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+++BERN
bernerzeitung.ch 22.12.2019
Wenn Gott aus Bangladesh kommt und von Nothilfe lebt
In der Berner Heiliggeistkirche wurde am Samstag «International Xmas»
mit einem etwas anderen Weihnachtsspiel gefeiert. Unter den Akteuren
waren viele Flüchtlinge und Sans-Papiers.
Rudolf Burger
Es ist das für ein Weihnachtsspiel übliche Aufgebot, das sich an der
«International Xmas» am Samstagabend unter der Kanzel in der
Heiliggeistkirche versammelt: Engel, Hirten, Könige und natürlich Maria
und Josef. Dazu kommt aber weiteres Personal, nämlich zwei Grenzwächter
in Armeekitteln, und über allen thront Gott, verkörpert durch Ikhan
Mohammad Saifit, der bereitwillig über sich und seine Rolle Auskunft
gibt.
Er sei glücklich, Gott spielen zu können, sagt Mohammad Saifit, er sei
zwar Muslim, aber «die Religion spielt keine Rolle». Er komme aus
Bangladesh, habe dort aber einen grossen Fehler gemacht: «Ich habe mich
in der Oppositionspartei BNP politisch betätigt und damit mein Leben
zerstört.» Mehrmals sei er im Gefängnis gelandet, dann aber 2012 zum
ersten Mal und 2015 zum zweiten Mal in die Schweiz gekommen. Mohammad
Saifits Asylgesuch ist abgelehnt worden, jetzt lebt er von Nothilfe.
Königin aus Bosnien
Auch das Asylgesuch von Azra, die ihren richtigen Namen nicht in der
Zeitung lesen will, ist abgelehnt worden. Sie verkörpert eine der
Königinnen, was ihr «ein wenig seltsam» vorkommt, denn «im wirklichen
Leben sind wir nicht reich». «Aber nein», lacht sie, «es ist eine schöne
Erfahrung, wir machen das für unsere Leute hier.»
Azra kommt aus Bosnien. «Es gibt dort immer noch Hassgefühle wegen des
Kriegs», sagt sie. «Die muslimische und die christliche Religion sind
die Ursache vieler Probleme.» Sie ist Muslimin, aber «nicht religiös»,
war in Bosnien an einer Musikschule, kam «wegen privater und politischer
Probleme» als Asylsuchende in die Schweiz. Im «Flüchtlingscamp» kam ihr
Kind zur Welt; jetzt, nach dem negativen Asylbescheid, weiss sie nicht,
wie es weitergehen soll. «Viele Leute sagen mir, ich solle heiraten.
Aber das ist keine gute Option für eine Frau, ich will mich nicht
verkaufen, ich will Freiheit.»
Nach einer Gedenkminute «für alle, die in Italien, Libyen, Bosnien nie
angekommen sind», und einem Song der Band Fernando aus Italien kann das
Weihnachtsspiel beginnen.
Nach Bethlehem bei Bern
Das erste Wort hat Mohammad Saifit, Gott: Er beklagt die Schlechtigkeit
in der Welt und lässt seine Engel ausschwärmen, die den vollen Reihen in
der Kirche verkünden, dass Gott seinen Sohn auf die Erde schicken
werde. Ausgedacht hat sich das etwas andere Weihnachtsspiel Pfarrer
Andreas Nufer. «In einigen Szenen», sagt er, «spielen Flüchtlinge und
Sans-Papiers ihre eigene Geschichte. Sie haben mir erklärt, wie man ein
Boot findet, und zwei von ihnen waren wirklich in einem Sturm.»
Und das ist, in aller Kürze, das Geschehen: Josef und Maria sind auf dem
Weg nach Bethlehem in Palästina. Weil es dort aber nur Ärger gibt,
entscheiden sie sich, mithilfe des Sterns, der ihnen den Weg zeigt, nach
Bethlehem bei Bern zu reisen. Das heilige Paar, Hirten und Könige
versammeln sich im Gummiboot, das auf der Fahrt übers Meer in einen
Sturm gerät. Ein König und ein Hirte fallen über Bord, und nur dank dem
Eingreifen von Erzengel Gabriel kommt es nicht zur ganz grossen
Katastrophe.
