antira-Wochenschau: Mit Kleintransporter über Grenze, mit Medienarbeit zu Vorurteilen, mit Gewalt gegen abgewiesene Geflüchtete

Bild: Akte aus dem KZ Buchenwald. Eines der vielen Dokumente aus dem Arolsener Archiv, das jetzt online verfügbar ist.


Was ist neu?

Medienarbeit der Zürcher Polizei fördert weiterhin den RassismusIm Kanton Zürich kommt die kantonsrätliche Kommission für Justiz und öffentliche Sicherheit (KJS) zum Schluss, es sei im öffentlichen Interesse, zu erfahren, welche Staatsbürgerschaft Personen haben, die verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben. Die Polizeikorps im Kanton Zürich sollen deshalb in ihren Medienmitteilungen die Nationalität von mutmasslichen Täter*innen, Tatverdächtigen und Betroffenen nennen. Diese Praxis fördert und bedient rassistische Vorurteile und unterstellt, dass Kriminalität auf nationale Herkunft zurückzuführen sei. Die Position der KJS stellt einen Gegenvorschlag zu einer SVP-Initiative dar. Diese verlangt, dass in den Polizeimeldungen gar der Migrationshintergrund zu nennen sei. Das SVP-Initiativkomitee hat angekündigt, die Volksinitiative zurückzuziehen, falls die KJS die oben beschriebene Position vertrete. Vermutlich aus (parlamentarischem) Opportunismus oder gar aus Überzeugung ist die KJS der SVP-Forderung nun gefolgt.  
https://www.zsz.ch/ueberregional/Nationalitaet-soll-genannt-werden-Migrationshintergrund-aber-nicht/story/13045446

Nach dem verhinderten Nothilfecamp in Prêles: Gewalt gegen abgewiesene Geflüchtete bleibt beim Alten
Nach einem starken Widerstand von verschiedensten Seiten hat sich der Grosse Rat im Kanton Bern im März 2019 gegen die Schaffung eines riesigen Nothilfecamps im ehemaligen Jugendknast im abgelegenen Prêles ausgesprochen. Seither haben die Behörden nach Standorten gesucht. Die voraussichtlichen Standorte sind: Gampelen, Aarwangen und Biel-Bözingen. An allen Standorten bestehen schon heute Camps. Bis zum Sommer der Migration waren die Camps in Gampelen und Aarwangen bereits Nothilfe-Camps. Neu werden die abgewiesenen geflüchteten Kinder die Regelschule nicht mehr besuchen dürfen, sondern werden gesondert in den Camps unterrichtet. Die Camps werden im Sommer 2020 ihren Betrieb aufnehmen. Welche Betreiber-Firma oder -NGO die Nothilfecamps zu führen hat, wird im Dezember 2019 kommuniziert.
https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.mm.html/portal/de/meldungen/mm/2019/11/20191123_0807_geeignete_standorteinaarwangenbiel-boezingenundgampelen

Frontex wird auch in Serbien aktiv
Eine neue Vereinbarung erlaubt es, der Europäischen Grenz- und Küstenschutzagentur (Frontex) in Serbien Operationen durchzuführen, um (flüchtende) Migrant*innen an der Einreise in die EU zu hindern. Maria Ohisalo, die finnische Innenministerin, die im Namen der EU das Abkommen unterschrieb, fand gegenüber den Medien sehr beschönigende Worte für die verbriefte Grenzgewalt: „Durch dieses Abkommen wird Frontex in der Lage sein, die operative Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Serbien zu koordinieren und Unterstützung und Fachwissen bereitzustellen, von dem alle profitieren werden“. Nur eine rassistische Ideologie schafft es, mit „alle“, nur die von Rassismus Privilegierten zu meinen. Das Europäische Parlament muss nun ebenfalls sein Okey für den Deal geben. Das wird wohl auch geschehen. Hat es doch auch im Oktober 2018 mit Albanien und im Oktober 2019 mit Montenegro ähnliche Frontex-Deals durchgewinkt.
https://www.schengenvisainfo.com/news/eu-serbia-sign-agreement-on-european-border-and-coast-guard-cooperation/

Neues Online-Archiv über 10 Millionen Opfer der Nazis
Das Arolsener Archiv hat auf seiner Website rund 850’000 Dokumente über 10 Millionen Menschen online gestellt, die von den Nazis verfolgt wurden. Damit ist es eines der umfassendsten Archive zum Nationalsozialismus. Die Daten sind heute eine wichtige Informationsquelle für Familien, Lehrpersonen, Forschende und Antifaschist*innen. Kein Vergessen! 
https://collections.arolsen-archives.org/en/search/
https://www.franceculture.fr/histoire/le-destin-de-10-millions-de-victimes-du-nazisme-desormais-en-ligne


Was ist aufgefallen?

