausländergruppe macht immerhin 17 Prozent aller Sozialhilfebezüger aus.

Die Zahl solcher Fälle dürfte in den nächsten Jahren rasch ansteigen. Denn die Migranten, die im Flüchtlingssommer 2015 kamen, werden entweder 2020 oder 2022 in die Zuständigkeit der Gemeinden entlassen. Die Schweizer Konferenz für Sozialhilfe warnt darum vor einer tickenden Zeitbombe: Es kämen Mehrkosten von einer Milliarde Franken pro Jahr auf die Gemeinden zu. Dem Vernehmen nach argumentierte Keller-Sutter im Bundesrat, man müsse die Sorgen der Kantone und Gemeinden ernst nehmen und etwas tun.

«Nicht zielführend»

Umstritten ist jedoch, wie viel die Gesetzesverschärfungen bringen. Ein Expertenbericht, der dem Bundesrat als Grundlage diente, äussert sich skeptisch. Die 16 Experten – notabene von Keller-Sutter eingesetzt – beurteilen einen Teil der jetzt beschlossenen Massnahmen als «nicht zielführend» und kontraproduktiv, weil sie die wirtschaftliche Integration zusätzlich erschweren würden.

Auch die Nichteinbürgerung der Kinder von Sozialhilfebezügern lehnen die Experten klar ab. Die Einbürgerung stelle «erwiesenermassen einen Anreiz für die politische und soziale Integration dar, was gegen eine zusätzliche Einbürgerungshürde für Kinder von sozialhilfeabhängigen Eltern spricht», schrieben die Experten. Doch Keller-Sutter setzte sich darüber hinweg und stellte ihren Antrag trotzdem.

Wenn sie aufs Ganze gegangen wäre, hätte sie laut bundesratsnahen Personen eine Mehrheit erhalten – dank der Stimmen ihres Parteikollegen Cassis und der beiden SVP-Bundesräte. Angesichts des Widerstands von den SP- und CVP-Bundesräten zog sie ihren Antrag zur Nichteinbürgerung von Sozialhilfekindern dann aber offenbar selber zurück.
(https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/sippenhaft-fuer-auslaenderkinder-amherd-bremst-kellersutter-aus/story/13694218)



Bundesrat handelt wegen hoher Kosten: Keller-Sutter schränkt Sozialhilfe für Ausländer ein
Mit verschiedenen Massnahmen will Bundesrätin Karin Keller-Sutter (56) den Sozialhilfebezug von Ausländern aus Drittstaaten einschränken. Einiges tritt schnell in Kraft, für anderes braucht die Justizministerin das Parlament.
https://www.blick.ch/news/politik/bundesrat-handelt-wegen-hoher-kosten-keller-sutter-schraenkt-sozialhilfe-fuer-auslaender-ein-id15704325.html
-> https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-77775.html
-> https://www.nzz.ch/schweiz/bundesrat-passt-sozialhilfe-fuer-personen-aus-drittstaaten-an-ld.1534154
-> https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/sozialhilfe-fuer-auslaender-bundesrat-plant-verschaerfung-fuer-personen-aus-drittstaaten-ld.1185587


+++RECHTSPOPULISMUS
Jetzt übernimmt der Hardliner: Nationalrat Glarner ist neuer Aargauer SVP-Präsident
Er war der Aussenseiter, doch ihm gelang die Sensation. Nationalrat Andreas Glarner ist neuer Präsident der SVP Aargau. Die Kantonalpartei wird mit Glarner an der Spitze pointiert und provokativ auftreten.
https://www.blick.ch/news/politik/jetzt-uebernimmt-der-hardliner-nationalrat-glarner-ist-neuer-aargauer-svp-praesident-id15705072.html
-> https://www.nau.ch/politik/regional/svp-aargau-wahlt-andreas-glarner-zum-parteichef-65644941
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/andreas-glarner-ist-neuer-parteipraesident-die-svp-aargau-soll-ein-leuchtturm-sein-136230337
-> https://www.blick.ch/news/politik/scharfmacher-andreas-glarner-will-kantonalpraesident-werden-die-svp-ist-ein-sanierungsfall-id15703781.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/andreas-glarner-wird-praesident-der-svp-aargau/story/20069141