Weiter geht es in ein überfülltes Camp in Bosnien, von dort mit einem
geklauten Bus ins Durchgangszentrum Bethlehem, wo sie zwar mit einem
«Grüezi» freundlich begrüsst, aber getrennt werden: Die Könige dürfen
sich auf eine Kirchenbank setzen. Alle andern werden in einen
unterirdischen Bunker eingewiesen, denn «Fenster braucht ihr ja nicht,
und ein Badezimmer reicht für euch alle».
So lagern die Hirten auf dem Boden vor der Bühne, auf Stühle setzen
dürfen sich nur Maria und Josef. Schliesslich gibt es doch ein Happy
End. Zwar, wie die Sprecherin sagt, «in Massenschlägen, abgesondert und
verachtet» kommen die Kinder zur Welt, auch das Kind des heiligen Paars
im Asylzentrum. Aber jetzt bringen Könige und Hirten Geschenke, die vom
etwas missmutig dreinblickenden Josef, bevor er sie auf einen Haufen
legt, zuerst kritisch begutachtet werden. Der Chor singt «Joy to the
World», und so endet das Weihnachtsspiel.
Petition für Herrn B.
Noch müssen Flüchtlinge auf die vom Publikum mitgebrachten Geschenke
warten, weil zunächst das Publikum ins weitere Geschehen einbezogen
wird. Pfarrer Andreas Nufer fragt, ob man damit einverstanden sei, dass
Herr B., der seit 25 Jahren als Flüchtling in der Schweiz lebe, in seine
ursprüngliche Heimat Indien ausgewiesen werden solle. «Nein», tönt es
im Chor.
Wer sich weiter engagieren will, kann eine in der Kirche aufgelegte
Petition unterzeichnen, die den kantonalen Polizeidirektor, Philippe
Müller (FDP), auffordert, beim Bund ein Härtefallgesuch für Herrn B. zu
stellen. Diese Bittschrift soll laut Pfarrer Nufer dem Regierungsrat am
7. Januar übergeben werden.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/wenn-gott-aus-bangladesh-kommt-und-von-nothilfe-lebt/story/27942513)
+++DEUTSCHLAND
Verteilung von Flüchtlingen „Griechenland nicht alleine lassen“
Die Menschenrechtsbeauftragte Kofler fordert Hilfen für Flüchtlinge in
den überfüllten Lagern in Griechenland. Auch Grünen-Chef Habeck und der
CSU-Politiker Weber plädierten für eine Reform des Asylsystems.
https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-verteilung-109.html
+++GRIECHENLAND
Flüchtlingscamp auf Samos: Ein Leben zwischen Holz und Plastikplanen
Knapp 8000 Menschen leben in dem überfüllten Flüchtlingscamp auf der
griechischen Insel Samos. Viele haben weder Strom noch warmes Wasser –
aber die Hoffnung, bald auf das Festland gebracht zu werden.
https://www.tagesschau.de/ausland/samos-fluechtlinge-103.html
Griechenland: Vorbei die Zeiten der Solidarität
Die Stimmung ist komplett gekippt: Kein Willkommen mehr für Flüchtlinge
https://www.heise.de/tp/features/Griechenland-Vorbei-die-Zeiten-der-Solidaritaet-4621771.html
+++SYRIEN
Erdogans Nordsyrien-Politik: Umsiedlung – um jeden Preis
Bis zu zwei Millionen Flüchtlinge will die Türkei nach Nordsyrien
umsiedeln – in eine „Sicherheitszone“. Die Bevölkerung dort muss weichen
– ohne jede Rücksicht. Die Gewalt trifft nicht nur Kurden.