Zustände wie auf dem Duttweiler-Areal sind die Regel, nicht die Ausnahme
Das neue Bundesasyllager (BAZ) auf dem Duttweiler-Areal in Zürich sorgt für breite Empörung mit grosser medialer Präsenz. Erstmals wurde ein BAZ sogar von behördlicher Seite gerügt: Der Zürcher Stadtrat Raphael Golta (SP) übte Mittwoch letzter Woche harsche Kritik am Anfang November eröffneten Lager auf dem Duttweiler-Areal. Angestossen wurde die Debatte unter anderem durch einen Bericht des Onlinemagazins „das Lamm“, das die menschenunwürdigen Verhältnisse im neuen Zürcher Lager dokumentierte. Im BAZ auf dem Duttweiler-Areal müssen sich die Menschen bei jedem Eintritt einer Ganzkörperkontrolle unterziehen, sogar Babys werden kontrolliert. Sicherheitsangestellte dürfen die Zimmer willkürlich durchsuchen – sogar nachts und ohne Vorankündigung –, und wer zu spät «heimkommt», muss im Eingangsbereich auf einer Matratze schlafen. Um Essen hineinzubringen, ist eine Quittung obligatorisch – um zu beweisen, dass nichts gestohlen ist. Alle diese Regeln zeigen: Die Führung der BAZ, die den Regeln des SEM unterstehen, ist von unverhältnismässigem Sicherheitsdenken bestimmt. Im Jahr 2019 gibt das SEM weitaus mehr Geld für Sicherheitsangestellte als für Betreuungspersonen aus. Diese breite Kritik am BAZ auf dem Duttweiler-Areal ist gut. Doch sie zeigt symptomatisch auf, wie die Politik und die öffentliche Meinungsbildung funktionieren. Denn es ist ja nicht so, als würde das Duttweiler-Areal eine krasse Abweichung zu den sonstigen Bedingungen in den Asyllagern darstellen. Im Gegenteil, die beschriebenen Zustände sind die Norm und haben System. Das ganze Asylregime ist darauf ausgelegt, Menschen zu isolieren, wegzusperren, einzuschüchtern und möglichst kosteneffizient zu verwalten. Und das funktioniert nun mal besser in einem Lager mit Gefängnischarakter als in einem selbstverwalteten Hausprojekt. Der einzige Unterschied zwischen dem Duttweiler-Areal und den restlichen Asyllagern ist, dass sich das Duttweiler-Areal mitten in Zürich befindet und dadurch nicht so leicht ignoriert werden kann. Leider verirrt sich mit Ausnahme von ein paar Sonntagsausflügler*innen einfach kein Mensch auf dem Glaubensberg, wo sich ein BAZ völlig abgeschottet auf 1’500 Metern Höhe befindet. Oder auf dem Solothurner Balmberg, wo Personen mit einem negativen Entscheid oft jahrelang in völliger Abgeschiedenheit leben. Die Behörden können dort tun und lassen was sie wollen. Lasst uns weiterhin die Zustände auf dem Duttweiler-Areal kritisieren und angreifen, aber diese Kritik auch konsequent ausweiten! Vergessen wir nicht, dass es ganz viele dieser Duttweiler-Areale gibt. Auf irgendwelchen Hügeln oder Bergen, in den hintersten Tälern oder unter der Erde in einem Bunker. Das Ziel der Behörden ist es, diese Orte durch ihre Abgelegenheit unsichtbar zu machen. Und genau das erreichen sie sehr gut, wie der Aufschrei um das Duttweiler-Areal zeigt.  
https://www.woz.ch/1947/bundesasylzentren/prinzip-einschuechterung
https://www.nzz.ch/zuerich/im-bundesasylzentrum-zuerich-werden-auch-babys-kontrolliert-ld.1523826