+++HISTORY
Was Christoph Blocher mit dem Mord an Rosa Luxemburg zu tun hat. Eine deutsch-schweizerische Zeitreise
Vor hundert Jahren ermordeten rechtsextreme Freikorps – mit Zustimmung von SPD-Reichswehrminister Gustav Noske – die spartakistischen Führungspersonen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Waldemar Pabst, der Organisator des Doppelmords, lebte von 1943 bis 1955 in der Schweiz. Von hier aus versorgte er die Wehrmacht mit Kriegsmaterial, betrieb Spionage und wirkte nach 1945 massgeblich am Aufbau einer faschistischen Internationale mit. Dabei wurde Pabst von einem mächtigen Netzwerk aus dem Schweizer Herrschaftsapparat gedeckt und unterstützt. Noch heute leben die Strukturen fort, die den Nazi-Verbrecher protegierten. Höchste Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen.
https://www.ajour-mag.ch/waldemar_pabst_in_der_schweiz/



bernerzeitung.ch 15.01.2020

Waldau-Patienten mussten gegen ihren Willen Medikamente testen

Zwischen 1950 und 1970 wurden in der damaligen Waldau mindestens 33 noch nicht zugelassene Medikamente an Patienten verabreicht. Das zeigt eine neue Studie der Ärztin Julia Manser-Egli.

Marius Aschwanden

Klarer kann man es kaum formulieren. «Die Patientin ist voller Widerstand gegen diese Kur», steht in der Krankenakte von H. A.*, einer jungen Frau, die im September 1969 in die damalige Psychiatrische Universitätsklinik Waldau eingewiesen wurde. Verdacht auf Schizophrenie lautete die Begründung.

Von Beginn an weigerte sich die 27-Jährige, Medikamente zu nehmen. Trotzdem wurden ihr solche injiziert. Largactil, Quilonum, Bellergal, Haloperidol – keines brachte die gewünschte Wirkung. Also setzte der zuständige Arzt irgendwann auf ein Präparat mit dem Namen HF 1854. «Zuerst grosser Widerstand, Suiziddrohungen», steht in der Akte, «dann Beruhigung, nachdem sie von Prof. Heimann den Ratschlag erhielt, die von uns verordneten Medikamente zu nehmen.»

H. A. ist eine jener Patientinnen und Patienten, an welchen in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Waldau neue Wirkstoffe getestet wurden. Vermutlich ohne Einwilligung und teilweise unter Zwang. Erstmals wurde dieses dunkle Kapitel Berner Psychiatriegeschichte nun in einer Studie untersucht. Die Ärztin Julia Manser-Egli durchforstete für ihre Dissertation das Archiv der heutigen Universitären Psychiatrischen Dienste Bern und analysierte 531 Patientenakten, darunter auch jene von H. A.

In 47 Fällen fand sie klare Hinweise darauf, dass noch nicht zugelassene Medikamente verabreicht worden sind. 33 verschiedene Präparate. Sie stammten von Basler Pharmafirmen wie J. R. Geigy, Wander oder Hoffmann-La Roche. Manche dieser Stoffe wurden später offiziell zugelassen, andere schafften es nie über die Versuchsphase hinaus.

Teil des Alltags

«Als Anfang der 1950er-Jahre die ersten Medikamente gegen psychische Krankheiten auf den Markt kamen, war die Nachfrage nach weiteren ähnlichen oder gar besser wirkenden Präparaten gross», sagt Manser-Egli. Deshalb entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit zwischen der Pharmaindustrie und den psychiatrischen Kliniken. «Die Firmen gaben die Präparate gratis ab, die Kliniken versorgten die Unternehmen mit Erfahrungsberichten», so die Ärztin.

Zudem seien die Alternativen beschränkt gewesen. Wenn weder ein zugelassenes Medikament noch ein Testpräparat geholfen hätten, seien häufig nur noch Elektroschock, Insulin- oder Schlafkuren übrig geblieben. «Diese Therapien waren aber gefährlich und umstritten.»

Wie viele Präparate in Bern insgesamt getestet worden sind, kann die Ärztin aufgrund ihrer Studie nicht sagen. «Dafür ist die Stichprobe zu klein.» Manser-Egli geht aber davon aus, dass es weit mehr gewesen sein müssen als die 33 identifizierten Testmedikamente. Denn: «Es handelte sich klar nicht um Einzelfälle. Die Prüfstoffe waren Teil des Klinikalltags.» Es sei nicht wirklich zwischen Medikamenten und noch nicht zugelassenen Stoffen unterschieden worden. «Das hängt auch damit zusammen, dass man über die zugelassenen Psychopharmaka noch nicht sehr viel wusste», so Manser-Egli.