https://www.tagesschau.de/ausland/erdogan-nordsyrien-umsiedlung-101.html
+++GASSE
Im Tageshaus für Obdachlose: Wärmende Basler Rückzugsoase für Bedürftige
Im Tageshaus für Obdachlose herrscht gelassene Stimmung. Aber so
zufrieden, wie es scheint, sind die Gäste mit dem Angebot nicht.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/im-tageshaus-fuer-obdachlose-waermende-basler-rueckzugsoase-fuer-beduerftige-136134780
+++DEMOS/AKTION/REPRESSION
Mehr Demos denn je in Bern – Klima, Syrien und Wahlen als Topthemen
In der Stadt Bern zeichnet sich ein Demo-Rekord ab: 251 bewilligte
Kundgebungen gab es bis Ende November, 17 Prozent mehr als im
Vorjahreszeitraum. Dazu kommen sehr viele unbewilligte Demos.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/mehr-demos-denn-je-in-bern-klima-syrien-und-wahlen-als-topthemen/story/11546448
-> https://www.derbund.ch/bern/demorekordjahr-in-bern/story/22048171
Extinction Rebellion tanzt sich durch Sonntagsverkauf
Die Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion demonstriert tanzend gegen den Sonntagsverkauf in der Stadt Bern.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/extinction-rebellion-tanzt-sich-durch-bern/story/19972248
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/tanzen-gegen-sonntagsverkauf-136142356
Olten Besetzung 1.0
Das Kollektiv der Pitguinz hat in der Nacht vom Samstag dem 21.12.19 auf
den Sonntag 22.12.19 erfolgreich ihr Iglu für den Winter in Olten
bezogen.
https://barrikade.info/article/2999
Aktivisten geben Kampf gegen Scientology in St.Gallen auf
Seit dem Sommer hatten Aktivisten, die sich gegen Standaktionen von
Scientology in St.Gallen wehrten, für viel Medienwirbel gesorgt. Nun
teilen sie mit, dass sie sich aus der Stadt zurückziehen. Man habe ihnen
hier das Leben schwer gemacht.
https://www.dieostschweiz.ch/artikel/aktivisten-geben-kampf-gegen-scientology-in-stgallen-auf-gj1zK9K
+++RECHTSPOPULISMUS
Islamistengruss und Propagandarede: Erdogan warnt Türken in der Schweiz vor Integration
Bei seinem Auftritt am Flüchtlingsforum in Genf gab sich der türkische
Autokrat handzahm. Doch hinter den Kulissen wiegelte er seine Landsleute
auf.
https://www.blick.ch/news/schweiz/westschweiz/islamistengruss-und-propagandarede-hier-warnt-erdogan-tuerken-in-der-schweiz-vor-integration-id15675869.html
JSVP will nun über Todesstrafe diskutieren
Ein Mann muss sich vor Gericht verantworten, weil er 2017 ein Mädchen
vom Velo riss, in ein Maisfeld zerrte und es missbrauchte. Derweil sorgt
ein Tweet für Aufsehen.
https://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Maedchen-vom-Velo-ins-Maisfeld-gezerrt-28982883
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tagesanzeiger.ch 22.12.2019
«Sonst kreuzen wir an deinem Wohnort auf!» – Politikerin bedroht
Die Zürcher Gemeinderätin Ezgi Akyol (AL) erstattet nach einem Hassbrief
Anzeige. Dabei spielt auch ein rechter Politiker eine Rolle.
Ev Manz
Nicht einmal 20 Sekunden dauerte das Statement, das die AL-Gemeinderätin
Ezgi Akyol gegenüber TeleZüri Anfang Dezember abgegeben hatte. Doch was
folgte, führt nun zu einer Strafanzeige gegen unbekannt.
Akyol hatte im Videointerview den Eindruck beschrieben, den sie vom neu
eröffneten Bundesasylzentrum an der Pfingstweidstrasse hatte. Es komme
ihr wie ein Gefängnis vor, sagte sie. Das beginne schon beim Eingang. Es
habe da kein Welcome-Schild, sondern nur eine Ansammlung von Verboten.
Und die Omnipräsenz der Securitas habe sie recht schockiert. Auf
Facebook generierte der Beitrag 118 Kommentare, viele darunter mit
diskriminierendem und ausländerfeindlichem Inhalt direkt an die Adresse
von Akyol. 33, Politologie-Studentin, Seconda türkischer Abstammung und
als Jugendliche eingebürgert.