Private Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer sind kein „Pull-Faktor“
Immer wieder wird privaten Seenotretter*innen vorgeworfen, sie seien ein „Pull-Faktor“. Sie würden durch ihre Präsenz auf dem Mittelmeer Migrant*innen dazu verleiten, sich überhaupt erst auf den gefährlichen Weg Richtung Europa zu machen. Europäische Politiker*innen der ganz zynischen Sorte werfen ihnen sogar vor, sie seien für das massenhafte Sterben im Mittelmeer verantwortlich, da es ohne sie weniger Überfahrten geben würde. Auch Frontex ist immer wieder sehr kreativ, wenn es darum geht, einen Grund zu finden, weshalb Rettungsschiffe kriminalisiert gehören. 2017 schrieb sie, Rettungsaktionen von NGOs trügen dazu bei, dass Schlepperbanden «ihr Ziel mit minimalem Aufwand erreichen», was das «Business-Modell» der Kriminellen stärke. Die Argumente sind reichlich absurd, zumal sie niemals bei anderen Formen von Rettungsstrukturen benutzt würden. Trotzdem werden sie in der europäischen Debatte um die Migrationspolitik immer wieder hervorgebracht und zur Legitimierung der Kriminalisierung der Seenotrettung verwendet. Darum ist es wünschenswert, dass nun endlich eine Studie veröffentlicht wurde, die dieses Argument entkräftigt und zeigt, dass Menschen sich nicht deshalb auf die Flucht begeben, weil sie damit rechnen, auf dem Mittelmeer gerettet zu werden. Eigentlich relativ logisch aber anscheinend brauchts für so was eine Studie. Die italienischen Migrationsforscher Eugenio Cusumano und Matteo Villa haben sämtliche verfügbaren internationalen und italienischen Daten zwischen Oktober 2014 und Oktober 2019 auf einen Pull-Effekt untersucht, mit negativem Resultat. Sie überprüften Tag für Tag, ob private Rettungsschiffe vor den libyschen Küsten unterwegs waren und wie viele Boote jeweils die Überfahrt versuchten. Es zeigte sich keine Korrelation zwischen NGO-Schiffen und angestrebten Überfahrten. Kein Pull-Faktor. Stark sei hingegen die Korrelation mit dem Wetter.
https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/das-maerchen-von-den-rettern-und-vom-pullfaktor/story/10027861


Was nun?

Die blockierten Menschen auf der Balkanroute brauchen antirassistische Unterstützung
Solidarität, Information und Widerstand ist dringend. Aktuell campieren (geflüchtete) Migrant*innen an der serbisch-ungarischen Grenze oder im bosnischen Bihac. Die EU setzt vor allem auf Abschottung bzw. auf die brutalen Grenzpolizist*innen in Kroatien. Da die Menschen nicht weiterreisen dürfen, erlaubten sich die bosnischen Behörden ihrerseits drastische Massnahmen. In der Stadt Bihac brachten die Behörden alle Migrant*innen auf eine ehemalige Mülldeponie. Der Bürgermeister gibt offen zu, dass er die Lage bewusst eskalieren lassen will. Im Oktober liess er sämtliche Versorgungsleistungen einstellen und mittlerweile herrscht offenbar eine Ausgangsperre für alle, die nicht in Richtung Kroatien wollen. Wer es wagt, in Richtung Kroatien zu gehen, trifft auf die kroatische Grenzwache, die im Wissen der EU illegale Push-Backs durchführt und vor Misshandlungen der betroffenen Menschen nicht zurückschreckt. Die Pushbacks sind bekannt und dokumentiert. Doch Reaktionen löst dies keine aus. Diese Woche schoss die kroatische Grenzpolizei sogar. Ein Geflüchteter wurde schwer verletzt und musste ins Krankenhaus. Mit dem eintretenden Winter wird sich die Lage weiter zuspitzen. Ein junger Syrer ist das erste traurige Kälte-Todesopfer. Er erfror in Slowenien in einem Waldgebiet.
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/zwischenfall-in-kroatien-polizeischuss-verletzt-migrant-100.html
https://www.proasyl.de/news/elend-tote-misshandlungen-ein-dauerzustand-mitten-in-europa/
https://www.infomigrants.net/en/post/20597/fears-that-winter-will-bring-a-humanitarian-catastrophe-in-bosnia?fbclid=IwAR2LNKGRNAKQOX2Pj058rOL7xv3ihjkAwcO2YiBRdt3wvsx9qJy9dNRF7ek


Wo gabs Widerstand?

Ein Kleintransporter mit 52 Migrant*innen durchbricht EU-Aussengrenze
Mit direkter Aktion über die Grenze. Ein überladener Lastwagen raste diese Woche durch die Sperranlagen des stark befestigten Grenzübergangs auf der spanischen Exklave Ceuta. Vier Migrant*innen wurden verletzt und in ein Krankenhaus gebracht. Der Fahrer wurde festgenommen. Die Polizei berichtet seit 2013 von solchen direkten Aktionen. Bisher seien es jedoch kleinere Fahrzeuge gewesen. Traurig, dass dies eine wohl sicherere Art ist, für nicht-europäische Migrant*innen nach Europa zu gelangen, als den Weg über das Mittelmeer zu wagen. 
https://www.spiegel.de/politik/ausland/ceuta-kleintransporter-mit-52-migranten-durchbricht-eu-aussengrenze-a-1297045.html#ref=rss