Mehr Frauen als Männer

Nicht nur in der Waldau wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren mit noch nicht zugelassenen Stoffen gearbeitet. Auch in Münsingen gibt es Belege für solche Versuche. In Basel, Zürich, Herisau, St. Urban, Genf oder Lausanne ebenso. Und natürlich in Münsterlingen. Dort war der Oberarzt und spätere Klinikdirektor Roland Kuhn besonders umtriebig. Bis 1980 testete er mindestens 67 Substanzen an über 3’000 Patienten, wie eine ebenfalls kürzlich erschienene Studie eines Historikerteams der Universität Zürich zeigte. Kuhn erhielt dafür von den Pharmaunternehmen einen Betrag, der heute rund acht Millionen Franken entsprechen würde.

Ob auch in Bern ein solches Ausmass denkbar ist, weiss Manser-Egli nicht. «Münsterlingen ist aufgrund der Figur von Roland Kuhn ein Spezialfall. In Bern ist bis jetzt noch nicht bekannt, welche Ärzte in der Forschung die treibenden Kräfte gewesen sind», sagt sie. Gemäss ihrer Forschung waren in der Psychiatrischen Uniklinik aber an rund 9 Prozent der Patientinnen mit Schizophrenien und Depressionen Präparate getestet worden. Aus ähnlichen Untersuchungen aus Basel und Zürich sind gleiche Anteilswerte bekannt.

Versuchspräparate seien vor allem dann zur Anwendung gekommen, wenn andere medikamentöse Therapieoptionen ausgeschöpft waren. Besonders häufig betroffen waren Frauen und chronisch kranke Personen. «Bezüglich der sozialen Stellung konnte ich jedoch keine Auffälligkeiten sehen», so Manser-Egli.

Viele Nebenwirkungen

Für die Patienten hatten die Versuche unterschiedliche Folgen. Manche litten unter Nebenwirkungen, andere konnten dank der Präparate entlassen werden. «Die Krankenakten deuten darauf hin, dass man auf den Zustand der Patientinnen in vielen Fällen Rücksicht genommen hat», sagt Manser-Egli. Traten zu starke Nebenwirkungen auf, wurden die Tests abgebrochen. «Man muss wissen, dass auch die zugelassenen Medikamente Nebenwirkungen hatten.»

Die Ärztin fand jedoch auch verschiedene Fälle, in welchen keine Rücksicht genommen worden ist. So wurde etwa einer Patientin das Präparat nach wie vor verabreicht, obschon sie über Sehverlust klagte.

Manche Patienten in anderen psychiatrischen Kliniken traf es noch härter. In Münsterlingen starben laut der dortigen Studie 36 Personen während oder kurz nach Verabreichung der Prüfsubstanzen. Und auch in Münsingen kam es zu einem Todesfall. Unklar ist allerdings, ob die Patientinnen allein aufgrund der klinischen Versuche gestorben sind oder ob eine andere Ursache zum Tod führte.

Behörden wussten Bescheid

Die Patienten dürften jeweils kaum gewusst haben, dass sie an einem Versuch teilnehmen. «Klar ist, dass es in der Waldau anders als bei körperlichen Therapien keine schriftliche Einwilligung gegeben hat», sagt Manser-Egli. Aufgrund der untersuchten Krankenakten könne sie aber nicht ausschliessen, dass die Betroffenen mündlich informiert worden seien. «Systematisch gemacht wurde das aber ziemlich sicher nicht.»

Sowieso hätten die Patientinnen zu jener Zeit kaum Rechte gehabt. «Es herrschte ein sehr paternalistisches Arzt-Patienten-Verhältnis. In der Psychiatrie wurde das durch die häufige Urteilsunfähigkeit der Eingewiesenen noch verstärkt.» Wollten die Betroffenen also ein Testpräparat nicht einnehmen, redete man ihnen gut zu. «Weigerten sie sich nach wie vor, wurde es ihnen oftmals injiziert.»

Die Versuche seien aber keineswegs verheimlicht worden. Es sei auch anzunehmen, dass die Berner Behörden davon gewusst haben. «Schliesslich waren damals die Kantone für die Zulassung von neuen Medikamenten zuständig.» Praxistests seien zwar vorausgesetzt worden, jedoch ohne Gesetze oder Richtlinien vorzugeben, wie diese durchgeführt werden sollen. «Die Versuche bewegten sich somit in einem Graubereich.»