Vergleich mit Ungeziefer
In die Diskussion eingemischt hatte sich auch Derek Richter, der für die
SVP im Gemeinderat sitzt und mit Akyol jeden Mittwoch im Ratssaal
debattiert. Er setzte seinen Kommentar unter jenen, in dem Akyol als
«die Tante» bezeichnet und gebeten wurde, doch mit den Asylsuchenden in
ihre Heimat zurückzukehren. Richter schrieb: «Wer das ist?
AL-Gemeinderätin!» Dazu verlinkte er den Post mit dem Profil des
Gemeinderates, auf dem Akyols Adresse ersichtlich war.
In der Folge erreichte Akyol mit Umweg übers Stadthaus ein
handgeschriebener Drohbrief, der dem «Tages-Anzeiger» vorliegt. Sie wird
darin auf ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert, mische sich in
die Politik ein. Im Brief werden Ausländer mit Ungeziefern verglichen,
die man in Bunker einsperren oder ausschaffen sollte, und die AfD wird
gelobt. Akyol wird darin mit «Nachdruck» geraten, sich nicht mehr in
Asylunterkünfte einzumischen. «Sonst sehen wir uns gezwungen, an deinem
Wohnort aufzukreuzen! – und mehr.»
Bedrohung der Demokratie
Dieser Brief veranlasste die AL-Fraktion zu einer Erklärung in der
letzten Germeinderatsitzung des Jahres. Sie rollte die Ereignisse auf
und appellierte an die Gesellschaft, dass es ihre Aufgabe sei, «auf
Diskriminierung und Hass zu reagieren». Die Fraktion zitiert darin eine
Auswertung von Kommentaren auf Facebook und Twitter, die an Abgeordnete
in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz gerichtet waren.
Derzufolge werden Schweizer Politikerinnen doppelt so häufig Opfer von
persönlichen Angriffen wie ihre männlichen Kollegen. Aus diesem Grund
vermeiden sie zunehmend Aussagen auf Social Media. «Diese Entwicklung
bedroht demokratische Errungenschaften und darf von unserer Gesellschaft
nicht toleriert werden», schreibt die Fraktion in ihrer Erklärung.
Akyol kann nach wie vor nicht fassen, was ihr Interview ausgelöst hat.
«Einige Sekunden im Fernsehen ohne provokante Aussage, aber ein
ausländisch klingender Name reicht bereits für so viel Hass. Das ist
schockierend». Akyol selber hatte nur per Zufall mitbekommen, dass
Ratskollege Richter ihre Adresse publik gemacht hatte. Doch es
enttäuschte sie. «Dass jemand, der jede Woche mit mir im gleichen Saal
sitzt, in Kauf nimmt, dass ich zu Hause belästigt werde, hätte ich nicht
gedacht.»
Keine gemeinsame Basis
Derek Richter kann die Aufregung über sein Tun nicht verstehen. «Ich
habe nur eine Frage beantwortet, die jemand auf Facebook gestellt
hatte.» Deshalb habe er Informationen verlinkt, die ohnehin schon im
Netz waren, und einen zusätzlichen Mehrwert geliefert, den man nur mit
der Adressnennung nicht gehabt hätte. Auf der Seite seien alle ihre
politischen Vorstösse aufgelistet. Richter verhehlt nicht, dass er den
Inhalt der meisten Anliegen «schockierend» findet und er nicht verstehen
könne, wer Personen mit einer solchen Gesinnung wähle. «Aber das wird
sie von mir auch denken.»
Richter sagt, man könne ihm allenfalls zum Vorwurf machen, dass er nicht
nach «feiner englischer Art» gehandelt habe. Doch er betont auch: «Ich
habe aber Ezgi Akyol weder diffamiert noch verspottet.» Die Drohungen im
Brief verurteilt er ebenso. Den direkten Kontakt zu Akyol hat Richter
nicht gesucht. «Wir haben keine gemeinsame Basis.»
Einträge gelöscht
Andere Ratsmitglieder von SP und Grünen gingen auf Akyol zu und drückten
ihr Missfallen über die Vorkommnisse aus. SVP-Fraktionspräsident Roger
Bartholdi sagte im Rat: «Solche Drohungen sind absolut inakzeptabel.»
Den Kommentar seines Parteikollegen verteidigte er aber.