Demo gegen den spanischen Staat und für Nekane
Am 12.11.2019 hat das spanische Sondergericht Audiencia Nacional einen internationalen Haftbefehl gegen Nekane Txapartegi ausgestellt und konfrontiert die Schweiz erneut mit einem Auslieferungsantrag. Der spanische Staat setzt damit die politische Verfolgung der baskischen Aktivistin fort, die 1999 im Folterkeller in Madrid begonnen hat. Nachdem vergangenen Samstag in Zürich Menschen für Nekane auf die Strasse gingen, fand am Montag (18.11.2019) eine Aktion in Bern statt. Rund 30 Personen kamen vor das Bundesamt für Justiz um gegen den internationalen Haftbefehl gegen Nekane zu protestieren. 
https://www.augenauf.ch/aktivitaeten/180-medienmitteilung-spanischer-stat-fordert-erneut-die-auslieferung-von-nekane-txapartegi-19-11-2019.html
http://www.freenekane.ch/medienmitteilung-von-augenauf-und-freenekane-buendnis/#more-1296
https://barrikade.info/article/2895
https://www.woz.ch/1947/nekane-txapartegi/der-lange-arm-der-spanischen-justiz

Demo „Revolutionäre Kämpfe verbinden“ in Bern
„Rund 500 Menschen nahmen an der „Revolutionäre Kämpfe verbinden“ Demo teil. Es wurden Reden gehalten zu dem eindrücklichen Widerstand in Rojava, zur Lage in Chile, zu dem einjährigen Gilets Jaunes Jubiläum und auch zur Situation der Feministin und Internationalistin Nekane, die wieder vom spanischen Staat bedroht wird. Aus Solidarität mit der widerständigen Bevölkerung in bolivien und gegen den rechten Putsch der dort gerade stattfand wurde beim Münsterplatz ein Transparent gehängt. Hunderte Broschüren mit Texten zu algerien, griechenland, iran, irak, libanon, hongkong, GiletJaunes und der Rolle der schweiz in der globalen Ausbeutungsmaschine konnten verteilt werden. Sie solidarisierten sich mit der rebellischen Bevölkerung rund um den Globus und zeigten auf, „dass die Schweiz an vielen dieser ausbeuterischen Verhältnisse und prekären Lebensbedingungen Mitverantwortung trägt.“
https://barrikade.info/article/2917


Was steht an?

Infoveranstaltung: Solidarität ist kein Verbrechen
5.12.19 | 17 Uhr | Volkshaus | Zürich
Aktivist*innen, die als abgewiesene Asylsuchende kriminalisiert und eingesperrt wurden, geben Einblick in das Repressionssystem der Schweiz und es berichten Seenotretter*innen, die seit 2016 im zentralen Mittelmeer auf unterschiedlichen NGO-Rettungsschiffen im Einsatz gewesen sind. Gegen sie wird in Italien wegen Beihilfe zur illegalen Einreise ermittelt.
https://www.facebook.com/events/457940698172674/

Echt begegnen
25.11.19 | 20:00 | MAXIM Theater | Zürich
Eine HUMAN LIBRARY im Rahmen der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen*» in Zusammenarbeit mit TERRE DES FEMMES Schweiz.
https://www.facebook.com/events/799222847201547/

Vortrag und Diskussion: Thesen zum Islamismus
Freitag, 29. November 2019 | 20 Uhr | Infoladen Kasama | Militärstrasse 87a (Innenhof) | Zürich
https://barrikade.info/article/2890

Wilson A gegen Polizei – Racial Profiling und rassistische Polizeigewalt
2.12.2019 | 7:15 Uhr | vor dem zürcher Obergericht https://www.facebook.com/events/966482917035708/

Filmreihe zum Thema Flucht
Kino Reitschule | 6.12. – 21.12. 
https://www.facebook.com/pg/solinetzbern/events/

Asylcamps und Ausschaffungen, was nun? 
Schweizweites Treffen vom Migrant Solidarity Network, um über Probleme, Widerstand und Lösungen zu sprechen 
2.2.2020 | 12h: Essen | 13h30 – 17h: Workshops | Waldmannstrasse 17 | Bern

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Eine Kindheit in der rechten Szene
„Kleine Germanen“ erzählt in einer Kombination aus Dokumentar- und Animationsfilm von Kindern, die tagtäglich dazu erzogen werden, das vermeintlich Fremde zu hassen. Wie fühlt es sich an, in einer Welt aufzuwachsen, in der die nationale Identität über allem steht? 
https://www.arte.tv/de/videos/066288-000-A/kleine-germanen/