H. A. wehrte sich vergeblich

Für Manser-Egli ist ihre Dissertation nur ein erster Schritt bei der Aufarbeitung dieses Themas. «Erst eine grössere Stichprobe sowie der Einbezug aller psychiatrischen Kliniken im Kanton Bern kann ein klareres Bild der damaligen Situation zeigen», sagt sie. Auch die Kinderpsychiatrische Klinik Neuhaus sollte miteinbezogen werden, um zu überprüfen, ob es auch Versuche mit Kindern und Jugendlichen gegeben hat. «Mir geht es keinesfalls um eine Schuldzuweisung, sondern um einen offenen Umgang mit der Vergangenheit», sagt Manser-Egli. Noch besser fände sie eine national koordinierte Aufarbeitung des Themas.

Die junge Frau H. A., die Ende 1969 an einem Medikamententest teilnehmen musste, konnte noch im selben Jahr die Klinik verlassen. 1974 wandte sie sich dann in einem Brief an die Firma Wander AG, die das Präparat HF 1854 hergestellt hatte, das ihr verabreicht worden war. Sie habe «gegen ihren Willen» an dem Versuch teilnehmen müssen, bis jetzt aber keine Entschädigung dafür erhalten, schreibt H. A. Dann zählt sie die bei ihr aufgetretenen Nebenwirkungen auf:

Übergewicht, Haarausfall, Periodenverschiebung, Sehstörungen, Hörstörungen, Sprechstörungen, Störungen im ganzen Hormonhaushalt, Stoffwechselstörungen.

Das medizinische Büro der Firma Wander AG befand, dass der Brief krankheitsbedingt entstanden sei. Und mass ihm keine weitere Bedeutung bei.

* Initialen geändert



Kanton will keine weitere Aufarbeitung

Mindestens 33 noch nicht zugelassene Präparate wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren in der damaligen Universitären Psychiatrischen Klinik Waldau an Patientinnen und Patienten getestet. Erstmals wurde dieses dunkle Kapitel in einer Dissertation untersucht. Ein komplettes Bild der Versuche liegt mit der aktuellen Studie aber noch nicht vor. Trotzdem sieht die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) von SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg keinen Bedarf für weitere Abklärungen.

«In verschiedenen Kantonen wurden bereits Studien zu den Medikamentenversuchen in den jeweiligen psychiatrischen Kliniken in Auftrag gegeben. Die Resultate sind stets ähnlich», sagt Kantonsapotheker Samuel Steiner. Deshalb sei es nicht notwendig, dass nun auch noch Bern Geld für eine weitere solche Studie ausgebe. «Sinnvoller wäre ein national koordiniertes Vorgehen, beispielsweise ähnlich wie bei den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen», so Steiner.

Ursula Marti, SP-Grossrätin, kann diese Haltung nur teilweise nachvollziehen. Sie setzte sich schon vor zwei Jahren für eine komplette Aufarbeitung innerhalb des Kantons Bern ein. Damals nahm das Parlament ihren Vorstoss als Postulat an. Auch Schnegg befürwortete das. Er wollte aber zuerst die Resultate der Dissertation abwarten, bevor über das weitere Vorgehen entschieden werden sollte.

Marti fände eine nationale Aufarbeitung ebenfalls sinnvoll. Da momentan aber keine solche geplant sei, müsse der Kanton die Verantwortung übernehmen. Sie anerkennt zwar, dass es sich damals um eine andere Zeit gehandelt habe und die Ärzte es «gut gemeint» hätten. Trotzdem sei den Patienten Unrecht getan worden. «Wir sind ihnen eine Aufarbeitung schuldig.» Andere Kantone würden mit gutem Beispiel vorangehen.

Im Falle der psychiatrischen Klinik Münsterlingen hat sich die Regierung des Kantons Thurgau beispielsweise bei allen über 3’000 Patientinnen und Patienten entschuldigt, die an den Versuchen teilnehmen mussten. Zudem will sie die geplante Gedenkstätte für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen erweitern und dort auch den Betroffenen der Medikamententests die Ehre erweisen. Insgesamt gab der Kanton Thurgau 75’0000 Franken für das entsprechende Forschungsprojekt aus.

Marti will nun erneut einen Vorstoss einreichen, um auch die Berner GSI dazu zu verpflichten, eine umfassende Studie in Auftrag zu geben. Schliesslich sei es auch für den Kanton selbst wichtig, dass er seine eigene Medizingeschichte kenne.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/patienten-mussten-gegen-ihren-willen-medikamente-testen/story/12114049)