Akyol will gegen den unbekannten Absender des Briefes noch vor
Weihnachten Strafanzeige einreichen. Unabhängig davon wird sie mit der
Stadtpolizei – auf deren Einladung hin – das Geschehene besprechen. Ihre
Adresse hat sie mittlerweile vom Gemeinderatsprofil löschen lassen.
Derek Richters Kommentar ist ebenfalls nicht mehr auf der Facebook-Seite
von TeleZüri sichtbar.
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/sonst-kreuzen-wir-an-deinem-wohnort-auf-politikerin-bedroht/story/27802714)
+++RECHTSEXTREMISMUS
Knatsch bei der SVP Schwyz wegen Facebook-Kommentar
Die SVP des Kantons will eine ganze Ortspartei ausschliessen
Es brodelt bei der SVP des Kantons Schwyz. Die Kantonalpartei droht
damit die schwarzen Schafe in der eigenen Partei rauszuwerfen.
https://www.tele1.ch/artikel/158421/knatsch-bei-der-svp-schwyz-wegen-facebook-kommentar
-> https://www.20min.ch/schweiz/zentralschweiz/story/Ultimatum-fuer-den-Vize-der-SVP-Waegital-SZ-31177046
+++FUNDIS
Rassismus-Strafnorm auf Schwule und Lesben ausweiten? Für Reinhard Möller ein Gräuel
Evangelikale bekämpften die Erweiterung des Anti-Rassismus-Gesetzes auf
die sexuelle Orientierung. Einer der lautesten Kritiker der Vorlage,
über die am 9. Februar abgestimmt wird, ist Reinhard Möller aus Aesch:
Der pensionierte Pfarrer warnt vor Bibel-Zensur.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/rassismus-strafnorm-auf-schwule-und-lesben-ausweiten-fuer-reinhard-moeller-ein-graeuel-136134936
+++BIG BROTHER
NZZ am Sonntag 22.12.2019
Spurensuche in den Genen: Wie viel soll man aus der DNA herauslesen dürfen?
Ermittler sollen künftig aus einer DNA-Spur Augen- oder Hautfarbe
herauslesen dürfen. Forscher arbeiten bereits an weiteren Merkmalen wie
Sommersprossen und Körpergrösse.
Patrick Imhasly
Der Schlüssel liegt im Erbgut – die Analyse der DNA ist eines der
wichtigsten Instrumente der Kriminalistik. In der DNA-Datenbank Codis
des Bundes waren Ende 2018 genau 193 857 Personenprofile und 84 139
Tatortspuren gespeichert. In 5054 Fällen konnten DNA-Proben von einem
Tatort einer Person in der Datenbank zugeordnet werden – was die Fahnder
in der Klärung eines Vergehens oder eines Verbrechens oft entscheidend
weiterbrachte.
Bei der Identifizierung möglicher Täter anhand eines Musters ihrer DNA
dürfte es indes nicht bleiben. Künftig sollen Ermittler aus einer
DNA-Spur auch äusserlich sichtbare Merkmal wie die Augen-, Haar- oder
Hautfarbe herauslesen und sich damit ein grobes Bild eines unbekannten
Verdächtigen machen können, der nicht in Codis ist. Geforscht wird zudem
an der Analyse von weiteren Merkmalen wie Sommersprossen, Grösse oder
gelockten Haaren.
Eben erst ist die Vernehmlassung zur Revision des DNA-Profilgesetzes zu
Ende gegangen, die diese sogenannte Phänotypisierung anhand von
DNA-Spuren als neues Fahndungsinstrument in der Schweiz ermöglich will.
«Grundsätzlich wird das Vorhaben unterstützt», sagt Thomas Dayer,
Sprecher des Bundesamts für Polizei (Fedpol). Jetzt gehe es darum, die
Stellungnahmen im Detail zu analysieren und dann eine Botschaft zuhanden
des Parlaments auszuarbeiten.
Diskussionen zeichnen sich darüber ab, wie die Phänotypisierung konkret
geregelt werden soll: Die einen verlangen eine sehr restriktive
Anwendung des Verfahrens, etwa bloss bei Delikten gegen Leib und Leben.
Andere wollen die Methode auf die Erfassung möglichst aller Merkmale
eines Menschen ausdehnen, die der Strafverfolgung dienen könnten.
Anlass zur Revision des DNA-Profilgesetzes hatte ein politischer
Vorstoss des Luzerner FDP-Nationalrats Albert Vitali gegeben. Nach einem
äusserst brutalen Vergewaltigungsfall 2015 in Emmen vermochten die
Ermittler den Täter selbst dann nicht zu identifizieren, nachdem sie bei
einem Massentest 372 Männern DNA-Proben abgenommen hatten. Vitali
forderte deshalb, künftig die Phänotypisierung zuzulassen, da die
Methode in solchen Fällen Hinweise auf das Aussehen des Täters und damit
weitere Fahndungsansätze liefern könnte.
Heute darf in der Schweiz aus einer biologischen Spur lediglich das
Geschlecht einer Person herausgelesen werden. Laut der Vorlage für das
revidierte DNA-Profilgesetz sollen neu auch die Augen-, Haar- und
Hautfarbe, die biogeografische Herkunft sowie das Alter bestimmt werden
können. Die Phänotypisierung muss von der Staatsanwaltschaft angeordnet
werden und darf – anders als das etablierte DNA-Profiling – nur bei
Verbrechen eingesetzt werden, also Delikten mit einer Freiheitsstrafe
von mehr als drei Jahren. Die Speicherung der Ergebnisse in einer
Datenbank ist nicht vorgesehen.
Ob und in welcher Form die Phänotypisierung bei forensischen
Untersuchungen in der Schweiz zugelassen wird, entscheidet die Politik.
Grundsätzliche Kritik am dem Verfahren äussert der Zürcher Rechtsanwalt
und Strafverteidiger Florian Wick. Sichtbare Merkmale aus dem Erbgut
abzulesen, stelle einen schweren Eingriff in die Grundrechte dar.
«Menschen etwa nur wegen ihrer blauen Augen oder ihrer Herkunft zu
verdächtigen, setzt eine ganze Gruppe einem Generalverdacht aus und
ritzt das Prinzip der Unschuldsvermutung.»
Doch wie präzise lässt sich die Erscheinung eines Menschen einzig aus
der Analyse seiner Gene rekonstruieren? Grundlage dazu liefern
umfangreiche Studien, in denen untersucht wurde, welche Variationen in
der Buchstabenabfolge der menschlichen DNA – sogenannte SNP (Single
Nucleotide Polymorphisms) – in Verbindung mit Unterschieden in
bestimmten Aussehensmerkmalen auftreten. «Augen-, Haar- und Hautfarbe
sowie die Herkunft aus den grossen Regionen der Welt sind gut
erforscht», sagt Manfred Kayser vom Institut für Genetische
Identifizierung am Medizinischen Zentrum der Erasmus-Universität
Rotterdam.
«Für diese Merkmale gibt es genügend genetische Marker, statistische
Vorhersagemodelle sowie forensisch validierte DNA-Tests.» Das bedeutet
zum Beispiel, dass blaue oder braune Augenfarbe auf einer Skala zwischen
0,5 und 1 mit einer durchschnittlichen Vorhersagegenauigkeit von 0,95
bestimmt werden kann. Ein durchschnittlicher Wert von 0,5 hat die Güte
einer zufälligen Prognose, 1 bedeutet eine immer richtige Vorhersage in
den Tausenden Personen, auf denen das Vorhersagemodell beruht.
Mischfarben sind schwieriger zu bestimmen.
«Abstriche beim Alter»
Die Haarfarben Rot, Blond, Braun und Schwarz lassen sich aus der DNA
eines Menschen mit einer durchschnittlichen Vorhersagegenauigkeit von
gut 0,7 bis über 0,9 bestimmen, ebenso die Hautfarbe in fünf
verschiedenen Kategorien. Mithilfe spezifischer Marker in der DNA kann
man auch feststellen, ob die Vorfahren einer Person aus Europa, Afrika,
Ostasien, Südwestasien oder der indigenen Bevölkerung Ozeaniens oder
Amerikas stammen. «Gewisse Abstriche sind bei der Bestimmung des Alters
zu machen», erklärt Manfred Kayser.
Dieses wird anhand von chemischen Modifizierungen des Erbmoleküls DNA
abgeschätzt. Der Ansatz erlaubt, das Alter einer Person mit einem
durchschnittlichen Fehler von 3 bis 5 Jahren anzugeben, unter der
Voraussetzung, dass diese zwischen 20 und 60 Jahre alt ist. Ist jemand
älter oder jünger, wird der Fehler grösser. Auch benötigt diese Analyse
mehr DNA als für die Vorhersage von Augen-, Haar- und Hautfarbe oder der
Herkunft.
Es gibt weitere Aussehensmerkmale, die stark genetisch bedingt sind: Ob
die Haare eines Menschen gelockt oder gerade sind, die Farbe der
Augenbrauen, Körpergrösse oder das Vorhandensein von Sommersprossen.
«Von diesen Merkmalen kennt man einige Gene und hat auch schon erste
statistische Vorhersagemodelle entwickelt, die auf eine
durchschnittliche Vorhersagegenauigkeit von etwas über 0,7 kommen», sagt
der Molekularbiologe Manfred Kayser. «Das ist noch nicht so genau wie
für Augen-, Haar-, Hautfarbe, aber im Einzelfall ist es durchaus
möglich, dass man diese Merkmale zuverlässig vorhersagen kann.»
Im Gegensatz zum DNA-Profiling erlaubt die DNA-Phänotypisierung keine
individuelle Identifizierung. Sie ist ein Werkzeug, um den Kreis der
Personen einzugrenzen, in dem ein Täter möglicherweise zu finden ist.
«Die Methode ist vergleichbar einer Zeugenaussage, allerdings mit dem
grossen Unterschied, dass sie nicht subjektiv gefärbt ist, sondern
wissenschaftlich abgesicherte Aussagen macht», so Kayser.
Phantombild noch nicht möglich
In den USA behauptet das Unternehmen Parabon Nanolabs, aus der Analyse
der DNA eines Menschen sein ganzes Gesicht rekonstruieren zu können.
Ermittlungsbehörden schicken eine DNA-Probe an die Firma und erhalten
für 4000 bis 5000 Dollar das Gesichtsbild des Verdächtigen. Wie der
«Snapshot Service» funktioniert, bleibt indes ein Rätsel.
Man habe erforscht, wie jene Gene zusammenwirkten, die für die
Ausgestaltung der Gesichtszüge verantwortlich seien, erklärten Vertreter
von Parabon Nanolabs in Medienberichten. «Aber was die Firma genau
macht, und wie sie das forensisch validiert hat, sagt sie nicht»,
erklärt Manfred Kayser. «Ihre Verfahren sind nie in begutachteten
wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht worden. Für mich ist das
CSI oder besser gesagt Science Fiction.»
Man sei noch sehr weit davon entfernt, aus den Genen eines Menschen ein
Phantombild erstellen zu können, sagt der Molekularbiologe. Zwar sieht
man in Familien, dass Gesichtszüge stark vererbbar sind. Und eine neue
Studie unter der Leitung von Manfred Kayser hat 24 Stellen im Erbgut
identifiziert, die an der Ausbildung des Gesichts beteiligt sind. «Doch
mit dieser genetischen Information können wir weniger als 5 Prozent der
Variation der Gesichtsmerkmale erklären.» Es dürfte Hunderte, wenn nicht
Tausende Gene geben, die an der Ausbildung des Gesichts beteiligt sind.
Diese muss man erst finden und verstehen.
–
Evidenz im Erbgut
– 1984: Der britische Biologe Alec Jeffreys erkennt, dass sich bestimmte
Abschnitte im Erbgut nutzen lassen, um einen Menschen zu
identifizieren.
– 2005: In der Schweiz tritt das DNA-Profilgesetz in Kraft. Es regelt,
unter welchen Bedingungen Verdächtigen DNA-Proben entnommen werden
dürfen.
– 2015: Eine Motion fordert, dass in der Schweiz künftig auch jene
Bereiche in der DNA analysiert werden können, die Gene für sichtbare
Merkmale enthalten.
(https://nzzas.nzz.ch/wissen/dna-phaenotypisierung-fahndung-in-den-genen-ld.1530006)